Dirk Gieselmann über Pearl Jam oder Du sollst keine gute Laune haben - Dirk Gieselmann - E-Book

Dirk Gieselmann über Pearl Jam oder Du sollst keine gute Laune haben E-Book

Dirk Gieselmann

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dirk Gieselmann ist vierzehn, als ihn der Sound von Pearl Jam umhaut. Inspiriert vom tollkühnen Mittelstufengott Bernd, genannt Bernd Cobain, hat er sich im Diepholzer Kaufhaus Seitz das Album »Ten« gekauft. Seine erste eigene CD. Jetzt sitzt er vor der heiligen Stereoanlage seiner Schwester, hört die ersten Takte von »Once«, die flirrenden Gitarren, die überirdische Stimme Eddie Vedders – und spürt sofort, dass das hier alles verändern wird. Die Wut, der Schmerz und die Wucht des Grunge erschüttern den bisher so zurückhaltenden Jungen. Lassen ihn rebellieren. Verändern seinen Blick auf das, was eben noch seine Welt war und ihm mit einem Mal eng und spießig erscheint: Bushaltestelle, Kaffeekränzchen, Kühe, Schützenfest. Und so wird aus dem stillen Dirki der vorlaute Stone Gieselmann, der »Wetten dass ..?!« und Gottesdienst gegen dubiose Diskotheken und Gegenkultur tauscht. Der nur noch zerschlissenen Cord trägt und seiner Großmutter das Herz bricht, weil er zur »Schande der Familie« geworden ist. Der sich ausprobiert, verirrt, verzehrt, verliert – und findet. In diesem leichtfüßig humorvollen wie berührend wehmütigen Text wirft Dirk Gieselmann einen Blick zurück auf die eigene Jugend, eine wegweisende Entscheidung am Kaufhausregal, die aufpeitschende Kraft des Grunge und den unentrinnbaren Sog des Sounds der Band Pearl Jam.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 94

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dirk Gieselmann

PEARL JAM

Dirk Gieselmann über Pearl Jam oder Du sollst keine gute Laune haben

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Dirk Gieselmann

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

All that’s sacred, comes from youth

The smallest oceans still get big, big waves

See the braves in cool moonlight

I guess it was the beatings made me wise

Are you woman enough to be my man, bandaged hand in hand?

This behaviour’s not unique

Don’t it make you smile when the sun don’t shine?

Where’s the big drum? Where’s the feel of body heat?

I took a drive today, time to emancipate

Fuck you, this is not for you

The testimony of expert witnesses on the brutal crimes of love

Screaming sirens echoing across the bay

I just wanna scream: hello!

I got memories, I got shit

Epilog

Noch mehr Lesespaß

Inhaltsverzeichnis

Für Henning

Inhaltsverzeichnis

Rows of lovers parked forever in a dream

Neil Young

Inhaltsverzeichnis

All that’s sacred, comes from youth

Wenn ein Baum umstürzt, aber niemand ist da, der es hört, gibt es dann überhaupt ein Geräusch?

Und wenn ein Lied gespielt wird, aber niemand ist da, der es hört, ist das nicht ein Jammer?

 

Das Album des Jahres, Dragon New Warm Mountain I Believe You von Big Thief, hörte ich beim abendlichen Abwasch. Ich hörte das Album und hörte es nicht: Es wurde übertönt von den Schabgeräuschen des Drahtschwamms in meiner Hand, vom Anruf meiner Eltern, die dringend mit mir plauschen mussten, vom Klingeln des Paketboten, der mir eine späte Lieferung für die Nachbarin übergab, und vom Protest der Kinder, die es für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit hielten, sich »jetzt schon«, kurz nach einundzwanzig Uhr, die Zähne putzen zu müssen.

Es war sinnlos. Ich unterbrach das Album des Jahres und wollte später einen weiteren Versuch unternehmen, in der herrlichen Zeit, wenn niemand mehr anrufen oder klingeln würde, die Kinder im Bett wären und Ruhe herrschte. Wenn ich, Mitte vierzig, endlich wieder jung sein könnte.

Ich schlief sofort auf dem Sofa ein, von der Zerzaustheit des Tages selbst zerzaust. Der Algorithmus des Streamingdienstes spielte mir in seiner ahnungslosen Allwissenheit noch einige Alben vor, die mir hätten gefallen können. Sie dudelten aus dem Kopfhörer, der mir im Schlaf von den Ohren geglitten war, und versickerten in der Leere jener Nacht, wie Schlager in einem Supermarkt ohne Kunden.

Ich nehme mir immer wieder vor, ganz bewusst ein Album zu hören, vom ersten bis zum letzten Ton. Doch selbst, wenn ich konzentriert und wach genug bin, um die Musik aufzunehmen, wie es ihrer würdig wäre, bleibt eine eigentümliche Distanz zwischen uns: ein träger Schaum, der ihre Wucht bremst.

Das liegt wohl daran, dass ich, wie in vielem anderen, das einmal ein Abenteuer gewesen ist, Kino etwa, Partys oder Reisen, auch im Musikhören ein Routinier geworden bin: schwer zu begeistern, abgeklärt, latent gelangweilt. Das Album des Jahres? Ach Gott, ja: Ich habe so viele Alben auf dem Buckel, mich regt das alles nicht mehr auf. Und es liegt auch daran, dass die Musik selbst im Laufe der Zeit an Wert verloren hat. In unermesslicher Vielzahl verfügbar, ist sie längst nicht mehr die rare Kostbarkeit, die sie einmal für mich gewesen ist. Damals. Als der Zufall noch die Kraft hatte, mein Leben zu ändern, mit nur einem Lied, das er mir in den Weg legte.

 

Ich erinnere mich genau: Es war an einem Tag im Herbst 1992, als ich mit einem Mal wusste, dass es an der Zeit war, mir meine erste eigene CD zu kaufen. Lang genug war ich vom Musikgeschmack meiner großen Schwester abhängig gewesen: Chaka Khan und Duran Duran. Lang genug hatte ich Tanzhits gehört, die in den Großraumdiskotheken ihre Wirkung entfalten mochten, im Airport oder in der Fun Factory. Denn dorthin verabschiedete sich meine Schwester an den Wochenenden. Hier aber, in ihrem Zimmer, wo ich, der zurückgelassene kleine Bruder, mich durch ihre Sammlung hörte, waren sie seltsam fehl am Platz. Ratlos wippte ich auf dem Flokati zu den wilden Rhythmen.

Ach, wie lang ist das her? Kein junger Mensch denkt heute mehr, er müsse CDs besitzen, nicht einmal als ironisches Zitat. Man sieht sie nur noch in durchnässten Pappkartons am Straßenrand liegen, »zu verschenken«, vorwurfsvoll, neben dem Fitnessratgeber, dem kitschigen Bilderbuch, den selbst gestrickten Eierwärmern. Man sieht sie in den Ästen der Bäume hängen, nachts am Wegesrand, wenn sie das Fernlicht reflektieren, um das Wild von einer Überquerung abzuhalten. Man sieht sie im Stereoturm verstauben, der dasteht wie ein Steinkopf auf der Osterinsel, ohne Verbindung zu dem Ritus, dem er einst diente, Artefakt einer untergegangenen Kultur.

*

Wie lang ist das her? In meiner persönlichen Zeitrechnung zwei, drei Wochen: Eben noch hatte ich Geld zu meinem vierzehnten Geburtstag bekommen, fünfzig Mark von Tante Monika, einen »großen Schein« für den »großen Jungen«. Vierzehn Jahre! Fünfzig Mark! Ich war nie wieder so reich wie damals, nie wieder hatte Geld so ein riskantes Potenzial. Der Schein in meiner Hand war das Ticket zum »nächsten Level« meines Lebens, wie ich es damals wohl ausgedrückt hätte. Noch waren mir Computerspiele geläufiger als Musikalben, Summergames, Monkey Island, Pac Man.

Ich fuhr also mit dem Fahrrad von unserem Dorf, das Heede heißt, nach Diepholz, das in seiner properen Tristesse vielen Kleinstädten ähnelt. Mir klingt noch immer das Katschinge-Rätsch, Katschinge-Rätsch des schleifenden Schutzblechs im Ohr und auch das unwirtliche Rauschen der sich gegen den Herbst stemmenden Eichen entlang der Straße, die sich böswillig auszudehnen schien, wenn sie einen Jungen wie mich sich abstrampeln sah. Ich fuhr ins Kaufhaus Seitz, wo man sich Dinge fürs Leben anschaffte: Wintermäntel, Kochtöpfe, Tischdecken, Stereotürme – und eben auch CDs.

Es war etwa ein Jahr her, dass sich im achttausend Kilometer entfernten Seattle ein Erdbeben ereignet hatte: Innerhalb weniger Wochen, zwischen Ende August und Anfang Oktober 1991, waren die Alben Nevermind von Nirvana, Badmotorfinger von Soundgarden und Ten von Pearl Jam erschienen und hatten den Grunge-Boom ausgelöst: Gitarrenmusik, so schwer, dreckig und dröhnend, als würde der letzte verbliebene Insasse an Bord eines U-Boots Jimi Hendrix hören, unten, am Grund des Meeres. Hinzu kamen Texte, die in ihrer Traurigkeit und Wut so diffus waren, dass sie sich auf so ziemlich alles übertragen ließen, was einen jungen Menschen umtreiben konnte: dass er kein Kind mehr sein, aber auch noch nicht erwachsen werden wollte, jedenfalls nicht so erwachsen wie die Erwachsenen, die er kannte, dass er Pickel im Gesicht und längst noch keine Aussicht auf den ersten Kuss hatte, dass er sich immer noch von Mutti das Butterbrot schmieren ließ, obwohl er doch eigentlich gegen sie aufbegehren wollte, und dass es nichts gab, wogegen er überhaupt hätte aufbegehren können, weil doch eigentlich alles in bester Ordnung war. Aber das war ja gerade das Schlimme. Grunge war der Soundtrack einer Jugend, die sich in all ihrem Behütetsein mit einem Mal verloren vorkam, der Schlüsselkinder der Wohlstandsgesellschaft, der »Lost Generation« der Neunziger.

Doch wie es bei Erdbeben eben so ist: In entlegenen Gegenden des Erdballs kommen die Druckwellen verzögert und abgeschwächt an. Fast ein Jahr nach der Erschütterung im fernen Seattle lief ein Junge namens Bernd, ein langhaariger, prinzenhaft hübscher Rebell von kultivierter Schmuddeligkeit, plötzlich mit einem T-Shirt durch die Schule, auf dem Pearl Jam stand.

Hä?, dachte ich. Perlenmarmelade? Ich wusste dieses rätselhafte Zeichen nicht zu lesen. Den Sender MTV, auf dem schon die ersten Grunge-Videos gelaufen sein müssen, empfingen wir in Heede nicht: Unser Dorf war noch nicht ans Kabelnetzwerk angeschlossen. Über die Dachantenne drangen, wenn nicht gerade Tauben darauf balzten, nur verschneite Bilder von RTL plus zu uns vor, die ich mühsam zu deuten versuchte, um wenigstens wissend nicken zu können, wenn die anderen in der Klasse vom A-Team und von Knight Rider sprachen.

Ich wusste nur, dass Bernd dieses mystische Shirt trug, als wäre es das Goldene Vlies, dass es ihn noch erhabener machte über all die Stefans und Sebastians in ihren Jeanshemden – und dass ich sein wollte wie er: ein tollkühner Mittelstufengott, Mitglied des geheimen Ordens derjenigen, die sich nicht mehr das Butterbrot von ihren Muttis schmieren ließen, sondern zum Frühstück Filterlose hinter der Turnhalle rauchten.

*

Nun stand ich also im Kaufhaus Seitz, fünfzig gebenedeite Mark in der Tasche. Von heute aus betrachtet kommt mir dieses Kaufhaus mit seinem ebenso unerschöpflichen wie unübersichtlichen Sortiment wie die letzte, bereits bröckelnde Bastion des Wirtschaftswunders vor, wie ein zu groß geratenes Kolonialwarengeschäft. Damals jedoch war es für mich ein wahrer Konsumtempel: Beinah alles, was sich für Geld kaufen ließ, war hier vorrätig. So auch, oben unterm Dach, zwei Rolltreppen hinauf, in der Musikabteilung: die CDs. Sie wurden gehütet von einem Fachverkäufer in lederner Weste, einem mutmaßlichen Deep-Purple-Fanatiker, der von Zeit zu Zeit die Fachverkäufervokabeln »amtlicher Sound« und »geiles Brett« durch seinen Walrossschnurrbart nuschelte. Und ebenda fand ich tatsächlich das Album Ten, im Regalfach mit der Aufschrift Rock ’n’ Roll – Neuerscheinungen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, ich schwitzte. Wie ein elastisches Band zog mich meine Prägung in Richtung des Regals mit Altbekanntem: Phil Collins, Michael Jackson, Tina Turner. Domestizierter Pop, den meine Eltern als »flott« bezeichneten und den ich aus den großen Samstagabendshows kannte, wenn die Interpreten vor mit irrem Aufwand geschreinerten Kulissen zum Playback ihre Lippen und Gliedmaßen bewegten. Und zu dem die Stefans und Sebastians in ihren Partykellern Discofox tanzten, ohne Partnerinnen.

Ich fühlte, dass ich mich in diesem Augenblick entscheiden musste: Wollte ich werden wie sie? Oder wie der tollkühne Bernd? Es war ein elektrisierendes Gefühl des Sichfallenlassens und des Zurückschreckens zugleich. Ich kannte es nur von meinem ersten Mal auf dem Fünfmeterturm im Freibad, ein paar Jahre zuvor. Sollte ich springen – oder die Treppe zurück auf den Boden der Tatsachen nehmen?

Die Anspannung entlud sich in einem Zucken meines Arms. Ich griff nach Ten. Es war, obwohl ich beim ledernen Fachverkäufer brav mit meinem Fünfziger bezahlte, als würde ich einen Ladendiebstahl begehen. Ich stürmte, ehe er »amtlicher Sound« hatte sagen können, aus dem Kaufhaus und fuhr mit dem Fahrrad – Katschinge-Rätsch, Katschinge-Rätsch – nach Hause, so schnell ich nur konnte, vor lauter Ungeduld und Angst, die CD in meiner Anoraktasche könnte sich selbst löschen, weil ich etwas Verbotenes getan hatte. Im Zimmer meiner Schwester schob ich sie in die Anlage, die magische Lade schloss sich, ich zog mir die Kopfhörer über die Ohren. Und dann geschah es: Das Erdbeben, das ein Jahr zuvor Seattle, achttausend Kilometer entfernt, erschüttert hatte, traf mich mit voller Wucht.

»Once upon a time«, sang da jemand, den ich nicht kannte, auf eine Weise, die ich nie zuvor gehört hatte. Doch es klang, als sänge ich auf sagenhafte Weise selbst, als der, der ich mit einem Mal sein zu wollen glaubte, eines Tages. »Once upon a time I could control myself / Once upon a time I could lose myself / Once upon a time I could love myself / Once upon a time I could love you.«

Wen ich einmal lieben würde, blieb mir zwar weiterhin vollkommen unklar – die unnahbare Katja aus der Parallelklasse, die in der Eisdiele Tomasella