Der Hund von Bettenfeld (eBook) - Sigrun Arenz - E-Book

Der Hund von Bettenfeld (eBook) E-Book

Sigrun Arenz

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Beschreibung

Nach dem Erfolg von 16 Uhr 50 ab Ellingen der neue Frankenkrimi von Sigrun Arenz in bester britischer Tradition Kaum jemand erinnert sich noch an den jahrzehntealten Zwist zwischen dem früheren Besitzer des Gutshofs am Bassgers Wall und seinem Nachbarn, aber als an der alten Mauer ein fremder, bedrohlicher Hund auftaucht, scheint das ein schlechtes Omen für die Pläne der neuen Bewohnerin Melanie Gruber. Die erfolgreiche Bildhauerin lädt alle Männer, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben, auf den abgeschiedenen Hof ein. Geht es ihr wirklich nur um die Feier eines wichtigen Kunstpreises? Das Zusammentreffen droht, versteckte Rivalitäten und Feindschaften ans Licht zu bringen – ein giftiger Cocktail, der zu Konflikten, Verdächtigungen und einem unerklärten Verschwinden führt. Die junge Engländerin Harriet Fenshaw, die ihren Onkel in das alte Haus begleitet hat, macht sich an die Aufgabe, Licht ins Dunkel zu bringen – und stößt dabei auf die Spuren eines lange vergessenen Verbrechens.

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Sigrun Arenz lebt als Lehrerin, Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Englischen in Fürth. Bei ars vivendi erschien zuletzt ihr Kriminalroman »16 Uhr 50 ab Ellingen«.

Sigrun Arenz

Der Hund von Bettenfeld

Ein fränkischer Krimi in britischer Tradition

Originalausgabe

Vollständige eBook-Ausgabe

der im ars vivendi verlag erschienenen

Originalausgabe (Erste Auflage November 2022)

© 2022 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG,

Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: © Dorina Tessmann

eISBN 978-3-7472-0433-7

Inhalt

Erster Teil

Interludium

Zweiter Teil

Interludium

Dritter Teil

Heute. Heute ist der Tag, an dem er es zu Ende bringen wird. Was danach kommt, ist ihm egal. Nicht, dass es ihn kaltlässt, das nicht. Er will nicht gesehen, befragt, beschuldigt, verurteilt werden. Wenn alles gut geht … wenn alles läuft wie geplant und niemand im entscheidenden Moment etwas hört oder sieht, was er nicht hören oder sehen soll, wird es keine Konsequenzen geben. Dann wird keiner je erfahren, was zwischen Mauer und Haus geschieht. Aber selbst wenn doch – es ist ihm egal. Weil man manche Dinge einfach tun muss, und der Hass brennt zu heiß in ihm, und er wird ihn auffressen, wenn er nicht endlich handelt, jetzt, da die Gelegenheit günstig ist. Hass ist etwas, worauf sie sich hier verstehen. Trotzdem fröstelt er, obwohl es kein kalter Tag ist. Weil der Tod die Wärme verschluckt, selbst wenn es nicht der eigene ist.

Erster Teil

Zettel mit einer Vorbemerkung von Mala Ngomane

Das Material in diesem Umschlag stammt aus unterschiedlichen Quellen, und nicht alles ist chronologisch angeordnet. Harriet Fenshaw hat ihre eigenen Erlebnisse in eine literarische Form gebracht, »um eine durchgehende Handlung zu schaffen und die Lesbarkeit zu verbessern« (und auch, weil Harriet einfach so tickt. Sie setzt sogar in Textmessages Kommas. Vielleicht wird man so, wenn man ein paar Jahre lang unterrichtet hat). Die Informationen über die anderen Gäste auf dem Mauerhof entstammen zum Teil den Gesprächen, die wir geführt haben, zum Teil haben wir auch Niederschriften, Bilder, Zeitungsartikel, Mails und Textnachrichten gesammelt. An die meisten davon sind wir ganz regulär gekommen, weil sie uns gezeigt wurden (die Leute sind bereit, im Gespräch sehr viel mehr zu verraten, als sie eigentlich wollen, wenn sie gestresst genug sind oder sich ins richtige Licht zu rücken versuchen), aber ein paar Informationen haben wir auch auf etwas unorthodoxem Weg erhalten. Ich habe kein Problem damit, im Zug jemandem über die Schulter zu schauen, um zu wissen, was der sich gerade wieder auf Netflix reinzieht, und wenn es um was wirklich Wichtiges geht, wie in dieser Sache, kann man, finde ich, ruhig alle Möglichkeiten ausschöpfen. Und wenn die Leute nicht wollen, dass man mithört, was sie ihren Partnern für Lügen erzählen oder was sie am vergangenen Abend getrieben haben oder warum sie jemanden hassen oder wie sie jemanden dazu kriegen, genau das zu tun, was sie wollen, dann dürfen sie eben keine Sprachnachrichten diktieren oder anhören, sodass andere es mitbekommen, oder gar am offenen Fenster telefonieren, am besten noch mit Lautsprecher. Ich höre immer »Generation Smartphone, Generation Smartphone«, aber manchmal denke ich, alle glauben einfach, dass sie die einzigen Menschen auf der Welt sind. Sie haben Geheimnisse, aber sie passen nicht wirklich darauf auf, weil sie alle anderen bloß für Statisten oder Attrappen in ihrem persönlichen Film halten, in dem sie die Hauptrolle spielen. Aber die Statisten haben Ohren, und manche haben ein Hirn und wollen verstehen, was um sie herum vor sich geht. Und wir wollen, dass Licht in die ganze Angelegenheit kommt. Weil die offensichtliche Wahrheit eben nicht immer die Wahrheit ist. Ob wir mit diesen Materialien die ganze Wahrheit gesagt haben, wissen wir auch nicht. Teilweise mussten wir Gespräche aus dem Gedächtnis rekonstruieren oder übersetzen, und manches bleibt Spekulation. Und natürlich belügen sich die Menschen manchmal auch selbst. Aber wir glauben, dass wir näher dran sind an der Wahrheit als … na ja, als Sie. Was kein Wunder ist, weil wir dabei waren. Weil es uns um was geht.

(Harriet, willst du noch mal drüberschauen, oder kann ich das so lassen? Ich lass das jetzt so, sonst hättest du es halt selbst schreiben müssen.)

Ausschnitt aus den Nürnberger Nachrichten vom 3. Mai

Kunstpreis »Zeitzeichen« geht an Rothenburger Künstlerin

Mit dem alle zwei Jahre verliehenen Kunstpreis »Zeitzeichen« wird im Juni die bei Rothenburg o. d. Tauber lebende Künstlerin Melanie Gruber ausgezeichnet. Die Jury würdigt ihren »kompromisslosen, aber emphatischen« Umgang mit Werkstoffen und Sujets. Gruber wurde 1968 in Münster geboren, studierte an der Kunstakademie Karlsruhe und arbeitet seit dem Jahr 2001 als freie Künstlerin. 2002 feierte sie mit ihrer ersten eigenen Ausstellung »Sonderaussichten« einen vielbeachteten Erfolg. Seither hat sie ihre Installationen, Zeichnungen und Skulpturen in diversen Galerien und bei Veranstaltungen gezeigt. Im Jahr 2007 erhielt sie den Sonderpreis »Installation:Innovation« der Fördergemeinschaft »Kunst weiblich«. Gruber gibt in ihrem Haus bei Rothenburg Kunstseminare und engagiert sich für das Projekt »Kunst der kurzen Wege«, durch das junge Talente aus bildungsfernen Schichten entdeckt und gefördert werden sollen.

Den »Zeitzeichen«-Preis, der mit 5.000 Euro dotiert ist, wird Gruber bei einer Vernissage am 18.6. in Empfang nehmen. Ihre neueste Ausstellung wird bis zum 12.7. in der Scheune ihres Hauses zu sehen sein.

Die Laudatio wird Professor D. R. Kern von der Nürnberger Akademie der Künste halten.

Harriet Fenshaw

Harriet Fenshaws Onkel war verrückt geworden, das war die einzige Erklärung. Und weil das so war und sie ihn ja nicht einfach seinem Schicksal überlassen konnte, saß sie jetzt in einem roten Regionalzug der Deutschen Bahn, der soeben ohne ersichtlichen Grund auf freier Strecke angehalten hatte. Franken. Akkurate Felder, auf denen giftig-gelber Raps blühte, und dunkle Waldstücke. Ein hoher blauer Himmel, an dem keine einzige Wolke zu sehen war. Eine Klimaanlage, die das Abteil auf arktische Temperaturen gebracht hatte – zumindest, wenn die Nachrichten stimmten, denen zufolge in der Arktis derzeit Rekordwerte gemessen wurden. Das Klima war offensichtlich ebenso verrückt geworden wie Edmund.

Ihr Handy pingte. »Hi Hattie, drinks tonight in the Horse and Dragon? Celebrate half-term break? Chris and Sarah are coming too.«

»Tut mir leid, ich bin gerade in Deutschland«, tippte sie hastig.

Hayleys Antwort bestand aus drei dicken Fragezeichen, was Harriet nicht verwunderte. Am Donnerstag hatten sie sich noch im Lehrerzimmer unterhalten, und beide hatten erklärt, dass sie keine Urlaubspläne hätten.

»Es war eine spontane Entscheidung«, schrieb Harriet. »Mein Onkel Edmund hat eine Einladung von einer alten Freundin erhalten.«

»Edmund ist der attraktive Typ, oder? Und er hat dich mitgenommen? Cool, du hast dir ein paar Tage Urlaub verdient. Für mich wäre das ja leider nichts, ich kann kaum drei Sätze Deutsch.«

Der Zug setzte sich so unvermittelt wieder in Bewegung, wie er angehalten hatte, und die Klimaanlage blies Harriet einen Extrastoß heiße Luft ins Gesicht. Am Fenster zogen Wiesen mit reifendem Korn und Feldränder vorbei, an denen roter Klatschmohn blühte. Sie zögerte, was sie antworten sollte. Sie betrachtete ihre Kollegin Hayley als Freundin, ebenso wie Chris und Sarah, aber sie waren keine Vertrauten, die sich gegenseitig Geheimnisse verrieten. Andererseits war die Zugfahrt langweilig, und wenn sie ehrlich mit sich selbst war, wollte Harriet jemandem mitteilen, was sie momentan umtrieb. Sie ignorierte die Frage nach dem »attraktiven Typen«. Edmund war ihr Onkel, auch wenn er nur elf Jahre älter war als sie und ihr oft eher wie der große Bruder vorkam, den sie nicht hatte. Aber »attraktiv« war einfach keine Kategorie für männliche Familienmitglieder. Überhaupt war das größere Problem momentan, dass Edmund offensichtlich verrückt geworden war.

»Er hat mich nicht mitgenommen. Ich reise ihm gerade hinterher, ohne dass er es weiß«, schrieb sie.

»???«

Er hatte ihr die Einladung per Mail weitergeleitet und gefragt: »Na, was meinst du, Hattie? Soll ich hinreisen?« Harriet suchte die Nachricht in ihrem Posteingang und schickte sie Hayley.

»Hi Ed«, hatte Melanie Gruber geschrieben. »Ich weiß, dass wir schon lange nichts mehr voneinander gehört haben, aber ich musste neulich an dich denken, als ich auf der Fähre nach Dublin übergesetzt habe – du erinnerst dich sicher an unseren Trip auf die Kanalinseln? Die Sicherheitsdurchsage, über die wir uns beinahe totgelacht hätten, und dann der Typ im Zug? Das war eine großartige Reise damals, eine der besten. Warum ich schreibe: Ich eröffne demnächst eine neue Ausstellung. Du hast mein Haus an der Mauer ja nie gesehen, weil wir immer nur zusammen gereist sind. Schade eigentlich. Wie auch immer, das Haus ist zwar heruntergekommen und voller knarrender Dielen, aber es gibt eine Scheune mit Werkstatt und jede Menge Platz für Kunst und interessante Menschen. Es wird eine feierliche Eröffnung mit Preisverleihung und Honoratioren stattfinden (siehe Link zum Artikel darüber), aber ich wollte auch eine persönliche Feier daraus machen und habe ein paar Leute eingeladen, übers Wochenende oder auch länger zu bleiben. Schon weil mich das ganze Brimborium, das mit so einer Preisverleihung einhergeht, anödet, und dein respektloser Humor die Sache bestimmt beleben würde. Falls du also Lust hast, mal wieder nach Deutschland zu kommen, würde ich mich freuen. Bringe gerne jemanden mit, wie gesagt, es ist genug Platz da und alles sehr informell bei mir im Haus. X Melanie.«

Eine Zugdurchsage informierte die Fahrgäste darüber, dass sie in Kürze Rothenburg ob der Tauber erreichen würden, und Harriet vergewisserte sich, dass sie ihre Sachen beisammenhatte, ehe sie wieder einen Blick aufs Handy warf.

»Ich verstehe das Problem nicht«, hatte Hayley geschrieben. »Klingt doch nett.«

»Muss jetzt aussteigen«, tippte Hattie eilig. »Melde mich später.«

Natürlich verstand Hayley das Problem nicht. Wie auch? Harriet selbst war am Anfang nur verwundert gewesen, dass Edmund nach ihrer Meinung gefragt hatte. Er reiste schließlich gerne und oft, mit Begleitung und ohne.

Der Zug kam zum Stehen, und Hattie trat zusammen mit einigen anderen Reisenden auf den Bahnsteig. Von hier aus sah man nichts von dem, was Rothenburg zu einer solchen Touristenattraktion machte, aber sobald Hattie die von der Stadtmauer umgebene Innenstadt erreicht hatte, wurde es ihr klarer. Sie hatte gedacht, dass sie sich in Deutschland ganz gut auskannte – ihre Sprachkenntnisse waren jedenfalls definitiv besser als die ihrer meisten Landsleute –, aber das ländliche Franken war offensichtlich etwas ganz anderes als Berlin und der Ostseeraum, wo sie während ihres Studiums einmal sechs Monate verbracht hatte. Sie fragte sich bis zu ihrem Hotel durch, das direkt an einem der Stadttore lag, und genoss den Ausblick auf das Taubertal hinunter, ehe sie kurz die Augen schloss.

Eine eingehende Nachricht ließ sie auffahren – die Reise war anstrengender gewesen, als sie gedacht hatte. »Blimey, Hattie«, schrieb Edmund. »Dieser Ort ist abgefahren, dieses Haus! Die Kunstwerke! Du hättest mitkommen sollen! Oder vielleicht hattest du recht, und ich hätte nicht kommen sollen. Ich erzähle dir später davon. Das Haus hat Geschichten zu erzählen, sage ich dir! Das Wetter ist großartig, wenn auch zu heiß. Regen in Kent, habe ich gelesen … Lass dir die Laune nicht verderben, sondern genieße deine Ferien. Zwei Wochen ohne schreiende Kinder und Korrekturen! Ich schicke dir später ein paar Bilder. X!«

Harriet überlegte, ob sie ihrem Onkel antworten sollte, dass sie dasselbe Wetter hatte wie er, beschloss aber, ihn am nächsten Tag zu überraschen und sich heute die Stadt anzuschauen. Sie wechselte zu ihrem Chat mit Hayley und schrieb: »Melanie Gruber – die Edmund bis dahin noch nie erwähnt hatte – ist offenbar seine Exfreundin, mit der er mehrere Jahre lang eine Fernbeziehung hatte und mit der er seit über zwei Jahren kein Wort mehr gewechselt hatte. Und jetzt beschließt er aus dem Blauen heraus, sie in ihrem Haus zu besuchen, um an ihrer Vernissage teilzunehmen.«

Siegfried Gruber

Die Situation war verrückt. Natürlich hätte ich die Einladung gar nicht erst annehmen sollen, aber es hat mich interessiert, wie es Melanie erging. Immerhin waren wir jahrelang verheiratet gewesen. Und dass sie mich zu ihrer Vernissage einlud – wahrscheinlich wollte sie mir zeigen, was sie alles geschafft hatte ohne mich. Frauen sind ja öfter so; sie müssen immer irgendwas beweisen, nur um zu zeigen, dass sie keine Männer brauchen. Und ich habe auch nie behauptet, dass Frauen es nicht auch so zu was bringen können. Aber wenn Melanie zeigen wollte, wie erfolgreich sie war, hatte sie einen komischen Weg gewählt. Schon allein das Haus, mitten im Nirgendwo, die Straße voller Schlaglöcher. Ich musste mit dem Tesla ganz vorsichtig fahren, um ihn nicht zu beschädigen. Dass das Anwesen mal eine Art Kommune gewesen war, konnte man schon daran sehen, wie heruntergekommen es war. Und dass Melanie nicht viel Geld reingesteckt hatte seither. Das Dach gehörte neu gedeckt, und die Stufen zum Haus waren schief und ausgetreten. Und das Innere erst. Zum Glück hatte ich mich in Rothenburg einquartiert, in einem guten, soliden Gasthaus. Anständige fränkische Küche und so. Natürlich hätte ich eh nicht unter demselben Dach schlafen können wie Melanie, das wäre einfach nicht gegangen, selbst wenn mir die Statik keine Sorgen bereitet hätte. Und die Diele … Der Raum war ja ganz okay, groß und kühl, aber wie es da aussah! In der Ecke lehnten Holzplanken, und in dem Kronleuchter und in allen Ecken hingen staubige Spinnweben. »Da müsste man mal ordentlich durchputzen«, habe ich gesagt. Man hätte einfach nur eine Leiter gebraucht. »Allerdings ist der Boden auch nicht grad grad«, habe ich gesagt, und das stimmte auch – mit diesen ausgetretenen Steinen ein echtes Sicherheitsrisiko. Ich hätte ausgeholfen, wenn Melanie es gewollt hätte. Soll niemand sagen, dass ich nicht bereit wäre, mich einzubringen, selbst im Haus meiner Exfrau. Aber Melanie hat nur gelacht und gemeint: »Dann lass das mal lieber bleiben. Außerdem stehen die Spinnweben unter Denkmalschutz; es gibt Ärger, wenn du die entfernst.« Also, mir wäre es peinlich gewesen, wenn es in meinem Haus so ausgeschaut hätte, und Isabella auch. Nicht, dass wir es jemals so weit kommen lassen würden. Ich weiß, was ich meiner Frau schuldig bin, und ein bequemes, sauberes, modern eingerichtetes Haus ist ja wohl das Mindeste. Aber Melanie hat da schon immer anders getickt, kein Wunder bei der Mutter. Ich hatte nicht gewusst, dass es das Haus war, von dem Melanie früher erzählt hatte. »Warum kaufst du auch so ein altes Haus?«, fragte ich sie – wir sprachen gerade über Finanzen, und der englische Typ war ziemlich beeindruckt von dem Tesla. »Ein Geldgrab, so was.«

Sie hat mich angeschaut wie früher während unserer Ehe. (Dieser »Sag-mal-hörst-du-mir-eigentlich-nie-zu?«-Blick.) »Das war das Haus meiner Mutter«, sagte sie. Dann war mir natürlich alles klar. Das war diese Kommune, wo ihre Mutter mit ihrem neuen Typen gewohnt hatte und ständig irgendwelche Künstlertypen – und noch ganz andere, von denen man besser nicht mal redet – ein- und ausgingen. Die Mutter war ein Paradebeispiel für diese Frauen, die Selbstverwirklichung auf Kosten anderer leben. Hat sich mit ihrem Kerl dorthin abgesetzt, um Kunst zu machen und ihr eigenes Leben zu leben, und Melanie hat sie einfach an den Vater abgeschoben – wobei das wahrscheinlich Melanies Glück war, weil der wenigstens ein bodenständiger, vernünftiger Typ war, der sich gekümmert hat. Und das muss man zumindest sagen, dass Melanie zwar auch in diese Künstlerschiene geraten ist, aber zumindest hat sie kein Kind bekommen und dann verlassen. Ich bin wirklich froh, dass wir zwei nie Kinder hatten – so konnten wir einfach getrennte Wege gehen, als die Ehe am Ende war. Dass Melanie kinderlos ist, erklärt natürlich, dass sie sich mit diesen ganzen Projekten abgibt. »Kunst der kurzen Wege« oder wie das heißt, wo die versuchen, junge Leute zu fördern. Irgendwo findet man bei diesen kinderlosen Frauen immer irgendwelche Ersatzkinder, ob das jetzt eine Katze ist oder ein Projekt. Bei Melanie saß dann eines direkt in der Küche – ein Kind, kein Projekt. Oder vielleicht war es beides. Jedenfalls, da saß dieses junge Ding, fast noch ein Mädchen, vielleicht achtzehn, neunzehn. Ich wollte wissen, wo sie herkommt, aber anscheinend darf man so was nicht mehr fragen. Ist doch gut, wenn man sich für die Leute interessiert, oder nicht? Den Engländer habe ich schließlich auch gefragt, wo er her ist. »Meppem«, hat er geantwortet. Schreibt sich »Meopham« – nichts für ungut, aber warum kann man das nicht so schreiben, wie man es ausspricht? Immerhin konnte er ganz gut deutsch reden – das Mädchen übrigens auch. Darf man aber auch nicht mehr sagen. Früher war das ein Kompliment, wenn man jemandem gesagt hat, dass er gut deutsch kann. Sie war natürlich auch Künstlerin, oder jedenfalls will sie an die Akademie. Wohnt eigentlich im Dorf, hängt aber immer bei Melanie rum, um an ihrer Bewerbungsmappe zu arbeiten. Was der Engländer genau macht, hat er nicht gesagt, aber ich glaube nicht, dass er gut verdient. Wahrscheinlich auch so ein Künstlertyp. Ich fand ihn ganz in Ordnung, wenn auch nicht sehr bodenständig. Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich natürlich noch keine Ahnung, worauf ich mich hier eingelassen hatte. Ab da kamen die Überraschungen knüppeldick, und wenn ich Überraschungen sage, meine ich, dass die ganze Sache sich so marode anfühlte wie das Haus: undichtes Dach, Stufen, auf denen man sich den Hals brechen konnte, wenn man nicht vorsichtig war, und wo man ging und stand, scheuchte man Dinge auf, die sich in den Wänden oder Dielen eingenistet hatten.

Chatverlauf zwischen Harriet Fenshaw und Hayley Greensward, Samstag, 17.6. und Sonntag, 18.6

Harriet

Warst du schon mal in Rothenburg? Hier gibt es Infotafeln auf Japanisch für die Touristen! Schöne Stadtmauer, tolle Häuser, Weinberge, Schneeballen.

18.40

Hayley

Schneeballen? Im Juni?

18.42

Harriet

Das ist ein Gebäck. Es gibt sie mit verschiedenen Füllungen in allen Cafés. Nette Läden, aber jetzt ist alles geschlossen. Ich bin gerade im Restaurant, in der Nähe der Stadtmauer.

20.03

Hayley

Das Kind ist im Bett! Ich dachte schon, es würde nicht mehr passieren! Jetzt kann ich meine ungezügelte Seite rauslassen und im Pyjama Netflix schauen!

21.15

Harriet

21.20

Harriet

Ich kann nicht schlafen, so ganz ohne Korrekturen! Oder vielleicht hätte ich vorhin keinen schwarzen Tee mehr trinken sollen. Mache noch einen Nachtspaziergang

23.59

Harriet

Das ist seltsam. Jetzt habe ich gerade gedacht, ich hätte

0.13

Harriet

Ø Diese Nachricht wurde gelöscht.

0.18

Hayley

Und warum bist du Edmund jetzt nachgereist? Er ist ein erwachsener Mann. Wenn er Lust auf ›Netflix und Chill‹ mit der Ex hat, ist das doch seine Sache!

7.34

Harriet

Bitte, Hay! Ich sitze gerade beim Frühstück und habe fast meinen Tee über den Tisch gespuckt! Du redest von meinem Onkel. Ich möchte nicht über sein Sexleben nachdenken müssen.

7.46

Hayley

Warum bist du Edmund nachgereist, wenn du nicht denkst, dass er vorhat, etwas Wildes und Impulsives zu tun?

7.50

Harriet

Impulsiv ist eine Sache, aber niemand fliegt ins Ausland, um wieder was mit einer Ex anzufangen, von der er zwei Jahre lang nichts gehört hat. Das passiert bloß in Hollywoodfilmen. Ich fahre jetzt zu diesem Haus, dann werde ich ja sehen, was los ist. Vielleicht war ihm einfach nur langweilig.

7.56

Hayley

Mach das! Halt mich auf dem Laufenden! Und falls du die Gelegenheit hast, was Wildes und Impulsives zu machen, go for it!

8.04

Harriet

Um halb neun saß Harriet in einem Taxi, das sie zu Melanie Grubers Haus bringen würde. »Moment, ich dachte, Bettenfeld ist unser Ziel«, protestierte Harriet, als der Taxifahrer keinerlei Anstalten machte, in dem winzigen Ortsteil anzuhalten oder in eine der wenigen Nebenstraßen einzubiegen.

»Liechnedmdoff«, brummte der Fahrer.

Harriet war sich nicht sicher, um was für eine Sprache es sich bei seinen Worten handelte, aber es klang nicht nach Deutsch – mehr nach Serienmörder. »Falls meine Leiche in ein paar Jahren in einem Graben in Franken gefunden wird, gebe ich Edmund die Schuld«, textete sie an Hayley. »Dieses Haus liegt am Ende der Welt.«

»Deswerdedzwengruggelich.« Der Fahrer hatte hundert Meter hinter dem Ortsschild die Geschwindigkeit gedrosselt und bog jetzt nach rechts auf einen unasphaltierten Weg ein, der am Rand eines langen Hangs aufwärts führte. Links von ihnen verbarg eine grüne Böschung die Sicht, rechts konnten sie einen Blick zurück auf Bettenfeld werfen, ehe der Weg eine Biegung machte und der Wagen in ein Schlagloch rumpelte. Harriet übersetzte die Worte des Fahrers verspätet mit »Die Straße ist in schlechtem Zustand«.

Der Fahrer nahm das nächste Schlagloch und murmelte etwas, das Harriet ohne Probleme als Fluch identifizierte. Den Fuß hob er trotzdem nicht vom Gas, sondern nahm die nächste Kehre schneller, als sie es sich unter den Umständen getraut hätte. Sie holperten über die Kuppe einer kleinen Anhöhe, und Harriet schrie auf: »Vorsicht! Da ist …« – weiter kam sie nicht, aber der Fahrer hatte blitzschnell reagiert und scharf gebremst.

Harriets Herz klopfte wie wild, als sie zum Stehen gekommen waren und begriffen, was sie da eigentlich gesehen hatten. Ein riesenhafter Hund war halb aus der Böschung getreten, das Nackenfell gesträubt, die Rute erhoben, die Ohren aufmerksam aufgerichtet, einen Lauf halb erhöht. Es bestand aber, sah Harriet jetzt, keine Gefahr, dass das Tier ihnen vors Auto laufen oder jemanden angreifen würde. Tatsächlich war der Hund überlebensgroß. Um seinen steinernen Fuß rankte sich ein dorniger Zweig, und in einem seiner gespitzten Ohren hatte sich altes Laub angesammelt; vielleicht hatte ein Vogel darin irgendwann ein Nest gebaut. Aber in dem Moment, in dem sie um die Biegung gekommen waren, war die Illusion eines lebenden Tieres perfekt gewesen. Irgendwer hatte die Statue so aufgestellt, dass sie den größtmöglichen Effekt erzielte.

Der Taxifahrer brummte etwas Unverständliches und fuhr in etwas gemäßigterem Tempo weiter. Harriet hatte ein schnelles und nicht besonders gutes Handyfoto von dem Hund gemacht und schickte es Hayley. »Der Hof ist gut bewacht«, kommentierte sie. »Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.« Sie verstaute das Telefon in ihrer Tasche und blickte wieder auf. Links lagen hangaufwärts Wiesen und Felder, die teilweise durch hohe Büsche verborgen waren, rechts öffnete sich der Blick über eine weite, sonnengetränkte Landschaft. Auf dieser Seite säumten Steinfiguren in unregelmäßigen Abständen den Weg, manche überlebensgroß wie der Hund an der Kuppe, manche klein und halb überwachsen von Gräsern und Sträuchern. Harriet vermutete, dass sie von unterschiedlichen Bildhauern stammten, denn die Figuren schienen ihr nicht nur in der Größe, sondern auch in der Darstellung sehr unterschiedlich. Hier ein Mönch, der in seiner Kutte rasch Richtung Bundesstraße auszuschreiten schien, dort eine nackte Nymphe, die auch im 19. Jahrhundert nicht fehl am Platz gewirkt hätte. Hier ein gesichtsloser Mann, dessen überlange Arme und Beine mit geometrischen Mustern besetzt waren, dort der Kopf von Angela Merkel auf einer steinernen Säule. Der Weg machte eine weite Biegung zurück Richtung Dorf. Dann nahmen sie eine letzte Kehre, und das Haus lag vor ihnen in einer kleinen Senke.

Es war ein massives, weiß verputztes Fachwerkgebäude mit zwei Stockwerken, das inmitten von Rapsfeldern und Wiesen stand. Eine mächtige Pappel überragte das Dach und verbarg teilweise den Blick auf eine geräumige Scheune. Ein Stück hinter dem Gebäude begann eine mächtige, aber an einigen Stellen eingefallene Steinmauer, die sich in einem Bogen bis zur Zufahrt hinaufzog und etwa hundert Meter vom Weg entfernt in einem Schutthaufen endete, aus dem Schösslinge sprossen. Schwalben und Mauersegler schossen über den Wall hinweg. Irgendwo in einem fernen Baum hörte Harriet einen Kuckuck rufen. Es war sofort ersichtlich, warum das Gelände »Mauerhof« genannt wurde, aber die Funktion der Mauer selbst blieb zunächst unklar. Weder umgab sie das Grundstück, noch waren in der Nähe andere Gebäude zu sehen, die eine Abgrenzung erfordert hätten. Und für eine Trockenmauer zum Schutz gegen Wind und Erosion schien sie zu hoch.

Der Fahrer ließ das Taxi den Rest des Weges hinunterrollen und kam auf dem geschotterten Platz zwischen Haus und Scheune zum Stehen. Harriet bezahlte und stieg aus.

Eine Reihe unebener Steinstufen führte zur offen stehenden Haustür hinauf. Auf der Schwelle lag, halb in der Sonne, halb im Schatten des Raums dahinter, eine getigerte Katze, deren Schnurren in der Stille des Junitags deutlich zu hören war.

»Ah, hallo!«, ertönte auf einmal eine laute Stimme hinter Harriet. Sie drehte sich um und musterte die Frau, die soeben aus der Scheune trat. Groß, kräftig gebaut, mit hochgekrempelten Ärmeln, die den Blick auf muskulöse Unterarme freigaben. Ihre hellen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen und zu einem nachlässigen Dutt zusammengebunden, der sich jeden Moment aufzulösen drohte. Man konnte sehen, dass sie ein paar Jahre älter war als Edmund. Die Frau hängte den Meißel, den sie trug, in eine Schlaufe an ihrer schweren Arbeitsschürze und reichte Harriet die Hand. »Ich bin Melanie Gruber«, stellte sie sich vor. »Willkommen auf dem Mauerhof.«

»Harriet Fenshaw«, erwiderte Harriet und setzte an, zu erklären, wer sie war und warum sie unangekündigt auf dem Hof aufgetaucht war, aber Melanie musterte sie einen Moment lang aus leicht zusammengekniffenen Augen und sagte dann: »Oh ja, Edmunds Nichte, richtig? Er hat mir von dir erzählt. Du siehst ihm ähnlich.« Sie musste Harriets überraschten Blick falsch gedeutet haben, denn sie erklärte: »Wir duzen uns hier alle auf dem Hof – so gut wie alle. Wenn das okay ist.«

Harriet war in Gedanken noch immer bei Er hat mir von dir erzählt und Du siehst ihm ähnlich. Sie selbst hatte bis vor Kurzem noch nicht einmal Melanie Grubers Namen gekannt. »Was hat Edmund über mich gesagt?«

»Dass ihr mal zusammen auf Safari wart, dass du seine Lieblingsnichte bist. Dass er dir Bücher vorgelesen hat, als du klein warst. Du weißt ja, wie er ist, er erzählt gerne.«

»Das dachte ich bisher auch«, gab Harriet zurück. Ihre Stimme klang wie die eines gekränkten Kindes, stellte sie fest, und ungefähr so fühlte sie sich auch.

Melanie lächelte schief. »Ich verstehe. Über mich hat er wohl nicht so viel geredet?«

»Kein Wort bis zu dem Tag, an dem er die Einladung hierher bekam, und dann hat er mich gefragt, was ich darüber denke.« Das Kind in ihrer Stimme war jetzt definitiv beleidigt.

Melanie schnaubte. »Ich weiß gar nicht, warum du dich aufregst. Offenbar war ich das peinliche Geheimnis, das er vor seiner Familie lieber nicht erwähnte. Aber egal – das ist lange her. Ich freue mich trotzdem, dich kennenzulernen. Die Vernissage beginnt erst abends, und ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, aber schau dich gerne um und mach dich mit meinen anderen Gästen bekannt.« Sie deutete auf die Haustür. »Wenn du hier übernachten willst, kannst du das gerne. Wie ich geschrieben habe: Hier ist jede Menge Platz.« Sie wandte sich wieder Richtung Scheune.

»Wo kann ich Edmund finden?«, rief Harriet ihr hinterher.

Melanie drehte sich wieder um, und Hattie hatte das Gefühl, dass sie einen Moment zögerte, bevor sie antwortete: »Wenn er im Haus ist, wahrscheinlich in der Küche. Aber vielleicht schläft er auch noch. Es war ein langer Abend gestern.«

Im Inneren zeigte das Haus die Spuren von Vernachlässigung, von Liebe zur Vergangenheit und vom Wirken der Künstler, die im Laufe der Jahre darin gearbeitet hatten. Kühle umfing Harriet, sobald sie die Schwelle übertreten hatte und in dem breiten steinernen Vorraum stand. Rechts führte eine hölzerne Treppe ins obere Stockwerk. Geradeaus lagen drei Türen zu den Räumen des Erdgeschosses. Die Türen, die Mauer unter der Treppe, die Wand neben der Eingangstür, sie alle waren in unterschiedlichen Stilen bemalt. Abstrakte Spiralen in psychedelischen Farben an einer Tür, an einer anderen eine biblische Szene, an einem Wandstück eine Silhouette von Rothenburg – ein Motiv, das sie am Vortag in den Schaufenstern der Stadt oft genug gesehen hatte, um es auf Anhieb zu erkennen. Neben der offenen Eingangstür bot sich ihr ein Anblick, der die Besonderheit dieses einsam gelegenen Hofes exemplarisch zusammenzufassen schien. Holzbohlen lehnten an der Wand, von denen sich staubbedeckte Spinnweben zu dem Kristalllüster an der Decke zogen. Dahinter war ein weiteres Wandgemälde zu sehen: Durch gemalte hohe, schmale Fenster fiel Licht in einen dunklen Raum, in dem ein Soldat mit dem Rücken zum Betrachter auf einer alten Kiste saß. Harriet zog ihr Handy aus der Tasche, um ein Foto zu machen.

»Das Bild hat mich auch am meisten fasziniert«, sagte eine Stimme auf der Treppe über ihr.

Textnachricht von Ivy Payne an Harriet Fenshaw, 18.5.

Liebe Hattie, ich hoffe, es geht dir gut! Wollen wir uns mal wieder treffen? Wenn du Edmund siehst, sag ihm viele Grüße. Ich kann ihn momentan gar nicht erreichen. Ist er schon wieder total eingespannt in der Arbeit? Oder stellt seine Theatergruppe ein neues Projekt auf die Beine? Die letzte Aufführung war so toll, das müssen wir unbedingt wiederholen!

x Ivy.

Samuel Falk-Steynmaier

Natürlich hatte ich nicht geahnt, dass Meli alle Männer, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben, zu ihrem Vernissagewochenende eingeladen hatte. Wenn ich es gewusst hätte … wenn ich es gewusst hätte, wäre ich trotzdem gekommen. Aber nicht so blauäugig.

Wenn ich sage, »alle Männer, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben«, dann weiß ich nicht, ob das wirklich stimmt. Wahrscheinlich gab es mehr als uns drei. Ganz sicher war da mal Carlo aus ihrer Parallelklasse. Aber ich glaube nicht, dass er zählt – und ich vermute, dass die Gesamtzahl an Männern, mit denen Meli ernsthaft zu tun hatte, nicht so hoch ist. Sie hat sich ungern von einem Mann abhängig gemacht, aber wenn sie sich auf jemanden eingelassen hat, dann richtig.

Wir beide haben den Kontakt nie ganz abgebrochen, obwohl wir uns etliche Jahre nicht gesehen haben. Die sozialen Medien machen es möglich, Menschen, die einem einmal nahestanden, nicht völlig aus den Augen zu verlieren, selbst wenn man nicht viel mit ihnen kommuniziert. Ich hatte es von fern mitbekommen, als ihre Ehe in die Brüche ging, als sie das Haus geerbt hat, als sie ihre erste Ausstellung hatte. Ich wusste, dass sie sich für Menschen einsetzt, die nicht privilegiert aufwachsen und für die Kunst fremd und unerreichbar scheint. Dann kam die Einladung mit dem Artikel über die Vernissage und den Kunstpreis. Ich konnte nicht Nein sagen. Allerdings war ich nicht darauf gefasst, in einer derart konfliktträchtigen Situation zu landen.

Mala in der Küche des Mauerhofs zu sehen hat mich überhaupt nicht überrascht. Die junge Frau hat zu Hause kaum Unterstützung für ihren Traum, an die Akademie zu gehen. Hier auf dem Mauerhof ist sie nicht nur als Künstlerin akzeptiert, sie befindet sich auch in einer Umgebung, in der es nicht um Hautfarbe, Geschlecht, Alter oder sexuelle Orientierung geht, sondern um Menschen. Hier ist überall Kunst, es ist der Leitfaden, der Haus und Gelände durchzieht. Mala war eine, die man erwarten konnte in Melanies Küche. Mit Siegfried Gruber, dem Exmann, hätte ich hingegen wirklich nicht gerechnet. Und was den Briten betrifft: Von dessen Existenz hatte ich bis dahin keine Ahnung gehabt.

Edmund – nun ja, ich bin mir nicht sicher, ob ich gerade jetzt über Edmund Fenshaw reden möchte. Unter anderen Umständen hätte ich ihn wahrscheinlich nett gefunden, auch wenn er einer von denen ist, die nichts richtig ernst nehmen. Rede mit ihm über Kunst, über Musik, über Elon Musk oder über gesellschaftliche Herausforderungen – er wird immer etwas zu sagen haben, sich aber nie festlegen.

Wie gesagt, normalerweise wären wir wohl recht gut miteinander ausgekommen. Aber nach der Sache am Lagerfeuer … je weniger Worte man darüber verliert, desto besser.

Meli hatte uns begrüßt und in die Küche geschickt, um uns was zu trinken zu holen. Der Raum hat was, auch wenn man mit etwas Geld und Mühe mehr draus machen könnte: einen Boden aus alten Holzbohlen, Fachwerkbalken und einen Ofen, den man mit Feuer beheizen muss. Vor den niedrigen Fenstern, die auf einen verwilderten Garten schauen, steht ein großer Holztisch mit einer Bank, und da saß Mala, einen Skizzenblock, ein iPad und ein paar Stoffreste vor sich. Es war peinlich: Man konnte förmlich sehen, was Siegfried dachte, und nichts davon war angemessen.

Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass er Melanies geschiedener Mann ist. Ich war gerade erst eingetroffen und stand noch an der Schwelle zur Küche. Ich hatte den Wagen vor dem Haus gesehen. Der Mann muss Kohle ohne Ende haben. Allerdings keinen Geschmack. Teuer, aber schlecht angezogen. Und nicht in Form.

»Samuel?«, fragte Sigi, als Melanie dazukam, um uns alle einander vorzustellen. »Doch nicht Samuel Falk?« Sie hatte ihm natürlich von mir erzählt.

»Samuel Falk-Steynmaier. Meine Liebe aus Zeiten, in denen wir alle noch jung und unschuldig waren«, nickte sie. Und das war der Moment, in dem Edmund anfing zu lachen: »Ich dachte, das wird eine Vernissage. Scheint mir mehr ein Ehemaligentreffen zu sein.«

Ich hatte vorher schon einen Verdacht, warum sie mich eingeladen hatte, aber jetzt war ich mir sicher. Und ja, ich wäre auch gekommen, wenn ich vorher gewusst hätte, dass ich auf ihren Exmann und ihre langjährige Fernbeziehung treffen würde. Manche Dinge sind zu wichtig, um sich durch ein paar Unannehmlichkeiten davon abhalten zu lassen. Manche Dinge sind zu wichtig, um sie nicht auf sich zu nehmen.

Harriet

Harriet wandte sich um und sah eine Frau die Treppe herunterkommen. Schmal, zierlich, um die vierzig, schätzte sie. Die Frau stellte sich neben Harriet und betrachtete einen Moment lang das Wandbild. »Alles, was im und ums Haus an Kunst zu sehen ist, hat hiermit angefangen«, erklärte sie. »Der erste Besitzer des Hofs nach dem Krieg hat es gemalt. Ich weiß nicht, ob er sonst irgendetwas Künstlerisches hinterlassen hat. Aber später, ab Ende der Sechziger, haben hier immer irgendwelche Maler, Bildhauer und Musiker gewohnt. Zeitweise war es eine Art Künstlerkommune, in der jeder willkommen war, und angeblich ist sogar Joseph Beuys mal für ein paar Tage hier gewesen. Und alle haben dieses Bild gesehen, und irgendwie ist wohl die Tradition daraus entstanden, Türen und Wände im Haus zu bemalen.« Sie wandte sich vom Gemälde ab und Harriet zu. »Ich bin Claire Seegruber«, stellte sie sich vor, während sie eine dunkle Haarsträhne aus ihrer Stirn strich.

»Freut mich. Harriet Fenshaw. Oder einfach Hattie. Wohnen Sie auch hier?« Ihr fiel wieder ein, was Melanie Gruber darüber gesagt hatte, dass sich hier alle duzten, aber es kam ihr seltsam vor. Vielleicht später, wenn sie besser wusste, mit wem sie es zu tun hatte.

Claire lachte. »Nein, absolut nicht. Ich bin hier mit meinem Mann zu Gast. Er ist der Redner bei der Vernissage heute. Wir sind gestern Abend erst gekommen und werden zwei, drei Tage bleiben.« Sie ging zu der Tür geradeaus, wo die biblische Salome den Kopf von Johannes dem Täufer auf einem Tablett präsentierte. »Frühstück?«, fragte sie.

»Danke, ich habe schon im Hotel gegessen«, antwortete Harriet. »Aber vielleicht eine Tasse Tee …«

Die Küche war ein gemütlicher Raum. Die Holzfenster gegenüber waren geöffnet und ließen Morgenlicht und eine warme Brise, die leicht nach Heu duftete, herein. Die Möbel waren aus altem Holz, die Wand hinter dem Herd gekachelt, ein alter Bauernschrank in kräftigen Farben bemalt. Am Fensterbrett lehnte ein Mann, eine geöffnete Mappe in der Hand, die Bilder oder Zeichnungen zu enthalten schien. Er sah auf, als die beiden Frauen hereinkamen. »Das ist mein Ehemann, Professor Dominik Kern«, sagte Claire. »Dominik, das ist Harriet Fenshaw. Sie ist gerade erst eingetroffen, wenn ich das richtig verstanden habe.«

Hattie war überrascht. Nicht nur wegen der unterschiedlichen Nachnamen hätte sie die beiden auf Anhieb keinesfalls für ein Ehepaar gehalten. Kern war hochgewachsen und hager, mit Augen wie blasse blaue Murmeln. Es war ein Gesicht von strenger, fast asketischer Schönheit, aber die tiefen Furchen um die Mundwinkel und auf seiner Stirn und die kurzgeschnittenen stahlgrauen Haare verrieten, dass er erheblich älter war als seine Frau. Er richtete seinen Blick auf Harriet, die sofort das Gefühl hatte, im Licht eines sehr hellen Scheinwerfers zu stehen. »Fenshaw?«, wiederholte er fragend.

»Oh ja, mein Onkel ist auch hier«, erwiderte sie. »Edmund. Ich bin erst heute nachgekommen; ich musste bis zum Beginn der Ferien warten, ehe ich weg konnte.« Sie erwähnte nicht, dass Ed keine Ahnung davon hatte, dass sie ihm nachgereist war. »Man hat mir gesagt, dass er vielleicht noch schläft, also habe ich beschlossen, mich erst einmal umzusehen.«

Harriet hatte das Gefühl, dass der Wind, der durchs Fenster strich, plötzlich zehn Grad kälter war als zuvor. Es war eine peinliche Pause, umso mehr, weil sie keine Ahnung hatte, was sie verursacht hatte.

Claire, die mit keiner Miene auf Harriets Worte reagiert hatte, rettete die Situation: »Aber vorher trinken wir einen Tee zusammen. Dominik, ich mache Kaffee für dich.« Sie verschwand im Nebenraum. Harriet bot ihre Hilfe an, doch Claire winkte ab. »Setz dich einfach. Hier ist nicht viel zu tun. Tassen sind in dem Schrank, vielleicht stellst du ein paar davon auf den Tisch. Ich vermute, dass die anderen demnächst auftauchen werden.«

Auszug aus einem Interview mit Prof. Dominik R. Kern im Kunstmagazin Botenlose Kunst, 12. Februar

BK: Eine Variation der alten Frage »Welches Buch nehmen Sie auf eine einsame Insel mit?«: Welches Ihrer Kunstwerke würden Sie von einem sinkenden Schiff retten? Größe und Gewicht sollen hier keine Rolle spielen.

Kern: Das ist eine schwierige Frage, weil natürlich jedes Werk eine Verkörperung des eigenen Ich ist und somit in gewisser Hinsicht jeder Verlust unersetzlich wäre … Aber ich entscheide mich jetzt einmal für das Gemälde Der Garten des Ich.

BK: Und wenn wir die gesamte Kunstgeschichte betrachten: Welches Werk würden Sie retten?

Kern (lacht): Der Garten des Ich.

BK (lacht): Was für eine wundervolle Steilvorlage für meine nächste Frage: Wie viel Ego brauchen Künstler*innen, um auf dem hart umkämpften Markt zu bestehen? Was raten Sie Ihren Studierenden, wenn sie an Grenzen stoßen, weil der Markt noch immer bestimmte Gruppen marginalisiert?

Kern: Qualität setzt sich durch. Wenn Sie den Funken haben, werden Sie nicht ruhen, bis Sie sich Ihren Platz erkämpft haben. Das geht vielleicht nicht automatisch mit finanziellem Erfolg einher, aber Kunst ist eine Berufung, ein Drang, sich auszudrücken. Wenn es Ihnen damit ernst ist, lassen Sie nicht nach, bis Sie die verdiente Anerkennung erreichen.

BK: Aber das System macht es manchen leichter als anderen. Sicher geben Sie zu, dass Sie nicht mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen haben wie zum Beispiel viele Frauen, die unter Umständen Familie und künstlerische Berufung unter einen Hut bringen müssen und sich mit einem etablierten Netzwerk konfrontiert sehen, in dem Frauen noch immer die Ausnahme sind.

Kern (trocken): Meine Eltern haben mich rausgeworfen, als ich ihnen damals gesagt habe, dass ich Kunst studieren würde. Und selbst heute ist es nicht leicht. Ohne Agenten und Kontakte zu den richtigen Stellen bleibt man schnell auf der Strecke. Anerkennung ist auch für Männer nichts, was sich automatisch einstellt. Und Frauen, die wirklich Künstlerinnen sein wollen, lassen sich auch nicht von Strukturen abhalten, die vielleicht nicht immer kongenial sind. (Lächelt) Ich habe da großes Vertrauen in meine Studentinnen.

BK: Sie führen ja selbst eine Künstlerehe. Ihre Frau ist, wenn ich richtig informiert bin, selbst eine Ihrer Studentinnen gewesen.

Kern: Ihre Informationen sind nicht ganz korrekt. Meine Frau, Claire Seegruber, hat zwei Semester Musik studiert, meine Studentin war sie allerdings nie. Sie ist die Tochter der Musikprofessorin Herta Seegruber, und die Musik liegt ihr im Blut. Claire hätte das Zeug gehabt, ganz nach oben zu kommen, davon bin ich überzeugt, aber sie wollte nicht, dass die Kunst ihr Leben auffrisst, und hat sich letztlich für einen anderen Lebensentwurf entschieden.

BK: Sie haben uns viel über die Kompromisslosigkeit und den Absolutheitsanspruch in der Kunst erzählt. Kommen wir doch noch mal zu unserem imaginierten Schiffbruch zurück: Retten Sie im Zweifelsfall den Garten des Ich, wenn Ihre Frau sich auch an Bord befindet? Muss sie selbst an Land schwimmen?

Kern (lacht): Dazu hätte sie ohne Zweifel die Kraft. Claire würde sich niemals von einem banalen Schiffbruch unterkriegen lassen. Aber die Frage ist schnell beantwortet: Seit wir geheiratet haben, gehe ich dahin, wo sie ist, und sie begleitet mich, wo ich bin. Warum würden wir das ausgerechnet bei einem Schiffsunglück anders halten?

(Das Magazin befand sich im Badezimmer des Mauerhofs auf einem Stapel anderer Zeitschriften. Die Seite mit dem Interview war mit einem Zettel mit Notizen markiert.)

Harriet

Professor Kern ließ sich am oberen Ende des langen Holztischs nieder, von dem er einen guten Meter beanspruchte. An einer Seite lag die offene Mappe, die er zuvor in der Hand gehabt hatte. Mehrere Zeichnungen und Skizzen breitete er daneben aus, wie um sie zu vergleichen oder zu benoten. Rechts von sich hatte er einen Laptop aufgebaut, davor ein Blatt und einen Stift bereitgelegt. Vor ihn stellte Claire einen Becher und einen Teller. Er lächelte ihr zu, nahm das Croissant in die Hand und tunkte ein Ende in seinen Becher, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Kaffee tropfte auf die Tischplatte. Harriet beeilte sich, die Zeichnungen aus der Gefahrenzone zu schieben. »Ihre?«, fragte sie, als er bemerkte, was sie tat. Er schüttelte den Kopf. »Nein, die Mappe habe ich in einem der Zimmer hier gefunden. Dieses Haus ist so voll mit Kunst, ich könnte Tage und Wochen damit zubringen, alles zu entdecken. Diese Sachen hier könnten bei einem Zeichenkurs entstanden sein – es sind Arbeiten verschiedener Leute, das meiste davon mehr oder weniger unvollendet. Oder vielleicht hat jemand einmal alles gesammelt, was hier lose herumlag.«

»Vielleicht ist eine Zeichnung von dir dabei.« Claire hatte sich neben Harriet gesetzt, die sich einen Tee eingoss, aber ihre Worte waren an ihren Mann gerichtet.

»Das ist sehr unwahrscheinlich«, erwiderte Professor Kern, dessen Aufmerksamkeit noch immer zur Hälfte auf den Bildschirm gerichtet war. »Ich lasse selten Arbeiten von mir irgendwo zurück, und ich behalte vorläufige Skizzen und Entwürfe nur dann, wenn sie in sich einen künstlerischen Wert haben.«

»Sie sind Perfektionist«, stellte Harriet fest.