Der Idiot - Fjodor Michailowitsch Dostojewski - E-Book

Beschreibung

"Der Idiot" gehört zu den bekanntesten Romanen Dostojewskis, die zur absoluten Weltliteratur gezählt werden. Es ist die Geschichte des Fürsten Myschkin, der (wie Dostojewski selbst) unter Epilepsie leidet und aufgrund seiner Güte, Ehrlichkeit und Tugendhaftigkeit in der St. Petersburger Gesellschaft des 19. Jahrhunderts scheitert. Unschuldig und naiv gerät er hilflos in die Intrigenspiele der gehobenen Mittelschicht des russischen Adels. Trotzdem er nur Gutes tut, wird er von allen Seiten angefeindet, verlacht und ausgenutzt. Der Held bringt trotz aller seiner Güte nur Chaos und verderben über seine Umwelt. Fürst Myschkin gehört somit neben Don Quijote von Cervantes und Mr. Pickwick von Dickens zu den großen tragikomischen Idealisten der Weltliteratur. Dieses Buch findet zu Recht Aufnahme in Harenbergs "Das Buch der 1000 Bücher". Null Papier Verlag

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Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Idiot

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Idiot

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Hermann Röhl EV: Insel-Verlag, Leipzig, 1920 3. Auflage, ISBN 978-3-954183-32-6

www.null-papier.de/deridiot

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Au­tor und Werk

Ers­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

Zwei­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

Drit­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Vier­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

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Das Buch

»Der Idi­ot« ge­hört zu den be­kann­tes­ten Ro­ma­nen Do­sto­jew­skis, die zur ab­so­lu­ten Welt­li­te­ra­tur ge­zählt wer­den. Es ist die Ge­schich­te des Fürs­ten Mysch­kin, der (wie Do­sto­jew­ski selbst) un­ter Epi­lep­sie lei­det und auf­grund sei­ner Güte, Ehr­lich­keit und Tu­gend­haf­tig­keit in der St. Pe­ters­bur­ger Ge­sell­schaft des 19. Jahr­hun­derts schei­tert.

Un­schul­dig und naiv ge­rät er hilf­los in die Int­ri­gen­spie­le der ge­ho­be­nen Mit­tel­schicht des rus­si­schen Adels. Trotz­dem er nur Gu­tes tut, wird er von al­len Sei­ten an­ge­fein­det, ver­lacht und aus­ge­nutzt.

Der Held bringt trotz al­ler sei­ner Güte nur Cha­os und ver­der­ben über sei­ne Um­welt.

Fürst Mysch­kin ge­hört so­mit ne­ben Don Qui­jo­te von Cer­van­tes und Mr. Pick­wick von Di­ckens zu den großen tra­gi­ko­mi­schen Idea­lis­ten der Welt­li­te­ra­tur.

Autor und Werk

F­jo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski (geb. 11. No­vem­ber 1821 in Mos­kau; gest. 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg) gilt als ei­ner der be­deu­tends­ten rus­si­schen Schrift­stel­ler.

Fjo­dor Do­sto­jew­ski war das zwei­te Kind von Michail An­dre­je­witsch Do­sto­jew­ski und Ma­ria Fjo­do­row­na Netscha­je­wa. Er hat­te zwei Brü­der und drei Schwes­tern. Die Fa­mi­lie ent­stamm­te ver­arm­tem Adel; der Va­ter war Arzt. Nach dem Tod sei­ner Mut­ter, 1837, ließ sich Do­sto­jew­ski mit sei­nem Bru­der Michail in St. Pe­ters­burg nie­der, wo er von 1838 bis 1843 Bau­in­ge­nieur­we­sen stu­dier­te. 1839 soll sein Va­ter auf dem hei­mi­schen Land­gut durch Leib­ei­ge­ne er­mor­det wor­den sein.

Do­sto­jew­ski war zwei­mal ver­hei­ra­tet. Sei­ne ers­te Ehe mit der Wit­we Ma­ria Dmi­tri­jew­na Isa­je­wa en­de­te 1864 nach sie­ben Jah­ren mit dem Tod Ma­ri­as und war kin­der­los. Sei­ne zwei­te Frau war Anna Gri­gor­jew­na Snit­ki­na. Aus der am 15. Fe­bru­ar 1867 ge­schlos­se­nen Ehe, die bis zu Do­sto­jew­skis Tod an­dau­er­te, gin­gen vier Kin­der her­vor, von de­nen je­doch nur zwei das Er­wach­se­nen­al­ter er­reich­ten.

Do­sto­jew­ski be­gann 1844 mit den Ar­bei­ten zu sei­nem 1846 ver­öf­fent­lich­ten Erst­lings­werk »Arme Leu­te«. Mit des­sen Er­schei­nen wur­de er schlag­ar­tig be­rühmt; die zeit­ge­nös­si­sche Kri­tik fei­er­te ihn als Ge­nie. 1847 trat er dem re­vo­lu­tio­nären Zir­kel bei. 1949 de­nun­zier­te man ihn, und er wur­de zum Tode ver­ur­teilt. Ei­gent­lich hät­te er am 22. De­zem­ber 3. Ja­nu­ar 1850 durch ein Er­schie­ßungs­kom­man­do hin­ge­rich­tet wer­den sol­len. Erst auf dem Richt­platz be­gna­dig­te Zar Ni­ko­laus I. ihn zu vier Jah­ren Ver­ban­nung und Zwangs­ar­beit in Si­bi­ri­en, mit an­schlie­ßen­der Mi­li­tär­dienst­pflicht. In der Haft in Omsk wur­de bei Do­sto­jew­ski zum ers­ten Mal Epi­lep­sie dia­gno­s­ti­ziert.

1854 trat er sei­ne Mi­li­tär­pflicht im Rah­men sei­ner Ver­ban­nung in Se­mei (Se­mi­pa­la­tinsk) an; 1856 wur­de er zum Of­fi­zier be­för­dert. Nach sei­ner Hei­rat 1857 und schwe­ren epi­lep­ti­schen An­fäl­len be­an­trag­te er sei­ne Ent­las­sung aus der Ar­mee, die je­doch erst 1859 be­wil­ligt wur­de, so­dass Do­sto­jew­ski nach St. Pe­ters­burg zu­rück­keh­ren konn­te.

1859, noch zur Zeit sei­ner si­bi­ri­schen Ver­ban­nung, ent­stand sein Ro­man »On­kel­chens Traum«, un­mit­tel­bar vor den »Auf­zeich­nun­gen aus ei­nem To­ten­haus« (1860).

Ge­mein­sam mit sei­nem Bru­der grün­de­te er die Zeit­schrift »Zeit« (Wremja), in der im dar­auf fol­gen­den Jahr sein Ro­man »Er­nied­rig­te und Be­lei­dig­te« er­schi­en.

Be­reits 1863 je­doch fiel die Zeit­schrift der Zen­sur zum Op­fer und wur­de ver­bo­ten. In der 1860er Jah­ren reist Do­sto­jew­ski mehr­mals durch Eu­ro­pa.

1863 spiel­te er zum ers­ten Mal Rou­let­te. 1864 star­ben in kur­z­er Fol­ge Do­sto­jew­skis ers­te Frau, sein Bru­der und sein Freund Apol­lon Gri­gor­jew; die Nach­fol­ge­zeit­schrift der »Zeit«, die »Epo­che«, muss­te er aus Geld­man­gel ein­stel­len.

1865 ver­spiel­te er beim Rou­let­te in der Spiel­bank in Wies­ba­den sei­ne Rei­se­kas­se. Im Mit­tel­punkt sei­nes 1866 er­schie­ne­nen Ro­mans »Der Spie­ler« steht ein Rou­let­te­spie­ler. Im sel­ben Jahr er­schi­en der ers­te der großen Ro­ma­ne, durch die Do­sto­jew­skis Werk Teil der Welt­li­te­ra­tur wur­de: »Schuld und Süh­ne« (oder auch in der Neu­über­set­zung: »Ver­bre­chen und Stra­fe«).

Kurz nach sei­ner zwei­ten Ehe­schlie­ßung, 1867, nach dem Zu­sam­men­bruch der mit sei­nem Bru­der ge­grün­de­ten zwei­ten Zeit­schrift ins Aus­land, um sich dem Zu­griff sei­ner Gläu­bi­ger zu ent­zie­hen. Er wohn­te län­ge­re Zeit in Dres­den.

Erst 1871 kehr­te er wie­der nach Russ­land zu­rück. Ent­ge­gen der weit­ver­brei­te­ten An­nah­me, Do­sto­jew­ski habe große Be­trä­ge am Rou­let­te­tisch ver­lo­ren, war er ein Spie­ler mit ge­rin­gen Ein­set­zen, der oft ta­ge­lang mit dem Geld ei­nes ge­ra­de ver­pfän­de­ten Klei­des sei­ner Frau spiel­te.

1868 er­schi­en sein zwei­tes Groß­werk, »Der Idi­ot«, die Ge­schich­te des Fürs­ten Mysch­kin, der (wie Do­sto­jew­ski selbst) un­ter Epi­lep­sie lei­det und auf­grund sei­ner Güte, Ehr­lich­keit und Tu­gend­haf­tig­keit in der St. Pe­ters­bur­ger Ge­sell­schaft schei­tert.

Zu sei­nem Ende hin ver­lief das Le­ben Do­sto­jew­skis in ru­hi­ge­ren Bah­nen. Er ver­fass­te sei­ne bei­den letz­ten großen Wer­ke, den Ro­man »Der Jüng­ling« – in der Neu­über­set­zung »Ein grü­ner Jun­ge« – und schließ­lich den Ro­man »Die Brü­der Ka­ra­ma­sow«, den er in den 1860er Jah­ren, also in der Zeit der Ent­ste­hung von »Schuld und Süh­ne«, be­gon­nen hat­te und der die Ent­wick­lung der rus­si­schen Ge­sell­schaft bis in die 1880er Jah­re be­han­deln soll­te.

Fjo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski starb am 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg an ei­nem Lun­gen­em­phy­sem; an sei­nem Be­gräb­nis nah­men 60.000 Men­schen teil. Sein Grab be­fin­det sich auf dem Tich­wi­ner Fried­hof des Alex­an­der-New­ski-Klos­ters.

Erster Teil

I

Es war ge­gen Ende des No­vem­ber, bei Tau­wet­ter, als sich um neun Uhr mor­gens ein Zug der Pe­ters­burg-War­schau­er Bahn in vol­ler Fahrt Pe­ters­burg nä­her­te. Das Wet­ter war so feucht und neb­lig, dass das Ta­ges­licht kaum zur Gel­tung kam; man konn­te rechts und links von der Bahn aus den Fens­tern der Wa­gen nur auf zehn Schrit­te mit Mühe et­was er­ken­nen. Un­ter den Pas­sa­gie­ren wa­ren ei­ni­ge, die aus dem Aus­land zu­rück­kehr­ten; am meis­ten ge­füllt wa­ren aber die Ab­tei­le drit­ter Klas­se, und zwar fast aus­schließ­lich mit klei­nen Ge­schäfts­leu­ten, die aus nicht sehr wei­ter Ent­fer­nung ka­men. Alle wa­ren, wie das so zu sein pflegt, müde; al­len wa­ren wäh­rend der Nacht die Au­gen­li­der schwer ge­wor­den, alle frös­tel­ten, alle Ge­sich­ter wa­ren gelb­lich, von der­sel­ben Far­be wie der Ne­bel.

In ei­nem Wa­gen drit­ter Klas­se sa­ßen ein­an­der seit dem Mor­gen­grau­en dicht am Fens­ter zwei Pas­sa­gie­re ge­gen­über: bei­des jun­ge Leu­te, bei­de fast ohne Ge­päck, bei­de nicht ele­gant ge­klei­det, bei­de mit recht in­ter­essan­ten Ge­sich­tern und bei­de von dem Wunsch er­füllt, end­lich mit­ein­an­der in ein Ge­spräch zu kom­men. Wenn sie bei­de von­ein­an­der ge­wusst hät­ten, wo­durch sie ge­ra­de in die­sem Au­gen­blick in­ter­essant wa­ren, so hät­ten sie sich ge­wiss dar­über ge­wun­dert, dass der Zu­fall sie so selt­sam in ei­nem Wa­gen drit­ter Klas­se der Pe­ters­burg-War­schau­er Ei­sen­bahn ein­an­der ge­gen­über­ge­setzt hat­te. Der eine von ih­nen war von klei­ner Sta­tur, etwa sie­ben­und­zwan­zig Jah­re alt und hat­te krau­ses, fast schwar­zes Haar und klei­ne, graue, aber feu­ri­ge Au­gen. Sei­ne Nase war breit und platt­ge­drückt, die Ba­cken­kno­chen tra­ten stark her­vor; die schma­len Lip­pen ver­zo­gen sich fort­wäh­rend zu ei­nem dreis­ten, spöt­ti­schen und so­gar bos­haf­ten Lä­cheln, aber sei­ne Stirn war hoch und gut ge­formt und ver­schön­te den un­vor­nehm ge­schnit­te­nen un­te­ren Teil des Ge­sichts. Be­son­ders auf­fäl­lig war an die­sem Ge­sicht sei­ne To­ten­bläs­se, die der gan­zen Phy­sio­gno­mie1 des jun­gen Man­nes trotz sei­ner ziem­lich kräf­ti­gen Kon­sti­tu­ti­on den An­schein der Er­schöp­fung ver­lieh und zu­gleich den An­schein ei­ner qual­vol­len Lei­den­schaft­lich­keit, die mit sei­nem fre­chen, un­höf­li­chen Lä­cheln und sei­nem schar­fen, selbst­zu­frie­de­nen Blick nicht recht im Ein­klang stand. Er war warm ge­klei­det, denn er trug einen wei­ten, schwar­zen, mit Tuch über­zo­ge­nen Pelz aus Lamm­fell, und hat­te in der Nacht nicht ge­fro­ren, wäh­rend sein Rei­se­ge­fähr­te an sei­nem frost­zit­tern­den Rücken die gan­ze An­nehm­lich­keit ei­ner feuch­ten rus­si­schen No­vem­ber­nacht hat­te aus­hal­ten müs­sen, auf die er of­fen­bar nicht hin­rei­chend vor­be­rei­tet war. Er trug einen ziem­lich wei­ten, di­cken Man­tel ohne Är­mel und mit ei­ner ge­wal­ti­gen Ka­pu­ze, von der Art, wie man sie oft auf Rei­sen zur Win­ter­zeit ir­gend­wo im fer­nen Aus­land be­nutzt, zum Bei­spiel in der Schweiz oder in Ober­ita­li­en, wo man da­bei na­tür­lich auch nicht mit so wei­ten Fahr­ten rech­net wie der von Eydt­kuh­nen nach Pe­ters­burg. Aber was in Ita­li­en taug­te und völ­lig aus­reich­te, er­wies sich in Russ­land als ganz un­taug­lich. Der Ei­gen­tü­mer des Man­tels mit der Ka­pu­ze war ein jun­ger Mensch, der gleich­falls im Al­ter von etwa sechs­und­zwan­zig oder sie­ben­und­zwan­zig Jah­ren stand, et­was über Mit­tel­grö­ße, mit sehr hell­blon­dem, dich­tem Haar, hoh­len Wan­gen und ei­nem klei­nen, spit­zen, fast ganz wei­ßen Bärt­chen. Sei­ne Au­gen wa­ren groß, blau und ru­hig; in ih­rem Blick lag et­was Stil­les, aber Be­drück­tes, et­was von je­nem ei­gen­tüm­li­chen Aus­druck, an dem man­che auf den ers­ten Blick den Epi­lep­ti­ker er­ken­nen. Das Ge­sicht des jun­gen Man­nes war üb­ri­gens an­ge­nehm, mit fei­nen Zü­gen und nicht zu flei­schig, aber farb­los, nur dass es au­gen­blick­lich ge­ra­de­zu blau ge­fro­ren war. An sei­nen Hän­den bau­mel­te ein schmäch­ti­ges Bün­del­chen, das in ei­nem al­ten, ver­bli­che­nen, sei­de­nen Tuch, wie es schi­en, sein gan­zes Rei­se­ge­päck ent­hielt. An den Fü­ßen hat­te er dick­soh­li­ge Schu­he mit Ga­ma­schen – al­les in nicht-rus­si­scher Art. Sein schwarz­haa­ri­ger Rei­se­ge­nos­se in dem tuch­über­zo­ge­nen Pelz mus­ter­te dies al­les ge­nau, zum Teil weil er nichts an­de­res zu tun hat­te, und frag­te schließ­lich mit je­nem takt­lo­sen Lä­cheln, durch das manch­mal in so un­ge­nier­ter, ge­ring­schät­zi­ger Wei­se das Ver­gnü­gen der Leu­te über das Miss­ge­schick des Nächs­ten zum Aus­druck kommt:

»Ist Ih­nen kalt?«

Er mach­te da­bei Be­we­gun­gen mit den Schul­tern.

»Ja, sehr kalt«, ant­wor­te­te der Rei­se­ge­nos­se mit großer Be­reit­wil­lig­keit, »und se­hen Sie, da­bei ha­ben wir noch Tau­wet­ter. Wie wäre es erst, wenn wir Käl­te hät­ten? Ich hat­te gar nicht ge­dacht, dass es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr ge­wohnt.«

»Sie kom­men wohl aus dem Aus­land?«

»Ja, aus der Schweiz.«

»Füt! Nun se­hen Sie ein­mal an!«

Der Schwarz­haa­ri­ge tat einen Pfiff und lach­te.

Es kam ein Ge­spräch in Gang. Die Be­reit­wil­lig­keit des blon­den jun­gen Man­nes in dem Schwei­zer­man­tel, auf alle Fra­gen sei­nes schwarz­haa­ri­gen Ge­fähr­ten zu ant­wor­ten, war er­staun­lich; er merk­te in sei­ner Harm­lo­sig­keit of­fen­bar gar nicht, dass man­che die­ser Fra­gen sehr ge­ring­schät­zig klan­gen und höchst un­pas­send und mü­ßig wa­ren. Bei sei­nen Ant­wor­ten teil­te er un­ter an­de­rem mit, dass er tat­säch­lich lan­ge Zeit nicht in Russ­land ge­we­sen sei, über vier Jah­re; man habe ihn we­gen ei­ner Krank­heit ins Aus­land ge­schickt, we­gen ei­ner ei­gen­tüm­li­chen Ner­ven­krank­heit nach Art der Epi­lep­sie oder des Veits­tan­zes, die sich in Zu­ckun­gen und Krämp­fen ge­äu­ßert habe. Der schwarz­haa­ri­ge jun­ge Mann lä­chel­te beim Zu­hö­ren ei­ni­ge Male, na­ment­lich lach­te er auf, als auf die Fra­ge: »Na, sind Sie denn nun ge­heilt?« der Blon­de er­wi­der­te: »Nein, ge­heilt bin ich nicht.«

»Haha! Da ha­ben Sie also Ihr Geld ver­ge­bens be­zahlt, und wir hier schen­ken je­nen Leu­ten Ver­trau­en!« be­merk­te der Schwarz­haa­ri­ge spöt­tisch.

»Ja, das ist durch­aus rich­tig!« misch­te sich ein da­ne­ben­sit­zen­der schlecht ge­klei­de­ter Herr in das Ge­spräch, so eine Art von ge­rie­be­nem Amts­schrei­ber, etwa vier­zig Jah­re alt, kräf­tig ge­baut, mit ro­ter Nase und ei­nem Ge­sicht vol­ler Pi­ckel. »Das ist durch­aus rich­tig; sie sau­gen uns Rus­sen das Mark aus, ohne selbst et­was da­für zu leis­ten!«

»Oh, wie Sie sich in mei­nem Fall ir­ren!« er­wi­der­te der Schwei­zer Pa­ti­ent in ru­hi­gem, ver­söhn­li­chem Ton. »Ich kann ja al­ler­dings nicht dar­über dis­pu­tie­ren, weil ich kei­nen Ge­samt­über­blick habe, aber mein Arzt hat mir von dem we­ni­gen, was er be­saß, noch das Geld für die Fahrt hier­her ge­ge­ben, und fast zwei Jah­re lang hat er mich dort aus sei­nen ei­ge­nen Mit­teln un­ter­hal­ten.«

»Wie? Hat­ten Sie wirk­lich nie­mand, der für Sie be­zahl­te?« frag­te der Schwarz­haa­ri­ge.

»Nein. Herr Paw­lischt­schew, der die Kos­ten mei­nes dor­ti­gen Auf­ent­halts ge­tra­gen hat­te, ist vor zwei Jah­ren ge­stor­ben; ich schrieb dann hier­her an die Ge­ne­ra­lin Je­pant­schi­na, eine ent­fern­te Ver­wand­te von mir, habe aber kei­ne Ant­wort er­hal­ten. So bin ich denn her­ge­reist.«

»Wo ge­den­ken Sie denn zu blei­ben?«

»Sie mei­nen, wo ich Woh­nung neh­men wer­de?… Das weiß ich noch nicht, wirk­lich nicht… es ist noch un­ge­wiss…«

»Dar­über ha­ben Sie noch kei­nen Ent­schluss ge­fasst?«

Bei­de Zu­hö­rer bra­chen von neu­em in ein Ge­läch­ter aus.

»Und die­ses Bün­del­chen ent­hält wohl Ihre gan­ze Habe?« frag­te der Schwarz­haa­ri­ge.

»Ich möch­te wet­ten, dass es so ist«, fiel mit sehr zu­frie­de­ner Mie­ne der rot­na­si­ge Be­am­te ein, »und dass Sie kein wei­te­res Ge­päck im Ge­päck­wa­gen ha­ben. Ob­wohl Ar­mut kei­ne Schan­de ist, wie man im­mer wie­der be­mer­ken muss.«

Es stell­te sich her­aus, dass es sich wirk­lich so ver­hielt: der blon­de jun­ge Mann ge­stand dies so­fort mit großer Be­reit­wil­lig­keit ein.

»Ihr Bün­del­chen hat trotz­dem einen ge­wis­sen Wert«, fuhr der Be­am­te, nach­dem er sich satt ge­lacht hat­te, fort (be­mer­kens­wert war, dass auch der Ei­gen­tü­mer des Bün­del­chens selbst schließ­lich beim An­blick der bei­den mit­zu­la­chen an­fing, was de­ren Hei­ter­keit noch ver­grö­ßer­te). »Man möch­te zwar wet­ten, dass kei­ne Rol­len mit aus­län­di­schen Gold­stücken, wie Na­po­leon­dors, Fried­richs­dors oder hol­län­di­schen Du­ka­ten, dar­in sind; das kann man zum Bei­spiel schon aus Ihren aus­län­di­schen Ga­ma­schen schlie­ßen, aber wenn man zu Ihrem Bün­del­chen noch eine sol­che Ver­wand­te hin­zu­nimmt wie die Ge­ne­ra­lin Je­pant­schi­na, dann ge­winnt auch das Bün­del­chen ge­wis­ser­ma­ßen einen hö­he­ren Wert, selbst­ver­ständ­lich nur in dem Fall, wenn die Ge­ne­ra­lin Je­pant­schi­na wirk­lich Ihre Ver­wand­te ist und Sie sich nicht aus Zer­streut­heit ir­ren… was ei­nem au­ßer­or­dent­lich leicht pas­sie­ren kann… sa­gen wir: in­fol­ge ei­nes Über­ma­ßes von Fan­ta­sie.«

»Oh, Sie ha­ben wie­der das Rich­ti­ge ge­trof­fen«, er­wi­der­te der blon­de jun­ge Mensch, »denn ich be­fin­de mich wirk­lich bei­nah in ei­nem Irr­tum, das heißt sie ist kaum mei­ne Ver­wand­te; ja ich habe mich tat­säch­lich da­mals gar nicht dar­über ge­wun­dert, dass ich kei­ne Ant­wort nach der Schweiz be­kam. Ich hat­te das ei­gent­lich auch so er­war­tet.«

»Da ha­ben Sie das Geld für die Fran­kie­rung des Brie­fes un­nütz aus­ge­ge­ben. Hm!… Nun, we­nigs­tens sind Sie of­fen­her­zig und auf­rich­tig, und das ist löb­lich! Hm!… Den Ge­ne­ral Je­pant­schin ken­ne ich, im Grun­de weil er eine all­ge­mein be­kann­te Per­sön­lich­keit ist, und den ver­stor­be­nen Herrn Paw­lischt­schew, der Sie in der Schweiz un­ter­hal­ten hat, habe ich eben­falls ge­kannt, vor­aus­ge­setzt, dass es sich um Ni­ko­lai An­dre­je­witsch Paw­lischt­schew han­delt, denn es wa­ren zwei Vet­tern. Der an­de­re be­fin­det sich noch auf der Krim. Ni­ko­lai An­dre­je­witsch aber, der Ver­stor­be­ne, war ein sehr acht­ba­rer Mann, hat­te gute Ver­bin­dun­gen und be­saß sei­ner­zeit vier­tau­send See­len…«

»Ganz rich­tig, er hieß Ni­ko­lai An­dre­je­witsch Paw­lischt­schew.« Nach­dem der jun­ge Mensch die­se Ant­wort ge­ge­ben hat­te, be­trach­te­te er un­ver­wandt und mit leb­haf­tem In­ter­es­se den Herrn, der sich über al­les so gut ori­en­tiert zeig­te.

Die­se Her­ren Al­les­wis­ser be­geg­nen ei­nem manch­mal, und in ei­ner be­stimm­ten ge­sell­schaft­li­chen Schicht so­gar ziem­lich häu­fig. Sie wis­sen al­les; der gan­ze un­ru­hi­ge For­schungs­trieb ih­res Ver­stan­des und ihre ge­sam­ten Fä­hig­kei­ten stre­ben un­auf­halt­sam nach ei­ner Sei­te hin, na­tür­lich in­fol­ge des Man­gels an wich­ti­ge­ren Le­bens­in­ter­es­sen und An­schau­un­gen, wie ein mo­der­ner Den­ker sich aus­drücken wür­de. Bei dem Aus­druck »sie wis­sen al­les« muss man üb­ri­gens an ein ziem­lich be­schränk­tes Ge­biet den­ken: wo der und der an­ge­stellt ist, mit wem er be­kannt ist, wie viel Ver­mö­gen er be­sitzt, wo er Gou­ver­neur ge­we­sen ist, was für eine Frau er ge­nom­men hat, wie viel Mit­gift er da­bei er­hal­ten hat, wer sein Vet­ter und sein ent­fern­te­rer Vet­ter ist und so wei­ter und so wei­ter, und sonst noch al­ler­lei von die­ser Art. Gro­ßen­teils ge­hen die­se Al­les­wis­ser mit durch­ge­sto­ße­nen Ell­bo­gen um­her und be­kom­men sieb­zehn Ru­bel Ge­halt mo­nat­lich. Die Leu­te, über die sie alle mög­li­chen Ein­zel­hei­ten wis­sen, wür­den na­tür­lich nicht sa­gen kön­nen, warum jene an ih­nen ein der­ar­ti­ges In­ter­es­se ha­ben, und da­bei fin­den vie­le die­ser Al­les­wis­ser an die­sem Wis­sen, das ei­ner gan­zen Wis­sen­schaft gleich­kommt, ein aus­ge­spro­che­nes Ver­gnü­gen und ge­lan­gen da­durch zu Selb­st­ach­tung und so­gar zu ei­nem sehr ho­hen Grad see­li­scher Zufrie­den­heit. Und es ist auch eine ver­füh­re­ri­sche Wis­sen­schaft. Ich habe Ge­lehr­te, Li­te­ra­ten, Dich­ter und Staats­män­ner ge­kannt, die in die­ser Wis­sen­schaft ihre größ­te Be­frie­di­gung, ihr höchs­tes Ziel fan­den und so­gar aus­ge­spro­chen nur hier­durch Kar­rie­re mach­ten.

Im wei­te­ren Ver­lauf die­ses Ge­sprächs gähn­te der schwarz­haa­ri­ge jun­ge Mensch, blick­te ziel­los durchs Fens­ter und war­te­te mit Un­ge­duld auf das Ende der Rei­se. Er war et­was zer­streut, so­gar sehr zer­streut, bei­nah auf­ge­regt; ja er be­nahm sich ei­ni­ger­ma­ßen son­der­bar: manch­mal hör­te er zu, ohne recht zu­zu­hö­ren, sah, ohne recht zu se­hen, und lach­te, ohne im nächs­ten Au­gen­blick zu wis­sen und sich zu er­in­nern, wor­über er ei­gent­lich ge­lacht hat­te.

»Aber ge­stat­ten Sie die Fra­ge: mit wem habe ich die Ehre?« wand­te sich auf ein­mal der Herr mit dem Ge­sicht vol­ler Pi­ckel an den blon­den jun­gen Mann mit dem Bün­del­chen.

»Fürst Lew Ni­ko­la­je­witsch Mysch­kin«, ant­wor­te­te die­ser, ohne zu zö­gern, mit größ­ter Be­reit­wil­lig­keit.

»Fürst Mysch­kin? Lew Ni­ko­la­je­witsch? Ken­ne ich nicht. Nicht ein­mal vom Hö­ren­sa­gen«, ant­wor­te­te der Be­am­te nach­den­kend. »Das heißt, ich mei­ne nicht den Na­men; der Name ist ja his­to­risch und in Ka­rams­ins Ge­schich­te Russ­lands zu fin­den; ich mei­ne Ihre Per­son, und über­haupt be­geg­nen Fürs­ten Mysch­kin ei­nem nir­gends mehr; man hört von ih­nen nicht ein­mal re­den.«

»Wie könn­te es auch an­ders sein!« ver­setz­te der Fürst so­gleich. »Fürs­ten Mysch­kin gibt es jetzt au­ßer mir gar kei­ne mehr; ich glau­be, ich bin der letz­te. Und was mei­nen Va­ter und mei­nen Groß­va­ter an­langt, so be­sa­ßen die nur ein ein­zi­ges Gut, auf dem sie zu­rück­ge­zo­gen leb­ten. Mein Va­ter war üb­ri­gens Leut­nant bei der Li­nie, vor­her Fähn­rich. Und nun weiß ich nicht, in wel­cher Wei­se die Ge­ne­ra­lin Je­pant­schi­na zu den Mysch­kin­schen Fürs­ten­töch­tern ge­hört; sie ist eben­falls die Letz­te in ih­rer Art…«2

»Ha­ha­ha! Die Letz­te in ih­rer Art! Haha! Wie Sie das ge­dreht ha­ben!« ki­cher­te der Be­am­te.

Auch der schwarz­haa­ri­ge jun­ge Mann lä­chel­te. Der Blon­de war et­was ver­le­gen, dass es ihm ge­lun­gen war, ein al­ler­dings ziem­lich ein­fa­ches Wort­spiel zu ma­chen.

»Sei­en Sie über­zeugt, ich habe es ganz ohne Ab­sicht ge­sagt«, er­klär­te er schließ­lich ei­ni­ger­ma­ßen be­fan­gen.

»Sehr be­greif­lich, sehr be­greif­lich!« stimm­te ihm der Be­am­te hei­ter bei.

»Ha­ben Sie denn dort auch Wis­sen­schaf­ten be­trie­ben, Fürst, bei Ihrem Pro­fes­sor?« frag­te un­ver­mit­telt der Schwarz­haa­ri­ge.

»Ja… al­ler­dings…«

»Ich für mei­ne Per­son habe nie et­was stu­diert.«

»Auch ich nur ein klein we­nig«, füg­te der Fürst in ei­nem Tone hin­zu, der bei­nah wie eine Bit­te um Ent­schul­di­gung klang. »Mir einen re­gu­lä­ren Un­ter­richt zu er­tei­len, hielt man in An­be­tracht mei­ner Krank­heit nicht für mög­lich.«

»Ken­nen Sie die Fa­mi­lie Ro­gos­hin?« frag­te der schwarz­haa­ri­ge jun­ge Mensch schnell.

»Nein, ich ken­ne sie nicht, gar nicht. Ich ken­ne in Russ­land über­haupt nur we­ni­ge Men­schen. Ist Ihr Name Ro­gos­hin?«

»Ja, ich hei­ße Ro­gos­hin, Par­fen Ro­gos­hin.«

»Par­fen? Sind Sie da nicht viel­leicht ein Mit­glied eben je­ner Fa­mi­lie Ro­gos­hin…«, be­gann der Be­am­te mit noch ge­stei­ger­ter Wich­tig­tue­rei.

»Ja­wohl, eben je­ner, eben je­ner«, un­ter­brach ihn schnell und mit un­höf­li­cher Un­ge­duld der Schwarz­haa­ri­ge, der über­haupt dem Be­am­ten mit dem Ge­sicht vol­ler Pi­ckel nie Be­ach­tung ge­schenkt, son­dern gleich von An­fang an im­mer nur zu dem Fürs­ten ge­spro­chen hat­te.

»Ja… ist es mög­lich?« rief der Be­am­te starr vor Stau­nen, die Au­gen tra­ten ihm bei­nah aus den Höh­len, und sein gan­zes Ge­sicht nahm so­gleich einen ehr­er­bie­ti­gen, knech­ti­schen, ja er­schro­cke­nen Aus­druck an. »Sind Sie ein Sohn eben je­nes erb­li­chen Ehren­bür­gers Sem­jon Par­fe­no­witsch Ro­gos­hin, der vor ei­nem Mo­nat starb und ein ba­res Ka­pi­tal von zwei und ei­ner hal­b­en Mil­li­on hin­ter­ließ?«

»Wo­her ha­ben Sie denn er­fah­ren, dass er ein ba­res Ka­pi­tal von zwei und ei­ner hal­b­en Mil­li­on hin­ter­las­sen hat?« un­ter­brach ihn der Schwarz­haa­ri­ge, der sich auch dies­mal nicht dazu her­a­bließ, den Be­am­ten an­zu­se­hen. »Nun sehe mal ei­ner den Kerl an!« (Er zwin­ker­te dem Fürs­ten zu.) »Und was ha­ben die Leu­te nur da­von, dass sie sich so­fort mit Schmei­che­lei­en an einen her­an­ma­chen? Aber wahr ist, dass mein Va­ter ge­stor­ben ist und ich jetzt einen Mo­nat nach­her bei­nah ohne Stie­fel von Ps­kow nach Hau­se fah­re. We­der mein nie­der­träch­ti­ger Bru­der noch mei­ne Mut­ter ha­ben mir Geld oder eine Benach­rich­ti­gung ge­schickt nichts ha­ben sie mir ge­schickt! Als ob ich ein Hund wäre! Ei­nen gan­zen Mo­nat lang habe ich in Ps­kow im Fie­ber ge­le­gen!«

»Aber jetzt wer­den Sie mehr als ein Mil­li­ön­chen mit ei­nem­mal be­kom­men, min­des­tens so­viel, o mein Herr­gott!« rief der Be­am­te und schlug die Hän­de zu­sam­men.

»Na, was geht ihn das an? Sa­gen Sie bit­te selbst!« sag­te Ro­gos­hin, wie­der mit dem Kop­fe auf ihn hin­deu­tend, in ge­reiz­tem und är­ger­li­chem Ton. »Ich wer­de Ih­nen ja doch nicht eine ein­zi­ge Kope­ke ge­ben, und wenn Sie sich vor mir auf den Kopf stel­len und auf den Hän­den ge­hen.«

»Das wer­de ich tun, das wer­de ich tun!«

»Da ha­ben wir’s! Aber ich wer­de Ih­nen nichts ge­ben, gar nichts, und wenn Sie eine gan­ze Wo­che lang tan­zen!«

»Sie brau­chen mir nichts zu ge­ben! Das ver­lan­ge ich auch gar nicht! Sie brau­chen mir nichts zu ge­ben! Aber ich wer­de doch tan­zen. Mei­ne Frau und mei­ne klei­nen Kin­der wer­de ich im Stich las­sen und vor Ih­nen tan­zen. Aus rei­ner Lie­bens­wür­dig­keit!«

»Pfui über Sie!« sag­te der Schwarz­haa­ri­ge und spuck­te aus. »Vor fünf Wo­chen be­fand ich mich in dem­sel­ben Zu­stand wie Sie jetzt«, wand­te er sich an den Fürs­ten. »Mit ei­nem ein­zi­gen Bün­del­chen ent­floh ich vor mei­nem Va­ter nach Ps­kow zu ei­ner Tan­te, und dort habe ich am Fie­ber krank ge­le­gen, und er ist in mei­ner Ab­we­sen­heit ge­stor­ben. Ein Schlag­fluss hat ihm den Garaus ge­macht. Ich wün­sche dem Ver­stor­be­nen die ewi­ge Ruhe; aber er hat mich da­mals fast zu Tode ge­prü­gelt. Sie kön­nen es mir glau­ben, Fürst, bei Gott! Wäre ich da­mals nicht da­von­ge­lau­fen, so hät­te er mich auf dem Fleck tot­ge­schla­gen.«

»Hat­ten Sie ihn durch ir­gend et­was ge­reizt?« frag­te der Fürst und be­trach­te­te mit ei­nem ge­wis­sen be­son­de­ren In­ter­es­se den Mil­lio­när im Schaf­pelz.

Aber ob­gleich schon in dem Be­griff ei­ner zu er­ben­den Mil­li­on mög­li­cher­wei­se et­was Merk­wür­di­ges lag, so war da doch noch et­was an­de­res, was den Fürs­ten in Ver­wun­de­rung ver­setz­te und sein In­ter­es­se weck­te; und auch Ro­gos­hin selbst un­ter­hielt sich aus ir­gend­ei­nem Grund gern mit dem Fürs­ten, wie­wohl er an­schei­nend mehr ein me­cha­ni­sches als see­li­sches Be­dürf­nis nach Un­ter­hal­tung hat­te, so­zu­sa­gen mehr aus Zer­streut­heit als aus Gut­her­zig­keit, aus Un­ru­he und Auf­re­gung, um nur je­man­den an­zu­se­hen und über ir­gend­ei­nen Ge­gen­stand die Zun­ge in Be­we­gung zu set­zen. Es schi­en, dass er auch jetzt noch Fie­ber hat­te, we­nigs­tens in ei­nem ge­wis­sen Gra­de. Was den Be­am­ten an­langt, so hing die­ser or­dent­lich an Ro­gos­hins Mund, wag­te kaum zu at­men und fing je­des Wort auf und leg­te es gleich­sam auf die Waa­ge, als hiel­te er es für einen Bril­lan­ten.

»Er war zor­nig, ge­wiss, ja, und viel­leicht nicht ohne Grund«, ant­wor­te­te Ro­gos­hin, »aber wer sich am schlimms­ten ge­gen mich be­nahm, das war mein Bru­der. Von mei­ner Mut­ter will ich nichts sa­gen; sie ist eine alte Frau, liest die Le­bens­be­schrei­bun­gen der Hei­li­gen, sitzt mit al­ten Wei­bern zu­sam­men, und was Bru­der Sen­ka3 an­ord­net, das muss ge­sche­hen. Aber er, warum hat er mich sei­ner­zeit nicht be­nach­rich­tigt? Na, be­grei­fen lässt es sich schon! Es ist wahr, ich lag da­mals ohne Be­sin­nung. Und es war auch ein Te­le­gramm ab­ge­schickt, sa­gen sie. Und es ist auch ein Te­le­gramm bei der Tan­te an­ge­kom­men. Aber sie ist seit drei­ßig Jah­ren Wit­we und sitzt im­mer vom Mor­gen bis zum Abend mit Got­tes­nar­ren zu­sam­men. Sie ist bei­nah eine Non­ne, oder ei­gent­lich noch schlim­mer als eine Non­ne. Vor Te­le­gram­men hat sie von je­her Angst ge­habt, und so hat sie auch die­ses un­er­öff­net auf der Po­li­zei ab­ge­lie­fert, und da wird es wohl noch lie­gen. Erst Ko­new, Was­si­lij Was­sil­je­witsch Ko­new, hat sich mei­ner an­ge­nom­men und mir al­les ge­schrie­ben. Von der Bro­kat­de­cke auf dem Sar­ge des Va­ters hat der Bru­der bei Nacht die mas­siv gol­de­nen Quas­ten ab­ge­schnit­ten und ge­sagt: ›Die sind einen tüch­ti­gen Bat­zen Geld wert.‹ Schon al­lein da­für kann er nach Si­bi­ri­en kom­men, wenn ich will, denn das ist Hei­lig­tums­schän­dung. He, Sie Vo­gel­scheu­che!« wand­te er sich an den Be­am­ten. »Wie steht es im Ge­setz: ist das Hei­lig­tums­schän­dung?«

»Ja­wohl, Hei­lig­tums­schän­dung, Hei­lig­tums­schän­dung!« stimm­te ihm der Be­am­te so­gleich bei.

»Und kommt ei­ner da­für nach Si­bi­ri­en?«

»Ge­wiss, nach Si­bi­ri­en, nach Si­bi­ri­en! Ohne wei­te­res nach Si­bi­ri­en!«

»Bei mir zu Hau­se den­ken sie be­stimmt, dass ich noch krank sei«, fuhr Ro­gos­hin, zu dem Fürs­ten ge­wen­det, fort. »Aber ich habe mich, ohne ein Wort zu sa­gen, ob­wohl ich noch nicht her­ge­stellt bin, still auf die Bahn ge­setzt und fah­re jetzt hin. Nun mach mir das Tor auf, Bru­der Sem­jon Sem­jo­no­witsch! Er hat mich bei mei­nem ver­stor­be­nen Va­ter ver­petzt, das weiß ich. Aber dass ich wirk­lich durch die Ge­schich­te mit Na­stas­ja Fil­ip­pow­na da­mals den Va­ter auf­ge­bracht habe, das ist wahr. Da habe ich al­lein schuld. Das habe ich in ei­nem Au­gen­blick der Un­be­dacht­sam­keit ge­tan.«

»Durch die Ge­schich­te mit Na­stas­ja Fil­ip­pow­na?« sag­te dir Be­am­te in krie­che­ri­schem Tone, wie wenn er et­was über­leg­te.

»Die Dame ken­nen Sie nicht!« schrie ihn Ro­gos­hin un­ge­dul­dig an.

»Und ich ken­ne sie doch!« er­wi­der­te der Be­am­te tri­um­phie­rend.

»Ach was! Es gibt vie­le Da­men, die Na­stas­ja Fil­ip­pow­na hei­ßen! Und ich muss sa­gen: was sind Sie für ein un­ver­schäm­tes Sub­jekt! Na, das habe ich doch gleich ge­wusst, dass sich ir­gend so ein Sub­jekt an mich hän­gen wird!« fuhr er, zum Fürs­ten ge­wen­det, fort.

»Aber viel­leicht ken­ne ich sie doch!« ver­setz­te der Be­am­te be­harr­lich. »Da müss­te ich nicht Le­be­dew sein, wenn ich sie nicht ken­nen soll­te! Euer Durch­laucht be­lie­ben mir einen Vor­wurf zu ma­chen; aber wie, wenn ich Ih­nen den Be­weis lie­fe­re? Also es ist die­sel­be Na­stas­ja Fil­ip­pow­na, um de­rent­wil­len Ihr Va­ter Sie mit ei­nem Ha­sel­stock er­mah­nen woll­te; es ist Na­stas­ja Fil­ip­pow­na Ba­rasch­ko­wa, so­zu­sa­gen so­gar eine vor­neh­me Dame und in ih­rer Art eine Fürs­tin, und sie hat ein Ver­hält­nis mit ei­nem ge­wis­sen Toz­kij, mit Afa­nas­sij Iwa­no­witsch Toz­kij, aus­schließ­lich mit die­sem einen, ei­nem Guts­be­sit­zer und Groß­ka­pi­ta­lis­ten, Mit­glied ver­schie­de­ner Han­dels­ge­sell­schaf­ten, der in­fol­ge die­ser sei­ner kom­mer­zi­el­len Tä­tig­keit mit dem Ge­ne­ral Je­pant­schin in sehr freund­schaft­li­cher Be­zie­hung steht…«

»Na, nun sieh mal an!« rief Ro­gos­hin, wirk­lich er­staunt, aus. »Pfui Teu­fel, er weiß wahr­haf­tig ge­nau Be­scheid.«

»Er weiß al­les! Le­be­dew weiß al­les! Auch Alexasch­ka Li­di­at­schows Beglei­ter bin ich zwei Mo­na­te lang ge­we­sen, Euer Durch­laucht, und zwar eben­falls nach dem Tode sei­nes Va­ters, und ich ken­ne alle, ge­ra­de­zu alle sei­ne Heim­lich­kei­ten, und es kam so weit, dass er ohne mich kei­nen Schritt tat. Jetzt sitzt er im Schuld­ge­fäng­nis; aber da­mals hat­te ich Ge­le­gen­heit, auch Fräu­lein Ar­man­ce und Fräu­lein Cora­lie und die Fürs­tin Paz­ka­ja und Na­stas­ja Fil­ip­pow­na ken­nen­zu­ler­nen, und auch vie­les, vie­les zu er­fah­ren, hat­te ich Ge­le­gen­heit.«

»Na­stas­ja Fil­ip­pow­na? Hat sie etwa mit Lichat­schow…«, rief Ro­gos­hin und blick­te den Re­den­den böse an; so­gar sei­ne Lip­pen wa­ren blass ge­wor­den und zit­ter­ten.

»N-ein! N-ein! Ent­schie­den nein!« be­eil­te sich der Be­am­te, schnell ge­fasst, zu er­wi­dern. »Bei der konn­te Lichat­schow durch kein Geld zum Zie­le ge­lan­gen! Nein, die ist von an­de­rer Art als Fräu­lein Ar­man­ce. Da ist Toz­kij der ein­zi­ge. Abends sitzt sie im Gro­ßen Thea­ter oder im Fran­zö­si­schen Thea­ter in ih­rer ei­ge­nen Loge. Die Of­fi­zie­re re­den ja da un­ter sich al­ler­lei; aber auch die kön­nen nichts be­wei­sen. ›Da ist die be­rühm­te Na­stas­ja Fil­ip­pow­na‹, sa­gen sie, aber das ist auch al­les; sonst ist da nichts zu sa­gen! Weil eben nichts vor­liegt.«

»Ja, so ver­hält sich das al­les«, be­stä­tig­te Ro­gos­hin mit trüber, fins­te­rer Mie­ne. »Auch Sal­joshew hat es mir da­mals ge­sagt. Ich ging da­mals, Fürst, in ei­nem Schnur­rock, den mein Va­ter schon vor zwei Jah­ren ab­ge­legt hat­te, über den New­skij Pro­spekt, und sie kam aus ei­nem La­den her­aus und stieg in ih­ren Wa­gen. Da stand ich auf der Stel­le in Flam­men. Ich be­geg­ne­te mei­nem Freun­de Sal­joshew; der sah an­ders aus als ich; er geht wie ein Fri­seur­ge­hil­fe, im­mer die Lor­gnet­te im Auge; wir aber muss­ten bei un­serm Va­ter in Schmiers­tie­feln ge­hen und uns mit fas­ten­mä­ßi­ger Kohl­sup­pe amü­sie­ren. ›Die ist nichts für dich‹, sag­te er; ›das ist‹, sag­te er, ›ei­ne Fürs­tin, sie heißt Na­stas­ja Fil­ip­pow­na, mit dem Fa­mi­li­enna­men Ba­rasch­ko­wa, und lebt mit Toz­kij; Toz­kij aber weiß jetzt nicht, wie er von ihr los­kom­men soll, weil er näm­lich schon ganz in die so­li­den Jah­re hin­ein­ge­kom­men ist (er ist fünf­und­fünf­zig alt) und eine der ers­ten Schön­hei­ten von Pe­ters­burg hei­ra­ten will.‹ Dann teil­te er mir noch mit, dass ich Na­stas­ja Fil­ip­pow­na an dem­sel­ben Tage im Gro­ßen Thea­ter wie­der­se­hen kön­ne, im Bal­lett; sie wer­de in ih­rer Par­ter­re­lo­ge sit­zen. Bei uns zu Hau­se, bei un­serm Va­ter, da hät­te es mal ei­ner pro­bie­ren sol­len und sa­gen, er wol­le ins Bal­lett ge­hen; der Va­ter hät­te kur­z­en Pro­zess ge­macht und ihn halb­tot ge­prü­gelt! Ich schlich mich in­des­sen still für ein Stünd­chen weg und sah Na­stas­ja Fil­ip­pow­na wie­der. Die gan­ze fol­gen­de Nacht konn­te ich nicht schla­fen. Am an­de­ren Mor­gen gab mir der Va­ter zwei fünf­pro­zen­ti­ge Staats­schuld­schei­ne, je­den zu fünf­tau­send Ru­bel, und sag­te: ›Geh hin und ver­kau­fe sie; dann tra­ge sie­ben­tau­send­fünf­hun­dert Ru­bel zu An­dre­jew aufs Kon­tor und be­zah­le sie dort; und was du von den zehn­tau­send noch üb­rig hast, das bring ge­ra­des­wegs hier­her und lie­fe­re es mir ab; ich wer­de auf dich war­ten.‹ Die Staats­schuld­schei­ne ver­kauf­te ich und emp­fing das Geld da­für; aber zu An­dre­jew aufs Kon­tor be­gab ich mich nicht, son­dern ich ging, ohne mich um­zu­se­hen, nach dem Eng­li­schen Ma­ga­zin und such­te dort für das gan­ze Geld ein Paar Ohr­ge­hän­ge aus, je­des mit ei­nem Bril­lan­ten fast von Nuss­grö­ße; vier­hun­dert Ru­bel blieb ich noch schul­dig; ich nann­te mei­nen Na­men, und man gab mir Kre­dit. Mit den Ohr­ge­hän­gen ging ich gleich zu Sal­joshew: ›So und so, Bru­der‹, sag­te ich, ›wir wol­len zu Na­stas­ja Fil­ip­pow­na ge­hen.‹ Wir gin­gen hin. Was ich da­mals un­ter den Fü­ßen und vor mir und rechts und links hat­te, weiß ich nicht; dar­an habe ich kei­ne Erin­ne­rung. Wir tra­ten bei ihr gleich in den Sa­lon ein, und dann kam sie selbst zu uns. Ich ließ üb­ri­gens da­mals nicht be­kannt wer­den, dass ich selbst der Ge­ber sei, son­dern Sal­joshew sag­te: ›Von Par­fen Ro­gos­hin, der Sie ges­tern ge­se­hen hat, ein klei­nes An­den­ken; ha­ben Sie die Ge­wo­gen­heit, es an­zu­neh­men!‹ Sie öff­ne­te das Etui, be­trach­te­te den Schmuck und lä­chel­te. ›Sa­gen Sie Ihrem Freund Herrn Ro­gos­hin mei­nen Dank‹, sag­te sie, ›für sei­ne lie­bens­wür­di­ge Auf­merk­sam­keit!‹ Dann ver­neig­te sie sich und ging hin­aus. Na, warum bin ich da­mals nicht dort auf dem Fleck ge­stor­ben! Aber wenn ich fort­ging, so tat ich es mit dem Ge­dan­ken: ›Le­ben­dig kom­me ich doch nie wie­der her!‹ Was ich aber am schwers­ten als Krän­kung emp­fand, das war, dass die­se Ka­nail­le, der Sal­joshew, sich an­ge­maßt hat­te, al­les al­lein zu re­den und zu tun. Ich bin von klei­ner Sta­tur und war wie ein Ple­be­jer ge­klei­det und hat­te da­ge­stan­den, sie an­ge­st­arrt und ge­schwie­gen, weil ich mich schäm­te; er aber in mo­di­schem An­zug, mit po­ma­di­sier­tem und ge­kräu­sel­tem Haar, mit sei­nem fri­schen Teint und sei­ner ka­rier­ten Kra­wat­te hat­te den Lie­bens­wür­di­gen ge­spielt und ein Mal über das an­de­re ge­die­nert, und al­ler Wahr­schein­lich­keit nach hat­te sie ihn für mich ge­nom­men! ›Na‹ sag­te ich, als wir hin­aus­ge­gan­gen wa­ren, ›du wage nicht, dich wie­der bei mir bli­cken zu las­sen, ver­stehst du?‹ Er lach­te: ›A­ber wie wirst du jetzt vor dei­nem Va­ter Sem­jon Par­fe­nytsch Re­chen­schaft ab­le­gen?‹ Die Wahr­heit zu sa­gen, ich hat­te da­mals schon vor, ohne erst nach Hau­se zu ge­hen, mich ins Was­ser zu stür­zen; aber ich dach­te: ›Es ist ja doch ganz gleich!‹ und kehr­te wie ein ar­mer Sün­der nach Hau­se zu­rück.«

»O weh, o weh!« sag­te der Be­am­te und schnitt da­bei eine Gri­mas­se; ja er schüt­tel­te sich so­gar mit dem gan­zen Lei­be. »Und der Se­li­ge war im­stan­de, nicht nur we­gen zehn­tau­send, son­dern schon we­gen zehn Ru­bel einen ins Jen­seits zu spe­die­ren.« Er nick­te dem Fürs­ten zu. Der Fürst sah Ro­gos­hin mit leb­haf­tem In­ter­es­se an; es schi­en, als sei der in die­sem Au­gen­blick noch blas­ser.

»Dazu war er im­stan­de!« wie­der­hol­te Ro­gos­hin. »Aber was wis­sen Sie da­von?« Dann er­zähl­te er dem Fürs­ten wei­ter: »Er er­fuhr so­gleich al­les; Sal­joshew hat­te es je­dem, der ihm be­geg­ne­te, aus­ge­schwatzt. Der Va­ter nahm mich, schloss mich im obe­ren Stock­werk ein und prü­gel­te mich eine gan­ze Stun­de lang. ›Und das ist nur eine Vor­be­rei­tung für dich‹, sag­te er. ›Heu­te Abend kom­me ich, um dir gute Nacht zu sa­gen.‹ Soll­te man’s glau­ben? Der alte Mann fuhr zu Na­stas­ja Fil­ip­pow­na, ver­beug­te sich tief vor ihr und fleh­te sie un­ter Trä­nen an; end­lich hol­te sie ihm das Etui her­bei, warf es ihm hin und sag­te: ›Da hast du dei­ne Ohr­rin­ge, al­ter Grau­bart; sie sind für mich jetzt um das Zehn­fa­che im Wert ge­stie­gen, nun ich weiß, dass Par­fen sie ei­nem so stren­gen Va­ter zum Trotz be­schafft hat. Grü­ße Par­fen Sem­jonytsch von mir und be­stel­le ihm mei­nen Dank!‹ Na, ich hat­te un­ter­des­sen mich von mei­ner Mut­ter seg­nen las­sen und mir von Ser­gej Pro­tu­schin zwan­zig Ru­bel ge­borgt; da­mit setz­te ich mich auf die Bahn und fuhr nach Ps­kow, wo ich fie­bernd an­kam. Dort lang­weil­ten mich die al­ten Frau­en durch das Vor­le­sen von Ge­be­ten aus dem Kir­chen­ka­len­der rein zu Tode, und ich saß be­trun­ken da­bei; als ich mein letz­tes Geld in den Knei­pen ver­trun­ken hat­te, lag ich die gan­ze Nacht be­wusst­los auf der Stra­ße, und am Mor­gen hat­te ich dann das Fie­ber; und au­ßer­dem hat­ten mich in der Nacht auch noch die Hun­de an­ge­fres­sen. Nur mit Mühe habe ich mich er­holt.«

»Nun, nun, jetzt wird aber Na­stas­ja Fil­ip­pow­na in ei­ner an­de­ren Ton­art zu uns re­den!« ki­cher­te der Be­am­te und rieb sich da­bei die Hän­de. »Was ist jetzt an je­nem Ohr­ge­hän­ge ge­le­gen, mein Herr! Jetzt wer­den wir ihr sol­che Ohr­ge­hän­ge zum Er­satz schen­ken, dass…«

»Hö­ren Sie mal, wenn Sie nur noch ein ein­zi­ges Mal ein Wort über Na­stas­ja Fil­ip­pow­na sa­gen, dann gna­de Ih­nen Gott! Ich wer­de Sie durch­prü­geln, wenn Sie auch mit Lichat­schow ver­kehrt ha­ben!« schrie Ro­gos­hin und pack­te ihn kräf­tig am Kra­gen.

»Aber wenn Sie mich durch­prü­geln, so be­deu­tet das, dass Sie mich nicht von sich sto­ßen! Prü­geln Sie mich! Gera­de da­durch ge­win­nen Sie mich zum Freun­de! Wenn Sie mich durch­ge­hau­en ha­ben, so ha­ben Sie ge­ra­de da­durch un­se­re Freund­schaft be­sie­gel­t… Aber da sind wir an­ge­langt!«

Sie fuh­ren tat­säch­lich in den Bahn­hof ein. Ob­gleich Ro­gos­hin ge­sagt hat­te, dass er ganz in der Stil­le ab­ge­reist sei, er­war­te­ten ihn doch schon meh­re­re Men­schen. Sie rie­fen und wink­ten ihm mit den Müt­zen.

»Nun sieh mal, Sal­joshew ist auch da!« mur­mel­te Ro­gos­hin, in­dem er mit ei­nem tri­um­phie­ren­den, so­gar et­was bos­haf­ten Lä­cheln nach ih­nen hin­blick­te; dann wand­te er sich auf ein­mal zum Fürs­ten. »Fürst, ich weiß nicht, wes­we­gen ich dich lieb­ge­won­nen habe. Vi­el­leicht, weil ich dich in ei­nem sol­chen Au­gen­blick ge­trof­fen habe; aber den hier habe ich doch auch ge­trof­fen« (er wies auf Le­be­dew), »und den habe ich nicht lieb­ge­won­nen. Komm zu mir, Fürst! Wir wer­den dir die­se Ga­ma­schen aus­zie­hen; ich wer­de dir den bes­ten Mar­der­pelz kau­fen, dir den schöns­ten Frack ma­chen las­sen, eine wei­ße Wes­te oder was für eine du sonst wünschst; ich wer­de dir die Ta­schen voll Geld stop­fen, und… dann wol­len wir zu Na­stas­ja Fil­ip­pow­na fah­ren! Wirst du kom­men oder nicht?«

»Ge­hen Sie dar­auf ein, Fürst Lew Ni­ko­la­je­witsch!« füg­te Le­be­dew in ein­dring­li­chem, fei­er­li­chem Tone hin­zu. »Las­sen Sie sich das ja nicht ent­ge­hen! Las­sen Sie sich das ja nicht ent­ge­hen!«

Fürst Mysch­kin stand auf, streck­te Ro­gos­hin höf­lich die Hand hin und sag­te freund­lich zu ihm:

»Ich wer­de mit dem größ­ten Ver­gnü­gen kom­men und dan­ke Ih­nen herz­lich da­für, dass Sie mich lieb­ge­won­nen ha­ben. Ich wer­de so­gar viel­leicht heu­te schon kom­men, wenn ich Zeit fin­de. Denn ich sage Ih­nen auf­rich­tig: auch Sie ha­ben mir sehr ge­fal­len, und be­son­ders als Sie von den Bril­lan­tohr­ge­hän­gen er­zähl­ten. Aber auch schon vor den Ohr­ge­hän­gen ha­ben Sie mir ge­fal­len, ob­wohl Sie eine so düs­te­re Mie­ne ha­ben. Ich dan­ke Ih­nen auch für die ver­spro­che­nen Klei­der und den Pelz; denn ich wer­de wirk­lich Klei­der und einen Pelz bald nö­tig ha­ben. An Geld be­sit­ze ich in die­sem Au­gen­blick kaum eine Kope­ke.«

»Geld wird da­sein, zum Abend wird Geld da­sein; komm nur!«

»Es wird da­sein, wird da­sein«, echo­te der Be­am­te. »Zum Abend, noch vor Son­nen­un­ter­gang, wird wel­ches da­sein!«

»Sind Sie ein großer Freund des weib­li­chen Ge­schlechts, Fürst? Sa­gen Sie es mir schon vor­her!«

»Ich? N-n-nein! Ich bin ja… Sie wis­sen viel­leicht nicht, ich ken­ne ja in­fol­ge mei­ner an­ge­bo­re­nen Krank­heit die Frau­en über­haupt nicht.«

»Nun, wenn’s so ist«, rief Ro­gos­hin, »so bist du ja ein rich­ti­ger Got­tes­narr, Fürst, und sol­che Men­schen wie dich liebt Gott.«

»Und sol­che Men­schen liebt Gott der Herr«, wie­der­hol­te der Be­am­te.

»Und Sie kön­nen mir fol­gen, Sie Schmeiß­flie­ge!« sag­te Ro­gos­hin zu Le­be­dew, und alle ver­lie­ßen den Bahn­wa­gen.

Le­be­dew hat­te also schließ­lich doch sein Ziel er­reicht. Bald ent­fern­te sich der lär­men­de Hau­fe in Rich­tung des Wos­nes­sens­kij Pro­spekts. Der Fürst muss­te sich nach der Li­te­jna­ja wen­den. Es war feucht und nass; der Fürst er­kun­dig­te sich bei Vor­über­ge­hen­den: er hör­te, dass es bis zum Ende sei­nes We­ges etwa drei Werst4 sei­en, und ent­schied sich da­für, eine Drosch­ke zu neh­men.

Die äu­ße­re Er­schei­nung von Le­be­we­sen, ins­be­son­de­re des Men­schen und hier spe­zi­ell die für einen Men­schen cha­rak­te­ris­ti­schen Ge­sichts­zü­ge.  <<<

Kann hei­ßen: »die Letz­te ih­res Ge­schlech­tes« oder »die Ge­rings­te von ih­rer Sor­te«. (A.d.Ü.)  <<<

Ver­klei­ne­rungs­form von Sem­jon. (A.d.Ü.)  <<<

Russ. Weg­maß, 1 Werst en­spricht etwa 1 km  <<<

II

Der Ge­ne­ral Je­pant­schin wohn­te in sei­nem ei­ge­nen Hau­se, et­was seit­wärts von der Li­te­jna­ja, nach der Preo­bras­hens­kij-Ka­the­dra­le zu. Au­ßer die­sem statt­li­chen Hau­se, von dem fünf Sechs­tel ver­mie­tet wa­ren, be­saß Ge­ne­ral Je­pant­schin noch ein ge­wal­ti­ges Haus in der Sa­do­wa­ja, das gleich­falls einen sehr ho­hen Er­trag brach­te. Au­ßer die­sen bei­den Häu­sern hat­te er dicht bei Pe­ters­burg ein sehr be­deu­ten­des, ein­träg­li­ches Gut und fer­ner im Pe­ters­bur­ger Krei­se eine Fa­brik. In frü­he­ren Zei­ten hat­te Ge­ne­ral Je­pant­schin, wie all­ge­mein be­kannt war, sich auch an Brannt­wein­pach­tun­gen be­tei­ligt. Jetzt war er Mit­glied meh­re­rer so­li­der Ak­ti­en­ge­sell­schaf­ten und hat­te dort eine sehr ge­wich­ti­ge Stim­me. Er galt als ein Mann mit großem Ver­mö­gen, aus­ge­dehn­ter Tä­tig­keit und ein­fluss­rei­chen Ver­bin­dun­gen. An man­chen Stel­len hat­te er es ver­stan­den, sich völ­lig un­ent­behr­lich zu ma­chen, un­ter an­derm auch in sei­nem Dienst. Aber da­ne­ben war auch be­kannt, dass Iwan Fjo­do­ro­witsch Je­pant­schin ein Mann ohne Bil­dung war, der Sohn ei­nes ge­mei­nen Sol­da­ten; dies konn­te ihm ohne Zwei­fel nur zur Ehre ge­rei­chen, aber ob­gleich der Ge­ne­ral ein ver­stän­di­ger Mensch war, so war er doch nicht frei von klei­nen, sehr ver­zeih­li­chen Schwä­chen und lieb­te es nicht, dass je­mand auf ge­wis­se Din­ge an­spiel­te. Aber ein ver­stän­di­ger, ge­wand­ter Mensch war er un­strei­tig. So zum Bei­spiel be­folg­te er den Grund­satz, sich nicht vor­zu­drän­gen, wo es zweck­mä­ßig war, in den Hin­ter­grund zu tre­ten, und vie­le schätz­ten ihn ge­ra­de we­gen sei­ner Sch­licht­heit, ge­ra­de des­we­gen, weil er im­mer sei­nen Platz kann­te. Wenn in­des­sen die­se Be­ur­tei­ler nur ge­se­hen hät­ten, was manch­mal in Iwan Fjo­do­ro­witschs See­le vor­ging, der sei­nen Platz so gut kann­te! Ob­wohl er wirk­lich große Ge­schick­lich­keit und Er­fah­rung in ir­di­schen Din­gen und man­che be­ach­tens­wer­te Fä­hig­kei­ten be­saß, so ver­mied er es doch, als der geis­ti­ge Ur­he­ber ei­nes Pla­nes zu er­schei­nen, und tat lie­ber so, als füh­re er nur eine frem­de Idee aus; er gab sich als ein Mann, der »ohne Krie­che­rei treu er­ge­ben« ist, und (wozu lässt man sich nicht durch die Zeit­ver­hält­nis­se brin­gen?) so­gar als ech­ter Rus­se. In letz­te­rer Hin­sicht ge­sch­a­hen mit ihm so­gar ei­ni­ge amüsan­te Ge­schich­ten; aber der Ge­ne­ral ließ nie den Kopf hän­gen, auch bei den ko­mischs­ten Vor­fäl­len nicht; au­ßer­dem hat­te er Glück, so­gar im Kar­ten­spiel, und er spiel­te au­ßer­or­dent­lich hoch und ver­barg ab­sicht­lich nicht die­se klei­ne (wenn man will) Schwä­che, die ihm in vie­len Fäl­len so we­sent­li­chen Nut­zen brach­te, son­dern kehr­te sie viel­mehr her­aus. Die ge­sell­schaft­li­chen Krei­se, in de­nen er ver­kehr­te, wa­ren von sehr ver­schie­de­ner Art, selbst­ver­ständ­lich je­doch sämt­lich »durch­aus an­stän­dig«. Aber es lag noch eine große Zu­kunft vor ihm; er konn­te ab­war­ten, konn­te noch sehr ab­war­ten, und al­les muss­te zur rech­ten Zeit und in der rich­ti­gen Ord­nung kom­men. Auch was sein Le­bensal­ter an­lang­te, be­fand sich Ge­ne­ral Je­pant­schin noch, wie man so zu sa­gen pflegt, in den bes­ten Jah­ren, das heißt er war sechs­und­fünf­zig Jah­re alt, nicht äl­ter, was je­den­falls ein blü­hen­des Le­bensal­ter dar­stellt, ein Le­bensal­ter, von dem ei­gent­lich erst das rich­ti­ge Le­ben be­ginnt. Sei­ne Ge­sund­heit, sei­ne fri­sche Ge­sichts­far­be, die kräf­ti­gen, wenn auch schwar­zen Zäh­ne, der stäm­mi­ge, un­ter­setz­te Kör­per­bau, der erns­te Aus­druck mor­gens im Diens­te und die hei­te­re Mie­ne abends beim Kar­ten­spiel oder bei sei­ner Er­laucht: all dies trug zu sei­nen ge­gen­wär­ti­gen und künf­ti­gen Er­fol­gen bei und be­streu­te den Le­bens­weg Sei­ner Ex­zel­lenz mit Ro­sen.

Der Ge­ne­ral er­freu­te sich ei­ner blü­hen­den Fa­mi­lie. Al­ler­dings gab es hier für ihn nicht lau­ter Ro­sen; aber da­für war so man­ches da, wor­auf schon seit län­ge­rer Zeit die wich­tigs­ten Hoff­nun­gen und Be­stre­bun­gen Sei­ner Ex­zel­lenz in erns­ter, herz­li­cher Emp­fin­dung ge­rich­tet wa­ren. Und wel­che Be­stre­bun­gen im Le­ben könn­ten auch wich­ti­ger und hei­li­ger sein als die el­ter­li­chen? Woran soll je­mand sein Herz hän­gen, wenn nicht an die Fa­mi­lie? Die Fa­mi­lie des Ge­ne­rals be­stand aus sei­ner Gat­tin und drei er­wach­se­nen Töch­tern. Der Ge­ne­ral hat­te in sehr ju­gend­li­chem Al­ter ge­hei­ra­tet, als er noch im Ran­ge ei­nes Leut­nants stand, und zwar ein mit ihm fast gleich­alt­ri­ges Mäd­chen, das we­der Schön­heit noch Bil­dung be­saß und ihm nur fünf­zig See­len mit­brach­te, die al­ler­dings als Grund­la­ge für die wei­te­re güns­ti­ge Ent­wick­lung sei­ner Ver­mö­gens­ver­hält­nis­se dienten. Aber der Ge­ne­ral murr­te in der Fol­ge­zeit nie über sei­ne frü­he Hei­rat, be­trach­te­te sie nie als einen un­glück­li­chen Ju­gend­streich, und sei­ne Gat­tin schätz­te er so hoch und fürch­te­te sich vor ihr manch­mal so sehr, dass er sie so­gar lieb­te. Die Ge­ne­ra­lin stamm­te aus der fürst­li­chen Fa­mi­lie Mysch­kin, ei­ner zwar nicht glän­zen­den, aber sehr al­ten Fa­mi­lie, und war auf ihre Her­kunft sehr stolz. Eine da­mals ein­fluss­rei­che Per­sön­lich­keit, ei­ner je­ner Gön­ner, wel­che die Gön­ner­schaft nichts kos­tet, hat­te die Freund­lich­keit, sich für die Ehe der jun­gen Prin­zes­sin zu in­ter­es­sie­ren. Er öff­ne­te dem jun­gen Of­fi­zier ein Tür­chen zur Kar­rie­re und gab ihm einen Stoß nach vor­wärts; der aber hät­te gar nicht ein­mal ei­nes Sto­ßes, son­dern nur ei­nes ein­zi­gen Gna­den­blickes be­durft – er wäre nicht zu­grun­de ge­gan­gen. Von we­ni­gen Aus­nah­men ab­ge­se­hen, ver­leb­ten die Gat­ten die gan­ze Zeit ih­rer lan­gen Ehe in vol­ler Ein­mü­tig­keit. Schon in sehr jun­gen Jah­ren hat­te es die Ge­ne­ra­lin ver­stan­den, als eine ge­bo­re­ne Prin­zes­sin und als die Letz­te ih­res Ge­schlechts, viel­leicht auch durch ihre per­sön­li­chen Ei­gen­schaf­ten, ei­ni­ge sehr hoch­ge­stell­te Gön­ne­rin­nen zu fin­den. In der Fol­ge­zeit be­gann sie bei dem Reich­tum und dem be­deu­ten­den Dien­strang ih­res Gat­ten sich in die­sem ho­hen Kreis so­gar ei­ni­ger­ma­ßen ein­zu­le­ben.

In die­sen letz­ten Jah­ren wa­ren die Ge­ne­ral­stöch­ter alle drei her­an­ge­wach­sen und her­an­ge­reift: Alex­an­dra, Ade­lai­da und Agla­ja. Al­ler­dings tru­gen sie alle drei nur den Na­men Je­pant­schin; aber müt­ter­li­cher­seits wa­ren sie doch von fürst­li­cher Ab­kunft; sie hat­ten eine be­deu­ten­de Mit­gift und einen Va­ter, der viel­leicht Aus­sicht hat­te, spä­ter noch eine sehr hohe Stel­le zu er­hal­ten, und, was eben­falls sehr wich­tig war, sie wa­ren alle drei recht hübsch, auch die äl­tes­te, Alex­an­dra, nicht aus­ge­nom­men, die be­reits fünf­und­zwan­zig Jah­re alt war. Die mitt­le­re war drei­und­zwan­zig, und die jüngs­te, Agla­ja, eben erst zwan­zig ge­wor­den. Die­se jüngs­te war so­gar eine wirk­li­che Schön­heit und be­gann schon in der Ge­sell­schaft großes Auf­se­hen zu er­re­gen. Aber auch das war noch nicht al­les: alle drei zeich­ne­ten sich durch Bil­dung, Ver­stand und Ta­len­te aus. Es war be­kannt, dass sie ein­an­der in­nig lieb­ten und sich ge­gen­sei­tig in je­der Hin­sicht be­hilf­lich wa­ren. Man sprach so­gar von ge­wis­sen Op­fern, die die bei­den äl­te­ren zu­guns­ten der jüngs­ten, die der Ab­gott des gan­zen Hau­ses war, ge­bracht ha­ben soll­ten. In Ge­sell­schaft neig­ten sie nicht dazu, sich vor­zu­drän­gen, son­dern wa­ren so­gar all­zu be­schei­den. Nie­mand konn­te ih­nen den Vor­wurf der Hoff­art oder des Dün­kels ma­chen; aber doch wuss­te man, dass sie ih­ren Stolz hat­ten und ih­ren ei­ge­nen Wert kann­ten. Die äl­tes­te war mu­si­ka­lisch, die mitt­le­re eine be­gab­te Ma­le­rin; aber da­von wuss­te vie­le Jah­re lang fast nie­mand, und es war erst in der letz­ten Zeit und nur zu­fäl­lig an die Öf­fent­lich­keit ge­kom­men. Kurz, es wur­de über sie au­ßer­or­dent­lich viel Lo­ben­des ge­spro­chen. In­des­sen fehl­te es auch nicht an Übel­wol­len­den. Mit Schre­cken re­de­ten die­se da­von, wie vie­le Bü­cher die jun­gen Da­men ge­le­sen hät­ten. Mit dem Hei­ra­ten hat­ten sie es nicht ei­lig; sie leg­ten zwar Wert auf den Ver­kehr in ei­nem ge­wis­sen Ge­sell­schafts­krei­se, aber al­les nur mit Ma­ßen. Das war umso be­mer­kens­wer­ter, als je­der­mann die Rich­tung, den Cha­rak­ter, die Zie­le und die Wün­sche ih­res Va­ters kann­te.

Es war schon ge­gen elf Uhr, als der Fürst an der Woh­nung des Ge­ne­rals klin­gel­te. Der Ge­ne­ral wohn­te im zwei­ten Stock­werk und hat­te eine ziem­lich be­schei­de­ne, wie­wohl sei­nem Ran­ge ent­spre­chen­de Woh­nung. Dem Fürs­ten wur­de von ei­nem Die­ner in Li­vree ge­öff­net, und es be­durf­te lan­ger Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit die­sem Men­schen, der ihn und sein Bün­del­chen gleich von An­fang an miss­trau­isch be­trach­te­te. End­lich, nach­dem er ihm wie­der­holt auf das be­stimm­tes­te er­klärt hat­te, dass er wirk­lich Fürst Mysch­kin sei und un­be­dingt den Ge­ne­ral in ei­ner not­wen­di­gen An­ge­le­gen­heit spre­chen müs­se, führ­te ihn der er­staun­te Die­ner in ein klei­nes Vor­zim­mer vor dem ei­gent­li­chen, beim Ar­beits­zim­mer ge­le­ge­nen Empfangs­zim­mer und übergab ihn dort ei­nem an­de­ren Die­ner, der vor­mit­tags in die­sem Vor­zim­mer den Dienst ver­sah und dem Ge­ne­ral die Be­su­cher an­zu­mel­den hat­te. Die­ser zwei­te Die­ner trug einen Frack, war über vier­zig Jah­re alt und hat­te eine erns­te, wich­ti­ge Mie­ne; er stand Sei­ner Ex­zel­lenz zur spe­zi­el­len Ver­fü­gung, wenn der­sel­be sich im Ar­beits­zim­mer be­fand, und war sich in­fol­ge­des­sen sei­nes Wer­tes be­wusst.

»War­ten Sie im Empfangs­zim­mer, und las­sen Sie Ihr Bün­del­chen hier!« sag­te er, in­dem er sich lang­sam und wür­de­voll in sei­nen Lehn­stuhl setz­te und mit ei­nem stren­gen, er­staun­ten Blick den Fürs­ten an­sah, der sich ebendort mit sei­nem Bün­del­chen in der Hand ne­ben ihm auf einen Stuhl nie­der­ließ.

»Wenn Sie er­lau­ben«, sag­te der Fürst, »möch­te ich lie­ber hier bei Ih­nen war­ten; was soll ich dort so ganz al­lein?«

»Im Vor­zim­mer kön­nen Sie nicht blei­ben, da Sie ein Be­su­cher, das heißt ein Gast, sind. Wol­len Sie zum Ge­ne­ral selbst?«

Der Die­ner konn­te sich of­fen­bar nicht mit dem Ge­dan­ken be­freun­den, dass er einen sol­chen Be­su­cher vor­las­sen sol­le, und hielt es da­her für gut, ihn noch ein­mal zu fra­gen.

»Ja, ich habe ein An­lie­gen…«, be­gann der Fürst.

»Ich fra­ge Sie nicht, von wel­cher Art Ihr An­lie­gen ist; mei­ne Sa­che ist nur, Sie zu mel­den. Aber ohne den Se­kre­tär kann ich nicht hin­ge­hen und Sie mel­den.«

Das Miss­trau­en die­ses Man­nes schi­en im­mer mehr zu wach­sen: der Fürst war doch auch dem Typ der täg­li­chen Be­su­cher gar zu un­ähn­lich. Zwar kam es ziem­lich oft, fast täg­lich, zu be­stimm­ter Stun­de vor, dass der Ge­ne­ral, na­ment­lich in Ge­schäfts­an­ge­le­gen­hei­ten, Gäs­te emp­fing, die manch­mal sehr ver­schie­den­ar­tig aus­sa­hen; aber trotz die­ser Ge­wohn­heit und der recht weit­her­zi­gen In­struk­ti­on war der Kam­mer­die­ner in großem Zwei­fel; die Ver­mitt­lung des Se­kre­tärs schi­en ihm für die An­mel­dung doch un­um­gäng­lich not­wen­dig.

»Sind Sie wirk­lich… aus dem Aus­land ge­kom­men?« frag­te er schließ­lich fast un­will­kür­lich und wur­de da­bei ver­le­gen. Er woll­te viel­leicht fra­gen: ›Sind Sie wirk­lich Fürst Mysch­kin?‹

»Ja, ich kom­me di­rekt von der Bahn. Mir scheint, Sie woll­ten fra­gen, ob ich wirk­lich Fürst Mysch­kin bin, ta­ten dies aber aus Höf­lich­keit nicht.«

»Hm!…« brumm­te der Die­ner er­staunt.

»Ich ver­si­che­re Ih­nen, dass ich Sie nicht be­lo­gen habe, und dass Sie mit mei­ner An­mel­dung nichts Un­ver­ant­wort­li­ches be­ge­hen. Dass ich aber in sol­chem An­zug und mit ei­nem Bün­del­chen her­kom­me, da­bei ist nichts zu ver­wun­dern; mei­ne Ver­mö­gens­ver­hält­nis­se sind au­gen­blick­lich nicht glän­zend.«

»Hm! Ich habe in die­ser Hin­sicht kei­ne Be­fürch­tun­gen, se­hen Sie! Ich bin ver­pflich­tet, Sie zu mel­den, und dann wird der Se­kre­tär zu Ih­nen her­kom­men, au­ßer wenn Sie… Aber das ist es eben: au­ßer wenn… Wenn es ge­stat­tet ist, möch­te ich mir er­lau­ben zu fra­gen: Sie be­ab­sich­ti­gen nicht, aus Be­dürf­tig­keit den Ge­ne­ral um eine Un­ter­stüt­zung zu bit­ten?«

»O nein, sei­en Sie dar­über ganz be­ru­higt! Ich habe ein an­de­res An­lie­gen.«

»Neh­men Sie es mir nicht übel; aber ich frag­te im Hin­blick auf Ihr Äu­ße­res. War­ten Sie auf den Se­kre­tär; der Ge­ne­ral selbst ist jetzt mit ei­nem Oberst be­schäf­tigt, und dann wird auch der Se­kre­tär kom­men… es ist der Se­kre­tär von ei­ner Ak­ti­en­ge­sell­schaft.«

»Wenn ich also lan­ge wer­de war­ten müs­sen, so möch­te ich Sie fra­gen: kann man hier nicht ir­gend­wo rau­chen? Eine Pfei­fe und Ta­bak habe ich bei mir.«

»Rau-chen?« ver­setz­te der Kam­mer­die­ner, ihn ge­ring­schät­zig und er­staunt an­star­rend, als ob er sei­nen Ohren nicht trau­te. »Rau­chen? Nein, hier kön­nen Sie nicht rau­chen, und Sie soll­ten sich schä­men, auch nur dar­an zu den­ken. Ha­ha… Son­der­bar!«

»Oh, ich mein­te ja nicht in die­sem Zim­mer; dass das nicht geht, weiß ich ja; son­dern ich wür­de ir­gend­wo­hin ge­hen, wo­hin Sie mich wei­sen wür­den; denn ich bin dar­an ge­wöhnt und habe jetzt schon drei Stun­den lang nicht ge­raucht. Üb­ri­gens, wie Sie es für gut hal­ten; wis­sen Sie, es gibt ein Sprich­wort: Kommst du in ein frem­des Klos­ter, so su­che da nicht dei­ne ei­ge­ne Ord­nung ein­zu­füh­ren.«

»Na, wie soll ich Sie mel­den, so einen ei­gen­tüm­li­chen Be­su­cher?« mur­mel­te der Kam­mer­die­ner bei­nah un­will­kür­lich. »Ers­tens ge­hört es sich nicht, dass Sie sich hier auf­hal­ten; Sie soll­ten im Empfangs­zim­mer sit­zen, weil Sie selbst sich als Be­su­cher, das heißt als Gast be­zeich­nen; da wird Re­chen­schaft von mir ge­for­dert wer­den… Wie ist es? Beab­sich­ti­gen Sie etwa, bei uns zu woh­nen?« füg­te er hin­zu, noch ein­mal nach dem Bün­del des Fürs­ten hin­schie­lend, das ihm of­fen­bar kei­ne Ruhe ließ.

»Nein, das be­ab­sich­ti­ge ich nicht. Selbst wenn ich dazu auf­ge­for­dert wür­de, wür­de ich nicht hier­blei­ben. Ich bin ganz ein­fach nur her­ge­kom­men, um mich mit den Herr­schaf­ten be­kannt zu ma­chen, wei­ter nichts.«

»Wie? Um die Be­kannt­schaft zu ma­chen?« frag­te der Kam­mer­die­ner er­staunt und mit ver­drei­fach­tem Miss­trau­en. »Wie konn­ten Sie dann aber zu­erst sa­gen, Sie kämen mit ei­nem An­lie­gen?«

»Oh, ich kann kaum sa­gen: mit ei­nem An­lie­gen! Das heißt, wenn Sie wol­len, habe ich auch ein An­lie­gen, das aber nur dar­in be­steht, dass ich um einen Rat bit­ten möch­te. In der Haupt­sa­che aber bin ich ge­kom­men, um mich vor­zu­stel­len, da ich Fürst Mysch­kin bin und die Ge­ne­ra­lin Je­pant­schi­na gleich­falls die letz­te Fürs­ten­toch­ter aus der Fa­mi­lie Mysch­kin ist und es au­ßer mir und ihr kei­ne Mysch­kins mehr gibt.«

»Also sind Sie gar noch ein Ver­wand­ter?« rief der er­schro­cke­ne Die­ner, den or­dent­lich ein Schau­der über­lief.

»Auch das ist kaum rich­tig. Üb­ri­gens, wenn man es ge­nau nimmt, ge­wiss, wir sind Ver­wand­te, aber so ent­fern­te, dass wir uns ei­gent­lich kaum als sol­che be­trach­ten kön­nen. Ich habe mich ein­mal vom Aus­land aus brief­lich an die Ge­ne­ra­lin ge­wandt; aber sie hat mir nicht geant­wor­tet. Ich habe es aber doch für not­wen­dig ge­hal­ten, bei mei­ner Rück­kehr hier Be­zie­hun­gen an­zu­knüp­fen. Ih­nen aber set­ze ich das al­les jetzt aus­ein­an­der, um Ihre Zwei­fel zu zer­streu­en; denn ich sehe, Sie be­un­ru­hi­gen sich im­mer noch. Mel­den Sie nur, dass Fürst Mysch­kin da ist, und der An­lass mei­nes Be­su­ches wird schon aus der Mel­dung er­sicht­lich sein. Empfan­gen sie mich – gut; emp­fan­gen sie mich nicht – auch gut, viel­leicht so­gar sehr gut. Aber ich glau­be, sie wer­den nicht an­ders kön­nen, als mich emp­fan­gen; die Ge­ne­ra­lin wird ge­wiss wün­schen, den ein­zi­gen noch le­ben­den Re­prä­sen­tan­ten ih­res Ge­schlechts zu se­hen; denn wie ich mit Be­stimmt­heit ge­hört habe, legt sie auf ihre Her­kunft großen Wert.«

Es hät­te schei­nen kön­nen, dass die­se Mit­tei­lun­gen des Fürs­ten höchst ein­fach und na­tür­lich wa­ren; aber je ein­fa­cher und na­tür­li­cher sie an sich wa­ren, umso ab­son­der­li­cher ka­men sie im ge­gen­wär­ti­gen Au­gen­blick her­aus, und der er­fah­re­ne Kam­mer­die­ner konn­te nicht um­hin, in ih­nen et­was zu fin­den, was, von ei­nem Men­schen zu ei­nem an­de­ren Men­schen ge­sagt, durch­aus an­ge­mes­sen, aber von ei­nem Gast zu ei­nem Die­ner ge­sagt, völ­lig un­an­ge­mes­sen war. Aber da die Die­ner weit ver­stän­di­ger sind, als die Herr­schaf­ten ge­wöhn­lich glau­ben, so ging es auch dem Kam­mer­die­ner durch den Kopf, dass hier zwei Fäl­le mög­lich sei­en: ent­we­der war der Fürst ein He­rum­trei­ber und je­den­falls ge­kom­men, um bei der Herr­schaft um ein Al­mo­sen zu bit­ten, oder er war ein­fach ein Narr und ohne Ehr­ge­fühl, da ein ver­nünf­ti­ger Fürst, der Ehr­ge­fühl be­sitzt, nicht im Vor­zim­mer sit­zen und mit ei­nem Die­ner über sei­ne An­ge­le­gen­hei­ten re­den wür­de. Hat­te er sich also nicht in dem einen wie in dem an­de­ren Fall für die An­mel­dung zu ver­ant­wor­ten?

»Aber Sie soll­ten sich doch in das Empfangs­zim­mer be­ge­ben«, be­merk­te er mög­lichst ener­gisch.

»Wenn ich da ge­ses­sen hät­te, hät­te ich Ih­nen das al­les ja nicht aus­ein­an­der­set­zen kön­nen«, ver­setz­te der Fürst in hei­te­rem Tone, »und so­mit wür­den Sie sich im­mer noch beim An­blick mei­nes Man­tels und mei­nes Bün­del­chens be­un­ru­hi­gen. Aber jetzt hal­ten Sie es viel­leicht nicht ein­mal mehr für nö­tig, auf den Se­kre­tär zu war­ten, son­dern ge­hen ein­fach selbst hin und mel­den mich an.«

»Ich darf einen Be­su­cher wie Sie ohne den Se­kre­tär nicht an­mel­den, und au­ßer­dem hat der Ge­ne­ral selbst noch vor­hin aus­drück­lich ver­bo­ten, dass er von ir­gend­je­mand ge­stört wird, so­lan­ge der Oberst da ist; nur Ga­wri­la Ar­da­lionytsch geht ohne An­mel­dung hin­ein.«

»Ist das ein Be­am­ter?«

»Ga­wri­la Ar­da­lionytsch? Nein. Er ist bei ei­ner Ak­ti­en­ge­sell­schaft an­ge­stellt. Le­gen Sie doch we­nigs­tens Ihr Bün­del­chen hin!«

»Ich habe selbst schon dar­an ge­dacht. Wenn Sie also er­lau­ben, tue ich es. Sa­gen Sie, soll ich auch den Man­tel ab­le­gen?«

»Ge­wiss! Sie kön­nen doch nicht im Man­tel zu ihm hin­ein­ge­hen.«

Der Fürst er­hob sich, zog sich ei­lig den Man­tel aus und stand nun in ei­nem ziem­lich an­stän­di­gen, gut ge­ar­bei­te­ten, wie­wohl schon ab­ge­tra­ge­nen Jackett da. Über die Wes­te zog sich eine stäh­ler­ne Uhr­ket­te hin. An der Ket­te war eine sil­ber­ne Gen­fer Uhr sicht­bar.

Ob­gleich der Fürst ein Narr war (zu die­ser An­sicht war der Die­ner be­reits ge­langt), schi­en es dem Kam­mer­die­ner des Ge­ne­rals schließ­lich doch un­pas­send, die­ses Pri­vat­ge­spräch mit dem Be­su­cher län­ger fort­zu­set­zen, ob­wohl der Fürst ihm aus ir­gend­ei­nem Grun­de ge­fiel, na­tür­lich nur so in sei­ner Art. Aber von ei­nem an­de­ren Ge­sichts­punk­te aus er­weck­te er bei ihm ein ent­schie­de­nes, star­kes Miss­fal­len.

»Und wann emp­fängt die Ge­ne­ra­lin?« frag­te der Fürst, in­dem er sich wie­der auf sei­nen frü­he­ren Platz setz­te.

»Das ge­hört nicht zu mei­nem Dienst. Sie emp­fängt zu ver­schie­de­nen Zei­ten, je nach der Per­sön­lich­keit. Die Schnei­de­rin wird schon um elf Uhr vor­ge­las­sen. Ga­wri­la Ar­da­lionytsch wird eben­falls frü­her emp­fan­gen als an­de­re, so­gar zum ers­ten Früh­stück.«

»Hier bei Ih­nen ist es in den Zim­mern im Win­ter wär­mer als im Aus­land«, be­merk­te der Fürst, »aber da­für ist es dort auf den Stra­ßen wär­mer als bei uns. So ist es ei­nem Rus­sen kaum mög­lich, im Win­ter dort in den Häu­sern zu woh­nen, weil er da nicht sei­ne ge­wohn­te Wär­me hat.«

»Wird da nicht ge­heizt?«

»O doch, aber die Häu­ser sind an­ders ge­baut, das heißt die Öfen und die Fens­ter.«

»Hm! Sind Sie denn lan­ge im Aus­land ge­reist?«

»Vier Jah­re. Üb­ri­gens habe ich fast im­mer an ei­nem Orte still­ge­ses­sen, auf dem Lan­de.«

»Da sind Sie wohl un­se­re Ver­hält­nis­se nicht mehr ge­wöhnt?«

»Das ist rich­tig. Kön­nen Sie es glau­ben: ich wun­de­re mich über mich selbst, dass ich das Rus­sisch­spre­chen nicht ver­lernt habe. Wäh­rend ich jetzt mit Ih­nen spre­che, den­ke ich: ›A­ber ich spre­che ja noch ganz gut.‹ Das ist viel­leicht auch der Grund, wes­halb ich so­viel spre­che. Wirk­lich, seit ges­tern habe ich fort­wäh­rend Lust, rus­sisch zu spre­chen.«

»Hm! Haha! Ha­ben Sie frü­her in Pe­ters­burg ge­wohnt?« (Trotz sei­ner Vor­sät­ze brach­te der Die­ner es doch nicht fer­tig, ein so höf­lich und be­schei­den ge­führ­tes Ge­spräch sei­ner­seits ab­zu­bre­chen.)

»In Pe­ters­burg? Fast gar nicht, nur bei Durch­rei­sen. Auch habe ich frü­her hier ei­gent­lich nichts ge­kannt; und jetzt gibt es hier, höre ich, so viel Neu­es, dass, wie man sagt, auch wer vor­her al­les ge­kannt hat, jetzt al­les von neu­em ler­nen muss. Es wird hier jetzt viel von den Ge­rich­ten ge­re­det.«

»Hm!… Die Ge­rich­te. Die Ge­rich­te, ja, ja, die Ge­rich­te. Aber wie ist es dort? Geht es da beim Ge­richt ge­rech­ter zu oder nicht?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe über die uns­ri­gen viel Gu­tes ge­hört. Da ist ja nun bei uns die To­dess­tra­fe wie­der ab­ge­schafft.«1

»Aber dort fin­den Hin­rich­tun­gen statt?«

»Ja. Ich habe in Frank­reich bei ei­ner zu­ge­se­hen, in Lyon. Schnei­der hat­te mich mit­ge­nom­men.«

»Hän­gen sie die Men­schen auf?«

»Nein, in Frank­reich wer­den im­mer die Köp­fe ab­ge­schla­gen.«

»Schreit denn der Be­tref­fen­de da­bei?«

»Be­wah­re! Es geht in ei­nem Au­gen­blick vor sich. Sie le­gen den Men­schen hin, und dann fällt mit­tels ei­ner Ma­schi­ne (Guil­lo­ti­ne heißt sie) so ein brei­tes Mes­ser mit ei­nem schwe­ren, kräf­ti­gen Schlag her­un­ter… Der Kopf fliegt ab, ehe man nur mit den Au­gen blin­ken kann. Die Vor­be­rei­tun­gen sind al­ler­dings pein­lich. Wenn das Ur­teil ver­kün­det ist, ma­chen sie den Hin­zu­rich­ten­den zu­recht, bin­den ihn und füh­ren ihn auf das Scha­fott; das ist schreck­lich! Das Volk läuft zu­sam­men, so­gar die Wei­ber, ob­wohl man es dort nicht gern hat, dass Wei­ber da­bei zu­se­hen.«

»Die ha­ben da­bei auch nichts zu su­chen.«

»Ge­wiss, ge­wiss! Sol­che Qua­len mit an­zu­se­hen!… Der Ver­ur­teil­te war ein ge­bil­de­ter, un­er­schro­cke­ner, kräf­ti­ger Mann, schon bei Jah­ren. Le­gros war sein Name. Nun, se­hen Sie, ich sage Ih­nen, ob Sie es nun glau­ben oder nicht: als er auf das Scha­fott her­auf­kam, da wein­te er und sah weiß aus wie ein Blatt Pa­pier. Ist das mög­lich? Ist das nicht ent­setz­lich? Wer weint denn vor Angst? Ich hät­te nicht ge­dacht, dass je­mand, der kein Kind ist, vor Angst wei­nen könn­te, ein Mann, der nie ge­weint hat, ein Mann von fünf­und­vier­zig Jah­ren. Was mag mit der See­le in die­sem Au­gen­blick vor­ge­hen? In was für krampf­haf­te Zu­ckun­gen wird sie ver­setzt? Es ist eine Pei­ni­gung der See­le, wei­ter nichts! Es gibt ein Ge­bot: ›Du sollst nicht tö­ten!‹, und da tö­tet man nun, weil je­mand ge­tö­tet hat, auch ihn? Nein, das darf nicht sein! Es ist jetzt schon einen Mo­nat her, dass ich das ge­se­hen habe; aber es ist mir bis heu­te, als ob ich es vor Au­gen hät­te. Ich habe fünf­mal da­von ge­träumt.«

Der Fürst war beim Spre­chen auf­ge­lebt, eine leich­te Röte war auf sein blas­ses Ge­sicht ge­tre­ten, ob­gleich er äu­ßer­lich so still und ru­hig re­de­te wie vor­her. Der Kam­mer­die­ner hör­te ihm mit teil­nahms­vol­lem In­ter­es­se zu und wünsch­te, wie es schi­en, nicht mehr, sich von dem Ge­spräch los­zu­ma­chen; viel­leicht war auch er ein Mensch mit Ein­bil­dungs­kraft und ei­nem Han­ge zum Nach­den­ken.

»Es ist we­nigs­tens noch gut, dass nicht viel Quä­le­rei da­bei ist, wenn der Kopf ab­fliegt«, be­merk­te er.

»Wis­sen Sie was?« er­wi­der­te der Fürst leb­haft. »Da sa­gen Sie das nun, und alle Leu­te sa­gen es eben­so wie Sie, und die Ma­schi­ne, die Guil­lo­ti­ne, ist ja auch zu die­sem Zweck er­fun­den. Aber mir ging gleich da­mals ein ge­wis­ser Ge­dan­ke durch den Kopf: wie, wenn das so­gar noch schlim­mer wäre? Das scheint Ih­nen lä­cher­lich und selt­sam; aber wenn man et­was Ein­bil­dungs­kraft be­sitzt, so kann ei­nem wohl auch ein sol­cher Ge­dan­ke in den Kopf kom­men. Über­le­gen Sie nur: neh­men wir zum Bei­spiel die Fol­ter; da­bei gibt es Schmer­zen und Ver­wun­dun­gen, das heißt kör­per­li­che Qua­len, und da­her lenkt dies al­les den Ge­fol­ter­ten von dem see­li­schen Lei­den ab, so­dass er nur von den Wun­den Qua­len emp­fin­det bis zu dem Au­gen­blick, wo er stirbt. Aber der ärgs­te, stärks­te Schmerz wird viel­leicht nicht durch Ver­wun­dun­gen her­vor­ge­ru­fen, son­dern da­durch, dass man mit Si­cher­heit weiß: nach ei­ner Stun­de, dann: nach zehn Mi­nu­ten, dann: nach ei­ner hal­b­en Mi­nu­te, dann: jetzt in die­sem Au­gen­blick wird die See­le aus dem Kör­per hin­aus­flie­gen, und man wird auf­hö­ren, ein Mensch zu sein, und dass das si­cher ist; die Haupt­sa­che ist, dass das si­cher ist. Wenn man so den Kopf ge­ra­de un­ter das Mes­ser legt und hört, wie es über dem Kopf her­ab­glei­tet, dann muss die­se Vier­tel­se­kun­de das Al­ler­schreck­lichs­te sein. Wis­sen Sie wohl, dass das nicht eine Fan­ta­sie von mir ist, son­dern dass das schon vie­le ge­sagt ha­ben? Ich glau­be das so be­stimmt, dass ich Ih­nen ge­gen­über die­se mei­ne An­sicht of­fen aus­spre­che. Wenn man je­man­den, der ge­tö­tet hat, da­für tö­tet, so ist die Stra­fe un­ver­hält­nis­mä­ßig grö­ßer als das Ver­bre­chen. Die Tö­tung auf Grund ei­nes Ur­teilss­pru­ches ist un­ver­hält­nis­mä­ßig schreck­li­cher als die von ei­nem Räu­ber be­gan­ge­ne. Der­je­ni­ge, den Räu­ber tö­ten, wird bei Nacht ge­mor­det, im Wal­de, oder sonst auf ir­gend­ei­ne Wei­se; in je­dem Fal­le hofft er noch bis zum letz­ten Au­gen­blick auf Ret­tung. Es hat Bei­spie­le ge­ge­ben, dass ei­nem schon die Keh­le durch­ge­schnit­ten war und er doch noch hoff­te und ent­we­der da­von­zu­lau­fen such­te oder um sein Le­ben bat. Aber hier ist ei­nem die­se gan­ze letz­te Hoff­nung, mit der das Ster­ben zehn­mal so leicht ist, mit Si­cher­heit ge­nom­men. Hier ist ein Ur­teilss­pruch, und die gan­ze schreck­li­che Qual be­steht in dem Be­wusst­sein, dass man mit Si­cher­heit dem Tode nicht ent­ge­hen kann, und eine schlim­me­re Qual als die­se gibt es auf der Welt nicht. Man füh­re einen Sol­da­ten in der Schlacht ei­ner Ka­no­ne ge­ra­de ge­gen­über und stel­le ihn dort­hin und schie­ße auf ihn; er wird noch im­mer hof­fen; aber man lese die­sem sel­ben Sol­da­ten das Ur­teil vor, das ihn mit Si­cher­heit dem Tode weiht, und er wird den Ver­stand ver­lie­ren oder zu wei­nen an­fan­gen. Wer kann denn glau­ben, dass die mensch­li­che Na­tur im­stan­de sei, dies zu er­tra­gen, ohne in Irr­sinn zu ge­ra­ten? Wozu eine sol­che gräss­li­che, un­nüt­ze, zweck­lo­se Mar­ter? Vi­el­leicht gibt es auch einen Men­schen, dem man das To­des­ur­teil vor­ge­le­sen hat, den man sich hat quä­len las­sen, und zu dem man dann ge­sagt hat: ›Geh hin; du bist be­gna­digt!‹2 Ein sol­cher Mensch könn­te viel­leicht er­zäh­len. Von die­ser Qual und von die­sem Schre­cken hat auch Chris­tus ge­spro­chen. Nein, so darf man mit ei­nem Men­schen nicht ver­fah­ren!«

Ob­gleich der Kam­mer­die­ner all dies nicht hät­te so aus­drücken kön­nen wie der Fürst, ver­stand er doch, wenn auch nicht al­les, so doch die Haupt­sa­che, was so­gar an sei­ner ge­rühr­ten Mie­ne wahr­zu­neh­men war.

»Wenn Sie so sehr wün­schen zu rau­chen«, sag­te er, »so wür­de das viel­leicht auch ge­hen; nur müss­ten Sie es sehr bald tun. Denn er könn­te auf ein­mal nach Ih­nen fra­gen, und dann wä­ren Sie nicht da. Se­hen Sie, dort un­ter der klei­nen Trep­pe ist eine Tür. Ge­hen Sie in die Tür hin­ein, rechts ist ein Käm­mer­chen; da kön­nen Sie rau­chen; nur müs­sen Sie die Luft­klap­pe auf­ma­chen, denn das Rau­chen ist hier doch nicht in der Ord­nung.«

Aber der Fürst kam nicht mehr dazu fort­zu­ge­hen und zu rau­chen. In das Vor­zim­mer trat ein jun­ger Mann mit Pa­pie­ren in der Hand. Der Kam­mer­die­ner nahm ihm den Pelz ab. Der jun­ge Mann schiel­te nach dem Fürs­ten hin.

»Der Herr da sagt mir, Ga­wri­la Ar­da­lionytsch«, be­gann der Kam­mer­die­ner in ver­trau­li­chem, bei­nah fa­mi­li­ärem Ton, »dass er ein Fürst Mysch­kin und ein Ver­wand­ter der gnä­di­gen Frau sei; er ist mit dem Zuge aus dem Aus­land ge­kom­men, mit ei­nem Bün­del­chen in der Hand, aber…« Das Wei­te­re konn­te der Fürst nicht ver­ste­hen, da der Kam­mer­die­ner zu flüs­tern an­fing. Ga­wri­la Ar­da­lio­no­witsch hör­te auf­merk­sam zu und be­trach­te­te den Fürs­ten mit großem In­ter­es­se; schließ­lich hör­te er nicht mehr wei­ter zu und trat un­ge­dul­dig an ihn her­an.