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Eine wundervoll illustrierte Ausgabe von Band 3 der außergewöhnlichen Buchreihe "der dämon und die lethargie" - aus der Feder der Künstlerin Jeanette Y. Hornschuh. Eine Kindheit zwischen den Erwartungen, die Rolle eines zukünftigen Jägers zu erfüllen, und dem Wettbewerb mit seinem Freund Levian, der ihn in einfach allem zu überragen scheint, ist für Traian alles andere als einfach. Als Levian und Nileyn schließlich fortgehen, um fortan in ihrem alten Elternhaus zu wohnen, bricht für ihn eine Welt zusammen. Traian sehnt sich danach, wie Levian endlich als vollwertiger Jäger anerkannt zu werden. Doch dieses Ziel scheint unerreichbar… Melancholisch, stilvoll und mitreißend - ein Werk, das ohne jeden Zweifel wohl zu den schönsten Büchern zählt!
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Seitenzahl: 429
Veröffentlichungsjahr: 2022
© 2022 Jeanette Yvonne Hornschuh
Autor, Umschlaggestaltung, Illustration:
Jeanette Yvonne Hornschuh
Lektorat und Korrektorat: mit lieber Unterstützung von meiner Schwester Amy und Lesedrachin Daniela
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Hardcover - ISBN 978-3-347-72182-1
eBook - ISBN 978-3-347-72187-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. der dämon und die lethargie - Verschlingen
2. der dämon und die lethargie - Zersetzen
3. der jäger und die hast
1.
„Komm, beeil dich!“ Sie zieht kräftig an meinem Ärmel.
„Mh… is‘ ja gut…“ murmle ich und lasse mich mitschleifen. Wir laufen durch den Flur. Die ganze Zeit hält sie meine Hand. Als sie die Haustür öffnet, fällt das helle Licht auf uns. Ich reibe mit der Hand über meine Augen. Es ist noch so früh…
„Schau mal, Traian, hier!“ ruft Nileyn und zeigt auf die unterste Stufe der Treppe vor unserer Villa.
„Was?“
„Die Pflanze! Schafgarbe! Sie blüht feuerrot!“
Sind die nicht immer rot? Egal, ich mache einfach ein erstauntes Gesicht: „Ah…“
Ich gucke auf die roten Blüten. Sie wippen in der Sommersonne hin und her. Nileyn schiebt ihr Gesicht vor meins und erzählt: „Weißt du, die sind echt selten! Mael und ich haben uns mal ein Buch angesehen. Darin stand, dass die hier eigentlich gar nicht wächst! Ich kenne nur weiße Schafgarbe. Die rote soll irgendwo wachsen, wo…“
Und es geht wieder los… Seitdem Nileyn und ihr älterer Bruder Levian bei mir und Mael wohnen, versucht Nileyn mich für Blumen oder Kräuter oder Sträucher oder was auch immer zu begeistern… Ich bin nicht wirklich ein Freund von Grünzeug… Aber das ist nicht schlimm, denn seit die beiden bei uns sind, sind die Tage viel spannender!
„…und man kann aus der roten Schafgarbe dasselbe machen wie aus der weißen, glaube ich, aber…“
Ich lebe schon bei Mael, seitdem ich vier Jahre alt bin. Er hat mich damals bei sich aufgenommen, nachdem meine Eltern gestorben waren. Mael hat mir erzählt, dass es ein Dämon war, der sie ermordet hat. Meine Eltern waren damals mit mir auf der Durchreise in Maels Gebiet gekommen und da hatte der Dämon uns aufgelauert. Mael meint, es geht vielen Kindern von Jägern so, dass sie ihre Eltern früh verlieren, denn wir Jäger leben ja für den Kampf gegen die Dämonen und die sind ziemlich stark. Ich kann mich nicht mehr an meine Eltern erinnern, aber sie sollen Nomaden gewesen sein. Das heißt, sie lebten nicht wie Mael die ganze Zeit an einem Ort, sondern wanderten herum und kämpften dabei gegen Dämonen.
„…trocknen kann man die ganz sicher genauso wie…“
Ich weiß nicht, wie mein Leben früher so war. Aber ich mag mein Leben hier in Maels Stadt. Er ist ein toller Meister, bringt uns viele spannende Sachen übers Kämpfen bei und er zeigt uns super Techniken, übt mit uns, erzählt uns über Dämonen und wie wir Jäger lernen können, sie mit unserem Bann zu erlösen.
„…TRAIAN?!“
„Ahhh! Ja! Schrei doch nicht so!“
Nileyns blaue Augen gucken mich grimmig an, sie macht einen Schmollmund: „Du kannst mir ja sagen, wenn du dich nicht dafür interessierst…“
„Ne… ich meine… doch! Rote Schafgarbe, echt klasse…“ Ich grinse Nileyn breit an, aber irgendwie ist sie immer noch sauer. „Sag mal…“, fällt mir da ein, „…Nileeeyn, magst du nach dem Frühstück mit zur Brücke kommen?“
In Maels Stadt gibt es viele Brücken. Hier fließen viele kleine und große Kanäle, die von Menschen gemacht wurden. Aber natürliche Flüsse gibt es nicht viele. Nur ganz wenige Brücken sind so gebaut, dass man darunter noch einen trockenen Platz am Rand hat. Solche Plätze findet man nur bei Flussbrücken, nicht bei Kanalbrücken. Genau so eine Brücke führt über den kleinen Fluss, der zwei Straßen weiter hinter unserer Villa langfließt - das ist ,unsere Brücke‘. Vom Platz unter der Brücke aus kann man prima in den Fluss springen, ohne gesehen zu werden. Naja… streng genommen ist das Baden im Fluss nicht verboten, aber mjööö… erlaubt ist es irgendwie auch nicht… Keine Ahnung, warum.
„Heute nicht…“ meint Nileyn jetzt und schaut zum Boden. Komisch…
„Warum?“ will ich wissen.
Sie pustet leise aus und antwortet: „Levian und ich haben heute was vor.“
„Was denn?“
„Darüber mag ich nicht reden…“
Verwirrt streiche ich mir mit der Hand durch meine zotteligen braunen Haare. Nileyn starrt weiter auf die roten Blüten und sagt nichts. Ihre glatten blonden Haare wehen ihr um die Nase. Ich kicke ein Steinchen mit dem Fuß an.
…
Dann schaue ich zur Villa.
…
Ich kicke noch ein Steinchen.
…
Dann stecke ich die Hände in die Taschen meiner kurzen Hose und frage: „Äh… und warum?“
Da meint sie laut: „Mensch!“ und flüstert danach: „Na, weil heute der Todestag unserer Eltern ist.“
„Oh…“ mache ich nur. Es ist so lange her, dass Levian und Nileyn hier her in unsere Villa gekommen sind… zwei Jahre schon. Bei uns Jägern trauert man eigentlich nicht um die Toten. Mael sagt, dass es uns schwächen würde. Was er damit meint, weiß ich nicht, aber es hört sich an, als wäre es ihm wirklich wichtig, dass wir nicht so oft an unsere Eltern denken. „Und da wollt ihr das wieder fei… äh… nmmmh…“ Was sagt man denn da?!
Nileyn schaut zur großen hölzernen Eingangstür unserer Villa und flüstert: „Naja, wir wissen auch noch nicht, was wir machen wollen. Vielleicht sitzen wir auch wieder einfach beide zusammen und reden. Aber den Tag einfach das zu machen, was wir sonst so machen, kommt uns komisch vor.“
Rumsitzen und reden wollen die… Na, da kann ich mir an einem sonnigen Sommertag wirklich Spannenderes vorstellen…
Mein Magen grummelt leise. Ich reibe mir über den Bauch und seufze: „Schade, dann gehe ich heute allein baden. Aber erst sollten wir nen‘ Happen essen gehen!“
Nileyn lächelt ein wenig, dann laufen wir die Stufen der breiten Treppe hoch.
Wenn die Sonne im Sommer auf unsere gelbe schöne Villa scheint, dann strahlt sie richtig. Wenn ich mir andere Häuser in der Stadt anschaue, dann sind viele von denen viel… äh… verschnörkelter als unseres. Sie haben Vorgärten, die so aussehen, als hätte noch nie ein Kind darin getobt, und viele haben auch große Balkone oder Türme. Unsere Villa hat keinen Vorgarten und keinen Turm, aber trotzdem ist es das schönste Haus hier in der Stadt. Und vor allem ist es das Größte. Da gibt es wirklich genug Platz für jeden - ja eigentlich so viel, dass man im Haus gut Ball abjagen spielen könnte oder ein Hindernisrennen machen oder… weiß nicht, ein Hundewettrennen veranstalten könnte oder so. Aber natürlich erlaubt Mael das alles nicht… Nileyn, Levian und ich haben unsere Zimmer im ersten Stock. Dort sind auch drei kleinere Gästezimmer und zwei Bäder. Unten im Erdgeschoss ist das Wohnzimmer, das eigentlich nie einer benutzt, das Esszimmer, Küche, ein weiteres Bad, die Bibliothek, ein Arbeitszimmer und Maels Schlafzimmer.
Als Nileyn und ich ins Esszimmer kommen, sitzen Mael und Levian schon an dem wuchtigen Tisch und warten. Ich werfe ein fröhliches „Morgen!“ in die Runde, aber Levian nickt nur, denn er hat gerade den Mund voll, und Mael meint im selben Tonfall wie immer: „Ihr seid spät.“
Nileyn setzt sich an den Tisch neben Levian und sprudelt los: „Entschuldige, ich habe Traian noch eine rote…“
Hngaaa! Als wäre diese Pflanze die Sensation des Tages! Während Nileyn ohne Luft zu holen über die rote Blume, keine Ahnung was das nochmal für eine war, berichtet, setze ich mich auch an den Tisch, gegenüber von Nileyn und Levian. Mael sitzt am Kopfende und hört ihr zu, Levian kaut auf seinem Butterbrot rum. Mael sieht eigentlich aus, wie man sich einen Meisterjäger so vorstellt: er hat graue kurze Haare, strenge Augen und er lächelt nie. Ich nehme mir eine Scheibe vom frischen Brot und lege ein bisschen Wurst drauf. Dann esse ich mein Wurstbrot so schnell ich kann. Heute ist unser freier Tag. An jedem anderen Tag haben wir bis zum Nachmittag Unterricht bei Mael. Dann lernen wir Lesen, Schreiben, Rechnen, aber vor allem das Kämpfen. Das Training macht echt Spaß, aber einen ganzen Tag lang frei zu haben und machen zu können, was man will, ist was Besonderes. Die Zeit will ich gern mit lustigen Sachen verbringen.
Als ich mein Brot gegessen habe, hat Nileyn immer noch nicht mit dem Frühstück angefangen… Ob Mael es merken würde, wenn ich mich jetzt herausschleiche? Er hört sich die ganze Zeit Nileyns Geplapper über die rote Blume an… Ich nehme mir schnell einen Apfel aus dem Obstkorb vom Tisch und stehe gaaanz langsam auf - „Traian, wo willst du jetzt hin?“ hallt die tiefe Stimme von Mael über den Tisch. Uaaaa! - ich bleibe gleich stehen und hebe meinen Kopf. Er sieht irgendwie sauer aus, so wie er mich anguckt… auwei…
„Najaaaaaa…“, ich kratze mich am Kopf, dann grinse ich: „…ich muss mal ins Bad.“
„Mit einem Apfel in der Hand?“
Uhhh…
„Als… Proviant?“ frage ich lächelnd, aber Maels Mund zuckt nicht mal. Naja, hätte ja klappen können… Ich setze mich wieder auf meinen Stuhl, stöhnend… Nileyn hält sich die Hand vor dem Mund und kichert, Levian hebt eine Augenbraue, sagt aber nichts, und Mael lehnt sich zurück und schaut einfach nur streng. Dann - herrje! - fängt Nileyn wieder an, von Pflanzen zu erzählen. Nach achtzehn Stunden, so lange hat es sich für mich jedenfalls angefühlt, sind endlich alle fertig mit dem Frühstück. Noch während Mael seinen Stuhl vom Tisch abrückt, renne ich schon zur Tür, rufe noch „Schönen freien Tag euch allen!“ und bin auch schon verschwunden.
Ganz schnell laufe ich den gepflasterten Gehweg herunter, gehe über eine breite Hauptstraße und eine schmalere Straße und dann bin ich schon bei der Brücke. Sie ist aus beigefarbenen Steinen gebaut und sie ist gerade breit genug, dass eine Kutsche darüberfahren kann. Der Rand der Brücke ist aus breiten Steinen gemauert und geht mir bis zum Bauch. Darauf ist ein Metallgeländer mit geschwungenen Kringeln festgemacht. Ich bleibe davor stehen und schaue auf den Fluss runter. Ich bin so oft hier am Fluss, die Stelle kenne ich gut. Immer gucke ich auf das Wasser, das hier mal langsam, mal schnell vor sich hinfließt. Es muss ja irgendwo herkommen, das ganze Wasser… Ich würde gern wissen, wo der Fluss eigentlich anfängt… Vielleicht kommt er ja von einer kleinen Quelle im Wald? Mael hat mir mal erzählt, dass seine Stadt ringsherum von Tannen umgeben ist… Aber gesehen habe ich das selbst noch nicht. So weit darf ich noch nicht allein laufen und bei Maels Ausflügen, wenn er Dämonen bekämpfen geht, dürfen wir ja leider nicht mit. Ich schaue mich um - gerade ist niemand in der Nähe! Also laufe ich schnell zu den Büschen neben der Brücke, dräng mich durch und rutsche den Abhang runter. Im Sommer wachsen am Flussufer so viele Pflanzen, dass es für Nileyn eine wahre Freude sein muss. Sogar aus dem Wasser sprießt das Zeug wie Hulle. Ein wenig schmule ich zu den bunten, wippenden Blumen, aber ich kann hier keine rote Blume sehen, die so ähnlich aussieht wie das, was an unserer Treppe wächst. Ich kenne nicht viele Orte in Maels Stadt, die so grün und… naja bunt sind. Irgendwie finde ich es lustig, in dieser ordentlichen Stadt einen Platz zu haben, der nicht so gepflegt ist. Am Ufer und unter dem Brückenfuß liegen viele große und kleine Steine. Ich setze mich auf einen großen Stein und lege meinen Lederbeutel neben mir ab. Dann beuge ich mich ganz weit vor. Ich kann mein Spiegelbild im Flusswasser sehen, das zwischen den Pflanzen und Steinen schwappt. Meine braunen Haare stehen wie immer zu allen Seiten ab. Ich schaue auf meine grünblauen Augen, die sich im Wasser spiegeln und die grünen Male auf meinen Wangen. Dann denke ich an Nileyn und Levian mit ihren ganz blauen und Mael mit seinen hellblauen Malen und Augen. Jeder Jäger ist total unterschiedlich… Nicht nur die Farbe unserer Male, auch wo die Male sind, ist bei jedem anders. Bei mir sind sie am rechten Arm, bei Levian und Nileyn am linken Arm, bei Mael an beiden Armen. Mael sagt, das hat was damit zu tun, mit welcher Hand wir unseren Bann einsetzen können. Der Bann ist das, womit wir Jäger die Dämonen bekämpfen. Er soll so aussehen wie ein blaues leuchtendes Band, das von unserer Hand losgeschossen wird. Wenn wir damit Dämonen treffen, lösen die sich auf. Ich würde so gern wissen, wie das aussehen würde, wenn ich meinen Bann loslasse. Aber das… Hmpf… Mürrisch hebe ich meine rechte Hand in die Luft und strecke Zeige- und Mittelfinger aus. Aber es passiert gar nichts… Klar passiert gar nichts… Ich kann meinen Bann noch nicht loslassen. Mael meinte, das muss man als Jäger erst lernen. Man muss sich selbst dafür kontrollieren und sich konzentrieren. Ich bin in beidem leider nicht so gut… Hmpfff… Ich entscheide mich, heute nicht mehr daran zu denken, sondern mich lieber mit den spaßigen Dingen zu beschäftigen, wie ich es geplant hatte. Also stehe ich auf und ziehe mich bis auf die Badehose aus. Dann laufe ich von Stein zu Stein, runter bis zum Wasser. Das ist gar nicht so einfach, denn die Steine sind ganz schön glitschig! Als ich den letzten Stein vom Ufer erreicht habe, springe ich mit dem Po zuerst ins Wasser.
PLATSCH!!!
Das kalte Wasser spritzt im hohen Bogen nach oben und schwappt über mir zusammen. Ich tauche unter, dann strample ich wieder hoch zur Wasseroberfläche. Ich strecke den Kopf aus dem langsam fließenden Wasser raus und lache laut: „Hahahahahahhaha!“
„Was gibt’s denn da zu lachen?“ fragt plötzlich irgendwer über mir.
Schnell drehe ich mich um. Wer hat mich hier entdeckt?! Aber dann sehe ich, wer das ist, und ich grinse: „Na, komm doch rein, dann weißt du, was es hier zu lachen gibt!“
Levian lächelt, schüttelt aber den Kopf und meint: „Heute mag ich nicht.“
Er steht zusammen mit Nileyn auf der Brücke. Beide haben sich ganz weit über den kleinen Metallzaun gelehnt, um mich zu beobachten.
„Schade!“ rufe ich. Da verschwinden ihre Köpfe wieder. Ein paar Blätter rascheln. Als ich mich wieder aus dem Wasser ziehe, kommen sie gerade unter die Brücke gelaufen.
„Was macht ihr hier?“ will ich wissen.
„Wir brauchten einen Platz, an dem wir Ruhe haben.“ sagt Levian.
„Zum Quatschen?!“ frage ich.
„Ja…“
Ich schaue Nileyn an. Sie lächelt.
„Ach so…“ murmle ich zu den beiden. Ich dachte die machen das Zuhause… Aber bestimmt wollen sie nicht, dass Mael davon weiß. Muss ich denn da mit machen, also so beim Quatschen? Kann ich nicht einfach weiter baden…?! Die beiden setzen sich auf die Steine. Nileyn zieht ihre Sandalen aus und steckt die Zehen ins Wasser. Ich setze mich weiter unten ans Wasser. Dann pflücke ich ein Rohrkolbendings und zupfe dran. Keiner sagt was. Das ist irgendwie komisch…
„Solltet ihr nicht mal anfangen? Mit Quatschen?“ frage ich.
„Ah…“ Nileyn guckt mich an, dann Levian, dann sagt sie ganz leise: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll…“
Levian guckt auf seine Füße und sagt: „Darum geht’s ja nicht. Was willst du denn sagen?“
„Ich mag ja gar nicht über Helen und so reden…“ meint sie.
Mael hat mir erzählt, wie Levians und Nileyns Eltern gestorben sind. Sie hatten wohl einen Dämon bei sich wohnen lassen. Der hieß Helen, war so groß wie ihre Mama, aber hat trotzdem viel mit Levian und Nileyn gespielt. Aber als Mael dann da aufgetaucht war, ist der Dämon ausgeflippt. Levian und Nileyn waren da gerade in ihrem Versteck im Wald gewesen. Als sie wieder nach Hause kamen, waren ihre Eltern tot…
Ist klar, dass sie darüber nicht reden will…
„Ich würde lieber über unsere Eltern reden…“ nuschelt Nileyn.
Ich zupfe weiter die braunen Buschel vom Rohrkolben und werfe sie ins Wasser. Manche Buschel werden durch die Strömung weggespült, andere bleiben hängen und gehen unter…
„Geht mir auch so…“ sagt Levian. Die ganze Zeit guckt er auf seine Füße. Wieder sagt keiner was. So werden die ja nie fertig!
„Man, na dann macht das doch!“ schlage ich vor.
Da gucken mich beide an.
„Hä?“ mache ich. War das falsch?
„Naja aber…“, stammelt Nileyn, „…ich weiß ja nicht mal mehr… wie… wie sie aussahen…“
„Ist doch normal…“, sagt Levian, „…du warst ja auch noch so klein…“
Nileyn war erst vier, als ihre Eltern gestorben sind, Levian war sechs.
„Find ich auch.“ meine ich.
„Kannst du dich denn noch an deine Eltern erinnern, Traian?“ fragt Nileyn.
„Was?“ Der Rohrkolben fällt aus meiner Hand und landet im Wasser. Warum fragt die mich denn plötzlich?! Ich winke kräftig hin und her: „Ne, ne, ne, ne, kann ich nicht, war ja auch noch klein. Aber ich will ja gar nicht über sowas reden, so wie ihr.“
„Warum?“ fragt Nileyn. Aber Levian weiß, was ich meine.
Ich kratze an meiner Wange, dann sage ich das, was Mael zu mir sagte: „Das schwächt uns nur…“
Nileyn schaut immer noch so komisch.
„Außerdem…“, ich stehe auf und grinse, „…ist heute Spaß-Tag!“ Dann hüpfe ich über die glitschigen Steine und springe wieder ins Wasser.
2.
Wenn wir Unterricht haben, beginnen unsere Tage immer sehr früh. Mael weckt uns um sechs Uhr morgens… SECHS UHR morgens! Keine Ahnung, warum wir nicht zwei oder drei Stunden später mit dem Unterricht anfangen können. Ich habe schon so oft nachgefragt, ob das geht, aber Mael sagt immer: „Keine Diskussion, Traian.“ Blähhhh… Wie ich es hasse, wenn er das sagt. Wenn wir am Frühstückstisch sitzen, bin ich immer der Einzige, der deswegen schlechte Laune hat. Nileyn und Levian sind da vorbildlicher, die gähnen nicht mal! Ich glaube Mael muss die beiden auch nicht wecken, die sind bestimmt schon immer wach, wenn er bei denen anklopft…
Nach dem Frühstück haben wir immer noch kurz Zeit, um uns fertig zu machen, dann beginnt der Unterricht. Mael ist ein ziemlich strenger Lehrer. Man muss bei ihm immer gut aufpassen, sonst schimpft er gleich. Das ist schwierig, wenn man frühs noch so müde ist… Einschlafen sollte man in seinem Unterricht jedenfalls lieber nicht… Normale Sachen wie Schreiben oder Rechnen oder Erdkunde unterrichtet er im Arbeitszimmer. Das liegt im Erdgeschoss direkt neben der Bibliothek. Da hat er drei Tische für uns aufstellen lassen und dort steht auch sein großer Schreibtisch, an dem er seinen Papierkram macht - Briefe an andere Jäger schreiben, solche Sachen halt. Das Arbeitszimmer sieht eigentlich aus wie jedes andere Zimmer in der Villa. Es hängen Streifentapeten an der Wand, unten sind an den Wänden Holzplatten festgemacht. Weiße Gardinen und dicke Vorhänge hängen vor den hohen Fenstern. Der Boden ist aus Holz. Die Möbel sind dunkelbraun und ziemlich schwer. Als ich noch kleiner war, habe ich mal versucht, daraus eine Burg zu bauen, aber die Dinger lassen sich für ein Kind echt schwer schieben… Auch wenn Levian und Nileyn mit bei sind, ist der normale Unterricht eigentlich immer ziemlich langweilig. Finde ich jedenfalls…
Wenn der Unterricht vorbei ist, gibt es Mittag. Danach fängt der spannende Teil des Tages an! Dann lernen wir Jägersachen! Am tollsten finde ich die Kampfübungen. Die finden immer draußen, hinter der Villa statt - auf dem Hof, auf dem gerade mal ein Baum steht. Nileyn hat mir mal erzählt, was für ein Baum das ist, aber ich vergesse es immer wieder… Rasen gibt es da kaum, der Hof ist mit Steinen zugepflastert. Ein hoher Metallzaun trennt ihn von der Straße. Mael sagt, dass es wichtig ist, die Kampfübungen draußen zu machen, egal ob es regnet oder schneit. Die Dämonen treffen uns ja auch nicht extra in der Wohnstube, damit sie es beim Kämpfen schön warm haben… Nileyn macht beim Jägerunterricht nicht mit.
Immer wenn ich sie frage, warum sie nicht mal mitkommt, lächelt sie nur. Ich weiß gar nicht, was sie macht, wenn Levian und ich üben…
Als Levian und ich auf dem Hof stehen und auf Mael warten, schaue ich kurz hoch in den blauen Sommerhimmel. Keine Wolke zu sehen. Dann stupse ich Levian an und frage: „Und? Was ist heute der Einsatz?“
Er rollt mit den Augen: „Man, Traian… Willst du wirklich noch weiter machen? Ist dir das nicht über?“
Ich grinse: „Nö! Also?“
„Hgaa…“ macht Levian. Tse… er tut immer so, als wäre er zu erwachsen für sowas, aber trotzdem macht er immer wieder mit. Jedes Mal, bevor wir mit dem Kampftraining anfangen, wetten wir, wer von uns beiden beim ersten Kampf heute gewinnt. Die Trainingseinheit endet jeden Tag damit, dass wir das Gelernte nochmals üben - an uns selbst. Ich zähle nicht mehr mit, aber trotzdem ist klar: ich gewinne nicht so oft wie Levian…
„Deinen Nachtisch morgen Mittag.“ meint Levian jetzt.
„Was?!“, rufe ich und mache ein wütendes Gesicht, „Neee! Das ist unfair, darum wetten wir nicht!“
„Dann nicht.“ meint er und legt die Hände hinter seinen Kopf.
Hng………………
„Na schön…“ murmle ich und halte ihm meine rechte Bann-Hand hin. Er schlägt mit seiner linken ein.
Heute üben wir Defensivkampftechniken - mal wieder… Mael erklärt uns, dass die für uns noch wichtiger sind als Angriffstechniken: „Dämonen bewegen sich wesentlich schneller als jeder Mensch in der Lage wäre. Noch dazu sind sie uns in Bezug auf das Kräfteverhältnis weit überlegen. Wenn ihr dem Angriff eines Dämons nicht ausweichen könnt, dann kann dieser eine Schlag euch bereits das Leben kosten.“
Mael zeigt uns, wie wir einem Frontalschlag ausweichen, indem wir die Hand des Gegners nach oben lenken und uns seitlich darunter wegdrehen. Dann sollen wir in der Bewegung die Hand, in der wir unser Messer halten würden, zum Gegner hinführen. Dabei erklärt er: „Die Defensive eines guten Jägers besteht nicht darin, sich proaktiv mit seiner eigenen Kraft zu verteidigen. Vielmehr solltet ihr euch die immense Kraft eures dämonischen Gegners zunutze machen. Ihr setzt an, wenn der Angriff eures Gegners noch im vollen Gange ist und nutzt seine Bewegungsenergie. Angriff und Verteidigung verschmelzen. So versetzt ihr den Angreifenden in eine Situation, in der ihr agiert und er reagiert.“
Die Bewegungen, die wir dabei üben, wirken ein bisschen wie Tanzschritte. Eine ganze Weile drehen wir uns um unseren unsichtbaren Gegner. Solange, bis Mael meint, wir würden nun die Bewegungen gut können. „Stellt euch auf, Levian und Traian.“, ruft er, „Wir wollen das nun anwenden.“
„Juchuuuh!“ freue ich mich. Wieder rollt Levian mit den Augen. „Levian wird derjenige sein, der die Rolle des Angreifers übernimmt.“ bestimmt Mael.
„Immer ist er zuerst der Angreifer…“ maule ich.
Da ruft Mael: „Traian!“
„Uääh! Ja?!“
„Du wirst dich verteidigen, wie wir es geübt haben. Sobald Levian einen Treffer landet, hast du verloren. Wenn du zuerst einen Treffer landest, hat Levian verloren.“
„Jaha…“ antworte ich und dann stellen wir uns auf. Levian war schon immer ein klein wenig größer als ich, aber heute kommt der mir irgendwie noch größer vor als sonst. Ist der schon wieder gewachsen?! Levian schaut eine Weile zu mir herüber. Er lächelt dabei nicht, atmet ruhig und ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch nicht blinzelt… irre!
Dann, ganz plötzlich, stürmt er auf mich zu und lässt mir seine Hand entgegensausen.
„Goaaaahag!“ rufe ich und versuche schnell, seine Hand nach oben zu lenken, aber zu spät: Levians Hand trifft mich am Hals…
„Traian ist tot.“ meldet Mael.
„Klasse…“ antworte ich.
Levian schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Bevor ich noch etwas sagen kann, ruft Mael: „Zweite Runde.“ Die nächsten Runden übernimmt Levian wieder den Angriff. Und die laufen fast genauso wie die erste Runde… Levian ist viel zu schnell, dem kann man einfach nicht ausweichen… Nachdem er mich elf Mal besiegt hat, soll ich nun der Angreifer sein. Wir stellen uns wieder auf. Ich überlege mir, wo ich am besten hinziele. Vielleicht auf den Hals, denke ich… weil Levian das auch immer so gemacht hat… Dann renne ich los, auf ihn zu. Als meine Hand anfängt, sich nach oben zu bewegen, wird sie sofort von Levian weggelenkt. Er dreht sich schnell, dann trifft mich seine Hand in der Seite.
„Hua…“ puste ich aus. Bei den nächsten Runden gucke ich mir ganz genau an, wie Levian sich bewegt. Mh… anders als ich fängt er viel früher damit an, meine Hand beiseitezuhauen. Wir wechseln die Rollen noch ein paar Mal. Ich werde jedes Mal ein bisschen schneller. Einmal als Levian angreift, schaffe ich es sogar, ihn abzuwehren und meine Hand an seine Seite zu hauen. „Hahaaaa! Super, oder?!“ freue ich mich.
Levian reibt sich die Seite und sagt: „Toll! Du bist schneller geworden. Aber deinen Nachtisch kannst du trotzdem vergessen.“
Ich stöhne: „Ja ja…“
Musste er mich daran erinnern…
Am Nachmittag ist das Training zu Ende. Nileyn kommt auf den Hof raus, um Levian und mich abzuholen. Wir holen unsere Sachen und machen uns sofort auf zur Brücke. Im Sommer sind wir eigentlich fast jeden Tag da. Nachdem wir die schmale Straße überquert haben, lege ich den Rest des Weges hüpfend und wie immer auch vor mich hinsummend zurück. Ich kann einfach nicht anders! Heute ist so gutes Wetter! Und ich freue mich aufs Baden! Und ich bin noch gut gelaunt vom freien Tag gestern! Und am wichtigsten: „Hihi, haha, Nileyn stell dir mal vor, ich habe Levian heute besiegt!“
„Ach so? Toll für dich!“ lächelt Nileyn.
Levian aber steckt seine Hände in die Taschen und pustet aus: „Da übertreibst du aber ganz schön, Traian. Du hast ja nur einen Treffer gelandet.“
„Hnnnn… wenn du das SO sagst, klingt das ja ganz anders…“ maule ich. Ich werfe meinen Lederbeutel über die Schulter und sage: „…Lass mich doch! Ich freu mich halt!“
Levian grinst: „Naja, du bist ja auch noch ein Jahr jünger als ich…“
„Ha! Und trotzdem habe ich dich getroffen!“
„Is‘ ja gut…“ wedelt er ab.
Ich grinse und drehe mich zu seiner Schwester um: „Nileyn? Soll ich dir mal zeigen, wie ich Levian besiegt habe?!“
„Äh… Wenn du willst?“ sagt sie.
„Schau mal!“ rufe ich und hänge meinen Beutel schnell über den Arm. Ich hebe meine Hand hoch, so als wäre da wieder der unsichtbare Gegner vor mir. Dann drehe ich mich und lasse meine Hand mit dem unsichtbaren Messer zur Seite fliegen: „Huaaa!“
„Hihihi!“ kichert Nileyn - ich weiß gar nicht, was sie da so lustig findet, aber egal.
„Huaaa?!“ lacht Levian nun.
Ach so…
„Hä? Klingt doch mega stark, wenn man das dabei ruft!“ finde ich.
„Na, wenn die Dämonen das auch meinen, ist ja gut.“ lacht er weiter.
„Bestimmt…“ meine ich nur.
Wenn wir vom Training kommen, fühlt sich der Sprung ins kalte Wasser noch schöner an. Im Fluss zu schwimmen ist toll! Wenn es geregnet hat, ist die Strömung schneller. Wenn man dann dagegen schwimmt, kommt man nur langsam vom Fleck. Aber es hat schon lange nicht mehr geregnet, deswegen fließt das Wasser heute nur langsam. Tauchen und sich nass spritzen ist auch lustig. Nur wenn wir jemanden über die Brücke laufen hören, sind wir still. Uns soll ja keiner entdecken. Wie immer ist Levian der Erste, der wieder aus dem Wasser steigt.
„Was, hast du schon genug?!“ frage ich.
„Mir wird’s zu kalt.“ Seine blonden Haare hängen ihm im Gesicht. Sieht irgendwie bedöppelt aus.
Nileyn und ich schauen uns an. Dann lassen wir gleichzeitig unsere Hände im Wasser nach vorn fliegen… PATSCH!!! „Hey! Hört auf mich nass zu spritzen! Das ist nicht lustig!“ schimpft Levian.
Ich lache: „Hahahaha! Doch, irgendwie schon!“
Nileyn kriegt sich kaum ein: „Hihi, entschuldige!“
Levian brubbelt irgendwas, aber ich kann es nicht verstehen. Ich flüstere zu Nileyn: „Dabei tut der beim Kämpfen immer so toll…“
Sie meint: „Ach ja? Das kann ich mir gar nicht vorstellen…“
„Ich höre euch doch!“ meldet sich Levian vom Ufer.
Wieder lachen wir.
Nach einer Weile steigen auch Nileyn und ich aus dem Wasser und setzen uns zu Levian auf die Steine. Ich hole einen Apfel aus meinen Lederbeutel und schaue Nileyn an: „Nileyyynkichleyn, was machst du denn eigentlich immer so, wenn Levian und ich trainieren?“
„Mh?“, macht sie nun, „Na, ich lese Bücher.“
Ich beiße in den Apfel und frage: „Mpf, mpf, und wasch für Büscher, mpf, mpf?“
„Über Pflanzen…“
War ja klar…
„Heute hab‘ ich mir was zur Vogelmiere angeguckt.“
Ist das wirklich ne Pflanze…?!
Nileyn wringt ihre Haare aus. Dann schaut sie auf die wippenden Rohrkolben.
„Komm doch auch mal mit.“ schlage ich vor.
„Wohin?“ fragt sie.
„Na, zum Training. Dann kannst du selbst sehen, wie ich Levian besiege!“
Levian gibt ein „Ha, ha!“ von sich und legt sich auf den Stein. Nileyn aber macht ein komisches Gesicht: „Ich mag nicht.“ „Warum? Und warum musst du eigentlich nicht mittrainieren?“ will ich wissen. Das habe ich schon ganz oft gefragt, aber nie bekomme ich eine Antwort…
Da meldet sich Levian: „Es reicht, dass ich trainiere.“
„Hö?!“, rufe ich, „Warum?!“
„Na wegen unseres Gebiets. Wenn Mael mich ausbildet, reicht das.“
„Was?“, keine Ahnung, was er meint, „Welches Gebiet?“
„Das von Nileyn und mir.“ sagt er.
Die haben ihr eigenes Gebiet?! Jetzt schon?!!! Seit wann das denn?!!!
Da erklärt Nileyn: „Seit unsere Eltern… seit sie weg sind, ist ihr Gebiet ohne Jäger. Das ist das Gebiet, das wir übernehmen sollen.“
Ich springe nach oben, mein Apfel kullert mir dabei aus der Hand: „Warum hat mir das denn noch keiner erzählt?! Und wann soll das so weit sein?!!!“
„Was ist denn mit dir los?“ fragt Levian und setzt sich auf. Nileyn guckt mich irgendwie traurig an: „Das hat Mael uns gestern erst erzählt. Also, dass wir das Gebiet bekommen…“
Deswegen war es immer ok für Mael, dass Nileyn beim
Training nicht mitmachen will!
„Wird aber leider noch lange dauern, bis wir das Gebiet übernehmen…“ sagt Levian.
Leider…
Warum sagt er das so…?
Ich setze mich langsam wieder auf den Stein und gucke zum Fluss. Mein angebissener Apfel wird vom Wasser gegen die Steine geworfen. „Und wie lange…?“ frage ich leise.
Levian schaut auf seine linke Bann-Hand: „Erst muss ich lernen, den Bann einzusetzen.“
3.
Die Nacht habe ich nicht gut geschlafen. Als Mael mich heute Morgen geweckt hat, bin ich sofort wieder eingeschlafen. Erst als er wirklich laut schimpfte, habe ich es geschafft, meine Augen aufzuhalten. Ich musste gestern Abend die ganze Zeit darüber nachdenken, was Levian und Nileyn mir unter der Brücke erzählt haben… Dass sie ihr eigenes Gebiet bekommen. Dann wohnen die ja auch nicht mehr hier bei uns…
Ob ich die beiden dann überhaupt noch sehe…?
Ich kneife in meine Wangen, damit ich wieder wacher werde. Mael sitzt gerade an seinem Schreibtisch und wartet darauf, dass wir mit unseren Rechenaufgaben fertig werden. Bis jetzt habe ich nur auf dem Blatt herumgekritzelt…
Mh! Jetzt los! Konzentration! Was ist 36 plus 41…?
36…
41…
Levian sagte, er muss lernen, seinen Bann einzusetzen. Erst dann übernimmt er sein Gebiet. Mael hat uns erklärt, dass das schwer zu lernen ist und man viel üben muss. Nicht nur Kampftechniken und so, auch andere Sachen. Was die anderen Sachen sein sollen, weiß ich nicht, aber bestimmt sind die schwer zu lernen…
…Mh…
„Traian?!“ ruft Mael plötzlich.
„77?!!!“ zucke ich zusammen.
Levian und Nileyn kichern…
Urg… Mael schaut schon wieder ganz wütend: „Bist du mit deinen Aufgaben fertig?“
„Jaaaaaaanajaaaähhh… nein. Entschuldige…“
Oje… jetzt steht er auf, kommt zu meinem Tisch und legt mir ein paar Blätter hin: „Heute nach dem Training wirst du diese Aufgaben lösen. Morgen frage ich dich ab.“
Ich springe erschrocken auf: „Heute nach dem Training?!“ Aber da schaut er noch wütender. Ich weiß schon, was er sagen wird… Keine Diskussion, Traian… Ich ziehe eine Schnute und setze mich, ohne noch was zu sagen, wieder auf meinen Stuhl. Klasse, baden fällt dann heute aus…
Als wir uns zum Mittag an den Esstisch setzen, schaue ich auf meinen Teller. Es liegen Kartoffeln drauf und Möhren und eine Scheibe Braten. Kartoffeln und Fleisch mag ich gern. Aber trotzdem bin ich noch ein bisschen traurig, dass ich heute nicht baden gehen kann. Ich zerstückle meine Kartoffeln mit dem Messer, dann schaue ich zu Levian. Er lächelt. Wie nett! Ich lächle ein bisschen zurück. Da lächelt er noch mehr. Aber das sieht irgendwie nicht freundlich aus. Was hat der denn?!
Bevor ich fragen kann, räuspert sich Mael und erklärt: „Levian, Traian, heute werden wir unsere Trainingseinheit nutzen, um uns ein wenig in Meditation zu üben.“
Ich schaue von meinem Teller hoch: „Meditation?“
„Ja.“, sagt er, „Auch derartige Übungen sind für einen Jäger wichtig. Insbesondere trägt dies zur Schärfung der Konzentration bei.“
Aha… so, so. Meditation…
Ich schaue zu Mael, der ernst guckt. Dann schaue ich zu Levian, der Mael anguckt und nickt. Dann zu Nileyn, die aus ihren Möhrenstücken und Kartoffeln gerade ein Lachgesicht legt. Was ist Meditation…?!
„Da üben wir aber nicht schon wieder Verteidigungstechniken, oder?“, frage ich, aber dann wedle ich mit den Händen und meine noch: „Ähhh… auch wenn die ja auch ganz wichtig sind…“
Maels Mundwinkel zuckt und er antwortet: „Nein, Traian, um Defensive geht es dabei heute mal nicht.“
Toll! Meditation! Das Wort klingt schon lustig. Was man da wohl macht? Mal ein paar Angriffstechniken zu lernen wäre toll!
„Super!“ freue ich mich.
Dann stecke ich mir einen großen Happs Kartoffeln in den Mund. Unser Essen wird uns immer fertig gekocht zur Villa gebracht. Ich glaube irgendein Restaurant macht das für uns. Es ist… äh Tradition, dass die Bewohner uns Jäger dafür, dass wir sie vor Dämonen beschützen, Essen, Anziehsachen und das alles geben. Und weil Mael keine Zeit hat, auch noch für uns drei Kinder zu kochen, wird uns das alles so gebracht. Maels Stadt ist ja auch groß. Da hat er viel zu beschützen. Mir schmeckt das Essen jedenfalls und meine Laune ist jetzt auch wieder besser. Levian grinst auch wieder so fröhlich.
Als ich aufgegessen habe, klopfe ich mir auf den Bauch.
Levian grinst immer noch.
Dann greife ich zu der kleinen Schüssel, die neben meinem Teller steht. Da grinst er noch mehr.
Es ist Schokopudding drin. Mh… Ich nehme meinen kleinen Löffel. Aber da macht Levian: „Hm, hm… Traian?“
Ich gucke ihn an.
Er zeigt auf meine Schüssel.
Ich schaue auf die Schüssel.
Dann schaue ich ihn wieder an.
…
Uhaaa neeeein! Das hatte ich ja glatt vergessen!!!
Ich schaue noch ein letztes Mal auf meinen Schokopudding.
Riecht glaube ich auch ein bisschen nach Zimt. Man…
Ich stöhne, dann schiebe ich die Schüssel zu Levian.
Mael zieht eine Augenbraue hoch, sagt aber nichts. Nileyn nimmt ihren Löffel aus dem Mund und fragt: „Ist das wieder so ein Ding zwischen euch?“
Ich stöhne wieder: „Frag nicht…“
Levian ist schon am Löffeln. Zwischen den Happen lacht er ein bisschen. Und er verschluckt sich trotzdem nicht…
Seine und dann auch meine Schüssel hat er ganz schnell leer gegessen. Es bleibt nichts übrig…
Als wir nach dem Mittag auf dem Hof auf Mael warten, summe ich vor mich hin. Ich gucke zum Fenster der Bibliothek, aber die untere Etage liegt ja ein bisschen höher, also kann ich nicht wirklich was sehen. Dann gucke ich zu Levian, der sich auf die kleine Treppe vor dem Hintereingang der Villa gesetzt hat.
Er sieht immer noch sehr zufrieden aus…
„Und?“, frage ich, „Was ist der Einsatz heute?“
Levian guckt mich an. Ich grinse.
„Also echt…“, meint er, „…eben noch warst du so traurig, weil ich deinen Pudding aufgegessen habe, und jetzt fragst du DAS?!“
Ich lasse meinen Fuß auf einem Steinchen rotieren und antworte: „Naja, wer weiß, dafür hole ich mir vielleicht gleich deinen Nachtisch für morgen!“
„Klar…“ sagt er nur.
„Und, was ist nun?“ frage ich nochmal.
„Heute machen wir doch Meditation.“
„Ja… und?“
Levian zieht eine Augenbraue nach oben: „Weißt du überhaupt, was das ist?“
„Klaaaar…“ antworte ich.
„Da kann man keinen Wettkampf draus machen…“ findet er.
Warum das denn nicht?! „Aber wenn, dann geht es um deinen
Nachtisch, ok?“ frage ich.
Da stöhnt er: „Ja is‘ gut…“
Eine Weile noch warten wir auf Mael, aber er kommt nicht. Das ist oft so. Er wird wohl nach dem Mittag einen Dämon erspürt haben und ist sofort los, um ihn zu besiegen. Mael sagt das gehört auch zur Jägergabe. Nicht nur, dass wir den Bann haben, wir können auch spüren, ob sich ein Dämon in unsere Nähe schleicht. Unglaublich, oder? Haha, da haben die Dämonen ja gar keine Chance mehr! Nileyn und ich, aber auch Levian, können sowas aber noch nicht spüren. Das muss man wie alles erst lernen oder entwickeln oder irgendwie so.
„Tja, Mael wird wohl nicht kommen.“ meint Levian jetzt.
„Ja, echt schade…“ antworte ich. Dann also keine Meditation heute. Und so habe ich ja auch keine Chance, Levians Nachtisch zu gewinnen… Hat der ein Glück…
„Was machst du jetzt so?“ fragt er.
Ich überlege kurz, ob ich gleich zur Brücke gehe. Aber noch bevor ich mich über die Gelegenheit freuen kann, fällt mir ein, dass ich ja Zusatzaufgaben von Mael aufgebrummt bekommen habe…
„Ich werde die blöden Hausaufgaben machen…“, murre ich, „Und du?“
Levian schaut vor sich hin: „Weiß noch nicht…“
Aha.
„Na dann!“ winke ich ihm zu und gehe die Treppe rauf.
Später sitze ich in meinem Zimmer am Schreibtisch und kritzle wieder auf dem Papier rum. Mein Schreibtisch ist schon ganz schön zerkratzt. Das alte Holz hält nicht viel aus. Daneben steht mein großes Holzbett. Das ist eigentlich ganz gemütlich. Vor dem Bett steht meine Truhe mit ein paar Sachen, Steinen und großen Federn und ein paar Holzblöcke von früher sind auch drin. Mein klotziger dunkler Kleiderschrank steht an der Wand links gegenüber vom Bett. Dann sind da noch ein paar Schränkchen und Regale, die alle mit Büchern oder Anziehsachen und so was alles vollgestopft sind. Leider klebt auch in meinem Zimmer diese olle Streifentapete an den Wänden. Von den Fenstern aus kann ich auf die große breite Treppe und den Platz vor der Villa schauen. Wenn ich mich anstrenge, kann ich die rote Blume von Nileyn ein bisschen neben der Treppe auf und ab wippen sehen.
Ich gucke auf meine Aufgaben. Pah, mir ist so egal, was 23 plus 54 ist! Heute scheint die Sonne so schön, wie gern ich jetzt baden würde! Ich rolle meinen Stift über das Papier, rauf und runter, rauf und runter… Dann male ich ein paar fiese Augen auf das Blatt. Dazu noch eine dicke Nase, einen Mund mit spitzen Zähnen… Das sieht schon gut aus! Summend male ich noch ein langes Gesicht drum und auch behaarte Ohren, lange Haare… ach ja und eine Warze auf der Stirn. Fertig! Ich halte mein Aufgabenblatt hoch und bin zufrieden: das ist ein echt hässlicher Dämon geworden! Schnell springe ich auf und renne aus dem Zimmer, um Nileyn zu suchen. Sie muss sich die Fratze unbedingt angucken! Dabei renne ich den Flur lang und komme an einem der Gästezimmer vorbei. Ich bleibe kurz stehen. Dann gehe ich rein und stelle mich ans Fenster. Das Zimmer liegt auf der anderen Hausseite. Wenn ich aus den Fenstern schaue, kann ich die Straße, die zur Brücke führt, ein Stück entlanggucken… Schade, dass ich den Fluss von hier aus nicht sehen kann… Die anderen Häuser sind im Weg. Plötzlich bewegt sich auf dem Hof unserer Villa was. Ich schaue genau hin. Ist das Levian? Ich drücke meine Nase an die Scheibe, um besser sehen zu können. Ja, das ist Levian! Was macht er da? Sieht aus, als würde er tanzen. Er dreht sich und hebt dabei einen Arm hoch. Dann nach vorn. Dann macht er dasselbe wied-Hey! Das sind ja unsere Defensivübungen! Warum macht der das? Mael ist doch noch nicht wieder da. Die Trainingsstunde ist ausgefallen. Er könnte doch auch zur Brücke gehen und baden. Komisch. Lieber turnt er auf dem Hof rum. Ich lehne mich aufs Fensterbrett und gucke ihm noch eine Weile zu. Immer wieder macht er die Übungen. Das hat der doch noch nie ohne Mael und mich gemacht, oder? …Ich meine üben… Der ist echt komisch drauf…
Als wir beim Abendbrot sitzen, das uns wieder geliefert wurde, ist Mael immer noch nicht zurück. Manchmal dauert so ein Kampf ganz schön lange und manchmal muss Mael auch weit laufen, bis er den Dämon findet. Wir kennen das schon…
„Und, Traian? Was hast du dann heute so gemacht?“ will Nileyn wissen.
Ich schlucke meinen Bissen vom Wurstsalat runter, dann klopfe ich mir auf die Brust und rufe feierlich: „Ich habe die tollste Dämonenfratze gemalt, die du je gesehen hast, liebe Nileyn!“
Sie kichert, aber Levian beugt sich vor und schaut mich komisch an: „Du hast also nicht deine Zusatzaufgaben gemacht?!“
Man… was für ein Pinsel… „Naja doch! Das habe ich auch gemacht. Will ja morgen schließlich nicht noch mehr Aufgaben aufbekommen…“
Ich habe Nileyn die Fratze dann nicht mehr gezeigt. Ich war lieber zurück auf mein Zimmer gegangen und habe die Aufgaben gemacht…
Nileyn stützt ihren Kopf auf die Hände und fragt ihren Bruder: „Und was hast du so gemacht?“
„Ja!“, rufe ich jetzt laut, „Was hast DU denn so gemacht, Levian?!“
Nileyn und Levian gucken mich verwirrt an, dann erzählt Levian: „Ich habe ein bisschen trainiert…“
Oha, der macht ja nicht einmal ein Geheimnis daraus! Ist ihm das nicht peinlich?!
„So, so!“ meine ich und kreuze meine Arme.
„Was ist denn mit dir los?“ will er wissen.
„Na, du trainierst also, während ich meine Aufgaben mache! Ist ja wohl klar, warum…“
Da schaut Levian mich erschrocken an und stammelt: „Also das… sei bitte nicht traurig… ich weiß…“
Hä? Wieso sollte ich traurig sein?! Ich zeige mit meiner Gabel auf ihn und ziehe eine Augenbraue nach oben, so wie er das immer macht: „Haha! Naja ich kann schon verstehen, dass dir das unangenehm ist! Du wolltest bestimmt nicht, dass ich rausfinde, dass du mich nur immer besiegst, weil du heimlich trainierst! Anders kannst du mich nicht schlagen, hä?! Aber ich habe ja trotzdem auch gegen dich gewonnen! Ha ha ha ha ha!“ Levians Mund bleibt offenstehen. Er sagt nichts dazu. He, da hats ihm wohl die Sprache verschlagen! Zufrieden lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück.
„Äh…“, meldet sich jetzt Nileyn, „…also ich habe darüber gelesen, was man aus Birkenrinde alles machen kann.“
„Was?“ - wie kommt sie denn jetzt darauf?
Aber Nileyn redet schon weiter: „Also die untere Schicht der Rinde kann man essen. Man kann aus Birkenrinde auch Klebstoff machen, glaube ich, und sie zum Verbinden benutzen - also wenn jemand verletzt ist…“
Hääh?! „Ach so, ja…“ nuschle ich verwirrt, „Birke, war bestimmt auch interessant…“
Auf einmal schiebt Levian seinen Stuhl nach hinten und steht auf. „Ich bin satt…“ murmelt er, dann geht er einfach. Nachdem er die Tür zugemacht hat, wundere ich mich: „Was ist denn mit dem los?“ Nileyn aber guckt nur auf ihr Essen und lächelt nicht mal.
Später am Abend sitze ich auf meinem Bett und schaue wieder zum Fenster raus. Es ist schon ganz schön spät, aber die Sterne sind immer noch nicht richtig zu sehen. Die Sonne scheint um diese Jahreszeit immer sehr lange, sogar noch, wenn schon Schlafenszeit ist. Auch jetzt ist der Himmel hinter den Häusern noch ein wenig orange. Keine Ahnung, warum, aber ich muss die ganze Zeit daran denken, dass Levian heimlich trainiert. Plötzlich klopft es leise an meiner Tür.
„Jaaa?“ rufe ich. Da öffnet sie sich und Mael kommt rein.
„Mael! Und wie war der Kampf? War der Dämon stark? Hast du so lange gebraucht, um ihn zu besiegen oder hat er sich versteckt?“
Er setzt sich neben mir auf die Bettkante und schaut zum Fenster raus: „Der Dämon war nicht sehr stark. Dafür jedoch schlau genug, zu fliehen, sobald er mich bemerkte. Es hat lange gedauert, ihn zu schnappen.“
„Ach so.“
„Wie hast du den Tag dann heute noch so verbracht, Traian?“ „Ha…“, ich mache meinen Rücken gerade und strecke das Kinn ein bisschen nach oben, „Hab natürlich meine Aufgaben gemacht! Was auch sonst…“ Heimlich schaue ich zu meinen Schreibtisch, auf dem die Aufgabenblätter liegen. Meine super gelungene Dämonenfratze liegt ganz oben… Aber Mael bekommt das zum Glück nicht mit.
„Das ist gut, mein Junge.“ lobt er.
„Naja und Levian! Levian hat…“ fange ich an, aber dann gucke ich zum Fenster raus, weil sich mein Bauch irgendwie komisch anfühlt. Ich atme tief ein und aus, dann sage ich: „Weißt du, Mael? Levian hat heute trainiert. Es war ja keine Trainingsstunde, aber er hat das geübt, was du uns in letzter Zeit so beigebracht hast. Einfach so…“
Mael macht „Mh…“, dann legt er kurz seine Hand auf meine Schulter. Ich gucke ihn an. Er faltet seine Hände nun zusammen und erklärt: „Traian, ich muss dir etwas sagen, was ich Levian und Nileyn vor Kurzem erklärt habe.“
„Ja?“
Er macht ein ernstes Gesicht: „Die Leute im ehemaligen Gebiet von Levians und Nileyns Eltern benötigen dringend Schutz. Und zwar jene Art von Schutz, wie nur wir ansässigen Jäger bieten können. Es sind nicht viele Menschen, die dort leben, aber dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich Dämonen in das Gebiet schleichen, um den Bewohnern etwas zuleide zu tun. Seit nunmehr zwei Jahren sind die Menschen dort ohne Schutz. Es wird noch eine Weile dauern, aber langfristig soll sich dort wieder ein Jäger niederlassen, um diese Rolle auszufüllen. Es steht bereits fest, wer dieser Jäger sein soll.“ „Oh…“ mache ich nur. Ich weiß ja, was er mir jetzt sagen will… Mael erklärt weiter: „Wie die Tradition es verlangt, werden Levian und Nileyn dieses Gebiet einmal als ansässige Jäger übernehmen. Das heißt, vielmehr wird die Ausübung der Jägergabe wohl Levian obliegen, so ist es zumindest der Wunsch der beiden…“
Ich seufze kurz „Hmhm…“ und gucke wieder zum Fenster raus. „Traian…“, sagt Mael, „…verstehst du, was das bedeutet? Nileyn und Levian werden nicht für immer hier bei uns leben. Früher oder später werden sie wieder in ihr Gebiet ziehen und dann werden sie dort in ihrem ehemaligen Elternhaus leben.“ Mael macht sich wohl Sorgen um mich, so wie er klingt. Also antworte ich: „Das weiß ich doch schon.“
Er hebt seine Augenbrauen: „So?“
„Ja.“, sage ich, dann gähne ich laut: „Ghuaaaaah! Aber das ist ja noch eine ganze Weile hin. Bis Levian es schafft, den Bann einzusetzen, muss er ja noch ganz, ganz, gaaaanz lange Zeit üben. Du meintest doch, die meisten Jäger schaffen das sowieso erst, wenn sie fast erwachsen sind, weißt du noch?“
Fast erwachsen - ich bin nicht sicher, ab wann man erwachsen ist, aber ich glaube, da muss man schon echt alt für sein… „Mh…“ macht Mael nur. Dann steht er vom Bett auf, damit ich unter meine Decke krabbeln kann.
„Ghuaah…“, gähne ich nochmal, als ich liege, „…bis dahin kann ich auch noch üben.“
Meine Augenlider werden ganz schwer. Müde murmle ich: „…und ich werde auch ein ganz toller Jäger…“
Da schaut Mael mich ernst an: „Ob du ein toller Jäger wirst, hängt davon ab, warum du ein Jäger werden willst… Aber du hast noch viel Zeit, dir das zu überlegen.“
Ich kann noch sehen, wie er kurz zu meinem Schreibtisch guckt. Dann wuschelt er mir durch die Haare und sagt: „Gute Nacht, Traian.“
Als nächstes weiß ich nur noch, wie ich in einem breiten Fluss aus Schokopudding bade.
Mhhh… mit Zimt drin.
4.
Heute machen wir Meditation! Diesmal wirklich! Mael hat es uns beim Frühstück gesagt. Ich freue mich schon die ganze Zeit auf die Trainingsstunde nachher, heut noch mehr als sonst! Im Schreibunterricht kann ich mich kaum noch zurückhalten. Das ist die vorletzte Stunde vor dem Mittag. Danach kommt nur noch Rechnen… Meine Füße wippen unter meinem Tisch auf und ab, während ich das aufschreibe, was Mael uns diktiert. „Tscht, Traian!“, macht Levian leise neben mir, „Hör mit dem Gepolter auf oder willst du wieder Zusatzaufgaben bekommen?“
„Neeee!“ flüstere ich erschrocken zurück und stampfe meine Füße fest auf den Holzboden, damit sie sich nicht mehr von allein bewegen können. Alles, bloß das nicht! Wenn ich heute nochmal Zusatzaufgaben bekomme, dann heule ich!
Mael hat davon nichts mitbekommen, er macht mit seinem Diktat weiter: „Verwendbare Bestandteile des Löwenzahns sind Blüten, sowie Knospen, aber auch Blätter und Wurzeln. Insbesondere den Wurzeln werden heilende Eigenschaften nachgesagt. Ein daraus zubereiteter Tee kann…“
Boaa… heute hat Mael einen Text aus Nileyns Pflanzenbüchern für das Diktat ausgesucht… Ich gucke kurz zu ihr rüber. Sie trägt heute ihr hellblaues Sommerkleid. Jedenfalls ist sie total bei der Sache und schreibt gebannt mit. Nileyn ist wohl die Einzige, der das Diktat richtig Spaß macht…
„…die Blätter eignen sich gut, um daraus einen Salat…“
Ihhh, Löwenzahn kann man essen? Das wächst doch so am Straßenrand… Da sind mir Kartoffeln aber lieber. Was es heute wohl zum Mittag gibt? Ich grinse vor mich hin: jedenfalls habe ich meinen Nachtisch heute ganz für mich allein! Wenn doch nur dieses langweilige Diktat endlich zu Ende wäre… Ich muss mich wirklich schlimm konzentrieren, um auch wirklich mitzuschreiben…
„…können die Blätter wie Spinat gekocht werden…“
Können die Blätter wie Spinat gekocht… Urrg, das wird ja immer schlimmer…
„…Auch die Blüten des Löwenzahns sind essbar…“
Auch die Blüten des Löwenzahns sind essbar…
„Verdammt… Ich muss leider schnell los.“
Verdammt, ich muss leider schnell los.
…
Hä?!!!
„Was?!“ rufe ich und springe auf, aber da rennt Mael schon los.
„Ein Dämon ist aufgetaucht!“ höre ich seine Stimme noch durch den Flur hallen. Dann knallt die Haustür. Weg ist er.
„Neeeee! Heute sollte es doch Meditation geben!“ rufe ich laut und lasse mich auf meinen Stuhl plumpsen. Nileyn und Levian lachen.
„Ja schade, dass es ausfällt. Ein bisschen Konzentration schärfen würde dir guttun! Aber entspannen können wir uns ja auch anders.“ findet Levian.
„Hä?!“, mache ich, „Meditation hat was mit Entspannen zu tun?!“
Da lachen sie wieder.
Beim Mittag esse ich heute nicht so viel wie sonst. Es gibt irgendeinen Kohltopf und da sind weder Kartoffeln noch Fleischstücke drin… Zum Nachtisch gibt es ein Stück Kuchen. Mhhh! Weil ich mir ganz sicher bin, dass Mael eh nicht vor dem Abendbrot zurück sein wird, mampfe ich auch sein Stück schnell auf.
Nileyn schluckt: „Und wenn Mael sauer deswegen ist?“
„Ach!“, winke ich ab, „Dann sage ich einfach, dass es Levian war!“
Sofort schaut Levian mich böse an: „Hey! Das wird er wohl kaum glauben!“
„Haha, warum denn nicht?“ will ich wissen und schlecke dabei die Krümel von Maels Teller.
Da grinst Levian: „Na, ich bin nicht derjenige, der ständig auf seinen Nachtisch verzichten muss…“
„Man! Aber nur, weil Mael ja gestern und heute nicht da war und das Training so ausgefallen ist. Sonst hättest du mir heute bestimmt deinen Kuchen geben müssen, jawohl!“ Ich verschränke beleidigt die Arme und gucke Levian böse an. Aber trotzdem lächelt der und sagt: „Glaubst du das wirklich, Traian?“
Was?! Dieser… dieser… Heini!!! Nileyn schaut schon ganz besorgt zwischen Levian und mir hin und her. Ich springe von meinem Stuhl auf. Dann haue ich mit der Hand auf den Tisch und rufe: „Klar! Wir können das ja heute gern klären!“ Da kommt mir plötzlich eine Idee: „Haha, genau! Mael ist ja den ganzen Tag nicht da! Lass uns einen Wettkampf machen!“ Levian zieht eine Augenbraue hoch: „Einen Wettkampf? Du willst gegen mich kämpfen?“
Das hätte er wohl gern… „Ne, so meine ich das nicht! Das wäre ja nicht fair, weil du immer heimlich übst…“
Levian will was sagen, aber ich lasse ihn nicht: „Pass mal auf, Levian! Wir werden einen Wettkampf machen, aber ohne Kampfübungen, sondern so, dass wir beide eine Chance haben!“ „Hm?“ macht Nileyn nun.
„Wie soll das gehen?“ fragt Levian.
„Hahaha, na kommt mal mit!“