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New York, 1909. Aus einem transatlantischen Frachter steigt eine junge Frau mit ihrem Sohn Natale. Sie kommen aus dem tiefsten Süden Italiens - mit dem Traum von einem besseren Leben in Amerika.
Doch in der von Armut, Elend und Kriminalität gezeichneten Lower East Side gelten die gnadenlosen Gesetze der Gangs. Nur wer über ausreichend Robustheit und Durchsetzungskraft verfügt, kann sich hier behaupten. So wie der junge Natale, dem überdies ein besonderes Charisma zu eigen ist, mit dem er die Menschen zu verzaubern vermag ...
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Seitenzahl: 1077
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Zitate
Prolog
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ERSTER TEIL
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Danksagungen
Leseprobe »Als das Leben unsere Träume fand«
Luca Di Fulvio, geb. 1957, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Rom. Ehe er sich dem Schreiben widmete, studierte er Dramaturgie bei Andrea Camilleri an der Accademia Nazionale d’Arte Drammatica Silvio D’Amico. DER JUNGE, DER TRÄUME SCHENKTE ist sein vierter auf Deutsch erschienener Roman.
Luca Di Fulvio
DER JUNGE,DER TRÄUMESCHENKTE
Roman
Aus dem Italienischen vonPetra Knoch
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2008 by Arnoldo Mondadori Editore s.p. a., Mailand
Titel der italienischen Originalausgabe: »La Gang dei Sogni«
Originalverlag: Arnoldo Mondadori Editore s.p.a., Mailand
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © Trevillion Images/Andrew Davis
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-1759-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Dieses eBook enthält eine Leseprobedes in der Bastei Lübbe AG erscheinenen Werkes »Als das Leben unsere Träume fand« von Luca Di Fulvio.
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von Motiven von © Sandra Cunningham/Trevillion Images; © Svetoslava Madarova/Trevillion Images; © picture alliance/Frank May; © FinePic/shutterstock
MEINEM SCHICKSALGEWIDMET,
DAS CARLAZUMIRGEFÜHRTHAT,
OHNEDIEICHNIEMALSÜBERDIE LIEBE
HÄTTESCHREIBENKÖNNEN.
In Träumen beginnt die Verantwortung.
W. B. YEATS, Responsibilities
Kleines, man nennt sie die Diamond Dogs.
DAVID BOWIE, Diamond Dogs
Aspromonte, 1906–1907
Anfangs hatten beide beobachtet, wie sie heranwuchs. Die Mutter und der Gutsherr. Die eine mit Sorge, der andere mit seiner trägen Wollust. Doch bevor sie zur Frau wurde, trug die Mutter dafür Sorge, dass der Gutsherr sie nicht mehr beachtete.
Als das Mädchen zwölf Jahre alt war, gewann die Mutter, wie sie es von den alten Frauen gelernt hatte, aus Mohnsamen einen Sirup. Diesen Sirup flößte sie dem Mädchen ein, und als es benommen vor ihr zu taumeln begann, nahm sie es auf ihren Rücken, überquerte die staubbedeckte Straße, die inmitten der Ländereien des Gutsherrn an ihrer Hütte vorbeiführte, und trug es bis zu einem Kiesbett, wo eine verdorrte alte Eiche stand. Sie brach einen dicken Ast ab, zerriss die Kleider des Mädchens und rammte ihm einen spitzen Stein in die Stirn. Diese Wunde, da war sie sicher, würde stark bluten. Dann legte sie ihre Tochter in verrenkter Haltung, als wäre sie beim Sturz vom Baum die Böschung hinabgerollt, auf dem Kies ab und ließ sie, bedeckt mit dem Ast, den sie abgebrochen hatte, dort liegen. Die Männer würden bald von der Feldarbeit heimkehren, deshalb hastete sie zurück zur Hütte. Dort bereitete sie aus Zwiebeln und Schweinespeck eine Suppe zu und trug danach erst einem ihrer Söhne auf, nach Cetta, ihrem Mädchen, zu suchen.
Sie behauptete, sie habe sie zum Spielen in Richtung der toten Eiche laufen sehen, schimpfte über ihre Tochter und beklagte sich bei ihrem Mann: Das Mädchen sei ein Fluch, sie schaffe es nicht, es zu bändigen, es sei ein Irrwisch, trage jedoch den Kopf in den Wolken, man könne ihm nichts auftragen, da es auf halbem Weg schon wieder alles vergessen habe, zudem sei es ihr nicht die geringste Hilfe im Haushalt. Ihr Mann wies sie zurecht und verbot ihr den Mund, bevor er schließlich zum Rauchen nach draußen ging. Während der Sohn sich über die Straße zur toten Eiche und zum Kiesbett aufmachte, kehrte sie zurück in die Küche, um die Zwiebel-Speck-Suppe im Kessel umzurühren, und wartete. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Wie jeden Abend hörte sie den Gutsherrn im Auto an ihrer Hütte vorbeifahren und zweimal hupen, weil, wie er sagte, die Mädchen das so gerne mochten. Und wirklich, obwohl die Mutter ihr bereits vor einem Jahr verboten hatte, den Gutsherrn vor dem Haus zu begrüßen, lief Cetta noch immer, vom Hupen angelockt, jeden Abend zum Fenster unter dem Verandadach und blickte verstohlen hinaus. Und sie, die Mutter, hörte den Gutsherrn lachen, bis seine Stimme sich in der Staubwolke hinter dem Wagen verlor. Cetta nämlich – das sagte jeder, der Gutsherr jedoch ein wenig zu oft – war ein wirklich hübsches Mädchen und würde gewiss einmal eine bildschöne junge Frau werden.
Als der Sohn, der sich auf die Suche nach Cetta gemacht hatte, mit lautem Geschrei zurückkam, rührte die Mutter weiter in der Zwiebel-Speck-Suppe. Ihr Atem jedoch stockte. Sie hörte, wie der Sohn mit dem Vater redete. Die schweren Schritte des Vaters polterten über die drei Holzstufen nach draußen, die bereits so schwarz waren wie Steinkohle. Und erst einige Minuten später hörte die Mutter ihren Mann lauthals ihren und Cettas Namen rufen. Da ließ sie die Suppe auf dem Herd stehen und lief endlich hinaus.
Ihr Mann trug die kleine Cetta in seinen Armen. Mit blutverschmiertem Gesicht und zerrissenen Kleidern hing sie wie ein Lumpen in den schwieligen Händen des alten Vaters.
»Hör mir zu, Cetta«, sagte die Mutter tags darauf, als alle zur Feldarbeit aufgebrochen waren, zu ihrer Tochter. »Du wirst nun bald erwachsen und verstehst mich genau, wenn ich mit dir rede, ebenso wie du, wenn du mir in die Augen siehst, genau weißt, dass ich fähig bin zu tun, was ich dir jetzt sage. Wenn du meine Anweisungen nicht aufs Wort befolgst, bringe ich dich eigenhändig um.« Daraufhin nahm sie ein Seil zur Hand und band es Cetta um die linke Schulter. »Steh auf«, befahl sie ihr, zog das Seil straff bis hinab zur Leiste, wodurch sie die Kleine in eine gekrümmte Haltung zwang, und schnürte das andere Ende fest um ihren linken Oberschenkel. »Das bleibt ein Geheimnis zwischen dir und mir«, bläute sie ihr ein. Aus einer Schublade zog sie ein weites Kleid mit verwaschenem Blumenmuster, das sie aus alten Stoffresten genäht hatte, und streifte es ihr über. »Du wirst behaupten, du wärst seit dem Sturz verkrüppelt. Vor allen, auch vor deinen Brüdern«, erklärte sie dem Mädchen. »Damit du dich daran gewöhnst, wirst du dieses Seil einen Monat tragen. Danach werde ich es dir abnehmen, aber du wirst weiter so gehen, als wäre es noch da. Tust du das nicht, lege ich es dir zunächst wieder an, und solltest du danach versuchen, dich aufzurichten, bringe ich dich eigenhändig um. Und wenn der Gutsherr abends in seinem schönen Auto hier vorbeifährt und hupt, läufst du hinaus und winkst ihm zu. Oder besser noch, du erwartest ihn bereits draußen auf der Straße, damit er dich gut sehen kann. Hast du mich verstanden?«
Das Mädchen nickte.
Da nahm die Mutter das Gesicht der Tochter in ihre knorrigen, runzeligen Hände und sah sie mit Liebe und verzweifelter Entschlossenheit im Blick an. »In deinem Bauch wird kein Bastard heranwachsen«, sagte sie.
Noch bevor es Herbst wurde, hupte der Gutsherr nicht mehr, wenn er an der Hütte vorbeifuhr, da er sich mit dem Gedanken abgefunden hatte, Cetta sei hoffnungslos verkrüppelt. Und der Winter hatte kaum begonnen, da nahm er gar einen anderen Weg.
Im Frühsommer sagte die Mutter zur Tochter, sie könne nun wieder genesen. Ganz langsam, um keinen Verdacht zu erregen. Cetta war dreizehn Jahre alt und hatte sich entwickelt. Doch das Jahr als Krüppel hatte sie ein wenig zum Krüppel gemacht. Und nie wieder, auch nicht, als sie erwachsen war, sollte es ihr gelingen, vollkommen gerade zu gehen. Sie lernte, ihren Makel zu überspielen, aber sie richtete sich nie mehr ganz auf. Die linke Brust war ein wenig kleiner als die rechte, die linke Schulter ein wenig gekrümmter als die rechte, der linke Oberschenkel ein wenig gedrungener als der rechte. Zudem war das gesamte Bein, das ein Jahr lang die Schulter nach unten gezogen hatte, steif geworden, oder die Sehnen hatten sich verhärtet, wodurch das Mädchen ein wenig zu hinken schien.
Aspromonte, 1907–1908
Nachdem die Mutter ihr erlaubt hatte, von der vorgetäuschten Krankheit zu genesen, hatte Cetta versucht, wieder gerade zu gehen. Doch manchmal schlief ihr linkes Bein ein oder verweigerte ihr den Gehorsam. Und um es aufzuwecken oder wieder zur Ordnung zu rufen, blieb Cetta nichts anderes übrig, als aufs Neue die Schulter herabzuziehen, die vom Seil der Mutter gekrümmt war. In dieser Krüppelhaltung schien sich das Bein an seine Pflicht zu erinnern und ließ sich nicht länger nachziehen.
Eines Tages war Cetta zur Getreideernte draußen auf dem Feld. Und ganz in ihrer Nähe – der eine mehr, der andere weniger – waren ihre Mutter und ihr Vater und ihre Brüder mit den tiefschwarzen Haaren. Und auch der andere, fast blonde Halbbruder, der Sohn ihrer Mutter und des Gutsherrn. Der Halbbruder, dem weder Mutter noch Vater je einen Namen gegeben hatten und den alle in der Familie nur den Anderen nannten. »In deinem Bauch wird kein Bastard heranwachsen«, hatte ihr die Mutter in dem Jahr wieder und wieder eingeschärft. Sie hatte sie zu einem halben Krüppel gemacht, damit der Gutsherr seinen Blick von ihr abwandte. Und immerhin scharwenzelte der Gutsherr nun um andere Mädchen herum.
Cetta war verschwitzt. Und müde. Sie trug ein langes Leinenkleid mit schmalen Trägern. Ihr linkes Bein blieb im kargen, sonnenverbrannten Boden stecken. Als sie bemerkte, dass der Gutsherr einigen Freunden seine Felder zeigte, achtete sie nicht weiter auf ihn, sie fühlte sich nun sicher. Der Gutsherr gestikulierte beim Gehen. Vielleicht erzählt er gerade, wie viele Erntehelfer für ihn arbeiten, dachte Cetta. Die Hand in die Hüfte gestemmt, hielt sie inne, um die Gruppe zu betrachten. Unter ihnen war die dritte Ehefrau des Gutsherrn; sie trug einen Strohhut auf dem Kopf und ein Kleid in einem Blauton, wie Cetta ihn nicht einmal am Himmel je gesehen hatte. Zwei andere Frauen begleiteten sie, vermutlich die Gattinnen der beiden Männer, die mit dem Gutsherrn plauderten. Die eine war jung und hübsch, die andere korpulent und ihr Alter schwer einzuschätzen. Die Männer an der Seite des Gutsherrn sahen ebenso unterschiedlich aus wie ihre Ehefrauen. Der eine war jung und dürr, hoch aufgeschossen und kraftlos wie ein Getreidehalm, der sich unter der Last der reifen Ähre biegt. Der andere war ein Mann mittleren Alters mit breitem Schnurrbart, altmodisch buschigen Koteletten und strohblonden Haaren. Er hatte ausladende Schultern und eine stattlich-breite Brust wie ein ehemaliger Boxer. Beim Gehen stützte er sich auf einen Stock. Und unterhalb seines rechten Knies war ein weiteres Stück Holz zu sehen. Ein künstliches Bein.
»An die Arbeit, Hinkebein!«, rief der Gutsherr, als er Cettas Blicke bemerkte, zu ihr herüber, bevor er sich zu den beiden Männern umdrehte und in ihr Gelächter einfiel.
Cetta, deren Bein taub geworden war, krümmte sich und hinkte weiter durch ihre Ackerreihe. Nach wenigen Schritten wandte sie sich noch einmal nach dem Gutsherrn um und bemerkte, dass der Mann mit dem Holzbein etwas abseits stand und zu ihr herüberstarrte.
Ein wenig später kam Cetta dem Grüppchen so nah, dass sie verstehen konnte, worüber gesprochen wurde. Und auch sie hörte das rhythmische Klopfen, das alle neugierig machte – doch im Gegensatz zu den anderen wusste sie, woher es kam. Aus dem Augenwinkel konnte sie beobachten, wie die Männer das geschnittene Getreide beiseiteschoben und schließlich lachend erkannten, wer das ungewöhnliche Geräusch verursachte. Die Frauen, die sich dem Schauplatz genähert hatten, taten verlegen und schlugen sich die von weißen Spitzenhandschuhen verhüllten Hände vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken, bevor alle wieder davonspazierten, da es bald Zeit für das Mittagessen war.
Allein der Mann mit dem Holzbein stand noch da und sah zu. Er beobachtete die beiden Schildkröten, die ihre faltigen Hälse in die Höhe reckten und sich paarten, wobei ihre Panzer mit einem rhythmischen Tock-Tock-Tock gegeneinanderschlugen. Der Mann mit dem Holzbein starrte auf die beiden Tiere, dann auf Cetta und ihr Hinkebein und schaute schließlich auf sein eigenes künstliches Bein hinab. Cetta sah eine Hasenpfote an seiner Weste herabbaumeln.
Im nächsten Moment stürzte sich der Mann auf Cetta, stieß sie zu Boden, schob ihren Rock hoch und zerriss ihren abgetragenen Baumwollschlüpfer, und mit der Vorstellung, sein Holzbein schlüge gegen das zurückgebildete Bein des Bauernmädchens, nahm er sie mit aller Hast und zeigte ihr, was ein Mann und eine Frau machen, wenn sie es den Tieren gleichtun wollen. Und während er auf Cetta lag, rief die Dicke über die Felder nach ihrem Mann, da sie nur noch darauf bedacht war, schnell an den Essenstisch zu kommen, und Cettas Mutter und ihr Vater und ihre dunkelhaarigen Brüder und auch der Andere mit dem helleren Haar setzten ganz in der Nähe der sich paarenden Schildkröten ihre Arbeit fort.
Nachdem die Mutter ihr erlaubt hatte, wieder zu genesen, langsam, um keinen Verdacht zu erwecken, hatte Cetta sich den Folgen ihres Jahres als Krüppel stellen müssen. Und als sie, nach der Paarung der Schildkröten, mit nicht ganz vierzehn Jahren schwanger wurde, wölbte sich selbst ihr Bauch links stärker als rechts, so als hinge er von der unnötig verkrüppelten Seite herab.
Der Junge kam mit außergewöhnlich blondem Haar zur Welt. Man hätte denken können, er stamme von den Normannen ab, wären da nicht seine Augen gewesen, so pechschwarz, tiefgründig und sehnsuchtsvoll, wie ein Blondschopf sie sich niemals auch nur hätte erhoffen können.
»Er wird einen Namen bekommen«, erklärte Cetta ihrem Vater, ihrer Mutter, ihren dunkelhaarigen Brüdern und dem, den alle den Anderen nannten.
Und da er ihr mit seinem hellblonden Haar wie das Jesuskind in der Krippe erschien, nannte Cetta ihren Sohn Natale.
Aspromonte, 1908
»Sobald er etwas größer ist, will ich nach Amerika«, eröffnete Cetta ihrer Mutter, während sie ihrem Sohn Natale die Brust gab.
»Und was hast du da vor?«, brummte die Mutter, ohne von ihrem Nähzeug aufzublicken.
Cetta antwortete nicht.
»Du gehörst dem Gutsherrn und auf die Felder«, sagte da die Mutter.
»Ich bin doch keine Sklavin«, widersprach Cetta.
Die Mutter legte das Nähzeug beiseite und stand auf. Ihr Blick lag auf der Tochter, die dem neuen Bastard in der Familie die Brust gab. Sie schüttelte den Kopf. »Du gehörst dem Gutsherrn und auf die Felder«, sagte sie noch einmal, bevor sie hinausging.
Cetta blickte auf ihren Sohn hinab. Ihr dunkler Busen mit der noch dunkleren Brustwarze stand in beinahe misstönendem Kontrast zu Natales blondem Haar. Vorsichtig nahm sie ihn von der Brust. Ein wenig Milch tropfte zu Boden. Cetta legte den Jungen in die alte Wiege, in der schon sie und ihre Brüder und auch der Andere gelegen hatten. Der Kleine begann zu weinen. Streng sah Cetta ihn an. »Wir werden beide noch viel weinen müssen«, sagte sie zu ihm. Dann folgte sie ihrer Mutter nach draußen.
Hafen von Neapel, Dezember 1908
Der Hafen war bevölkert von Hungerleidern und ein paar reichen Herrschaften, wenigen jedoch, und sie gingen nur vorbei. Wer reich war, nahm ein anderes Schiff, nicht dieses. Cetta beobachtete sie alle durch ein von Rost umrahmtes, schmutziges Bullauge. Die meisten Hungerleider würden an Land bleiben, sie würden nicht fortgehen. Sie würden auf eine andere Gelegenheit warten, einen neuen Versuch unternehmen, an Bord zu gelangen, ihre spärlichen Habseligkeiten verpfänden in der Hoffnung, sich eine Fahrkarte nach Amerika leisten zu können. Und während sie auf das nächste Schiff warteten, würden sie ihr kleines Vermögen durchbringen. Und niemals fortgehen.
Anders Cetta. Sie ging fort.
Und nur daran dachte sie, als sie durch das schmutzige Bullauge hinausschaute, während hinter ihr der kleine Natale, der nun gut acht Monate alt war, sich unruhig auf der mit Tierhaaren übersäten Wolldecke hin und her wälzte. Er lag in dem Weidenkorb, in dem zuvor das Hündchen einer eleganten Dame bequem herumgetragen worden war, bevor Cetta ihr den Korb gestohlen hatte. Nur an die lange Seereise dachte Cetta, während die klebrige Flüssigkeit ihr wie damals nach ihrer Vergewaltigung kalt an den Beinen herablief. Nur an Amerika dachte sie, während der Kapitän befriedigt seine Hose zuknöpfte und versprach, er werde am frühen Nachmittag mit einem Stück Brot und einem Schluck Wasser zu ihr zurückkommen, und lachend erklärte, sie beide würden viel Spaß miteinander haben. Und erst als Cetta hörte, wie die eiserne Luke von außen geschlossen wurde, trat sie vom Bullauge zurück und wischte sich mit dem Stroh, das auf dem Boden des Frachtraumes ausgestreut war, die Beine ab, bis sie ganz zerkratzt waren. Sie nahm Natale auf den Arm, entblößte die von den Händen des Kapitäns noch gerötete Brust und gab sie dem Jungen. Als das Kind danach in seinem stinkenden Hundekorb langsam in den Schlaf fiel, verkroch Cetta sich in eine dunklere Ecke, und während ihr die Tränen über die Wangen liefen, dachte sie: Sie sind salzig wie das Meer, das zwischen mir und Amerika liegt. Sie sind ein Vorgeschmack auf den Ozean, und sie leckte sie auf und versuchte, dabei zu lächeln. Als schließlich das Schiffshorn dumpf in die Hafenluft schnaubte und die Abfahrt ankündigte, erzählte Cetta sich beim Einschlafen das Märchen von einem fünfzehnjährigen Mädchen, das von zu Hause weggelaufen war, um sich mutterseelenallein mit einem unehelichen Sohn auf den Weg ins Feenreich zu machen.
Ellis Island, Januar 1909
Cetta wartete in einer Schlange gemeinsam mit den anderen Einwanderern. Erschöpft von der Reise und den sexuellen Schikanen des Kapitäns beobachtete sie, wie der Arzt der Bundeseinwanderungsbehörde den bedauernswerten Geschöpfen weiter vorn prüfend in Ohren und Mund schaute, nicht anders als ihr Vater es bei den Eseln und Schafen getan hatte. Einigen schrieb der Arzt mit Kreide einen Buchstaben hinten auf die Kleider. Wer einen solchen Buchstaben auf dem Rücken trug, wurde ausgesondert und zu einer Halle geführt, wo weitere Ärzte warteten. Die anderen Einwanderer gingen weiter zu den Tischen des Zollamtes. Cetta beobachtete die Polizisten, die ihrerseits die Beamten, die die Papiere stempelten, nicht aus den Augen ließen. Sie sah die Verzweiflung derer, die nach der anstrengenden und oft entwürdigenden Überfahrt abgewiesen wurden. Doch es war, als gehörte sie nicht zu ihnen.
Alle anderen hatten an Deck verfolgt, wie das neue Land immer näher rückte. Cetta nicht, sie war die ganze Zeit im Frachtraum geblieben. Sie hatte Angst gehabt, Natale könnte sterben. Und in Momenten, in denen sie sich besonders schwach und müde fühlte, hatte sie sich dabei ertappt, wie sie sich fragte, ob es ihr etwas ausmachen würde. Daher hielt sie ihn nun eng an sich gedrückt und bat so das kleine Geschöpf, das ihre Gedanken nicht erahnt haben konnte, im Stillen um Vergebung. Ihr aber waren sie bewusst geworden, und sie schämte sich deswegen.
Bevor sie von Bord ging, hatte der Kapitän ihr versprochen, persönlich dafür zu sorgen, dass man sie durchließ. Und kaum waren sie an Land, hatte er in dem riesigen Raum, in dem alle Einwanderer versammelt waren, einem kleinen Mann zugenickt, der Cetta an eine Maus erinnerte und hinter den Holzschranken stand, die das freie Gebiet abgrenzten. Amerika. Der Mäuserich hatte lange, spitze Fingernägel und trug einen auffälligen Samtanzug. Prüfend musterte er Cetta und Natale. Cetta kam es so vor, als hätte er unterschiedliche Augen.
Der Mäuserich wandte den Blick zum Kapitän und führte seine Hand zur Brust. Zu Cettas Überraschung nahm der Kapitän Natale auf seinen Arm, umfasste ihren Busen und hob ihn an. Cetta stürzte sich auf ihren Sohn und riss ihn wieder an sich, bevor sie beschämt die Augen niederschlug. Zuvor jedoch sah sie, dass der Mäuserich lachte und dem Kapitän zunickte. Als sie den Blick wieder hob, stand der Mäuserich bei einem der Inspektoren der Einwanderungsbehörde, sprach leise mit ihm und steckte ihm einige Geldscheine zu. Dann zeigte er auf Cetta.
Der Kapitän griff nach ihrem Po. »Jetzt bist du in noch besseren Händen, als meine es waren«, sagte er grinsend zu ihr und ging.
Während sie zusah, wie er sich entfernte, beschlich Cetta ein Gefühl des Verlustes, das sie sich nicht erklären konnte. So als wäre die Gesellschaft eines solchen Widerlings immer noch besser als die Einsamkeit, die nun vor ihr lag. Vielleicht hätte sie lieber nicht von zu Hause weglaufen und nach Amerika gehen sollen.
Als die Schlange kaum merklich vorrückte, blickte Cetta erneut zu dem Zollinspektor hinüber und sah, dass er sie zu sich heranwinkte. Neben dem Inspektor stand nun nicht mehr der Mäuserich, sondern ein großer Mann mit buschigen Augenbrauen und einer Tweedjacke, die über seinen breiten Schultern spannte. Er war um die fünfzig und hatte sich eine lange Haarsträhne quer über den Kopf gekämmt, um die kahlen Stellen auf seinem Schädel zu verdecken. Trotz dieses lächerlichen Versuchs strahlte er eine beunruhigende Kraft aus, wie Cetta im Näherkommen bemerkte.
Der Mann und der Zollinspektor redeten auf sie ein. Cetta verstand kein Wort, doch bald bemerkte sie, dass die beiden sich mit immer lauterer Stimme wiederholten, als hielten sie sie für taub, als wäre ihnen nicht klar, dass sie in einer ihr unbekannten Sprache auf sie einredeten.
Im Verlauf des einseitigen Gesprächs trat der Mäuserich wieder hinzu. Und auch er redete laut und gestenreich. Die schlaffen Hände mit den langen Fingernägeln flogen hin und her wie Rasierklingen. An seinem kleinen Finger funkelte ein Ring. Der kräftige Mann packte ihn am Kragen und schrie ihn an, dass einem angst und bange werden konnte. Schließlich ließ er ihn los, sah den Inspektor an und raunte ihm ein paar Worte zu, die noch bedrohlicher klangen als sein Geschrei zuvor. Der Inspektor wurde blass, dann wandte er sich dem Mäuserich zu. Und plötzlich sprach auch er in drohendem Ton. Im nächsten Moment machte der Mäuserich auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Der kräftige Mann und der Inspektor redeten daraufhin wieder in ihrer Sprache auf Cetta ein. Schließlich winkten sie einen heiter und entschlossen wirkenden jungen Mann von kleiner, gedrungener Statur herbei, der sich hinter der Zollschranke in einer Ecke bereitgehalten hatte.
»Wie heißt du?«, fragte der junge Mann Cetta auf Italienisch und schenkte ihr ein offenes und freundliches Lächeln, das ihr zum ersten Mal, seitdem sie das Schiff verlassen hatte, das Gefühl gab, nicht ganz allein zu sein.
»Cetta Luminita.«
Der Inspektor verstand nicht.
Also schrieb der junge Dolmetscher es an seiner Stelle auf den Einwanderungsschein und lächelte Cetta noch einmal zu. Dann betrachtete er das Kind, das Cetta auf dem Arm trug, und streichelte ihm über die Wange. »Und wie heißt dein Sohn?«
»Natale.«
»Natale«, wiederholte der junge Mann für den Inspektor, der wieder nicht verstand. »Christmas«, übersetzte ihm daher der Dolmetscher.
Zufrieden nickte der Inspektor und schrieb: Christmas Luminita.
Manhattan, 1922
»Was ist denn das für ein Name?«
»Geht dich gar nichts an.«
»Das ist ein Niggername.«
»Seh ich vielleicht aus wie ein Nigger?«
»Du siehst auch nicht aus wie ein Italiener.«
»Ich bin Amerikaner.«
»Ja, klar ...« Die Jungen, die ihn umringten, lachten.
»Ich bin Amerikaner«, sagte er noch einmal.
»Wenn du zu unserer Gang gehören willst, musst du deinen bescheuerten Namen ändern.«
»Du kannst mich mal.«
»Du kannst mich mal, Scheiß-Christmas.«
Die Hände in den Taschen vergraben, schlenderte Christmas Luminita träge davon. Das blonde Haar hing ihm zerzaust in die Stirn, und auf der Oberlippe und am Kinn zeigte sich ein erster spärlicher heller Flaum. Er war vierzehn Jahre alt, aber sein Blick war der eines Erwachsenen, so wie der vieler seiner Altersgenossen, die in den fensterlosen Wohnungen der Lower East Side aufgewachsen waren.
»Ich gründe meine eigene Gang, ihr Arschlöcher!«, schrie er, als er sicher war, dass ihn kein Steinwurf mehr treffen konnte.
Er tat, als kümmerten ihn die Beschimpfungen nicht, die ihn im Chor verfolgten, während er um die Ecke in eine ungepflasterte, schmutzige Gasse bog. Doch kaum war Christmas allein, trat er vor lauter Wut gegen eine verrostete Blechmülltonne voller Löcher, die vor der Hintertür eines Ladens stand, aus dem es süßlich nach rohem Fleisch roch. Eine kleine, dicke, von der Räude halb kahle Hündin mit hervorstehenden roten Augen, die aussahen, als müssten sie ihr jeden Moment aus den Höhlen springen, kam mit wütendem Gekläff aus dem Laden geschossen. Christmas bückte sich lächelnd und hielt ihr seine Hand hin. Die Hündin, die es offenbar gewohnt war, Fußtritten ausweichen zu müssen, blieb ein Stück entfernt stehen und bellte ein letztes Mal, doch in einem hohen, überraschten Ton, ähnlich einem Winseln. Dann riss sie die grauenvoll hervorstehenden Augen noch weiter auf, reckte ihren plumpen Hals und schob ihre bebende Nase auf die Hand zu. Leise knurrend machte sie ein paar vorsichtige Schritte und schnüffelte an Christmas’ Fingern, bis ihr kurzer Stummelschwanz langsam hin- und herschlug. Der Junge lachte und kraulte ihr den Rücken.
Da tauchte in der Hintertür des Ladens ein Mann mit einer blutverschmierten Schürze und einem Schlachtermesser in der Hand auf. Sein Blick fiel auf den Hund und den Jungen. »Ich dachte schon, sie hätten sie abgemurkst«, sagte er.
Ohne etwas zu erwidern, hob Christmas nur kurz den Kopf und kraulte dann weiter den Hund.
»Du fängst dir die Räude ein, Junge«, warnte ihn der Mann.
Christmas zuckte mit den Schultern und hörte nicht auf, das Tier zu streicheln.
»Früher oder später murksen sie sie mir ab«, sagte der Metzger wieder.
»Wer?«, fragte Christmas.
»Diese Halbstarken, die sich hier herumtreiben«, antwortete der Metzger. »Bist du einer von ihnen?«
Christmas schüttelte so entschieden den Kopf, dass seine blonden Haare nur so flogen. Für einen Moment verdunkelten sich seine Augen, bevor sie wieder aufleuchteten, als er lächelnd auf die Hündin blickte, die vor Behagen grunzte.
»Sie ist ziemlich hässlich, was?«, bemerkte der Mann und wischte das Messer an der Schürze ab.
»Ja.« Christmas lachte. »Nichts für ungut.«
»Ein Typ hat sie mir vor zehn Jahren verkauft. Er hat behauptet, sie wäre ein Rassehund«, erzählte der Mann kopfschüttelnd. »Aber ich hänge an ihr.« Und mit diesen Worten drehte er sich um und wollte zurück in den Laden gehen.
»Ich kann sie beschützen«, sagte da Christmas, ohne nachzudenken.
Der Metzger wandte sich wieder um und musterte ihn neugierig. »Sie haben Angst, dass man sie Ihnen abmurkst, oder?«, fragte Christmas und stand auf. Der Hund strich um seine Beine. »Ich kann sie beschützen, wenn Ihnen so viel an ihr liegt.«
»Was redest du denn da, Junge?« Der Metzger prustete los.
»Für einen halben Dollar die Woche beschütze ich Ihren Hund.«
Der kräftige, stämmige Mann mit der blutverschmierten Schürze schüttelte ungläubig den Kopf. Er wollte zurück an die Arbeit, denn er ließ den Laden, in dem lauter armselige Stücke Fleisch lagen, die sich nur wenige der armen Bewohner des Viertels leisten konnten, nicht gern unbeaufsichtigt. Aber er ging nicht hinein. Nach einem flüchtigen Blick ins Ladeninnere wandte er sich wieder dem merkwürdigen mageren Jungen mit der geflickten Hose und den zu großen Schuhen zu, an denen Matsch und Pferdemist klebten. »Und wie?«
»Ich habe eine Gang«, sagte Christmas eifrig. »Die ...« Er zögerte und blickte auf den Hund, der ihm um die Beine strich. »Die Diamond Dogs«, fuhr er dann, einer spontanen Eingebung folgend, fort.
»Ich will mich hier nicht mit Bandenkriegen herumschlagen müssen«, entgegnete der Mann abweisend und warf erneut einen Blick in den Laden, ohne jedoch hineinzugehen.
Christmas vergrub die Hände in den Hosentaschen. Mit der Fußspitze zeichnete er einige Kreise in den Staub. Dann streichelte er den Hund ein letztes Mal. »Nun, wie Sie wollen. Vorhin hab ich gehört ... ach, nichts ...« Er machte Anstalten zu gehen.
»Was hast du gehört, Junge?«, hielt der Metzger ihn auf.
»Die da«, und mit einem flüchtigen Blick deutete Christmas auf die Straßenecke, von der noch immer das Geschrei der Gang, die ihn zuvor abgewiesen hatte, herüberschallte, »haben gesagt, hier gibt es einen Hund, der immerzu bellt, der einen Riesenradau macht und ...«
»Und?«
»Nichts ... vielleicht haben sie einen anderen Hund gemeint.«
Auf halbem Weg zur Straße holte der Metzger Christmas mit dem Messer in der Hand ein. Er packte den Jungen am Kragen seiner zerschlissenen Jacke. Mit seinen gewaltigen Händen hätte er jemanden erwürgen können. Der Mann überragte Christmas um ein paar Spannen. Der Hund jaulte erschrocken auf. »Normalerweise kann diese räudige Kreatur niemanden leiden. Dich aber mag sie. Lass dir das von Pep gesagt sein«, meinte der Metzger mit drohender Stimme und sah Christmas dabei fest in die Augen. »Und ich hänge an ihr.« Nachdem der Mann den Jungen noch eine Weile schweigend fixiert hatte, trat ein Ausdruck des Erstaunens auf sein Gesicht und ließ seine Züge sanfter erscheinen. Offenbar konnte er selbst nicht fassen, was er im Begriff war zu tun. »Es stimmt, die da macht mehr Radau als eine Ehefrau«, sagte er und deutete auf die Hündin. »Aber wenigstens muss ich sie nicht bumsen.« Zufrieden lachte er über den Witz, den er wohl schon unzählige Male gemacht hatte. Noch einmal schüttelte er über sich selbst den Kopf, griff mit blutigen Fingern unter seine Schürze, holte aus der Westentasche einen halben Dollar hervor und drückte Christmas die Münze in die Hand. »Ich muss verrückt sein, aber du bist engagiert. Komm, Lilliput, wir gehen«, sagte er schließlich zu seinem Hund und kehrte zurück in den Laden.
Kaum war der Metzger verschwunden, sah Christmas auf die Geldmünze. Mit leuchtenden Augen spuckte er darauf und polierte sie mit den Fingerspitzen. Mit Blick auf den Laden lehnte er sich gegen die Wand und lachte. Sein Lachen klang nicht wie das eines Erwachsenen, aber auch nicht wie das eines Kindes. Ebenso wie seine blonden Haare nicht zu einem Italiener passten und seine dunklen Augen nicht zu einem Iren. Ein Junge mit einem Niggernamen, der nicht so recht wusste, wer er war. »Die Diamond Dogs«, murmelte er und grinste zufrieden vor sich hin.
Manhattan, 1922
Der Erste, den er fragte, war Santo Filesi, ein pickliger, spindeldürrer Junge mit schwarzem Kraushaar, der im selben Haus wohnte und den er grüßte, wenn sie sich begegneten. Mehr verband sie aber auch nicht. Santo war genauso alt wie Christmas, und im Viertel hieß es, er gehe zur Schule. Sein Vater arbeitete als Ladearbeiter im Hafen und war klein und untersetzt, und der tägliche Umgang mit den schweren Lasten hatte ihm irreparabel krumme Beine eingebracht. Man erzählte sich – denn im Viertel wurde viel und gern erzählt –, er sei fähig, zwei Zentner mit nur einer Hand zu heben. Und obwohl er ein rechtschaffener, gutmütiger Mann war, der selbst dann nicht zu Gewalt neigte, wenn er zu viel getrunken hatte, wurde er allgemein geachtet; niemand forderte ihn heraus. Bei einem, der fähig war, zwei Zentner mit nur einer Hand zu heben, konnte man schließlich nie wissen. Santos Mutter hingegen war spindeldürr wie ihr Sohn. Mit ihrem länglichen Gesicht und den langen Schneidezähnen erinnerte sie an einen Esel. Sie hatte eine gelbliche Haut und schmale, knorrige Hände, die sie flink bewegte, allzeit bereit, ihrem Sohn eine Ohrfeige zu verpassen. So kam es, dass Santo bei jeder Geste seiner Mutter instinktiv sein Gesicht schützte. Signora Filesi arbeitete als Putzfrau in der Schule, die Santo den Gerüchten nach besuchte.
»Stimmt es, dass deine Mutter dir eine Creme gegen die Pickel zusammenmischt?«, wollte Christmas von Santo wissen, als er ihn an dem Morgen, nachdem der Metzger ihn zu Lilliputs Schutz engagiert hatte, auf der Straße traf.
Santo zog den Kopf ein, errötete und versuchte unbeirrt weiterzugehen.
Christmas lief ihm nach. »Hey, bist du etwa beleidigt? Ich will dich nicht aufziehen, ich schwör’s.«
Santo blieb stehen.
»Willst du Mitglied in meiner Gang werden?«, fragte Christmas.
»Was für eine Gang?«, hakte Santo vorsichtig nach.
»Die Diamond Dogs.«
»Nie gehört.«
»Kennst du dich denn mit Gangs aus?«
»Nein ...«
»Na, dann heißt das ja wohl gar nichts, dass du noch nie von uns gehört hast«, erwiderte Christmas.
Erneut wurde Santo rot und blickte zu Boden. »Wer seid ihr denn?«, fragte er schüchtern.
»Es ist besser für dich, wenn du das nicht weißt«, gab Christmas zurück und ließ dabei seinen Blick betont wachsam umherschweifen.
»Wieso das?«
Christmas trat auf ihn zu, nahm ihn am Arm und zog ihn in eine Seitengasse, in der überall Müll herumlag. Kurz kehrte er dann noch einmal zur Orchard Street zurück, wie um sicherzugehen, dass ihnen niemand folgte, ging danach wieder zu Santo und sagte hastig und leise: »Weil du dann nicht zwitschern kannst, wenn sie dich ausquetschen.«
»Wer sollte mich denn ausquetschen?«
»Oh Mann, du bist echt ein Grünschnabel!«, fuhr Christmas auf. »Du weißt ja gar nichts! In was für einer Welt lebst du eigentlich? Sag mal, stimmt es, dass du zur Schule gehst?«
»Na ja, mehr oder weniger ...«
Noch einmal ging Christmas zur Orchard Street und sah sich verstohlen um, bevor er – mit Sorgenfalten im Gesicht – einen Satz zurück machte, Santo tiefer in die Gasse hineindrängte und ihn zwang, sich hinter einen Müllhaufen zu ducken. Er bedeutete ihm, still zu sein. Nachdem irgendein harmlos aussehender Mann vorbeigegangen war, atmete er erleichtert auf. »Scheiße ... hast du den gesehen?«
»Wen?«
»Hör zu, tu mir einen Gefallen. Sieh mal nach, ob der sich immer noch da rumdrückt.«
»Wer denn??«
»Der Kerl, hast du ihn gesehen?« Christmas packte Santo beim Kragen.
»Ja ... ich glaube, ja ...«, stammelte der Junge.
»Ich glaube, ich glaube ... Und du willst einer von den Diamond Dogs sein? Vielleicht hab ich dich falsch eingeschätzt, aber ...«
»Aber?«
»Du kamst mir pfiffig vor. Hör zu, tu mir den einen Gefallen, und danach sagen wir Auf Wiedersehen und vergessen das Ganze. Sieh mal nach, ob der Kerl noch da rumsteht oder ob die Luft rein ist.«
»Ich?«
»Klar, Mann, wer denn sonst? Dich kennt er nicht. Na los, du Feigling, beweg dich!«
Mit zögerlichen Schritten verließ Santo sein stinkendes Versteck und näherte sich der Orchard Street. Dort sah er sich unbeholfen nach dem harmlosen Mann um, den er nun für einen gefährlichen Verbrecher hielt. Als der Junge wieder zurückkam, stellte Christmas fest, dass seine Schritte sicherer geworden waren. Santo hakte einen Finger in seinen Gürtel und verkündete: »Die Luft ist rein.«
»Gut gemacht«, lobte Christmas ihn und stand auf.
Santo grinste stolz.
Christmas klopfte ihm auf die Schulter. »Komm mit, ich geb dir ein Eiscreme-Soda aus, und danach trennen sich unsere Wege.«
»Ein Eiscreme-Soda?«, fragte Santo und rollte die Augen.
»Ja, was ist denn?«
»Das kostet ... das kostet fünf Cent ...«
Lachend zuckte Christmas die Schultern. »Geld. Ist doch nur Geld. Reicht doch, wenn man’s hat, oder?«
Santo sah so aus, als traute er seinen Ohren kaum.
Als sie den heruntergekommenen kleinen Laden in der Cherry Street betraten, hielt Christmas krampfhaft seine Halbdollarmünze in der Hand. »Hör zu«, sagte er zu Santo und setzte sich auf einen Hocker, »ich hab heute schon zwei davon gehabt und spür’s im Magen, ein drittes will ich nicht mehr. Lass uns dein Soda teilen, du bist sowieso nicht daran gewöhnt, und ein ganzes bekommt dir womöglich nicht. Mit dem Zeug muss man aufpassen.« Daraufhin bestellte er bei Erdbeere – der seinen Spitznamen dem großen, glänzenden Feuermal verdankte, das sein halbes Gesicht überzog – einen Becher mit zwei Strohhalmen und ließ schweren Herzens die einzige Münze, die er in der Tasche hatte, klimpernd auf den Tresen fallen.
Eine Weile sagte keiner der beiden Jungen etwas. Jeder nuckelte an seinem Strohhalm und versuchte, ein wenig mehr aufzusaugen als die Hälfte, die ihm zustand.
»Was bedeutet eigentlich, du gehst mehr oder weniger zur Schule?«, fragte Christmas schließlich und schleckte mit dem Finger die Reste aus dem Becher.
»Dass eine Lehrerin mir nachmittags ein bisschen Grammatik und Geschichte beibringt, weil meine Mutter da putzt. Also, richtig angemeldet bin ich in der Schule nicht, verstehst du?«, erklärte Santo abwehrend. »Im Gegenteil, ich pfeif auf die Schule«, fügte er in abfälligem Ton wie ein Möchtegernganove hinzu.
»Du bist ein Idiot, Santo. Was zum Teufel willst du denn mit deinem Leben anfangen? Du bist nicht wie dein Vater, du wirst nie zwei Zentner mit einer Hand heben können. Wenn du was lernst, kann dir das nützen«, sagte Christmas, ohne auch nur einen Moment zu überlegen. »Ich beneide dich.«
»Wirklich?«, fragte Santo strahlend.
»Ach was, das sagt man doch nur so. Pluster dich nicht so auf, Grünschnabel, du siehst ja aus wie ein Truthahn«, korrigierte Christmas sich sofort.
»Ach so ... dachte ich’s mir doch«, murmelte Santo, den Blick auf den leeren Becher gerichtet. »Du hast alles.«
»Na ja, ich kann nicht klagen.«
Schweigend schaute Santo zu Boden. Eine drängende Frage beschäftigte ihn. »Also ... kann ich einer von den Diamond Dogs sein?«, erkundigte er sich schließlich.
Christmas hielt ihm den Mund zu und warf einen Blick hinüber zu Erdbeere, der dösend in der Ecke saß. »Bist du bescheuert? Was, wenn er dich hört?«
Wieder lief Santo rot an.
»Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann«, sagte Christmas leise und sah Santo eindringlich an. »Lass mich darüber nachdenken. Mit so etwas spaßt man nicht.« Christmas konnte die bittere Enttäuschung in Santos Augen erkennen. Innerlich grinste er. »In Ordnung, ich gebe dir eine Chance. Aber du bist in der Probezeit, damit das klar ist.«
Jauchzend wie ein Kind fiel Santo ihm überschwänglich um den Hals.
Christmas entwand sich seiner Umarmung. »Hey, so einen Weiberkram gibt es bei uns Diamond Dogs nicht.«
»Ja, ja, entschuldige, es ist nur, weil ... weil ...«, stammelte Santo aufgeregt.
»Okay, okay, lass gut sein. Kommen wir zum Geschäft«, sagte Christmas mit noch gedämpfterer Stimme und beugte sich nach einem erneuten Blick zu Erdbeere nah zum einzigen Mitglied seiner Gang hinüber. »Stimmt es, dass deine Mutter dir eine Creme gegen die Pickel anrührt?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Regel Nummer eins: Die Fragen stelle ich. Wenn du’s nicht gleich kapierst, kapierst du’s später. Und wenn du’s auch später nicht kapierst, denk daran, es gibt immer einen Grund, ist das klar?«
»Okay ... ja.«
»Ja, was? Rührt deine Mutter dir eine Salbe an?«
Santo nickte.
»Und denkst du, sie hilft?«
Wieder nickte Santo.
»Sieht aber nicht so aus, entschuldige, wenn ich dir das sage«, bemerkte Christmas.
»Doch, sie hilft. Sonst hätte ich noch viel mehr Pickel.«
Christmas rieb sich die Hände. »Okay, ich glaube dir. Aber jetzt sag mir: Denkst du, sie würde auch gegen Räude helfen?«
»Keine Ahnung ... wieso Räude?«, fragte Santo verblüfft.
Christmas beugte sich noch näher zu ihm hinüber. »Es geht um einen, den wir beschützen. Er zahlt gut. Aber sein Hund hat die Räude, und wenn du und ich es schaffen, ihn zu heilen, rückt der Typ bestimmt noch mehr Geld raus.« Mit dem Fingernagel klopfte er gegen den Becher, was ein leises Klirren erzeugte.
»Sie könnte helfen«, meinte Santo.
»Einverstanden«, sagte Christmas und stand auf. »Wenn du einer von den Diamond Dogs sein willst, musst du dir das erst verdienen. Besorg mir ganz viel von der Salbe deiner Mutter. Wenn sie hilft, gehörst du zu uns und kriegst deinen Anteil.«
Manhattan, 1909
Im Zimmer war es warm und behaglich, und so üppige Vorhänge an den Fenstern hatte Cetta noch nicht einmal im Haus des Gutsherrn gesehen. Hinter dem Schreibtisch saß der Mann, der sie abgeholt hatte, nachdem sie vor weniger als fünf Stunden an Land gegangen war. Ein Mann um die fünfzig, der auf den ersten Blick lächerlich wirkte mit der quer über die Glatze gekämmten langen Haarsträhne. Zugleich jedoch besaß er eine Kraft, die beunruhigend war. Cetta verstand nicht, was er sagte.
Der andere Mann, der bei ihnen war, beherrschte wie der junge Dolmetscher der Einwanderungsbehörde sowohl die Sprache des Mannes mit der Haarsträhne als auch Cettas Sprache. Und er übersetzte, was der Mann hinter dem Schreibtisch sagte. Von dem Dolmetscher hatte Cetta – als sie ihm wenige Minuten zuvor ins Zimmer gefolgt war – erfahren, dass der Mann mit der Strähne ein Anwalt war, der sich um Mädchen wie sie kümmerte. »Wenn sie so hübsch sind wie du«, hatte er augenzwinkernd hinzugefügt.
Der Anwalt sagte etwas und blickte auf Cetta, die den Jungen im Arm hielt, der eben erst von dem Inspektor der Einwanderungsbehörde auf den Namen Christmas getauft worden war.
»Um dich können wir uns kümmern«, übersetzte der andere. »Aber das Kind könnte ein Problem sein.«
Ohne den Blick niederzuschlagen, drückte Cetta ihren Sohn an sich und schwieg.
Der Anwalt rollte die Augen zur Decke, bevor er erneut sprach.
»Wie willst du mit dem Jungen arbeiten?«, übersetzte wieder der andere. »Wir bringen ihn an einen Ort, an dem er in Ruhe aufwächst.«
Cetta presste Christmas noch enger an sich.
Der Anwalt ergriff wieder das Wort. Der Dolmetscher sagte lachend: »Wenn du ihn noch etwas fester drückst, zerquetschst du ihn, und das Problem hat sich erledigt.«
Der Anwalt stimmte in das Lachen ein.
Cetta lachte nicht. Sie presste die Lippen zusammen und runzelte die Stirn, ohne den Blick von dem Mann hinter dem Schreibtisch abzuwenden und ohne sich zu rühren. Sie legte bloß eine Hand auf das blonde Haar ihres Kindes, das friedlich schlief. Wie um es zu beschützen.
Da schlug der Anwalt einen harschen Ton an, stieß seinen Sessel zurück und verließ den Raum.
»Du hast ihn wütend gemacht«, sagte der Dolmetscher, während er sich auf der Schreibtischkante niederließ und sich eine Zigarette anzündete. »Was willst du anfangen, wenn der Anwalt dich auf die Straße setzt, ohne dir zu helfen? Wen kennst du denn? Niemanden, möchte ich wetten. Und du besitzt keinen Cent. Du und dein Sohn, ihr werdet die Nacht nicht überleben, lass dir das von mir gesagt sein.«
Schweigend und ohne die Hände von Christmas zu lösen, sah Cetta ihn an.
»Bist du vielleicht stumm?«
»Ich tue, was ihr verlangt«, sagte Cetta da. »Aber meinen Jungen rührt ihr nicht an.«
Der Dolmetscher stieß den Qualm seiner Zigarette in die Luft. »Du bist ziemlich stur, Mädchen«, stellte er fest. Dann verließ auch er das Zimmer, ließ aber die Tür offen stehen.
Cetta hatte Angst. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie den Rauchspiralen nachsah, die wabernd zu einer so wunderschön verzierten Stuckdecke aufstiegen, wie Cetta sie sich nicht einmal im Traum hätte vorstellen können. Vom ersten Moment an hatte sie Angst gehabt. Seitdem der heiter wirkende junge Mann von gedrungener Statur, der dem kleinen Natale seinen neuen amerikanischen Namen gegeben hatte, ihr am Zoll zugeflüstert hatte: »Sei vorsichtig.« Sie erinnerte sich gut an den jungen Mann; er war der Einzige gewesen, der ihr ein Lächeln geschenkt hatte. Cetta hatte vom ersten Moment an Angst gehabt, als die Einwanderungsbeamten ihren Stempel unter die Einreisepapiere gesetzt hatten. Und sie hatte Angst gehabt, als der Anwalt sie am Arm gepackt und über den breiten Pinselstrich am Boden geschoben hatte, der anzeigte, wo Amerika begann. Sie hatte Angst gehabt, als man sie in das riesige schwarze Auto geschoben hatte, neben dem der Wagen des Gutsherrn nichts als ein Karren wäre. Sie hatte Angst gehabt, als das Land aus Zement vor ihren Augen aufragte, so gewaltig, dass alles, was der Gutsherr besaß – sogar die Villa –, armselig und winzig wirkte. Sie hatte Angst gehabt, sich inmitten der Menschen, die zu Tausenden die Gehwege bevölkerten, zu verlieren. Und in dem Moment hatte Christmas gelacht. Ganz leise, wie es Babys manchmal aus irgendeinem Impuls heraus tun. Und er hatte ein Händchen ausgestreckt und sie in die Nase gezwickt und nach ihren Haaren gegriffen. Und wieder hatte er zufrieden gelacht. Nichtsahnend. Für Cetta wäre in diesem Moment alles vollkommen gewesen, hätte er nur sprechen können, hätte er nur ein einziges Mal »Mama« gesagt. In dem Augenblick nämlich war Cetta bewusst geworden, dass sie nichts besaß. Dass dieser Junge alles war, was sie hatte, und dass sie für ihn stark sein musste, weil das winzige Geschöpf noch schwächer war als sie selbst. Und dass sie ihm dankbar sein musste, weil er sie als Einziger noch nie verletzt hatte, auch wenn er ihr bei seiner Geburt mehr Schmerzen bereitet hatte als jeder andere.
Als Cetta hörte, dass draußen lebhaft gesprochen wurde, wandte sie den Kopf. In der Tür stand ein breitschultriger, schlecht rasierter Mann um die dreißig mit einer erloschenen Zigarre im Mundwinkel. Er war hässlich, hatte große schwarze Hände und eine platte Nase, der man ansah, dass sie bereits mehrmals gebrochen gewesen war. Mechanisch kratzte er sich am rechten Ohrläppchen. In Höhe des Herzens trug er eine Pistole im Holster. Sein Hemd war mit Soße bespritzt. Es konnte natürlich auch Blut sein, aber Cetta hielt es für Soße. Der Mann sah sie an.
Da brach das Gespräch vor der Tür ab, und der Anwalt kam zurück ins Zimmer, gefolgt vom Dolmetscher. Der Mann mit den rotbraunen Flecken auf dem Hemd trat zur Seite und ließ die beiden anderen vorbei, wandte den Blick jedoch nicht von Cetta ab.
Der Anwalt schenkte ihr keine Beachtung mehr, als er sprach.
»Letztes Angebot«, erklärte der Dolmetscher. »Du arbeitest für uns, deinen Sohn geben wir in ein Heim, und du kannst ihn jeden Samstag- und Sonntagmorgen sehen.«
»Nein«, war Cettas Antwort.
Der Anwalt schrie auf und gab dem Dolmetscher zu verstehen, er solle sie vor die Tür setzen. Daraufhin schleuderte er ihr die amtlich unterzeichneten Einwanderungspapiere entgegen, die raschelnd zu Boden segelten.
Der Dolmetscher nahm Cetta am Arm und zwang sie aufzustehen.
In dem Moment ergriff der Mann in der Tür das Wort. Seine Stimme war so tief wie ein Donnergrollen und breitete sich mit dunklen Schwingungen im Raum aus. Er sprach nur kurz.
Der Anwalt schüttelte den Kopf, schließlich brummte er: »In Ordnung.«
Der Mann in der Tür ließ davon ab, sich mit seinen schwarzen Fingern am Ohrläppchen zu kratzen, trat ins Zimmer, sammelte die Dokumente der Einwanderungsbehörde vom Boden auf, warf einen Blick darauf und sagte mit seiner monströsen, jedoch neutral klingenden Stimme: »Cetta.«
Da ließ der Dolmetscher Cettas Arm los und wich zurück. Der Mann nickte ihr zu und ging, ohne ein weiteres Wort an einen der beiden anderen Männer zu richten, aus dem Raum. Cetta, die ihm folgte, sah, wie er nach einem zerknitterten Sakko griff und sich hineinzwängte. Es spannte an den Schultern und über der Brust, und er versuchte erst gar nicht, es zuzuknöpfen. Das wäre ihm ohnehin nicht gelungen, dachte Cetta. Schließlich nickte der Mann ihr zu und verließ Cetta und Christmas voran die Wohnung.
Auf der Straße stieg er in einen Wagen, in dessen Kotflügel zwei Einschusslöcher prangten. Er lehnte sich zur Seite und hielt von innen die Beifahrertür auf. Einladend klopfte er mit der Hand auf den Sitz. Cetta stieg ein, und der Mann gab Gas. Während der ganzen Fahrt sprach er kein Wort. Zehn Minuten später hielt er am Straßenrand an und stieg aus. Wieder bedeutete er Cetta, ihm zu folgen, und bahnte sich einen Weg durch einen lärmenden Pulk ungewaschener, zerlumpter Bettler. Dann stieg er ein paar Stufen in ein Kellergeschoss hinab. Von einem Flur gingen mehrere Türen ab.
Ganz am Ende des düsteren, stinkenden Korridors blieb der Mann stehen und griff sich eine Matratze, die dort an der Wand lehnte, und öffnete eine Tür. Das Zimmer dahinter – denn mehr war es nicht – glich vielen anderen, die Cetta gut kannte: Zimmer ohne Fenster. Nah beim Kohleofen waren Wäscheleinen von Wand zu Wand gespannt, an denen zerschlissene und mehrfach gestopfte Kleider zum Trocknen hingen. Von einem Vorhang halb verborgen, entdeckte Cetta ein Doppelbett. Außerdem stand ein Sparherd im Zimmer. Der Rauchfang des Herdes leitete über zwei verrostete Ofenrohre offenbar auch den Ofenqualm nach draußen. Außerdem waren da eine alte Anrichte mit einer fehlenden Tür und einem schiefen Bein, unter die man, damit sie gerade stand, einen Holzkeil geschoben hatte, ein quadratischer Tisch mit drei Stühlen, eine Spüle und wenige Teile Blechgeschirr, die ihren Emailleüberzug eingebüßt hatten, sowie zwei Nachttöpfe, die in einer Ecke des Zimmers gestapelt waren.
Auf den Stühlen saßen zwei alte Leute, ein Mann und eine Frau. Er war dürr, sie rundlich. Beide waren sie sehr klein. Mit sorgenvollem Blick hatten sie ihre faltigen Gesichter zur Tür gewandt. Aus ihren Augen sprach eine Angst, die so alt zu sein schien wie sie selbst. Doch als sie den Mann erkannten, lächelten sie. Der Greis entblößte dabei nacktes Zahnfleisch, und als ihm dies bewusst wurde, hielt er sich ein wenig verlegen die Hand vor den Mund. Lachend klopfte sich die alte Frau auf die Schenkel und stand auf, um den Mann zu umarmen. Der Greis schlurfte hinter den Vorhang, der das Bett halb verdeckte. Ein klirrendes Geräusch ertönte, und als er wieder auftauchte, schob er sich gerade ein gelbliches Gebiss in den Mund.
Überschwänglich begrüßten die beiden Alten den hässlichen Mann, der unterdessen die Matratze in einer Zimmerecke abgelegt hatte. Während sie seiner Stimme lauschten, von der die Luft im Raum zu vibrieren schien, tauchte die alte Frau einen Lappen in Wasser und rieb damit die Soße vom Hemd des Mannes, der vergeblich dagegen protestierte. Und da erst richteten die beiden Alten ihre Aufmerksamkeit auf Cetta. Während sie sie neugierig beäugten, nickten sie vor sich hin.
Bevor der Mann sich verabschiedete, holte er einen Geldschein aus seiner Tasche und gab ihn der alten Frau. Die Greisin küsste ihm die Hand. Der Alte blickte beschämt zu Boden. Als der Mann das sah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und sagte etwas, was dem Greis ein Lächeln entlockte. Dann ging der Mann zu Cetta, die mit Christmas im Arm stehen geblieben war, und überreichte ihr die Einwanderungspapiere. Beim Hinausgehen schließlich deutete er auf sie und richtete noch einige Worte an die beiden Alten. Dann verließ er das Zimmer.
Kaum waren sie unter sich, fragte die alte Frau in Cettas Sprache: »Wie heißt du?«
»Cetta Luminita.«
»Und das Kind?«
»Natale, aber jetzt heißt er so«, antwortete Cetta und hielt der Greisin den Einwanderungsschein hin.
Die Alte nahm den Schein und reichte ihn ihrem Mann.
»Christmas«, las der vor.
»Das ist ein amerikanischer Name«, erklärte Cetta mit einem stolzen Lächeln.
Nachdenklich rieb sich die alte Frau das Kinn, bevor sie sich an ihren Mann wandte. »Klingt wie der Name eines Niggers.«
Der Alte musterte Cetta, die keine Reaktion zeigte. »Hast du noch nie etwas von Niggern gehört?«
Cetta schüttelte den Kopf.
»Das sind ... schwarze Menschen«, erklärte die Alte und fuhr sich dabei mit der Hand durch das Gesicht.
»Sind sie denn Amerikaner?«, wollte Cetta wissen.
Die Alte sah zu ihrem Mann hinüber. Der nickte. »Ja«, erwiderte sie.
»Also hat mein Sohn einen neuen amerikanischen Namen«, stellte Cetta zufrieden fest.
Die alte Frau machte ein verblüfftes Gesicht, zuckte die Schultern und schaute erneut ihren Mann an.
»Wenigstens seinen Namen musst du bald lernen«, sagte er. »Du kannst ja nicht jedes Mal den Schein vorzeigen.«
»Nein, auf keinen Fall«, bestätigte seine Frau mit einem energischen Kopfschütteln.
»Und du musst den Kleinen auch bei seinem neuen Namen rufen, sonst lernt er ihn doch selber nicht«, sagte der Alte wieder, und seine Frau nickte zustimmend.
Verwirrt blickte Cetta die beiden an. »Bringen Sie ihn mir bei«, bat sie schließlich.
»Christmas«, sagte der Alte.
»Christ-mas«, skandierte seine Frau.
»Christmas«, sprach Cetta ihnen nach.
»Sehr gut, Mädchen!«, riefen die beiden Alten erfreut.
Unschlüssig, was nun zu tun sei, standen daraufhin alle drei eine ganze Weile schweigend da. Schließlich flüsterte die Alte ihrem Mann etwas ins Ohr und ging zum Herd, schob ein wenig dünnes Brennholz in den Ofen und entfachte mit Zeitungspapier ein Feuer.
»Sie fängt an zu kochen«, erklärte der Mann.
Cetta lächelte. Die beiden alten Leute gefielen ihr.
»Sal hat gesagt, er holt dich morgen früh ab«, sagte der Greis und senkte verlegen den Blick.
Der große hässliche Mann heißt also Sal, dachte Cetta.
»Er ist ein guter Mensch«, fuhr der Alte fort. »Lass dich nicht von seinem Äußeren täuschen. Gäbe es Sal nicht, wären wir schon längst tot.«
»Allerdings, elendig verhungert wären wir«, führte seine Frau aus, während sie in einer cremigen dunklen Tomatensoße rührte, in der Wurststückchen schwammen. Der Geruch von gebratenem Knoblauch hatte sich im Zimmer ausgebreitet.
»Er bezahlt unsere Wohnung«, erklärte der Alte, und Cetta glaubte, ihn erröten zu sehen.
»Frag sie«, drängte seine Frau, ohne sich umzudrehen.
»Hat dein Sohn einen Vater?«, erkundigte sich der Mann gehorsam.
»Nein«, gab Cetta ohne jedes Zögern zu.
»Ah, gut, gut ...«, nuschelte der Alte, als wollte er Zeit gewinnen.
»Frag sie«, sagte seine Frau wieder.
»Ja, ja, ich mach’s ja schon ...«, brummte der Greis verärgert. Mit einem verlegenen Grinsen sah er dann Cetta an. »Warst du schon in Italien eine Hure?«
Cetta meinte zu wissen, was das Wort bedeutete. Ihre Mutter hatte es immer wieder benutzt, wenn ihr Vater am Samstagabend spät nach Hause gekommen war. Huren waren Frauen, die mit Männern ins Bett gingen. »Ja«, antwortete sie.
Sie aßen und legten sich schlafen. Nachdem sie Christmas noch einmal die Brust gegeben hatte, streckte Cetta sich angezogen auf der Matratze aus, denn eine Decke hatte sie nicht. Sal werde sich am nächsten Tag um alles kümmern, hatten die beiden Alten ihr jedoch versichert. Auch Babynahrung wollte er besorgen.
Ich weiß nicht einmal, wie ihr heißt, ging es Cetta mitten in der Nacht durch den Sinn, als sie dem Schnarchen der alten Leute lauschte.
Manhattan, 1909–1910
»Schwanz. Sprich mir nach.«
»Schwanz ...«
»Möse.«
»Möse ...«
»Arsch.«
»Arsch ...«
»Mund.«
»Mund ...«
Die auffällig zurechtgemachte rothaarige Frau um die fünfzig, die auf einem Samtsofa saß, wandte sich an eine Zwanzigjährige von vulgärem Aussehen, die sich mit lustloser, gelangweilter Miene leicht bekleidet in einem ebenfalls samtbezogenen Sessel fläzte und an ihrem Morgenmantel aus transparenter Spitze herumspielte. Darunter trug sie nur noch ein Satinmieder. Die Rothaarige redete schnell. Dann zeigte sie auf Cetta.
Das leicht bekleidete Mädchen übersetzte: »Ma’am sagt, das ist dein Rüstzeug für die Arbeit. Für den Anfang brauchst du nicht viel mehr. Wiederhol noch einmal alles von vorn.«
Cetta stand in der Mitte des Salons, der vornehm und geheimnisvoll auf sie wirkte, und schämte sich ihrer schlichten Kleider. »Schwanz ...«, brachte sie in der ihr unverständlichen, feindseligen Sprache hervor, »Möse ... Arsch ... Mund.«
»Sehr gut, du lernst schnell«, lobte die junge Prostituierte.
Die Rothaarige nickte zustimmend. Dann räusperte sie sich und fuhr mit der Amerikanisch-Lektion fort: »Ich mach es dir französisch.«
»Ich mach ... es dir ... frasösisch ...«
»Französisch!«, rief die Rothaarige.
»Fran ... zösisch ...«
»Okay. Besorg es mir.«
»Besorg ... es mir ...«
»Los, du Hengst, komm jetzt, komm jetzt. Ja, so ist gut.«
»Los ... du Hengst ... kommetz, kommetz ... Ja, so ist kutt ...«
Die Rothaarige stand auf. Sie raunte der Prostituierten, die für sie übersetzte, etwas zu und verließ den Raum, jedoch nicht, ohne Cetta zuvor unerwartet sanft und mit einem wohlwollenden Blick, der herzlich und melancholisch zugleich war, über die Wange zu streicheln. Cetta sah ihr nach, als sie hinausging, und war voller Bewunderung für ihr Kleid, das ihr ausgesprochen vornehm erschien.
»Komm jetzt«, forderte die junge Prostituierte sie auf.
»Los, du Hengst, kommetz, kommetz ...«, sagte Cetta wieder.
Die Prostituierte lachte. »Komm ... jetzt«, berichtigte sie sie.
»Komm ... jetzt«, sprach Cetta nach.
»Sehr gut.« Die Prostituierte hakte sie unter und führte sie durch die abgedunkelten Räume der großen Wohnung, die wie ein Palast wirkte. »Hat Sal dich schon gekostet?«, wollte sie mit verschmitztem Blick wissen.
»Gekostet?«, wiederholte Cetta verständnislos.
Die Prostituierte lachte. »Anscheinend nicht. Sonst hättest du leuchtende Augen und würdest nicht fragen.«
»Wieso das?«
»Das Paradies kann man nicht beschreiben«, antwortete die Prostituierte und lachte wieder.
Schließlich betraten sie ein schlichtes, weiß gestrichenes und im Unterschied zu den restlichen Räumen lichtdurchflutetes Zimmer. An der Wand hingen Kleider, die Cetta wunderschön fand. Mitten im Raum stand ein Bügelbrett mit einem Kohlebügeleisen. Eine dicke ältere Frau, deren Miene Gehässigkeit verriet, nickte ihnen zur Begrüßung nur achtlos zu. Cetta verstand nicht, was die Prostituierte zu ihr sagte. Die Alte kam aber daraufhin auf Cetta zu, hob ihr die Arme an und musterte sie, befühlte ihre Brüste und ihren Po und schätzte mit prüfendem Blick ihre Hüften ab. Dann ging sie zu einer Kommode und suchte ein schwarzes Mieder heraus, das sie Cetta verdrießlich vor die Füße warf.
»Du sollst dich ausziehen und es anprobieren«, erklärte die Prostituierte. »Mach dir nichts aus ihr. Sie ist eine fette alte Schreckschraube, zu hässlich, als dass sie je in ihrem Leben auf den Strich hätte gehen können, und ohne einen Schwanz ist sie versauert.«
»Pass bloß auf, ich verstehe alles«, warnte die Dicke sie in Cettas Sprache. »Ich bin auch Italienerin.«
»Aber eine alte Hexe bist du trotzdem«, gab die Prostituierte zurück.
Cetta lachte. Doch als die Alte sie böse anblitzte, wurde sie sofort rot, schlug die Augen nieder und begann, sich auszuziehen. Sie legte das Mieder an, und die Prostituierte zeigte ihr, wie man es zuschnürte. Cetta kam sich seltsam vor. Auf der einen Seite empfand sie ihre Nacktheit als demütigend, auf der anderen Seite verlieh ihr das Mieder, das sie für vornehm hielt, ein Gefühl von Bedeutsamkeit. Einerseits war sie aufgeregt, andererseits erschrocken und ängstlich.
Der Prostituierten entging das offenbar nicht. »Sieh dich mal im Spiegel an«, ermutigte sie sie.
Cetta trat einen Schritt vor. Mit einem Mal aber war ihr linkes Bein wie taub. Der Schweiß brach ihr aus. Sie zog das Bein nach.
»Hinkst du?«, fragte die Prostituierte.
»Nein ...« In Cetta stieg Panik auf. »Ich habe ... mir nur wehgetan ...«
In dem Moment warf die dicke Alte ihr ein tiefblaues Satinkleid mit einem langen Schlitz, der die Beine zur Geltung brachte, und einem mit schwarzer Spitze gesäumten Ausschnitt zu. »Nimm das, Hure«, sagte sie.
Cetta schlüpfte hinein und betrachtete sich dann im Spiegel. Unvermittelt brach sie in Tränen aus, denn sie erkannte sich nicht wieder. Sie weinte vor Dankbarkeit für dieses Amerika, das ihr all ihre Träume erfüllen und aus ihr eine echte Dame machen würde.
»Komm mit, es wird Zeit, dass du dein Metier lernst«, forderte die Prostituierte sie auf.
Sie verließen die Schneiderei, ohne sich von der dicken Alten zu verabschieden, und betraten eine enge, stickige Kammer. Dort öffnete die Prostituierte ein Guckloch an der Wand und sah hindurch. Als sie sich wieder umdrehte, sagte sie zu Cetta: »Sieh mal, das bedeutet, es französisch zu machen.«
Cetta hielt ein Auge an das Guckloch und erhielt ihre erste Lektion.
Den ganzen Tag verbrachte sie damit, Freier und Kolleginnen zu beobachten. Es war schon Nacht, als Sal sie abholte und nach Hause zurückfuhr. Während er schweigend am Steuer saß, sah Cetta ein paar Mal verstohlen zu ihm hinüber und dachte an das, was die Prostituierte über ihn gesagt hatte.
Schließlich hielt der Wagen vor der Treppe, die ins Kellergeschoss hinabführte, und beim Aussteigen warf Cetta abermals einen raschen Blick auf den hochgewachsenen hässlichen Mann, der die Mädchen kostete. Doch Sal schaute starr geradeaus.
Die beiden alten Leute waren bereits zu Bett gegangen, als Cetta leise das Zimmer betrat. Christmas schlief zwischen ihnen. Cetta nahm ihn sanft hoch.
Die Alte schlug die Augen auf. »Er hat gegessen und ein Häufchen gemacht«, flüsterte sie. »Alles in Ordnung.«
Cetta lächelte ihr zu und ging hinüber zu ihrer Matratze. Darunter lag nun ein Federrahmen. Auch eine Decke, ein Laken und ein Kissen waren da.
Das Doppelbett quietschte, als die Greisin sich aufsetzte. »Sal hat an alles gedacht.«
Cetta legte Christmas auf die flauschig weiche Decke und blickte zu der Alten hinüber, die noch immer dasaß und sie beobachtete. Da ging sie zu ihr und nahm sie wortlos in den Arm. Und die alte Frau erwiderte die Umarmung und streichelte Cetta über das Haar.
»Leg dich schlafen, du musst müde sein«, sagte sie.
»Ja, schlaft endlich, alle beide!«, brummte ihr Mann.
Cetta und die alte Frau lachten leise.
»Wie heißt ihr eigentlich?«, fragte Cetta mit gedämpfter Stimme.
»Wir sind Tonia und Vito Fraina.«
»Und nachts wollen wir schlafen«, schimpfte der Alte.
Tonia gab ihrem Mann einen Klaps auf den Po, und beide Frauen lachten.
»Ha, ha, sehr witzig«, sagte Vito und zog sich die Decke über den Kopf.
Tonia nahm Cettas Gesicht in beide Hände und sah sie schweigend an. Dann malte sie ihr mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. »Gott segne dich.« Schließlich drückte sie ihr einen Kuss aufs Haar.