Der Junge mit dem hellblauen Wolljäckchen - Hannes Bachkönig - E-Book

Der Junge mit dem hellblauen Wolljäckchen E-Book

Hannes Bachkönig

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Beschreibung

Der Junge mit dem hellblauen Wolljäckchen stand plötzlich da, wie von Zauberhand hingepustet. Niemand sah ihn kommen..... Der Roman erzählt vom Leben des Protagonisten Milo, eingebettet in die Geschichte seiner Familie vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Achtzigerjahre. Er handelt von einem Jungen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, der abwechselnd dramatisch-traumatische und optimistisch-glückliche Phasen durchlebt. Milo wird hin- und hergerissen, darf die große Liebe seines Lebens erfahren. Das unerwartete Ende bringt den Leser wieder zurück auf den Boden der Realität.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Hannes Bachkönig

Der Junge mit dem hellblauen Wolljäckchen

Roman

tredition

© Hannes Bachkönig, 2021

Autor, Umschlaggestaltung: Hannes Bachkönig

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg978-3-347-27714-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Der Junge mit dem hellblauen Wolljäckchen stand plötzlich da, wie von Zauberhand hingepustet. Niemand sah ihn kommen….

Der Roman erzählt vom Leben des Protagonisten Milo, eingebettet in die Geschichte seiner Familie vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Achtzigerjahre.

Er handelt von einem Jungen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, der abwechselnd dramatisch-traumatische und optimistischglückliche Phasen durchlebt. Milo wird hin- und hergerissen, darf die große Liebe seines Lebens erfahren. Das unerwartete Ende bringt den Leser wieder zurück auf den Boden der Realität.

Kriegswirren

Eszter, Milos Mutter, war das einzige Kind Marikas, einer fleißigen Frau, die in ihrem Haus eine kleine Strickerei in der Zwischenkriegszeit aufgebaut hatte, um ihrer Tochter eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Marika hatte nie Wunschträume gehabt, war der harten und unsteten Zeit ihrer Jugend wegen immer Realistin geblieben, wohl wissend, dass die Chancen, aus ihrem Dorf nahe der ungarischen Grenze herauszukommen, gegen null gingen. Zu groß waren die Einschnitte des Ersten Weltkriegs in den Alltag der Menschen, da sie doch der Verlierermacht angehörten, die nach dem Krieg entzaubert wurde. Die Monarchie wurde von einem Tag auf den anderen ausradiert, in den Atlanten aller Welt gelöscht. Die Adeligen wurden ihres Standes und ihrer Würde beraubt. Der Friedensvertrag von Versailles und die Entscheidungen der Entente hatten sie entmachtet, armselig waren sie dem Untergang geweiht und gezwungen, sich dem Laufe des europäischen Schicksals zu ergeben.

Und so geschehen, wurden auch das Fußvolk und die Bürger, die schon vor dem Krieg nicht viel ihr Eigen nennen durften, nun noch um den Großteil ihres bescheidenen Vermögens beschnitten. Zu wenig, um überleben zu können, zu viel, um durch ihr Sterben vom Leid erlöst zu werden. Wie immer brachte der Krieg Tod, Verderben und Elend.

Doch das Leben fand nicht sein Ende, denn die Menschen waren einfallsreich. Glücklich, wer sein Dasein auf einem kleinen Polster des materiellen Wohlstands betten konnte. So geschah es, dass Milos Großmutter die kleine Familie gut durch die Jahre bringen konnte. Von ihrem Ehemann Sándor durfte sie kaum Unterstützung erwarten. Dieser war kurz nach Kriegsende mit seinen Brüdern aus dem ungarischen Teil der Monarchie nach Österreich geflüchtet, um hier Arbeit und sein Glück zu finden und konnte sich wie die wenigsten Immigranten eine unabhängige Existenz aufbauen. Der Lohn durch die Arbeit im kleinen Elektrizitätswerk am schmalen, mäandernden Grenzfluss ließ ihn überleben.

Dann verschlug es den Mann in die Arme von Marika, die von seiner Nikotin- und Spielsucht anfangs nichts ahnen konnte. In schlechten Zeiten war die Menschheit noch nie wählerisch gewesen, ja hatte es sich nie leisten können, wählerisch zu sein. Absicherung der Existenz und Fortbestand inklusive Fortpflanzung war schon immer die Antriebsfeder der Evolution gewesen.

So geschah es auch im Falle von Milos Großeltern. Marika fand jemanden, der allem Anschein nach ihrem Leben Sinn und Familiennachwuchs geben konnte. In der ersten Zeit mochte die Liebe noch groß gewesen sein, wie es halt immer war, wenn sich zwei Menschen ineinander verliebten. Milos Großmutter wollte sich an den immigrierten Mann binden, trotz aller mahnenden Worte ihrer beiden Schwestern. Liebe machte blind, Einsicht sehend. Doch diese sollte erst in den Jahrzehnten danach und daher zu spät kommen. Marika konnte es aussitzen, wie viele sagten, denn sie hatte nicht vor, einen Schlussstrich zu machen oder eine massive Kursänderung im Leben zu riskieren. Aussitzen war wie das feiste Verharren im Schützengraben der Feigheit. Und manche Ehen offenbarten sich nicht selten bereits nach kurzer Zeit als Kriegsgebiete, wo die beiden vor Sekunden noch innig vertrauten Liebenden aus jeweils ihrem eigenen Schützengraben in jenen ihres loszuwerdenden Hassbildes Wurfgeschoße mit oft verheerender Wirkung katapultierten. Milos Großmutter wollte es aussitzen! Sie war eine rational denkende, starke Frau voll geistiger Energie, belesen und gebildet. Nicht schulisch, nein, in dieser Zeit geboren und gefangen in einem Dorf der Österreichisch-Ungarischen Monarchie hatte es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nur spärlich Bürger mit höherer Bildung gegeben. Jene, die es sich leisten konnten, wanderten aus in die großen Städte, wo sich den jungen Menschen bessere Chancen auftaten, eine höhere Schule oder gar Universität zu besuchen. Doch Marika zog es vor, unter einfachen Leuten im Dorf zu bleiben. Sie wollte ihrer Familie durch die eigene Strickerei, die sie in ihrem Hause einrichtete, eine Existenz aufbauen.

Die wirtschaftliche Lage des Landes nach dem Ersten Weltkrieg war eine deprimierende, unendlich schwierige und mit Hunger verbundene. Viele Männer mussten im unnützen Krieg ihr Leben lassen, hinterließen Frauen, die nicht wussten, wie sie ihre Sprösslinge zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft großziehen konnten, und Kinder, die nicht wussten, ob sie eine Zukunft hatten in diesem Land.

Trotz all der misslichen Gegebenheiten verstand es Marika, ihrer Familie eine Existenz aufzubauen, die ihnen ein für ländliche Verhältnisse überdurchschnittlich hohes Einkommen sicherte. Die Familie konnte sich ein klein wenig Luxus leisten. Manchmal fand sich mitten unter der Woche, nicht nur sonntags oder feiertags, ein köstlich duftender Schweinsbraten auf dem Mittagstisch stehend neben einer verlockenden Nachspeise der österreichungarischen Küche. Marika verstand sich aufs Kochen, was jedoch nicht außergewöhnlich war in dieser Zeit. Alle Frauen waren am Herd aufgewachsen. Schon auf Kindesbeinen wurde den Mädchen beigebracht, was es heißt, fiktive Ehemänner zu verwöhnen, wohlduftende Speisen aus spärlich vorhandenen Lebensmitteln zu kredenzen und den Familiensegen in die Vertikale zu bringen.

Acht Jahre nach der Vermählung mit ihrem damals noch geliebten Mann, im Alter von sechsunddreißig Jahren, gebar sie ihr Kind. Eszter kam im Elternhaus zur Welt, und alle Vorzeichen standen an diesem Tage schon dafür, dass sie dieses auch nie verlassen werde. Marika war in einem außergewöhnlich hohen Alter für die Geburt des ersten Kindes, und es sollte auch das einzige bleiben. Sie war von klein an gesundheitlich angeschlagen, die Nieren taten nicht wie geheißen, und auch manches andere machte ihr das Leben schwer in der harten Zeit. Doch nie verzagte sie, verließ sie der Mut und sie war wie alle Menschen getrieben vom Erbe der Jahrmillionen dauernden Evolution des Homo sapiens: Die Brut musste gedeihen.

Erschwerend kam hinzu, dass der Zweite Weltkrieg ausbrach, als Eszter drei Jahre alt war. Nicht lange zuvor hatte Hitler in Deutschland die Macht an sich gerissen, was in diesen Tagen noch keine Auswirkungen auf die Menschen im Osten Österreichs hatte, aber die Sterne sagten in Eszters Geburtsjahr nichts Gutes voraus. Sie war eineinhalb Jahre alt, als das Land sich wie von Teufelshand braun färbte. Es war ein schlechter Zauber, einer, der die Menschen verwünschte und ihre Gehirne wusch, damit der braune Riese als Mure über das ostösterreichische Hügelland ziehen konnte.

Anfangs schien die Lage keineswegs besorgniserregend zu sein. Marika und Sándor ernährten die Familie so gut es ging. Ja, auch Marikas Ehemann trug mehr als einen Obolus dazu bei, hatte er doch im Elektrizitätswerk eine sichere Anstellung als Werkselektriker. Der Bedarf an Strickwaren war immer präsent, gab es doch kaum Bekleidungsgeschäfte in einem größeren Umkreis. Das Leben der Menschen war einfach, überschaubar und kalkulierbar. Die Grundbedürfnisse konnten meist gedeckt werden, Luxus aber war für den Großteil der Bevölkerung ein Fremdwort, das sie nur vom Hörensagen kannte. Milos Großeltern und seiner Mutter ging es hingegen etwas besser. Manchmal stand sogar unerwarteter Überschwang in Form eines schönen Spielzeugs für das kleine Mädchen vor der Tür. Oder ein Haustier, das mit Freude gepflegt und gehegt wurde. Eszter wuchs behütet auf. Die strenge Hand der Eltern kam von Zeit zu Zeit zum Vorschein, vor allem jene ihrer Mutter, denn Vater mischte sich tunlichst nicht in Erziehungsangelegenheiten ein, wohl aus Gründen der Feigheit vor dem Zepter schwingenden Weibe, aber der damals vorherrschende autoritäre Erziehungsstil, die Diktatur des Zwanges zur Unterordnung, Anpassung, Disziplin und Gehorsamkeit, fand nur in abgeschwächter Form Anwendung im Haus der Familie.

Die ersten Kriegsjahre empfand Eszter voller Frieden, da das Grauen fernab ihres Heimatortes grassierte. Kein Soldat verirrte sich jemals in ihre Straße, kein Panzer donnerte vorbei und riss die Dorfkinder aus dem Schlaf, vom Fluglärm der Bomber keine Spur. Diese Jahre verliefen friedlich in der üblichen und bekannten Manier. Spielen mit den Nachbarskindern, Schule und Mithilfe in der familieneigenen Strickerei standen an der Tagesordnung. Schuhe waren manchmal zu flicken, was der Schuster nebenan behände erledigte. Risse in Kleidern wurden sorgsam von Eszters Mutter wie von Zauberhand beseitigt und es mangelte nicht an regelmäßigen Mahlzeiten. Der Alltag verlief einige Jahre lang ohne besondere Vorkommnisse. Das Leben der kleinen Familie war im Großen und Ganzen akzeptabel gut, wohl auch wegen der Tatsache, dass Sándor aufgrund eines Amtsirrtums nicht zum Militär eingezogen wurde, da er als staatenlos galt. Worauf dieser Status beruhte, wusste er nicht, aber er nahm das Geschenk der Beamten dankend an, denn es blieb ihm eine schlimme Zeit an der Front, eine schwere Verletzung oder gar der Tod erspart.

Immer häufiger jedoch trübten Ereignisse innerhalb der Familie ihre Idylle. Der Haussegen hing gewaltig schief, gab es doch Spannungen zwischen den beiden Eheleuten, die auf Sándors Spielsucht beruhten. Marika hatte sich ihr Eheleben anders vorgestellt. Sie war gezwungen, den Haushalt, die Erziehung und den Familienbetrieb alleine zu schaukeln. Ihr Mann verbrachte wenig Zeit daheim. Kaum von der Arbeit zurück, steckte er die Schachtel Zigaretten in die Rocktasche und begab sich ins nahegelegene Wirtshaus, wo seine angeblichen Freunde und Kameraden tagtäglich darauf warteten, ihm Geld abzuknöpfen. Wohl vermochte er manchmal reicher heimzukommen, als er Stunden zuvor das Haus verlassen hatte, meist aber zog er den Kürzeren. Jahrelange Kartenspielsucht verringerten das Familienbudget um ein Maß, das von Marika schwer gutzuheißen war. Sie spürte förmlich, wie Schilling und Reichsmark stetig ihren Händen entglitten. Oft hatte sie versucht, auf ihren Mann in Gutem einzuwirken, ihm klar zu machen, dass es mit seiner Sucht so nicht weitergehen konnte. Oft hatte sie ihm mit dem Rauswurf aus dem Hause gedroht, das ja in ihrem Besitz stand. Er wurde zunehmend zum Schmarotzer, zur Plage, zum Mitesser, der auszudrücken war. Der Beruf des Ehekammerjägers war noch nicht erfunden worden, Milos Großmutter wäre dazu geneigt gewesen, dessen Dienste in Anspruch zu nehmen. Nach etlichen Jahren des Versuchs, ihren Gatten erdulden zu lernen, dem Vater ihrer Tochter noch eine weitere Chance zu geben, musste Marika sich eingestehen, versagt zu haben. Jeder strikte Versuch, ihn auf den rechten Weg zu geleiten, scheiterte kläglich, denn zu groß war seine Sucht. Marika hatte immer wieder versucht, Gutes in Sándor zu finden, positive Aspekte herauszupicken aus dem unverdaulichen Salat, in dem sie um die Existenz ihrer Familie schwamm. Mit wenig Erfolg. Die Attraktivität des Anfangs, die Initialzündung ihrer Beziehung, all das war schon bald nach ihrer Hochzeit verflogen. Milos Großvater war ein gertenschlanker, gar knöchriger Mann von ausgemergelter, geschundener Statur, es schien, als ob kein Gramm Fett zwischen Haut und Skelett Platz fand. Der dunkle Teint verschleierte ein klein wenig den Eindruck eines unterernährten Kriegsflüchtlings, aber er vermochte es immer wieder, Attraktivität wie die Strahlen der Sonne zu verstreuen. Allein, der Schein trog.

Was blieb, war die finanzielle Sicherheit in einer schwierigen Zeit, in der es den meisten Menschen an vielem mangelte. Der Mann steuerte durch seine Stelle im Elektrizitätswerk einen nicht zu vernachlässigenden Teil zum Haushaltsvermögen bei, und das wollte Marika nicht aufgeben. Zu viel Angst hatte sie vor der Zukunft ohne seinen Beitrag und sie nahm sich vor ihn zu erdulden, ihm jeden Abend das Bett im nach Süden ausgerichteten, kleinen Zimmer zu machen. Wenn er schon die physische Trennung durch die täglichen Befriedigungen seiner Spielsucht heraufbeschwor, dann sollte diese Trennung auch vollkommen sein, sie sollte auf perfekte Art und Weise in ihr Eheleben Einzug halten. Der Mann wurde ausgelagert, der Platz an der Seite im Bett seiner Frau wurde ihm versagt, fiktive Sperrbänder verhinderten sein Eintreten in den erotischen Bereich der Ehe. Er wurde nur mehr geduldet und es war ihm nicht erlaubt zu klagen. Kost und Logis, das hatte er auf Lebzeit gepachtet. Marika versuchte oft, ihm die Situation klarzumachen, dass er es in der Hand gehabt hätte, alles zum Guten zu wenden, dass er durch sein Fehlverhalten die Ehe desaströs ruiniert hatte, nicht nur mittlerweile schon ein ansehnliches Vermögen, sondern auch ihr Vertrauen verspielt hatte. Sie warf ihm unmissverständlich die Realität an den Kopf, dass die Ehe nur mehr am Papier bestand, dass die Liebe längst verpufft war, dass sie keine Sympathien mehr für den vor vielen Jahren heißgeliebten Mann hatte.

Sie sah sich dastehen als Betrogene, Beleidigte, hinters Licht Geführte, Bestohlene und Verschmähte, war das Leben leid. Sie sah sich aber nicht als Opfer, nein, denn sie wusste, dass es immer der Interaktion zweier Beteiligter bedurfte, wenn Eheleute einander in die Haare kriegten. Milos Großmutter aber machte keine Anstalten, auch in ihrem Verhalten auslösende Muster zu finden, die sie in ihr unlösbares Eheproblem gebracht hatten. Sie wusste, dass auch sie ihr Scherflein dazu beigetragen hatte, aber sie war sich zu stolz, um in die Tiefe zu gehen. Der Mann spielte in ihrem Leben nur mehr die Statistenrolle des Dauergastes. Sie fühlte sich neben ihrem Hauptberuf der Strickerin auch als Sommerfrischler Beherbergende, nur dass ihr Ehemann auch Winterfrischler war, ein Ganzjahresfrischler sozusagen, der für Kost und Logis mit lebenslänglicher Bleibe zu bezahlen hatte.

Natürlich wäre es ihm möglich gewesen, die Flucht aus dieser Beziehung anzutreten, einfach von einer Stunde auf die nächste seinen Koffer zu packen und das Haus für immer und ewig zu verlassen. Dazu aber war er zu feige, zu groß war die Angst vor der unsicheren Zukunft. Wohin sollte er denn gehen? Er wusste, er war das geschmähte Omega-Männchen in einem Wolfsrudel, das ihn als Mitglied gerade noch akzeptierte, ihn nicht verbannte, ihm aber auch keinen Platz an der Sonne erlaubte. Er musste das nehmen, was übrig geblieben war. Und er empfand seine Lage als gut genug, um für den Rest seines Lebens so weitermachen zu wollen. Ein Arrangement zweier Eheleute, nicht auf Papier mit Unterschrift besiegelt, auch nicht durch Worte vereinbart. Die beiden Unglückseligen mussten sich ab einem gewissen Augenblick unmissverständlich eingestehen, dass das Leben kein Honiglecken war, sondern nur ein die Existenz sichernder, schlechter Kompromiss.

Milos Großmutter hatte immer wieder versucht, sich ihre Lage schönzureden.

„Er trinkt wenigstens keinen Alkohol.“

Das leierte sie abends mehrere Male vor sich hin, in der Hoffnung, irgendwann mal selbst zu glauben, dass sie ein perfektes Leben führte.

Nein, Alkohol trank er keinen, er war in dieser Hinsicht abstinent, aber Koffein, Nikotin und Spielsucht machten die eine hehre Tugend wieder zunichte. Oft hatte Marika sehen müssen, wie Alkoholiker in Ehen von Dorfleuten alles zerstörten, zum Scheitern gebracht und gar Schlimmeres verursacht hatten. Körperliche und seelische Grausamkeiten hatten sich in ihrer Nachbarschaft zugetragen, nur verursacht von Ehemännern, die im Rauschzustand nicht mehr Herr ihrer Sinne gewesen waren und Frau und Kinder an den Rand der Verzweiflung brachten oder gar in den Tod führten. Unzählige Beispiele gab es im Dorf, wo jeder sehen konnte aber schweigen musste.

Da hatte sie ja noch Glück, so sah es Milos Großmutter. Zigaretten und Kaffee zerstörten immer nur das eigene Leben des Süchtigen. Wohl war sie sich natürlich bewusst, dass die Spielsucht ihres Mannes das Leben ihrer Familie beeinträchtigte, gefährdete, ja im schlimmsten Fall sogar in den Ruin treiben könnte. Ihre Geschwister, mit denen sie keinen Kontakt mehr führte, hatten sie in früherer Zeit oft darauf hinweisen wollen, in welch misslicher Situation sie sich doch befände und sie dem Grauen endlich ein Ende setzen sollte. Marika aber hatte irgendwann mal die Schnauze voll von all den Bevormundungen und wohlgemeinten Ratschlägen. Sollten ihre Geschwister doch vor eigenen Türen kehren!

Es war dann der Tag gekommen, wo Marika Brüder und Schwestern um sich versammelte, um ihnen unmissverständlich klarzumachen, dass sie sich aus ihrem Leben doch verziehen sollten. Seit diesem Tag hatte sie weder mit ihnen gesprochen noch sie gesehen. Besser das Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Obwohl, Milos Großmutter musste sich eingestehen, dass das Ende des einen Schreckens das Fortbestehen des anderen mit sich brachte und es vielleicht doch besser gewesen wäre, den Ganzjahresfrischler vor die Tür zu setzen.

Sie sollte ihr ganzes Leben mit dieser ihrer eigenen Entscheidung hadern.

Albtraum

Eszter hatte lange gezögert, ihrem Sohn Milo etwas anzuvertrauen, das sie noch keinem anderen Menschen zu erzählen vermochte.

Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, erhärtete die Beziehung zwischen ihren Eltern zusehends. Vater und Mutter gerieten einander immer öfter in die Haare und fochten dramatische Dispute aus, die auch zu Handgreiflichkeiten, ja Tätlichkeiten führten und beinahe in kriminelle Handlungen in Form von Angriff auf Leib und Leben. Die Gründe dafür konnte sie damals noch nicht verstehen. Es wird wohl die Tatsache gewesen sein, dass sich ihre Mutter vom Ehemann in Stich gelassen gefühlt hatte. Dieser verweigerte die familiäre Unterstützung und widmete sich hauptsächlich seiner Süchte.

Ein bestimmtes Ereignis, schlimmer als jeder Albtraum, angsteinjagend, furchterregend, hatte Eszters Psyche angeknackst. Was sie vor vielen Jahren beobachten musste, ließ sich nicht mit Worten beschreiben. Es vergingen Jahre, bis Milo kein kleines Kind mehr war, da fand es seine Mutter nur zu gerecht, ihm ihr düsteres Geheimnis zu offenbaren. Also nahm sie ihren Sohn eines Tages zur Seite, blickte ihm geheimnisschwanger ins Gesicht und rang um das erste Wort. Er bemerkte ihre Verzweiflung und ermunterte sie, mit fragendem Blick zu beginnen. Wartende Stille. Langsam begann Eszter sich zu öffnen.

„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, zu schlimm war das Erlebnis, obwohl es schon einige Jahrzehnte hinter mir liegt.“

Milo sah die Geburt von Tränen in ihren Augen. Langsam schoben sich die Tropfen entlang ihrer Wangen Richtung Kinn. Er nahm die Hand seiner Mutter, streichelte sie sanft in der Hoffnung, ihr Herz damit öffnen zu können.

Nach einer gefühlten Stunde fanden die ersten Worte zögerlich den Pfad über Mutters Lippen.

„Vor vielen Jahren, als ich ein kleines Mädchen war, ich glaube, der Krieg war noch nicht vorbei, da musste ich etwas mitansehen, was mein Leben veränderte, meinen Glauben an unsere Familie. Es hatte mein Vertrauen in meine Eltern bis ins Mark erschüttert, besonders jenes in meinen Vater. Ich wusste als Kind schon, dass so vieles in der Ehe meiner Eltern schiefgelaufen war. Keine Harmonie war mehr zu spüren, keine Gemeinsamkeit lag in der Luft der paar Zimmer unseres Hauses, meines Elternhauses. Bis zu diesem Ereignis vermochte ich die Gefühle nicht deuten, konnte sie nicht in klare Gedanken umwandeln.“

Milo blickte seine Mutter verstört an und ahnte Schlimmes auf ihn zukommen.

„Es geschah an einem Montagabend, ich weiß es noch genau. Ich war im Wohnzimmer, spielte mit den Puppen. Dein Großvater kam heim, wohl wieder einmal vom Kartenspielen. Es war zu einem heftigen Streit gekommen. Meine Eltern gerieten einander in die Haare. Deine Großmutter machte ihm zum tausendsten Mal den Vorwurf, viel Geld verspielt zu haben.“

Eszter schluckte, setzte dann mit der Schilderung der Situation nach einer kurzen Pause fort.

Ihre Eltern standen einander gegenüber, bewarfen sich mit Vorwürfen, Beschimpfungen und Pöbeleien. Garstige, nicht für Kindesohren geeignete Worte fielen. Eszter konnte dies von einem abgeschiedenen Platz unentdeckt beobachten. Hätten ihre Eltern geahnt, dass deren Tochter Zeuge des Disputs war, es wäre wohl kaum zur Eskalation gekommen. Doch so nahm das Unheil seinen Lauf. Schreie, Drohungen, Beschimpfungen, Marika zog ein Messer aus einer Küchenlade und fuchtelte eine Haaresbreite vor ihrem Ehemann umher, der beinahe Blut lassen musste. Eszter brach in geheime Tränen aus, flüchtete vor der grausamen Szene in der Hoffnung, Vater und Mutter nicht verlieren zu müssen, wenn sie all das nicht mitansehen würde.

Es konnte nicht mehr so weitergehen, schrie Marika. Sándor kippte vor Schwäche zu Boden, kauerte vor der Messerspitze um sein Leben bangend und glaubte seine letzte Stunde herbeigekommen. Er weinte, bettelte um Gnade, die Hände über dem Kopf wie ein des Mordes Verdächtigter vor den gezogenen Waffen der Gendarmerie. Sekunden vergingen wie Minuten. Stille. Milos Mutter hatte sich bereits in der Speisekammer verschanzt, um ja nichts mehr von diesem Albtraum mitbekommen zu können. Sie hörte aber noch ihren Vater versprechen, dass das nie mehr vorkommen sollte.

„Wie oft hast du mir das schon gesagt! Ich glaube dir kein Wort, du bist ein Schwächling, ein mieser Feigling, der sich einen Dreck um seine Familie schert. Ich hasse dich!“

Marika zog das Messer zurück, legte es wieder in die Lade und ging ins Obergeschoß, als ob nichts gewesen wäre. Ihr Mann aber kauerte noch minutenlang in der Küche und hoffte auf Einsicht und Gnade. Eine Lache von Schweiß und Tränen sammelte sich am Fußboden. Diesmal noch Schweiß und Tränen, beim nächsten Vorfall würde es wohl eine Blutlache sein, befürchtete Sándor, erhob sich, verließschwachen Fußes das Haus und ging in den Garten zu seinen geliebten Bienen, bei denen er sich in Sicherheit wähnte.

Die Ehe war an einem Tiefpunkt angelangt. Von diesem Tage an hatte das Leben der Familie eine andere Richtung eingeschlagen. Marika hatte keine Zweifel mehr, sie wusste nun, was zu tun war. Die seelische Verabschiedung von ihrem Ehemann ging nahtlos über in dessen Existenz als geduldeter Gast im Hause seiner Frau, ohne Mitspracherecht, ohne Recht sich einmischen zu dürfen, nicht einmal in all die familiären Alltagsbanalitäten.

Eszter stöhnte, da ihr eine große Last abgefallen war.

„Nun weißt du, was mich schon so lange belastet hat. Nun kannst du dir selbst ein Bild von der familiären Situation machen und sehen, wie ich leiden musste. Jeden Tag befürchtete ich, Ähnliches wieder zu erleben. Meine Depression begann, als ich neun Jahre alt war.“

,Deine Depression?‘, wunderte sich Milo insgeheim.

„Die hab ich übrigens von deinem Großvater geerbt“, fuhr seine Mutter aufklärend fort.

,So, so, deine Depression‘, wiederholte Milo in Gedanken, während er sich von seiner Mutter abwendete. Er wusste nichts dieser Beichte zu entgegnen und verschwand in sein Zimmer.

Jahrzehntelang war Milos Mutter unfähig gewesen, über diesen Albtraum zu reden, da sie glaubte, selbst die Ursache des Streits gewesen zu sein und deshalb Schuldgefühle hatte. Es kam die Zeit, als Marika bereits schwer krank ihrem Ende entgegenblicken musste. Eines Tages brachte Eszter all den Mut auf ihrer Mutter zu verzeihen. Diese brach in Tränen aus, als sie die Worte aus dem Munde ihrer Tochter vernahm, bat um Verzeihung und wollte ihr Leben erklären. Eszter aber legte einen Finger über die Lippen der alten, bettlägerigen Frau, die verstummte und um Gnade bittend stöhnte. Der verzeihende Blick der Tochter machte ihr tonlos verständlich, dass nun alles gut wäre. Alles hätte sich zum Besseren gewendet, kein Groll, keine Wut oder Verzweiflung war mehr in Eszter. Sie hatte schon seit langem verstanden, in welch aussichtsloser Situation ihre Mutter damals festgesteckt war.

Für Sándor war es reichlich spät gekommen, denn er weilte schon mehr als zehn Jahre nicht mehr auf Erden. Er sollte aber in Himmel oder Hölle, wo immer er gerade gewesen sein mochte, seinen Seelenfrieden gefunden haben.

Milo hatte die Beichte seiner Mutter nicht sonderlich überrascht, er nahm es nüchtern auf, so als ob er es erwartet hätte. Seine ersten vier Lebensjahre zusammen mit beiden Großeltern hinterließen in ihm Vermutungen, die sich durch Mutters Schilderungen bestätigten. Es wird wohl damals, kurz nach Kriegsende, in vielen Familien so gewesen sein. Alles war zusammengebrochen, die Menschen hatten gerade das Notwendigste zum Überleben und ein mehr oder weniger zerstörtes Dach über dem Kopf. Manche Familien hielten zusammen und versuchten am Aufbau des eigenen Hauses, der Gemeinde, ja des Staates Österreich mitzuhelfen, manche jedoch waren verzweifelt genug, das Handtuch zu werfen und aufzugeben. Eben diese Familien waren immer wieder Herde von Verzweiflung und Gewalt. Es tat dabei nichts zur Sache, ob die Familie bettelarm oder wohlhabend gewesen war. Der psychische Kollaps hing nicht ab von Vermögen, sondern war ein Resultat einer langen, schwierigen Vorgeschichte, und das Endergebnis waren zerrüttete Verhältnisse, die nach außen so gut wie möglich verschwiegen werden mussten. Wer wohl mochte sich dies anmerken lassen, wer wollte die familiären Schandtaten an die große Glocke hängen? Schon immer seit der Geburtsstunde der Menschheit hat der Homo sapiens es nicht vermocht, Schwächen zuzugeben, speziell die männliche Ausgabe dieser Spezies.

Milo fiel eine Szene ein, ein Bild aus sehr frühen Tagen seines Lebens, das früheste seiner Kindheit und zugleich das einzige Bild von seinem Großvater, das er aus der Erinnerung abrufen konnte. Er war damals vier Jahre alt gewesen, es war der vorletzte Tag im Leben seines todkranken Großvaters. Milo ging die hundertachtzig Grad nach rechts drehende Treppe hoch in den ersten Stock des von seinen Großeltern gebauten Einfamilienhauses. Das Holz unter ihm gab knarrend nach, obgleich er doch nur fünfzehn Kilo wog. Kurz vor der letzten Stufe verharrte Milo und blickte durch die offene Tür in Großvaters Zimmer. Drei Menschen standen Milo den Rücken zuwendend vor dem Bett, seine Eltern und Großmutter. Die bedrückende Dunkelheit war ein Zeichen dafür, dass Großvaters letzter Tag geschlagen hatte. Dieser lag im Bett, abgemagert bis auf die Knochen, keuchte und röchelte vor sich hin, Lungenkarzinom, ein armes Häufchen Elend. Dem unbändigen Zigarettenkonsum über eine Zeitspanne von fünfzig Jahren geschuldet, hatte der Großvater die letzten sieben Monate oft vor Schmerzen schreiend gelitten.

Minutenlang starrte Milo auf die Szenerie, ein Stillleben gemacht für ein Ölgemälde aus Barockzeiten. Der Sterbende vor den Beobachtern, die sich alle dessen Tod wünschten, einerseits, um das physische Leiden des Kranken zu beenden, andererseits, um dem psychischen Leiden anderer Einhalt zu gebieten. Milo wusste diesen Moment nicht einzuordnen. Sollte er froh sein, dass Großvater bald vom irdischen Leiden erlöst sein würde? Sollte er traurig sein Großvaters Abschieds wegen? Dieser hatte sich um Milo kaum gekümmert, konnte mit kleinen Kindern sowieso nichts anfangen und war auch fast nie zu Hause gewesen.

Milo beschloss, das an diesem Tag Gesehene und Gefühlte als erste Lektion Gottes zu deuten, der ihm zeigen wollte, dass das Leben unweigerlich mit dem Tod Hand in Hand ging, dass man vom Tage der Geburt an stets den Tod vor Augen hatte und sich nie sicher sein durfte, am nächsten Tag noch zu leben.

Aufprall

Milo hatte schon immer den Verdacht, dass sein Dasein auf ungewöhnlichen Fakten basierte. Von Kindheit an machte sich ein Gefühl in seiner Magengrube bemerkbar, ein wohliges Gefühl voll Wärme und Sehnsucht nach Abermillionen von Kilometern entfernten Orten. Er vermochte es lange nicht deuten, dann aber war eine Phase seines Lebens gekommen, er wird mitten in der Pubertät gesteckt sein, als Milo begann es zu verstehen.

Es gab ein Foto von ihm, auf dem er, ein oder zwei Jahre alt, wie vom Himmel heruntergefallen, herausgeputzt und reingestopft in ein hellblaues Wollhöschen, ummantelt von einem hellblauen Wolljäckchen in der staubigen Straße vor dem Einfamilienhaus stand. Die Mutter hätte gewollt, dass das Jäckchen ihr Werk gewesen wäre, in der familieneigenen Strickerei gefertigt.

Dieses Foto leitete Milo zur Einsicht, zur Weissagung, ja hin zum Bekenntnis seiner Herkunft. Milo wusste von damals an, dass er nicht wie alle anderen Menschen, die er kannte und die je auf dem Planeten Erde gelebt hatten, auf übliche und herkömmliche Art und Weise geboren wurde. Seine Existenz musste er einer gänzlich anderen Entstehung verdanken, denn er wurde geschaffen, um anders zu sein, von wem auch immer.

Alles machte nun für Milo Sinn, all seine Erlebnisse der Kindheit und der Jugend. Was immer ihm widerfuhr, konnte diese Besonderheit erklären: Milo war vom Himmel gefallen!

An dem Tag, an dem das älteste Foto geschossen wurde, auf dem Milo zu sehen war, an dem Tag war er vom Himmel gefallen, just in dem Augenblick, als seine Mutter in der Einfahrt zum Hof stand. Es geschah ohne großes Aufsehen, ohne Tamtam und Getöse, ohne Vorwarnung. Die Mutter stand in der Einfahrt, zuerst alleine, und plötzlich war da in der nächsten Sekunde ein kleines Kind neben ihr. Sie hatte es von keiner Richtung kommen gesehen, es war einfach da! Und Milos Mutter stufte dies als nicht ungewöhnlich ein, kein Anflug von ,Oooh!‘ oder ,Das gibt es ja nicht!‘. Für sie war es der ganz normale Wahnsinn von Familiennachwuchs. Milo war also vom Himmel gefallen, stand plötzlich neben seiner Mutter. Er trug ein hellblaues Jäckchen aus Schafwolle, dazu eine hellblaue Hose aus Schafwolle und eine Haube, möglicherweise auch aus Schafwolle, ziemlich sicher sogar aus Schafwolle. Etwa zwei Sekunden nach dem Aufprall auf der Erde, der sich für Milo gar nicht nach Aufprall angefühlt hatte, denn er stand gegen alle Gesetze der Physik ruhig und sicher auf seinen kurzen Beinchen, spürte er Mutters Hand an der seinen. Sie tat, als ob nichts Außergewöhnliches passiert wäre, und stand in der Einfahrt Hand in Hand mit einem kleinen Buben, den sie bis vor zwei Sekunden noch nicht gekannt hatte, jetzt aber glaubte, ihn schon seit neun Monaten vor dessen Geburt zu kennen.

Die schlüssigste Erklärung für all das, was Milo widerfahren ist, was aus ihm wurde, wie er war und welche Einschränkungen und auch außergewöhnliche Fähigkeiten er hatte, war schlicht und einfach die Tatsache, dass er vom Himmel gefallen war. Es konnte gar nicht anders gewesen sein. Hinzu kam noch, Milo fuhr dieser Gedanke blitzartig in den Sinn, dass es noch einen weiteren, absichernden Hinweis gab, der nun aber auch wirklich alle Zweifel aus dem Weg räumen musste. Milos Mutter hatte ihn abends, wenn es an der Zeit war, ins Bett zu kriechen und er dann umhüllt von weichen Daunendecken und bereit für das Land der Träume war, nach einer kurzen Gute-Nacht-Geschichte immer ermuntert, ja fast aufgefordert, die Schäfchen am Himmel zu zählen. Milo hatte nie den Sinn dieser mathematischen Handlung verstanden, hatte auch nie im Bett liegend Schäfchen am Himmel gesehen, da ja der Plafond und darüber auch noch das Dach des Hauses die Sicht auf den Himmel verbaute. Wozu also Mutters Aufforderung? Hatte sie etwa von ihrem Zimmer freie Sicht auf den Himmel? Als Milo an dem Tag, nachdem er zum ersten Mal Schäfchen hätte zählen sollen, einen Kontrollgang in das Schlafzimmer seiner Eltern machte, musste er sich selbst diese Frage mit einem klaren Nein beantworten.

Allem Zweifel zum Trotz folgte Milo aber immer dem Geheiß der Mutter und versuchte, inständig mit geschlossenen Augen irgendwo Schäfchen zu entdecken. Die Suche war an keinem Abend seines Lebens erfolgreich, Milo aber klopfte sich gratulierend auf die Schulter und tat dies als eine barmherzige Tat ab, um seiner Mutter ihren Wunsch zu erfüllen. Sollte sie doch ihren Frieden haben. Milo aber war die Aufforderung seiner Mutter verdächtig vorgekommen. Schäfchen zählen, warum sollte er das bloß tun? Lange nach dem ersten gescheiterten Zählversuch schoss ihm die Erklärung in den Kopf. Seine Mutter wusste, dass es im Himmel Schäfchen gab, woher auch immer ihr Wissen stammte, und Müttern können Kinder vertrauen. Also nahm Milo diese These als unumstößlich und leitete daraus den allzeit gültigen Beweis ab, dass er einst vom Himmel gefallen war, schließlich kam er ja in ein Wolljäckchen gekleidet auf der Erde an. Und dieses Jäckchen war aus Schafwolle!

Da Schafe im Himmel wohnten und daher Geschöpfe des Himmels waren, musste Milo selbst auch ein Geschöpf des Himmels sein, zumal er ja auch von dort gefallen war. Milo war ein kosmisches Kind!

Jahrelang hatte Milo an dieser doch recht schlüssigen Ableitung seiner Herkunft gezweifelt, aber sie schien der Wahrheit zu entsprechen, da kein anderer Mensch oder keine Beobachtungen ihm je vom Gegenteil überzeugen vermochten. Bestärkt hatte Milo auch Mutters Reaktion, kurz nach seinem Aufprall auf der Erde von ihm ein Foto zu schießen. Sie hatte ohne zu zögern in ihre Handtasche gegriffen, den Fotoapparat herausgezogen, ihn auf die kaum befahrene Straße gestellt, die unerwartete Ankunft ihres Sohnes auf Filmspule gemeißelt und für die Ewigkeit festgehalten. So etwas machte man nur, wenn etwas Absurdes, Außergewöhnliches, absolut Unerwartetes passierte, nicht aber während eines gewöhnlichen Spaziergangs.

Hinzu kam noch ein Hinweis aus der Bevölkerung, den Milo Jahre später, als er mit Freunden Fußball spielte, aufschnappen konnte. Einer seiner Freunde fragte Milo, ob es denn stimmte, dass er von seinen Eltern adoptiert wurde. Der Freund hätte am Tag davor ein Gespräch seiner Eltern belauscht und dies vernommen.

Als Milo das hörte, fiel er aus allen Wolken. Wieder einmal. Das war nun der letzte fehlende Baustein im fast fertiggestellten Puzzle der Ursachenforschung seiner Herkunft. Er war ein Adoptivkind! Milo hopste umher vor Freude, ließ es allen anmerken, dass er ein immaterielles Geschenk erhalten hatte, auf das er lebenslang schon warten musste. Er wurde von seinen Eltern adoptiert! Zu Hause angekommen, wollte Milo seine Erkenntnis sofort Vater und Mutter mitteilen, hielt sich dann aber doch zurück, denn er wollte sehen, ob, wann und wie sie ihm die Tatsache, dass er ein Adoptivkind war, beichten würden. Milo musste noch sehr lange auf einen offiziellen Beweis warten, und dieser kam nicht von seinen Eltern selbst, sondern von einer Adoptionsurkunde, die er Jahre später in einer verstaubten Dokumentenmappe finden konnte.

Mit seinen Eltern hatte Milo nie darüber gesprochen, auch nicht nach dem Fund der Urkunde. Er wollte sie nicht verletzen, keine alten Wunden aufbrechen, denn für viele Adoptivkinder dieser Erde war die Nachricht, einst adoptiert worden zu sein, eine Schreckensnachricht, ein Stoß in unsichere Zeiten, verbunden mit der Suche nach Identität und Herkunft. Nicht aber für Milo. Er sah sich als glücklichstes Kind der Welt, das nun den endgültigen Beweis erfahren durfte, vom Himmel gefallen zu sein. Und wer konnte das von sich schon behaupten!

Milo beschloss, sein Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, sollte er seine letzte Ruhestatt in der Erde finden, oder aber mit in die Urne, sollte er bei eintausendzweihundert Grad Celsius Abschied von irdischen Gelüsten feiern. Es hieß, dass jeder Mensch mindestens ein Geheimnis auf ewig für sich behalten müsse, um seinen Frieden und die ewige Ruhe zu finden. Aber wollte Milo denn ewige Ruhe finden? Diese Frage wühlte ihn auf. Ewige Ruhe, das klang pathetisch, mystisch und für ihn auch etwas fragwürdig. Es klang endgültig, jeder Aussicht auf noch ein klitzekleines Quäntchen Spaß nach dem Tode beraubt und …. wirklich beschissen. Wer will schon ewige Ruhe. Aber, Milo dachte an seinen Großvater, der dahinröchelnd die letzten Wochen, gar Monate im Bett verbringend musste, versorgt von seiner Frau, die ihn hasste, bemitleidet von seiner Tochter, die nie eine enge Bindung zu ihm aufbauen konnte, ignoriert von seinem Schwiegersohn, dem er völlig wurscht gewesen war, und unverstanden angestarrt von seinem Enkelsohn, der damals noch zu jung gewesen war, um den Sinn des Lebens zu verstehen. Sein Großvater musste sich wohl die ewige Ruhe gewünscht haben, damals, am Ende seiner Kräfte. Ja, es ging um die Kräfte, denn Menschen, die ihre Kräfte noch nicht gänzlich verlassen hatten, würden sich wohl nie die ewige Ruhe wünschen.

Also beschloss Milo, niemals, aber auch wirklich niemals die ewige Ruhe zu suchen, und dabei wird es auch bis zu seinem Tode geblieben sein.

Fügung des Schicksals

Da stand er nun, der seiner Mutter in den Schoß gefallene Bub. Eszter nahm ihn an der Hand und ging langsamen Schritts zurück ins Haus, zeigte Milo alle Zimmer, Bad und Klo, die Speisekammer und den Keller, damit er sich sogleich alles einprägen könne. Außer ihnen war niemand daheim. Ehemann war zur Arbeit, Mutters Mutter einkaufen, und Mutters Vater war, der Vater war – kurzes Innehalten – der Vater war weiß Gott wo. Milo wurde auf den Küchentisch gesetzt und bekam ein Glas Milch in die Hand, das artig in einem Satz ausgetrunken wurde.

Welch glückliche Fügung des Schicksals, dachte Eszter. So ersparte sie sich die ersten eineinhalb Jahre der Aufzucht und Hege des Nachwuchses, was ja wohlweislich die schwierigste Zeit war, voller Schlafentzug, wenn es Eltern ernst und gut meinten, eineinhalb Jahre des Kompostierens von Scheiße und Urin, eineinhalb Jahre Mühsal und Plage.

Milo saß vor seiner Mutter und grinste wie von einem anderen Stern. Vermutlich hatte er schon damals verstanden, dass sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen war, seine Adoption.

„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du dich für eine Adoption angemeldet hast?“, fragte Ernö seine Frau, die ihm Milo voller Stolz entgegenhielt, als er von der Arbeit heimgekommen das Haus betrat. Eszter rang nach erklärenden Worten, versuchte ihren Mann zu beruhigen.

„Ich beschloss, das für mich alleine zu organisieren, da du vielleicht etwas dagegen haben könntest.“

„Mag schon sein, aber das ist Überrumpelung.“

„Sieh ihn doch an, den Wonnebrocken!“

Sie grinste übers ganze Gesicht, war voller Stolz und Freude auf zukünftige Zeiten mit ihrer nun kompletten Familie. So hatte sie sich ihr Leben gewünscht, mit Mann und Kind in trauter Dreisamkeit und Glück. Wäre da nicht ein Gedanke, eine Befürchtung, die Milos Mutter sauer aufstieß. Befürchtungen hatten schon immer ihr Leben geprägt, sie war die Verkörperung von bis ins Tiefste ihres Leibes kriechendem Pessimismus. Die ständige Angst an all die möglichen schiefgehenden Lebenswege zwang sie seit dem prägenden Ereignis, da sie als junges Mädchen erleben musste, wie ihre Mutter deren Ehemann fast erstochen hätte, in ein Leben, das sie nicht gewählt hatte. Wann immer es Entscheidungen gegeben hatte, und deren gab es naturgemäß viele, hatte sie sich schon auf dem absteigenden Ast, auf dem Wege des Untergangs gesehen. Menschen hatten es den Tieren voraus, in die Zukunft sehen und denken zu können. Lebensplanung und an Gott oder andere Mächte gerichtete Wünsche unterschieden Menschen von Tieren. Wenn aber, wie in Eszters Fall, alle Gedanken in eine düstere und finstere Richtung zielten, in den Hades eines Menschenlebens, so wünschte man sich ein Tier zu sein. Tiere planten nicht, freuten sich nicht auf die Zukunft, fürchteten sich aber auch nicht vor der Zukunft. Sie lebten im Hier und Jetzt und versuchten durch meist instinktive Handlungen ihre eigene und die Existenz des Nachwuchses zu sichern. Da hatte die Evolution keinen Platz vorgesehen für Sorgen um unsichere Zeiten und Zeiten waren nie sicher gewesen. In jedem Augenblick konnte etwas Schlimmes passieren, konnte man an den Rand seiner Existenz gedrängt werden oder sein Leben lassen. Der Evolution war das völlig egal gewesen, denn sie dachte kollektiv kommunistisch. Individuen spielten in ihr keine Rolle, einzig die Gesamtheit einer Spezies oder Art war am Leben zu erhalten oder besser zu vermehren. Einzelschicksale waren durch die Evolution für null und nichtig erklärt worden. Starb ein Geschöpf, ging das Leben der anderen in der nächsten Sekunde weiter, so als ob nichts geschehen wäre.

Nicht aber so der Homo sapiens, denn dieser musste immer planen, sich Sorgen machen, sich freuen oder andere evolutionär unnütze Emotionen spüren. Und wenn ein Individuum das Pech hatte, ein Pessimist zu sein und immer das Schlimmste annehmen zu müssen, hatte es die Arschkarte gezogen. Zugegeben, jeder war seines Glückes oder Unglückes Schmied, jeder war grundsätzlich mit der Fähigkeit ausgestattet, sein Leben zu ändern und alles daran setzen zu können, um des eigenen Weges Richtung zu steuern, jedoch sind nicht alle Menschen dazu in selbem Maße fähig. Es war auch immer eine Frage der Genetik gewesen. Glücklich, wer positive, gesunde und stärkende Eigenschaften mit auf den Weg bekommen hatte. Unglücklich und verdammt, wer die vernichtenden Eigenschaften vererbt bekommen hatte, jene Eigenschaften, die das Leben schwer machten, seelisch, geistig oder körperlich.

Eszter war eine seelische Veranlagung der letzten Kategorie, eine Frau, die die Depression ihres Vaters in sich trug. Dieser war immer dem Kartenspiel verfallen gewesen, und das in einer zerstörerischen Art, die seinen Depressionen geschuldet war. Nur durch die ständig am Leben erhaltene Hoffnung auf Besseres hatte er sich selbst am Leben erhalten können, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die depressive Kunst der Selbstverneinung war die Prämisse von Milos Großvater, obgleich dies ein Todesurteil für die Familie gewesen war. Er konnte nicht raus aus seinem seelischen Korsett, wusste sich selbst nicht zu helfen und auch nicht bei anderen Hilfe zu suchen. Seine Frau hatte in den ersten Jahren der Gemeinsamkeit unzählige Versuche gestartet, ihn aus seiner Bredouille zu ziehen, ihm seelischen Beistand zu leisten, hatte es dann aber aufgegeben. Zu viel Kraft hatte ihr all das gekostet, Kraft, die sie für Anderes gebraucht hatte, für die Aufzucht ihrer Tochter, für familienerhaltende Maßnahmen. Sie hatte ihren Mann schlussendlich als den akzeptiert, der er in seinem Innersten auch war: ein Verlierer, ein Schwächling, ein depressiver Familienvater, der keiner seiner Pflichten nachkommen konnte.

All das hatte Eszter von ihm vererbt bekommen. Es war ein trauriges Vermächtnis, mit dem sie bis zu ihrem Tode nicht klarkommen sollte.

Eszter hielt Milo ihrem Mann vors Gesicht. Ein Bub, wie er im Buche stand, der endlich eine lange und schwierige Phase im Leben der Familie beenden konnte. Milo war der vom Himmel Gesandte, der zur Rettung der Familie auf die Erde gedonnerte.

Jahre später erfuhr Milo, dass es bereits vor seiner Ankunft ein Kind gegeben hatte. Ein Junge, der auf natürliche Weise ins Leben der Familie treten hätte sollen, wäre da nicht die besorgniserregende Lage seines Körpers im Leib der Mutter gewesen. Ärzte im Krankenhaus hatten zu spät bemerkt, dass sich die Nabelschnur um den Hals des Winzlings gewickelt hatte und die Luftzufuhr während des Geburtsvorgangs abschnürte. Mit blauem Kopf fuhr das Kind aus dem Körper der Mutter, Ärzte und Krankenschwestern versuchten nervös und mit zittrigen Händen das Leben des Neugeborenen, das an einem dünnen Faden hing, der sich Nabelschnur nannte, noch zu retten. Vergebens. Minuten nach der Geburt starb das Kind. Hätte es überlebt, wäre es wohl bis zu seinem Tode auf fremde Hilfe angewiesen gewesen. So gesehen ein Glücksfall, hatte Milos Großmutter gedacht, denn sie hatte immer das leidvolle Leben ihres Enkelsohnes und auch das ihrer Tochter vor Augen gehabt. Und es müsse ja was Besseres nachkommen, Gott konnte diese Familie nicht im Stich lassen.

Wie gebeten, fiel ihnen einige Jahre später Milo in den Schoß, ein unerwartetes Wunschkind. Ernö war mit der Situation augenscheinlich unzufrieden. Es stieß ihm gegen den Sinn, dass er in die Ankunft des Nachwuchses überhaupt nicht involviert und eingebunden war, ja im Vorfeld gar nicht informiert wurde. Er kam zu seinem Sohn wie die Jungfrau zum Kinde, war vor gegebene Tatsachen gestellt und anfänglich überfordert gewesen.

Wie sollte er das akzeptieren können? Seine Frau hatte, in diesem Glauben wurde er durch ihre Schilderung gelassen, einen Adoptionsprozess ohne seine Zustimmung eingeleitet, und nun lag das Kind vor ihm. Sprachlos glücklich Milos Mutter, sprachlos erbost Milos Vater. Irgendwann würden sich die beiden Gefühlswelten der Eltern schon vermengen und ein positives Gefühl in ihnen erzeugen können, hoffte Milo, der gerade in den Armen der Mutter furzte.

Veröffentlichung

Wochen vergingen und Ernö hatte begonnen, sich mit seiner unerwarteten Rolle als Kindsvater anzufreunden, Marika glaubte ihrer Tochter aber kein Wort. Milos Großmutter war eine Frau mit einer Schlauheit ausgestattet, wie man sie in einfachen dörflichen Gesellschaften nicht so leicht finden konnte. Sie war immer skeptisch, belesen und hinterfragte generell zuerst alles Neue, was ihr vor Ohren und Augen geworfen wurde. Dies war grundsätzlich eine löbliche und tugendhafte Eigenschaft, doch manchmal wurde sie ihr zum Verhängnis, und das wusste die Frau, konnte aber nie über ihren Schatten springen. Sie misstraute generell jeder und jedem.