Der Inselmann - Dirk Gieselmann - E-Book
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Der Inselmann E-Book

Dirk Gieselmann

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Beschreibung

Eine vergessene Insel, ihr stiller König und die Sehnsucht nach einem Leben abseits der Welt. »Der Inselmann« ist das ebenso berührende wie sprachmächtige Porträt eines Außenseiters und eine Hymne auf den Eigensinn. Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen? Dirk Gieselmanns Debüt ist die faszinierende literarische Studie eines Insellebens und erzählt von der Sehnsucht nach Einsamkeit in einer Gesellschaft, die das Individuum niemals alleine lässt, im Guten wie im Schlechten. »Der Inselmann« ist ein Roman, der nachhallt, voller berückender Bilder, leuchtender Sätze und magischer Kulissen. Stimmen zum Buch »Dirk Gieselmann hat einen wunderbaren, melancholischen Roman geschrieben. Er errichtet mit Worten eine ganze Welt, einfach und stark und wahr. Mit welcher Neugier und Zärtlichkeit er die inneren Kämpfe seines heranwachsenden Protagonisten schildert, das ist das Gegenteil von Zynismus. Ich habe Der Inselmann geliebt.« Matthias Brandt »Dirk Gieselmann erzählt die Geschichte eines außergewöhnlichen Menschen, der in seiner ganz eigenen Zeit gelebt hat. Immer verbunden mit seiner Insel. Ein Buch wie ein Schallverstärker. Man taucht ein in eine scheinbar leise Welt, hört dann aber jedes Geräusch, jeden Wellenschlag. Und alles stößt auf Resonanz in einem selbst. Ich empfehle, alle elektronischen Geräte auszuschalten und sich einzulassen auf diese Reise durch ein ganzes Leben.« Anna Brüggemann

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Dirk Gieselmann

Der Inselmann

Roman

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Über Dirk Gieselmann

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Dirk Gieselmann

Dirk Gieselmann, geboren 1978, wurde für seine Texte mit dem Henri-Nannen- und dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm, in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Armin Smailovic, der „Atlas der Angst“. Das gleichnamige Theaterstück wurde im Thalia Theater Hamburg aufgeführt. Gieselmann lebt mit seiner Familie in Berlin.

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Über dieses Buch

Eine vergessene Insel, ihr stiller König und die Sehnsucht nach einem Leben abseits der Welt. Der Inselmann ist das ebenso berührende wie sprachmächtige Porträt eines Außenseiters und eine Hymne auf den Eigensinn.

Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen?

Dirk Gieselmanns Debüt ist die faszinierende literarische Studie eines Insellebens und erzählt von der Sehnsucht nach Einsamkeit in einer Gesellschaft, die das Individuum niemals alleine lässt, im Guten wie im Schlechten. Der Inselmann ist ein Roman, der nachhallt, voller berückender Bilder, leuchtender Sätze und magischer Kulissen.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

Dank

Für T, W und S

In meinem Schatten werde ich getragen wie eine Geigein ihrem schwarzen Kasten.

 

Das einzige, was ich sagen will, glänzt außer Reichweitewie das Silberbeim Pfandleiher.

Tomas Tranströmer[*]

I.

Es war so kalt, dass selbst der Wind fror. Um neun sollte der Kahn kommen und sie auf die Insel bringen: den Vater, die Mutter und den Jungen. Jetzt war es zwölf und noch immer kein Kahn in Sicht. Nahtlos und weiß stand der Himmel über dem See. Alles war eins, und alles war nichts.

Längst war hinter den Kiefern das Tuckern des Lasters verstummt, der sie hier abgeladen hatte, an den leeren Stegen, der leeren Reede, sie und alles, was sie besaßen: ein paar Säcke und Kisten, eine Truhe, drei Stühle, einen Rost und zehn Bretter, die ein Bett gewesen waren und es wieder werden sollten, eine Matratze und ein Schaukelpferd, das im Frost grinste wie ein Harlekin. Das war, was sie hatten, und das, was sie waren: Schiffbrüchige, bevor die Überfahrt begonnen hatte.

 

Das kann doch nicht sein, sagte der Vater immer wieder, mehr zu sich selbst als zur Mutter und zum Jungen. Von Zeit zu Zeit griff er aus in Richtung der Insel, die sich im metallischen Dunst verbarg, als wollte er sie zu sich herüberziehen. Dann versenkte er seine Hände wieder im Mantel, die nutzlos gewordenen Werkzeuge, ging ein paar Schritte und fluchte vor sich hin. Er war noch nicht alt, doch schon gebückt und abgezehrt. Dünn und grau rauchte sein Haar unter der wollenen Mütze hervor.

 

Die Mutter kauerte auf einer der Kisten, in Filzdecken gehüllt, auf die der Raureif sich legte, und sagte kein Wort. Ihr Gesicht war eine gläserne Maske. Aus der Nase blies sie dünne Wolken. Sie schien zu schlafen oder tat so, als ob. Vielleicht betete sie auch, weiß der Himmel, zu wem.

 

Das kann doch nicht sein, sagte der Vater erneut. Wo bleibt der Idiot? Was zu tun wäre, wenn es bald dunkel und noch kälter würde, wohin sie sich dann wenden sollten, das wusste er nicht. Es waren acht Tage bis Weihnachten.

 

Der Junge stand abseits am Ufer und schaute aufs Wasser hinaus. Die Eltern hatten von einem See gesprochen, auf dem sie bald leben würden. Doch was er hier vor sich sah, kam ihm vor wie das weite Meer. Kann es sein, dachte er, dass da draußen Amerika liegt?

 

Na dann, hatte der Fuhrmann gesagt und war zurück in den Laster gestiegen, viel Glück noch.

 

Jetzt war es still.

 

Wie kann etwas, dachte der Junge, das so groß ist wie dieser See, keinen Laut von sich geben? Jemand müsste es erforschen.

 

Das Glück, von dem der Fuhrmann gesprochen hatte: Wartete es in dem Jungen, bis er es brauchen würde? Er war zehn Jahre alt, und er wusste: Wenn er nicht erfröre, würde heute sein Leben beginnen. Er wusste es, wie nur ein Kind es wissen kann, auch wenn es falsch sein mag.

 

 

 

Sie waren ein Teil der Kälte geworden, der Vater, die Mutter und der Junge, ein Teil des Winters und des Frosts und warteten noch immer auf den Kahn, der sie zur Insel bringen sollte.

Die Mutter hatte sich steif erhoben und stand jetzt auf dem Steg. Der Atem gefror und taute in den Tüchern um ihren Kopf, gefror und taute, gefror und taute.

Das kann doch nicht sein, sagte der Vater wieder und wieder, als hätte er nur das noch zu sagen gehabt. Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk: Es ging schon auf eins zu. Hinter ihm stand eine Gemeinde von trauernden Riesen: die schwarzgrünen Kiefern. Vor ihm lag der See in seiner unermesslichen Gleichgültigkeit.

 

Die Stille war ein Lied, das lange schon verklungen war.

 

War gestern der Tag gewesen, an dem der Kahn hätte kommen sollen? War er erst morgen? Es überstieg die Kraft des Vaters, den Fehler zu finden, den vielleicht er begangen hatte, ein anderer Narr oder niemand. Er hatte sie beinah aufgebraucht für den großen Entschluss, hinaus auf die Insel zu ziehen. Sie reichte jetzt gerade noch, um einen Stein aufzuheben und ihn aufs Wasser zu werfen, in Richtung der Insel, die doch da draußen sein musste, verdammt, versteckt und verwunschen.

Was, wenn es sie gar nicht gab? Wenn sie gleich hinter dem Dunst lag, viel zu nah für ein Exil? Und wo um alles in der Welt blieb der Kahn?

 

Dem Jungen war kalt, aber er fror nicht. Er war genügsam wie ein Maultier, hielt alles aus und nahm es hin: das schlechte wie das gute Wetter. Den Mangel, die Bedrängnis der Eltern, ihr bedrückendes Schweigen. Dass auch er leise sein musste, wenn sie es so wollten, stillhalten, warten, nicht stören, nichts fragen. Pssst, Junge, pssst. Mach ja keinen Mucks. Er hielt die schäbige Kleidung aus, die zu kleinen Stiefel, die schmerzenden, allmählich verwachsenden Zehen. Dass sein Vater einmal gesagt hatte, selbst zum Milchholen sei der Bengel zu dumm: Er falle doch wieder nur hin und verbiege die Münze. Dass er die Eltern mehr liebte als sie ihn. Die Windpocken, den Mumps, den Scharlach. Die bedrohliche Schwermut von allem, was ihn umgab: Sie würde auf ihn übergehen, als schwarzer Fleck auf seinem Herzen. Aber das ahnte er noch nicht.

 

Er war ein Junge von erst zehn Jahren, der jetzt sah, wie der Stein die Hand seines Vaters verließ, und der die Sekunden zählte, bis er dort draußen unsichtbar ins Wasser fiel. Vater kann gut werfen, dachte er, hoch und weit. Wir werden um die Wette werfen, wenn wir erst mal auf der Insel sind. Eines Tages werfe ich auch so hoch und so weit wie er. Dann sind wir glücklich, dann sind wir frei.

 

 

 

Der Stein fiel ins Wasser, als der Junge bei der Fünf angelangt war. Aus dem Dunst erschienen konzentrische Kreise, dehnten sich aus und brachen lautlos am Ufer. Er fand sie sehr schön.

Guck mal, rief er, die Kreise, wie schön. Er sprang auf und nieder.

Ja, sagte der Vater, ist gut.

Aber er beachtete ihn gar nicht und auch nicht die konzentrischen Kreise. Er stand schon mit dem Rücken zum See. Der Junge hob selbst einen Stein auf und übte. Zehntausend Jahre hatten die Wellen gebraucht, um ihn an Land zu spülen. Er warf ihn zurück in der Zeit und war der letzte Mensch, der ihn sah.

Eine säumige Krähe flog über das Wasser den Kiefern entgegen, wo ihr Schwarm schon in den Ästen rastete, suchte einen Platz, fand keinen und machte wieder kehrt. Gefrorener Sand knirschte unter den Schuhen des Vaters. Eisschollen trieben auf dem See, weiß und sauber und blau.

Was jetzt, sagte die Mutter.

Ich weiß es doch auch nicht, sagte der Vater.

Blass quollen die Worte aus ihren Mündern hervor und lösten sich auf, als hätten sie gar nicht gesprochen. Der Himmel wurde stahlgrau, dann schiefern, wurde größer und größer und stürzte fast ein, die falsch berechnete Kuppel eines überheblichen Doms.

 

Nur einmal hatte der Junge so viel Himmel gesehen: als er einem Bläuling gefolgt war ans Ende der Stadt, im Frühjahr zuvor, und plötzlich alle Häuser hinter ihm gelegen hatten. Er hatte sie überwunden. Bei seiner Rückkehr am Abend hatte die Mutter geschimpft: Wie kann denn das angehen, hast du schon wieder die Zeit vergessen? Doch es war umgekehrt gewesen: Die Zeit hatte den Jungen vergessen. Das unterlief ihr fast täglich.

 

Der Vater ging jetzt in den Wald, sammelte im Unterholz Zweige und entfachte ein Feuer, um sie zu wärmen und damit der Kahn sie noch finden würde im schwindenden Licht. Sie holten die Stühle und setzten sich im Kreis um die Flammen. Kälte ist angenehm, dachte der Junge, wenn man ein Feuer macht. Die Hoffnung des Vaters, dass es gut enden würde, war jetzt nur noch so groß wie der Abstand zwischen Krähe und Wind. Er blickte nicht mehr auf die Uhr. Die Mutter zählte ihre Füße.

 

Es gibt ein Geräusch, das den anderen vorausgeht: das empörte Raunen der Stille, wenn sie vertrieben wird. Der Junge nahm es wahr, noch bevor ein leises Brummen aus dem Dunst vom See her drang. Er sprang vom Stuhl auf und streckte seine Arme wie Antennen zum Himmel. Vater, Mutter, rief er. Der Kahn kommt. Ich kann ihn schon hören.

 

 

 

Der Kahn hat im Eis festgesessen, sagte der Schiffer, ich hab ihn um ein Haar nicht mehr rausgekriegt.

Er sagte es, weil es nun mal so gewesen war, weil er es nicht hatte ändern können und auch niemand sonst. Es sei sinnlos, fand der Schiffer, darüber zu klagen.

Verfluchter Kahn, sagte er trotzdem, weil er glaubte, überhaupt etwas sagen zu müssen gegen das Schweigen der drei Gestalten, die jetzt vor ihm standen wie erfrorene Geister. Verfluchtes Eis, sagte er, nicht wütend, nur matt. Verfluchte Kälte.

Dann sagte er nichts weiter, vertäute nur den Kahn am Steg und spuckte in die Hände, die rot leuchteten in der silbrigen Luft. Er trug einen verschossenen Drillich, der über seiner Plauze spannte. Die Kappe lag klein auf seinem bulligen Schädel. Punkt, Punkt, Komma, Strich: Sein Gesicht war wie von einem Kind gemalt. Unter der Nase hing ein Zapfen aus Rotz. Der Mann sieht lustig aus, dachte der Junge, aber das ist er wohl nicht. Lustig sind die, die traurig aussehen, und selbst die sind es nur manchmal.

 

Der Schiffer und der Vater verluden die Kisten, die Säcke, die Möbel, die Truhe. Was leichter war, trugen die Mutter und der Junge an Bord. Auch das Schaukelpferd ließ sich tragen und schaute pikiert. Dann stieß der Kahn langsam zurück auf den See, hinein in den Dunst. Das Ufer entglitt, und die Stunden, die sie an der Reede gewartet hatten, erübrigten sich wie eine Handvoll Sand im Wasser.

 

Zwischen zwei Atemzügen sah der Junge noch einmal all jene, die ihm je übelgewollt hatten, aus dem toten Gehölz hervorpreschen, die Fäuste geballt, ins Leere schlagend, lächerlich, harmlos. Springteufel waren sie jetzt aus einem unruhigen Traum. Damit hatten sie nicht gerechnet: Bald, sehr bald würde er ein Inselkönig sein, gekrönt durch sich selbst.

Hans, der Erste.

Hans, der Große.

Hans, Herrscher von Amerika.

 

Für mich wär das ja nichts, sagte der Schiffer, da draußen allein. Er schien eine Erklärung haben zu wollen: Wie kam der Vater darauf, auf die Insel zu ziehen, so weit draußen im See? Doch der gab sie ihm nicht. Er blickte nur über den Bug in den Dunst, wo die Insel liegen musste. Gut, sagte der Schiffer, du wirst schon wissen, warum. Er drehte das Ruder um wenige Grad und hielt jetzt auf einen Teil des Dunkelgraus zu, als sähe er dort einen Weg. Der Kahn schwenkte ein, hinter ihm brodelte der eisige See. Die Luft roch nach Diesel, Winter und Teer.

 

Die Mutter stand hinterm Steuerhaus am Schornstein, wo es ein bisschen wärmer war oder immerhin weniger kalt. Doch der Frost wich nicht aus ihren Knochen und würde es nie mehr ganz tun. Sie holte mit zitternder Hand einen Brotlaib aus einem Beutel und schnitt drei Scheiben ab: eine dicke für den Vater, je eine dünne für sich und für Hans.

Hier, sagte sie und hielt sie ihm hin.

Danke schön, sagte Hans.

Er aß eine Hälfte, sie taute im Mund. Die andere steckte er sich in die Jacke für später. Er sah das Schaukelpferd, zweifelnd, und darunter die Planken des Decks, abgewetzt von all den Ladungen zuvor. Die Taue an den Klampen, die Trosse des Ankers, die Leinen: ein Dutzend schlafender Schlangen. Auf Backbord kam ein Kranich vom Abend her und schiss in den See. Unter dem Rumpf des Kahns wellte sich das Wasser, zäh und dunkel wie Öl.

 

Wann sind wir da, fragte der Vater. Ich muss zu den Schafen.

Es ist nicht mehr weit in dein Paradies, sagte der Schiffer. Er schenkte Tee ein, kippte Rum aus einem Flachmann hinzu und reichte dem Vater den dampfenden Becher. Der nahm einen Schluck.

Noch können wir beidrehen, sagte der Schiffer.

Nein, sagte der Vater. Fahr weiter.

Dir ist klar, was euch da draußen erwartet.

Was auch immer.

Was auch immer, wer auch immer, warum auch immer: Das sagte der Vater, wenn er nicht wusste, was stattdessen zu sagen gewesen wäre, und auch dann, wenn er es wusste. Er sagte es oft: Es war der Refrain seines Schweigens.

Jemand konnte sagen: Es regnet.

Der Vater sagte: Warum auch immer.

Jemand konnte sagen: So Gott will.

Und er sagte: Wer auch immer.

 

Hans stand vorne am Bug, formte seine Hände zum Fernglas und spähte hinaus in das endliche Nichts. Er wollte gleich morgen die Insel nach dem Schönsten absuchen, das sich auf ihr finden ließe, und es seinen Eltern zu Weihnachten schenken. Er glaubte, sie würden sich freuen.

 

 

 

Wie eine schwimmende Festung schob sich die Insel dem Kahn aus dem Dunkel entgegen: Eine knotige Wand, gewachsen aus Weiden und ihren Wurzeln, schirmte sie ab gegen die äußere Welt. Nirgends ein Einblick, nirgends ein Zuweg, nirgends ein Tor.

Sie mussten die Insel zur Hälfte umrunden, dann erst sahen sie einen brüchigen Steg. Zerrissene Netze hingen über den Pfosten. Im flachen, eisigen Wasser lag ein halb gekentertes Boot. Der Schiffer drosselte den Motor, dann legte er an, das Brummen erstarb. Wellen schwappten ans Ufer und spülten einen Saum schwarzen Laichkrauts auf den aschfahlen Strand.

Sie luden die Möbel ab, die Kisten, die Koffer, die Truhe, die Säcke, das Schaukelpferd, das jetzt ein Gesicht zog wie eine gequälte Prinzessin, und trugen alles die dunkle Böschung hinauf. Schwach glomm der sandige Pfad. Am Ende, hinter schütteren Birken und Tannen, lagen ein Stall, ein Schuppen, ein Haus. Kein Licht drang aus den Fenstern.

 

He, rief der Vater. Ist jemand da? Er rief noch einmal, es rührte sich nichts. Eine Lampe bräuchten wir jetzt, dachte Hans, damit wir Amerika sehen.

Die Nacht nahte so heimlich und doch plump, wie es ihre Art ist. Im Stall blökten die Schafe vor Hunger und Enttäuschung.

Wo ist der Schäfer, fragte der Vater.

Ach, sagte der Schiffer, der liegt bestimmt besoffen im Bett.

 

Sie liefen zum Steg, um die letzten Kisten zu holen. Der Vater gab dem Schiffer den Lohn, fünf oder sechs dünne, rissige Scheine, und reichte ihm die Hand, der nahm sie zum Schwur.

Bist du dir sicher, sagte der Schiffer. Denk an den Jungen. Er ist noch klein.

Ich muss in den Stall, sagte der Vater. Du hörst doch die Schafe.

Wie du meinst. Wir sehen uns im Frühjahr.

Wann auch immer.

Der Schiffer ging wieder an Bord und löste die Taue, der Motor sprang an wie ein Ochse, der unwillig erwacht, weil er friert, und sich dann kurz und wild schüttelt.

 

Hans saß auf den Wurzeln der Weiden und sah den Lichtern nach, bis sie im Dunkel verschwanden. Noch eine Weile hörte er das Brummen des Kahns auf dem See, immer leiser, dann nicht mehr. Der Mond schien woanders. Es schneite.

 

 

 

Dies Haus ist mein und doch nicht mein, war in schartigen Lettern über den Eingang geschnitzt, im Himmel, da wird meine Wohnung sein.

Das Haus stand schon viel länger hier, als ihm lieb war. Mit den Jahren hatte der Wind sein Gebälk wie einen alten Wacholder gekrümmt. Mal stemmte es sich ihm noch tapfer entgegen, mal sank es wie jetzt matt in den Schnee. Ein Hufeisen hing lose am Pfosten, die Enden zeigten nach unten. Wenn es das Glück überhaupt gab, von dem der Fuhrmann gesprochen hatte, fiel es gleich wieder heraus und wurde verweht.

 

Der Vater klopfte hart an. Erneut kam keine Antwort. Als er mit der Schulter die verzogene Tür aufdrückte, huschten die Dinge eilig zurück, wohin sie gehörten. Sie standen schon wieder an ihren Plätzen, bevor er ein Streichholz anriss und endlich den Docht einer Lampe entzündete. Ein schmutziger Schein kroch ins Haus und mied dabei die entlegenen Winkel, in der sich alles Dunkle verbarg.

In der Ecke der Stube sahen sie einen Ofen und ein Stapel von Brennholz, auf dem Tisch eine Flasche, daneben ein Glas, beide leer. Auf dem Teller die Reste einer vergangenen Mahlzeit, ein Schirm aus Schimmel darüber. Es roch nach Asche, faulen Kartoffeln und Schnaps, der in den Ritzen der Dielen versickert war, nach betrunkenem Holz. Die Wände glitzerten vom Frost.

In der Kammer dahinter eine Liege, der Abdruck eines Kopfes noch im Kissen, die Wolldecken zerwühlt, das weiche Grab erfrorener Flöhe. Eine Kommode, die Schubladen offen, die Hemden und Hosen hingen heraus, ein Nachtschrank, darauf ein Kerzenstumpf und ein Wecker, stehen geblieben um Viertel vor sechs an einem vergangenen Tag. Gefrorenes Wasser in einer Schüssel, Rasierzeug daneben. Auf dem Boden lag, von der Wand gefallen, ein Kruzifix.

Der Schäfer ist weg, sagte der Vater.

Die Mutter entgegnete nichts.

Er ist weg, sagte der Vater noch einmal. Er hat sich verpisst.

Mir ist kalt, sagte die Mutter. Mach bitte Feuer.

Ja, ja. Ich mach schon.

Er nahm Zunder aus einer Büchse, steckte ihn an, blies hinein und warf ihn in den Bauch des Ofens. Er legte Zweige darauf, wartete und schob dann ein Scheit nach. Die Flamme schrumpfte und wuchs wieder an. Die Luft erwärmte sich, die Balken begannen zu knacken. Das Haus erwachte wie ein Kranker.

Hans sah sich um: ein Schlapphut am Haken, eine Brille aus Draht im Regal, ein zerfleddertes Heft mit Reihen von Zahlen darin, mal kleiner, mal größer. Dreiundzwanzig stand da, dann fünfundzwanzig, zwanzig und neunzehn. Drei Bücher, zwei Pfeifen. An der Wand hing eine kindliche Zeichnung, darauf ein Mann und sein Hund. Unsterblich sahen sie aus auf dem Bild. Doch es war nur ein Gruß aus einer abgelaufenen Zeit.

 

Wohin ist der Schäfer gegangen, fragte Hans.

Der Vater kniete vorm Ofen, als täte er Buße.

Wohin auch immer.

Kommt er denn wieder?

Sieht nicht so aus.

Aber die Schafe.

Die haben jetzt uns.

Der Vater schloss die Klappe des Ofens und erhob sich mit einem Stöhnen. Dann ging er hinaus. Die Mutter und Hans nahmen die zehn Bretter, den Rost und bauten das Bett wieder zusammen. In der Schüssel taute allmählich das Eis. Das Schaukelpferd schaute zufrieden.

Hans folgte dem Vater nach draußen und stand jetzt im Dunkel vorm Haus. Er öffnete die Augen, so