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Ein Mordsklescher in der Sonnwendnacht und Stunden später sieht sich das Landeskriminalamt Graz mit einem Fall konfrontiert, der Rätsel aufgibt, denn der betrunkene Brunner Luis wird mitten auf der Leitenbacher Kreisverkehrsinsel auf einer nackten Frauenleiche vorgefunden. Das Ermittlungsteam unter der Leitung von Chefinspektorin Spüringer sieht sich im Sumpf des Dorflebens mühevoll dahinwatend, bis der ansässige Pfarrer dienliche Hinweise gibt für die fast lückenlose Aufklärung. Auf der Alm, da gibt's keine Sünd', in der südoststeirischen Hügellandschaft hingegen schon.
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Seitenzahl: 296
Veröffentlichungsjahr: 2022
Ein Mordsklescher in der Sonnwendnacht und Stunden später sieht sich das Landeskriminalamt Graz mit einem Fall konfrontiert, der Rätsel aufgibt, denn der betrunkene Brunner Luis wird mitten auf der Leitenbacher Kreisverkehrsinsel auf einer nackten Frauenleiche vorgefunden. Das Ermittlungsteam unter der Leitung von Chefinspektorin Spüringer sieht sich im Sumpf des Dorflebens mühevoll dahinwatend, bis der ansässige Pfarrer dienliche Hinweise gibt für die fast lückenlose Aufklärung. Auf der Alm, da gibt’s keine Sünd‘, in der südoststeirischen Hügellandschaft hingegen schon.
Hannes Bachkönig
Der Kreis der Unseligen
Roman
© 2022, Hannes Bachkönig
Umschlag, Illustration: Hannes Bachkönig
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN Paperback: 978-3-347-54669-1
ISBN Hardcover: 978-3-347-54672-1
ISBN E-book: 978-3-347-54673-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
2
21. Juni 2021, 05:32. Die Sonne erhebt sich langsam über dem von sanften Hügeln umsäumten Leitenbach. Die Kirchturmspitze hell erleuchtet. Was gäbe es Schöneres für den Brunner Luis, als an so einem wundervollen Tag, dem längsten des Jahres, aufzuwachen. Er hat sich noch nie darüber Gedanken gemacht, dass diese Floskel ja in sich ein Widerspruch ist. Denn in allen Lehrbüchern stand schon immer geschrieben, dass der Tag stets, und nun auch wirklich stets gleich lang ist, wurscht ob Winter, Frühling, Herbst oder Sommer. Wieso soll nun gerade dieser heutige 21. Juni der längste Tag des Jahres sein. Aber den Brunner Luis juckt die Auflösung dieses Rätsels in diesem Augenblick nicht die Bohne. Er kommt langsam zu sich, vernimmt die Helligkeit des anbrechenden Tages durch die noch geschlossenen Augenlider und versucht seine Gedanken zu ordnen, ja gar seine ganze Seele, die sich heute seltsamerweise in Unordnung befindet.
Der Brunner sollte die Situation zur Genüge kennen, das Aufwachen nach durchzechter Nacht, ein Brummen im Schädel und die Schwere auf den Augen. Er ist noch nie dem Alkohol abgeneigt gewesen. Manche seiner angeblich ja so guten Freunde behaupten, der Luis hätte schon seit Geburt getrunken. Obacht, getrunken wird er schon haben seit seiner Geburt, der Brunner Luis. Denn sonst wäre er nicht schon dreiundvierzig Jahre alt geworden. Aber halt, es gilt als allgemeines Gedankengut, dass, wenn von jemandem gesagt wird, der trinkt, dieser jemand eben keine Muttermilch, Wasser oder anderes derart grausliches in sich gießt, sondern eben Niedrig- oder Hochprozentiges. Und ein kleiner Korn Wahrheit wird schon stecken in der Behauptung von den ach so guten Freunden des Brunner Luis. Weit weg von der Stunde seiner Geburt wird’s nicht gewesen sein, als er angefangen hat zu trinken, also wirklich trinken. Er hat es ja nie leicht gehabt im Leben. Erinnern kann sich der Luis an seine Eltern nicht, denn der Vater bekam kalte Füße und ging stiften, als dieser die unfrohe Botschaft vernahm, dass dessen Freundin, dem Brunner Luis seine Mutter, von ihm schwanger war. So ist der Luis schon bei seiner Geburt praktisch Halbwaise geworden und wurde dann praktisch Vollwaise im Alter von drei Wochen, denn seiner Mutter waren es und er zu viel. Sie schaffte es nicht, aus der Geburtsdepression samt Kind rauszukommen und legte den Luis eingewickelt in ein schwarzes Tuch eines Nachts vor die Tür des Bezirkskrankenhauses. Sie warf ihm, dem kleinen Buben im Tuch nichts vor. Sie beklagte sich auch nicht bei ihm oder schob ihm gar die Schuld in die Schuhe, die er noch gar nie angehabt hatte, dass er ihr Leben versaute. Obwohl, gedacht hatte sie das schon des Öfteren und legte ihn daher vorsichtshalber vor das Krankenhaus, bevor noch Schlimmeres passieren sollte.
Die werden sich schon um den Buben kümmern, wird sie gehofft haben. Und da hatte sie gar nicht so unrecht, zum Glück für den Brunner Luis. Aber der Start in sein Leben war nicht gerade kommod, obwohl er ja von all dem gar nichts mitbekommen hatte, der arme Fratz. Die Ärzte und Schwestern haben sich sogleich um das Kind gekümmert, nachdem sie das schwarze Bündel frühmorgens an einem seltsamerweise ebenfalls 21. Juni gefunden hatten. Er war pumperlg‘sund und gut genährt, da konnte man seiner Mutter nichts vorwerfen. Aber dass der Luis nun ohne sie dastand, besser gesagt dalag in seinen Tüchern, war nun doch ein hartes Los. Obwohl die Behörden alles in die Wege leiteten, um dem Buben gute Eltern zusprechen zu können, sei es durch Pflegschaft oder Adoption, war dem Brunner Luis sein frühester Lebensweg mehr beschwerlich als angenehm. Er wurde alsdann in ein Heim gesteckt, denn nicht ein Ehepaar hatte sich für die Elternschaft beworben. So blieb dem Kind nichts anderes übrig, als unter ständiger Aufsicht und Obacht aufzuwachsen. Und da kommt einem die Drohung in den Sinn, dass ein Kind in ein Heim gesteckt würde, wenn es denn nicht stante pede brav sein sollte. Hätte der Brunner Luis in den Jahren seiner Kindheit von diesem blöden Spruch gewusst, er früge sich wohl jeden Tag nach dem Aufwachen, was er denn angestellt hätte, um so elendig bestraft worden zu sein. So aber wuchs er mit allen Unzulänglichkeiten auf, die ein Leben im Heim mit sich bringen konnte, und musste schauen, wie er so halbwegs glimpflich durch die Jahre seiner Kindheit und Jugendzeit schlittern mochte.
Dann kam das Trinken in sein Leben, das manche schon seit seiner Geburt beobachtet haben wollen. Und aus dem Trinken wurde ein Saufen und der Brunner Luis kam nicht mehr raus aus der Bredouille. Geendet hat all das schlussendlich in seiner Frühpension, die er meist im Gasthaus oder im Aixam verbracht hat bis zum heutigen Tag.
Und weil wir schon am heutigen Tag angelangt sind: Der Brunner Luis hat noch immer nicht seine Augen aufmachen können, denn eine bedeutungsschwangere Schwere liegt auf ihnen. Langsam beginnen sich seine Körpersäfte zu sammeln und er verspürt Schmerz, einen eigenartigen, allgemeinen Leibes- und Gemütsschmerz, der ihn an den ersten Bewegungen an diesem heutigen Tag hindert. Seltsamerweise glaubt er Stimmen und fremdartige Töne zu vernehmen, die aber in seinem Bett gar unangebracht sind. Ein Raunen macht sich breit und hektisches Treiben von Menschen um ihn herum. Der Luis glaubt noch zu träumen, aber dafür scheint ihm das alles doch etwas zu real zu sein, zu spürbar und vor allem der Schmerz, der nun noch heftiger auf ihn einschlägt.
„Bleiben’s liegen, wir kümmern uns um Sie!“, glaubt der Brunner Luis jemanden zu hören.
Geht das ihn an? Wer sind all die Leute hier in seinem Schlafzimmer?
Endlich schafft er es, die Augen zu öffnen. Das Licht der Morgensonne blendet, aber er muss jetzt endlich sehen, was da um ihn herum vor sich geht. Großer Aufruhr scheint von der Situation Macht zu ergreifen. Seltsame, in rot-weiße Gewänder gesteckte Menschen huschen vor blau blinkenden Lichtern umher und verstreuen Hektik. Der Luis sieht plötzlich zwei Augenpaare unmittelbar vor seinem Gesicht auftauchen, die einander zwei Sekunden lang fragend anblicken und dann wieder auf ihn starren. Eine Taschenlampe taucht wie aus dem Nichts auf und leuchtet dem Luis jäh in die Pupillen.
„Also nüchtern ist der nicht“, sagt einer der rot-weißen Leute.
Wieso sind die alle in meinem Schlafzimmer, denkt sich der Brunner Luis und versucht den Kopf zu drehen, um mehr von dem Treiben mitzubekommen. Ein stechender Schmerz aber verurteilt den Versuch zum Scheitern.
„Da kommt’s her mit der Bahre!“, schreit einer der Leute.
Jetzt wird’s dem Luis ein bisserl Angst und Bang, trotz seiner noch in den Adern fließenden Promille an Restalkohol. Oder vielleicht gerade wegen der Promille.
Ein sich augenscheinlich als Polizist ausgebender Mann erscheint plötzlich in seinem Blickfeld und da sind noch zwei, drei Außerirdische, reingestülpt in Ganzkörper-kondome, wie sie der Luis aus Filmen kennt, wo es um Seuchenausbrüche geht. So, als ob er kontaminiert wäre mit irgendwas Hochansteckendem.
„Könnt’s den bitte endlich mal wegschaffen? Der muss ins Spital und dann zur Vernehmung.“
Ein halbwegs vernünftig gekleideter Mann beugt sich runter zum Brunner Luis, blickt ihm einige Sekunden ins Gesicht und wird von einer Frau mit ernster Miene zur Seite geschoben.
„Gehen’s mal weg und behindern’s nicht die Tatortgeschehnisse. Die Spurensicherung muss ihren Job machen.“
Na, die forsche Dame fährt aber ein Programm, denkt sich der Luis noch, bevor ihm wieder der Schmerz mit 9 in der Skala zwischen 1 und 10 reinfährt. Er beginnt zu stöhnen und zu schreien, will sich aufrichten, wird aber von den Rot-Weißen nach unten gedrückt.
„Bleiben’s liegen, ist zu Ihrem Besten.“
Während des Runterdrückens spürt der Luis etwas Weiches, Sanftes, ja direkt Gemütliches unter ihm, so als ob er sich auf eine oberflächenbehandelte Luftmatratze legen würde. Er will sich aufstützen und bemerkt plötzlich, dass seine Hände voller Blut sind und auch voller Erde und Gras. Wie kommt denn das Zeug in sein Bett, fragt er sich. Eine kleine Drehung nach rechts lässt ihn jäh erschrecken. Da liegt ein Körper unter ihm, nackte Haut, ebenfalls blutver-schmiert!
Der Luis schreckt hoch, doch der Schmerz zieht ihn wieder in die Ausgangsstellung, sprich liegende Position auf dem nackten Körper. Noch hat er nicht erkannt, wer sich da unter ihn hineingeschwindelt hat, aber all den Rummel um ihn herum berücksichtigend muss es ein Körper von hoher Priorität sein, denn wegen ihm verwahrlosten Frührentner werden sie nicht so ein Aufheben machen, denkt sich der Luis noch kurz, bevor er von den Rot-Weißen hochgehoben und auf eine Bahre gelegt wird.
Ein Rettungswagen schiebt rückwärts in seine Richtung. Der Luis will gerade aufschreien, um nicht Gefahr zu laufen überrollt zu werden, da bremst sich der Wagen ein. Die Bahre samt Brunner Luis, Schläuchen und Infusionsflaschen wird von hinten in den Wagen geschoben und die Klappe geht zu. Der halbwegs vernünftig gekleidete Mann pocht zweimal auf die Heckscheibe und schon geht’s los mit Getöse und Traritrara. Dem Brunner Luis wird’s schlecht von der Fahrt, aber eher doch von den noch stärker werdenden Schmerzen und dem sinkenden Blutdruck. Er kann nur noch das blaue Hinweisschild am Straßenrand sehen, dass den Weg zum Krankenhaus weist.
Weit hat er’s gebracht, denkt sich der Luis und fällt zufleiß geradewegs in Richtung Ohnmacht.
3
21. Juni 2021, 07:10. Während der Brunner Luis mit der Bahre in einen Untersuchungsraum des Bezirkskrankenhauses gebracht wird, findet die Hektik dort, wo er auf dem nackten Körper einer blonden Frau entdeckt wurde, kein Ende. Obwohl noch unchristlich frühe Tageszeit, haben sich einige Schaulustige mittlerweile um den Kreisverkehr des Dorfes versammelt, wo Sanitäter, Feuerwehrleute, Polizisten und Leute vom Landeskriminalamt wie ziel- und planlos umherrennen.
Der Kreisverkehr, auf dem sich das bunte Treiben in Allerherrgottsfrühe abspielt, ist der große Stolz des ansässigen Bürgermeisters Vinzenz Allmer, ja fast des ganzen Dorfes. Bis vor zwei Jahren waren sie nur ein kleines, unscheinbares Nest in der Südoststeiermark, hilflos verloren in einer moorigen Senke und umrahmt von zarten, unbewaldeten Hügelreihen. Schier von der Öffentlichkeit vergessen kamen sich die Leitenbacher vor, bis zu jenem Tag, da dem Bürgermeister die glorreiche Idee kam, einen Kreisverkehr am südlichen Ortsrand bauen zu lassen. Schließlich läge man damit voll im Trend und so ein Kreisverkehr gäbe ja auch was her, fand der Vinzenz. Nicht einfach war die Planung, denn wozu einen Kreisverkehr am Ortsrand bauen, wenn nur eine einzige Straße durch das Dorf führt? Den Stramec Klaus, hiesiger Standesbeamte und braver Gefolgsmann vom Allmer, hatte schlussendlich die Muse geküsst und er schlug seinem Chef vor, eine Querstraße zu bauen, von der Mülldeponie des Nachbarorts im Westen bis zur zehn Kilometer entfernten Kläranlage im Osten. Nur falls jemand fragen sollte, wieso Leitenbach denn einen Kreisverkehr bräuchte. Somit stand dem Bauvorhaben nichts mehr im Wege und es sollte ein großer Kreisverkehr werden, ein riesiger, der größte im Umkreis von hundert Kilometern, fast vergleichbar mit jenem am Pariser Triumphbogen. Na ja, fast, annähernd, so träumte jedenfalls der Allmer davon.
Bei einem geheimen Treffen zwischen ihm, dem Pfarrer Mösenrichter, dem Stramec Klaus, Volksschuldirektor Dr. Schoiswohl und dem Pfunzner Franz, der die Greisslerei mit inkludierter Trafik in Leitenbach führt, wurden bahnbrechende Entscheidungen gefällt. Da dieses Treffen im Hinterzimmer des einzigen Dorfgasthauses stattfand, konnte der Häusler Gerhard, beliebter Wirt und Gasthausbesitzer in vierter Generation, nicht außen vorgelassen werden. Auch er hatte Mitspracherecht, schließlich musste der Allmer vermeiden, dass nicht für die Ohren der Leitenbacher Ungeeignetes nach draußen dringen konnte. Er wusste, wie er Leute ins Boot nehmen musste, um seine Vorhaben durchzusetzen.
So wurde der Plan des Kreisverkehrs auf einem DIN A3-Blatt mit Bleistift zwischen ein und fünf Uhr morgens im vernebelten und alkoholdunstdurchfluteten Hinterzimmer des Kirchenwirts zu Papier gebracht. Alles war besiegelt, der Allmer hat dann noch Stillschweigen von den Beteiligten gefordert, damit kein Außenstehender reinreden konnte. Der Pfarrer gab den Segen, sprühte Weihwein aus der Kellerei eines ortsansässigen Winzers in die Gesichter der anderen und gelobte sein Schweigen. Alles kein Problem, denn offiziell wurde dieses Treffen von der Kirche als Beichte tituliert. Und da hatte Pfarrer Mösenrichter die von Gott und dem Papst auferlegte Schweigepflicht, denn die Sünden seiner Schäfchen waren nur für seine beiden Chefs zugänglich, Anwesende natürlich ausgenommen. Als der schon etwas beschwipste Pfarrer dann auch noch den Weihwein auf das Blatt Papier mit dem Bauplan verspritzen wollte, reichte es dem Allmer.
„Mösenrichter, spinnst Du? Du kannst auf das Papier ja keinen Wein schütten. Hör auf!“
Er riss den Weihbemstl, oder wie man das Ding schon nennt, dem Pfarrer aus der Hand und schlug diesem damit auf den Kopf. Alle lachten sich krumm, selbst der Pfarrer verbog sich, dass seine Stirn fast am Tisch aufschlug.
A b‘soffene G’schicht quasi, an die sich nicht alle der Anwesenden Tage später mehr erinnern konnten.
Es dauerte keine drei Monate, da war der Kreisverkehr auch schon in die Gegend gepflastert. Ohne Ansuchen beim Landesstraßenbauamt und mit gemeindeeigener Finanzierung aus dunkler Quelle versteht sich. Man wollte sich selbst ja keine Prügel vor die Füße werfen.
Zur feierlichen Eröffnung waren die oberen Zehn des Dorfes geladen. Der Allmer Vinzenz hatte die ehrenvolle Aufgabe, das Band durchzuschneiden und der Öffentlichkeit den Kreisverkehr zur gefälligen Benützung zu übergeben. Es floss wieder mal viel Alkohol, die fiktive Kapelle spielte ein paar Ständchen – der Volksschuldirektor Schoiswohl hatte sicherheitshalber einen Lautsprecher mitgenommen und fand auf YouTube dem Anlass genehme Lieder – und nach einer siebenstündigen Stehveranstaltung torkelten alle, inklusive Pfarrer, zurück in ihre Ämter und Behausungen.
Die meisten Leitenbacher fanden im Bau des Kreisverkehrs eine wohlfeile Option des Aufputzes ihrer bemitleidenswerten Ortschaft. Einzig das Fehlen der beiden Querstraßen, die erst später gebaut wurden, schürte so manchen Unmut. Schließlich sah man dem Kreisverkehr an, dass er sich ohne diese etwas deplatziert vorkam.
Und just an diesem Kreisverkehr geht’s gerade weiter lustig zu. Die Feuerwehr muss den Aixam bergen, der auf dem Dach liegend die Verkehrsinsel inkommodiert. Eine Scheibe des Wagens war zu Bruch gegangen beim Anprall an der übergroßen Hinweistafel mit dem Text ‚Das Dorf, eine Insel der Seligen‘. Und durch eben diese Scheibe wurde der Brunner Luis aus dem Wagen geschleudert und blieb mitten in der Inselbotanik verletzt liegen, und das partout auf der nackten Leiche einer jungen Frau. Insel der Unseligen würde wohl besser passen zu den Gegebenheiten des heutigen Tages.
Der Feuerwehrkran hievt gerade den ‚Porsche für Arme‘, so nennt der Brunner seinen Aixam immer liebevoll, auf die Ladefläche eines Lastwagens, als Inspektor Dulmitz seiner Chefin Spüringer tief und fragend in die Augen blickt und sie daraufhin schroff ein ‚Ach lassen’s mich doch mit ihren Anbiederungen in Frieden‘ von sich gibt.
Die Spüringer und der Dulmitz arbeiten nun schon seit zwei Monaten zusammen, aber das Paar, von dem sich die oberste Etage des LKA Graz so viel versprochen hat, kommt nicht in die Gänge. Der Dulmitz ist ganz angetan von der geschmeidigen Schönheit der Spüringer und ja, er hätte es wohl riskiert, ihr auf seine plumpe Weise den Hof zu machen und eine MeToo-Affäre vom Zaun zu brechen, wäre er bloß eine Stufe höher in der Hierarchie gestanden. So aber muss er nun schon seit zwei Monaten ihre Sticheleien ertragen und das ewige Heraushängenlassen ihrer ultrafeministischen Einstellung, die zu dem Dulmitz seinen Himmel stinkt. Heutzutage hat man’s als Mann nicht leicht, nicht zu vergleichen mit jener Zeit, als ein Kerl noch ein Kerl war. Lange ist’s her.
Bürgermeister Allmer, der vom Unfall vor fünfzehn Minuten erfahren hat, nähert sich gerade dem Kreisverkehr und stellt zu seiner Zufriedenheit fest, dass die große Werbetafel auf der Verkehrsinsel der Seligen kaum beschädigt ist, also nicht der Rede wert. Wäre ja noch schöner, wenn durch einen ang‘soffenen Trottel er auch noch in die Gemeindekasse greifen müsste. Er parkt sein Auto am Straßenrand, schüttelt den Kopf wegen der vielen Leute, die da teils emsig umherrennen und wichtigtun, teils einfach nur dastehen und sich am Anblick des tragischen Vorfalls mit ihren Handys in der Hand ergötzen. Dem Vinzenz, Bürgermeister und daher ein begehrter und oft angerufener Mann, sind diese neumodernen Smartphones ein Dorn im Auge. Diese ach so smarten Dinger machen einem Politiker das Leben meist schwieriger, als es ohnehin schon scheint. Er ist schon oft in prekäre Situationen geraten, wo irgend so ein Halblustiger glaubte, mit dem Handy mitfilmen zu müssen, als er, der Vinzenz, gerade für die Öffentlichkeit nicht geeignete Gespräche mit Entscheidungsträgern von Gemeinde, Bezirkshauptmannschaft oder Land führte. Von den SMS- oder Whatsapp-Nachrichten gar nicht zu reden. Die könnten ihm irgendwann mal zum Verhängnis werden, das ist sicher. Er wäre nicht der erste Politiker, dem Smartphones einen Strick gedreht haben.
„Schleicht’s Euch! Draht’s daham an Film, wenn’s unbedingt müsst’s!“
Die charmante Aufforderung geht an die Schaulustigen, die noch immer reihum am Kreisverkehrsrand stehen und jetzt verschreckt die Handys einstecken. Wenn der Bürgermeister zur Ordnung aufruft, reißen sich die meisten zusammen. Aber nicht jene von der anderen Fraktion, sprich den Linken, für die der Allmer sowieso noch nie was übrighatte. Links ist für ihn nur eine örtliche Richtungs- oder Lagebeschreibung. Sonst existiert links nicht für ihn, hat noch nie für ihn existiert. Und er hat ja verdammtes Glück, denn es gibt deren nicht viele in seiner Gemeinde. Zum Zählen dieser Gauner bräuchte er nur maximal fünf Hände, wenn alle Finger noch dranwären, selbstverständlich. Da ergeht es seinen Parteifreunden der Nachbargemeinden um einiges schlechter, die müssen sich jedes Mal auf Streitgespräche während der Gemeinderatssitzungen einstellen. Und die Linken, das sind ja die, die sowieso immer gegen alles von rechts Kommende sind. Kommunistenpack!
Die Spüringer und der Dulmitz beugen sich über die noch immer auf der Verkehrsinsel liegende Frauenleiche.
„Seltsam, wie sie daliegt“, meint die Frau Chefinspektor.
„So verdächtig auf die Seite gelegt und drapiert wie ein Stillleben.“
Der Dulmitz kann der Aussage seiner Chefin nicht folgen, fragt jedoch nicht nach, sondern seufzt nur leise. Die Spüringer deutet einem der Spusi-Leute herzukommen, der sogleich in seinem Ganzkörperkondom näherwatschelt.
„Haben’s kontrolliert, ob etwas unter den Fingernägeln oder im Mund steckt?“
„Ja, schon, wie immer halt. Nicht Spezielles, Erde und Gras eben, kommt vom Aufprall. Und im Mund ist nichts Verdächtiges“, hallt es gedämpft aus dem Kondom.
Die Spüringer wendet den Kopf zum Spusi-Mann.
„Und Sie meinen, dass da nicht vielleicht doch noch was zu finden ist? Hinweise auf ein Verbrechen zum Beispiel? Mir sieht das nicht gerade nach Unfallopfer aus.“
Jetzt mischt sich der Dulmitz ein, was er aber bereits Sekunden später bereuen wird.
„Na ja, die werden sich halt eine schöne Zeit miteinander im Auto gemacht haben.“
Jetzt platzt der Spüringer der Kragen.
„Sicher, als Nackter im Auto sitzen und darauf warten, bis der Angesoffene auf die Verkehrsinsel fährt! Außerdem: Haben Sie schon mal Sex in einem Aixam gehabt? Hm? Da geht sich nur ein Griff zum Beifahrer und biederes Handwerk aus, sonst nichts, Herr Kollege.“
Die unerwartete versaut-erotische Sprachwahl der Spüringer, die so gar nicht zu ihrem eleganten Äußeren passt, legt ihrer Erscheinung einen mystischen Schleier um, der auf den Dulmitz eine magische Anziehungskraft ausübt. Ihm kommen gerade seltsam schöne Gedanken in den Sinn, Kopfkino quasi, aber er wird jäh aus dem Sekundentraum gerissen.
„Was schauen’s denn jetzt so, als ob’s gerade vorm Höhepunkt wären? Es kann nur so gewesen sein, dass die Frau schon vor dem Unfall tot war, also tot und nackt im Auto gesessen oder gelegen ist. Für mich ist das ganz klar ein Verbrechen. Der, wie heißt er noch schnell, der Brunner wollte die Leiche an einen Ort bringen, wo sie niemand finden kann.“
Der Allmer konnte dem Gespräch aus der Nähe folgen und muss jetzt aber seinen Senf dazugeben.
„Also der Brunner Luis, der kann keiner Fliege was zuleide tun. Der ist zwar Alkoholiker, aber harmlos.
Verzeihung, dass ich mich einmische. Allmer, Bürger-meister.“
Er reicht der Spüringer die Hand zum Gruß, der aber verweigert wird. Nur der Dulmitz hat eine nette Geste für den Bürgermeister übrig.
„Grüß Gott, Dulmitz vom LKA Graz. Das ist Chefinspektorin Spüringer.“
Die soeben vorgestellte Dame würdigt das Kommen des Ortschefs weder mit einer Silbe noch mit einem Blick. Sie zieht sich Schutzhandschuhe über die Hände und versucht durch Wenden des Leichenkopfes Spuren von Gewaltanwendung zu finden.
Der Spusi-Mann steht noch immer daneben und versichert der Spüringer schnell, dass eh schon alle Fotos gemacht wurden vom Tatort, nur damit sie kein schlechtes Gewissen haben muss, weil sie sich an der Leiche vergeht.
Nur um etwas klarzustellen: Wenn Leute von der Spusi von ‚sich an einer Leiche vergehen‘ reden, dann meinen sie damit das Bewegen der Leiche nach Abschluss aller Erstinvestigationen wie zum Beispiel Fotos schießen, auf Fingerabdrücke untersuchen oder dergleichen.
Die Spüringer muss diese Bemerkung ja fast als Beleidigung oder Herabsetzung ihrer Fähigkeiten vorkommen, was sie sich auf keinen Fall gefallen lassen darf.
„Hören’s, Sie müssen mich nicht korrigieren. Ich weiß, was ich zu tun hab, gell.“
Der Spusi-Mann entschuldigt sich und findet das Weite. Die Spüringer erhebt sich, blickt dem Allmer schroff in die Augen und korrigiert seine Ansicht.
„Was der Autolenker mit der ganzen Sache zu tun hat, werden wir rausfinden. Überlassen’s gefälligst uns die Ermittlungen, ja.“
No, denkt sich der Bürgermeister und macht kehrt, um sich ja nicht in ein schiefes Licht zu bringen.
Der Dulmitz ruft dem Spusi-Mann noch nach, ob denn auch Proben für DNA-Analysen entnommen wurden. Ein von Weitem kommendes ‚ja‘ beruhigt ihn.
„Frau Chefinspektor, es ist jetzt alles abgeschlossen. Dann kann ja die Leiche weggebracht werden, oder? Wir sollten die ganzen Sichtschutzwände wegräumen, damit die gar nicht so lustigen Schaulustigen endlich abhauen.“
„Sagen’s doch bitte nicht immer ‚Frau Chefinspektor‘ zu mir.“
Dem Dulmitz wird spontan warm ums Herz und er erwartet das Du-Wort, doch es kommt meist anders als er denkt.
„Sagen’s einfach Frau Spüringer oder noch besser Chefin, ok?“
Langsam klärt sich die Situation auf der Verkehrsinsel und die Sanitäter schaffen die Leiche der jungen Frau in einem Stahlsarg weg. Polizei und Feuerwehr tun noch ihren Job, um dem Kreisverkehr wieder seinen Frieden und die ureigentliche Bestimmung zurückzugeben.
Die Schaulustigen sind inzwischen schon alle abgezogen, denn es gibt keine geeigneten Motive mehr für die unendlichen Weiten der sozialen Medien. Kein Blut, das in Strömen fließt. Kein Schrei vor Schmerz. Keine probennehmenden Ganzkörperkondome. Stille übernimmt die Herrschaft der Szenerie und das tut dem Dorfe wohl.
Zu allerletzt verlassen die Spüringer und der Dulmitz den Tatort. Sie mit der Hoffnung auf baldige Aufklärung des Falles, er mit der Erwartung, dass die Spüringer ihm über kurz oder lang das Du-Wort antragen wird.
4
22. Juni 2021, 09:27. Der Brunner Luis hat um Audienz bei Gott gebeten, wurde erhört und wird gerade von Engeln auf einer Bahre vor das Himmelstor geschoben. Die geflügelten Begleiter fixieren noch die Feststellbremse und robben dann arschlings ab, immer ihren Herrn huldigend.
Einsam und armselig liegt nun der Luis auf seiner Bahre und erwartet die gerechte Strafe, denn er war meist kein freundlicher und gütiger Mensch vor dem Herrn.
Das Himmelstor geht auf, der Lichtschein von dahinter wird heller und greller und endet in einem ohrenbetäubenden Knall, gefolgt von Finsternis. Anscheinend hat Gott die Schallmauer durchbrochen und das Licht ausgeschaltet.
„Verdammte Technik!“, ist aus der Ferne zu vernehmen.
Dann ein Blitzen und schließlich wohltemperiertes Licht. Eine angenehme, sonore Stimme fordert den Brunner Luis auf näherzukommen, der aber seine Hilflosigkeit kundtut, denn er läge ja auf einer Bahre. So ist es nun an Gott, den ersten Schritt zu machen. Der Luis vernimmt ein Schnaufen, wie es üblicherweise von älteren, lungenkranken Menschen zu hören ist, deren Leben dem Ende zugeht.
„Mein Sohn, ich bin nicht mehr der Jüngste. Milliarden von Jahren versuche ich nun schon was halbwegs Vernünftiges zu erschaffen. Aber kaum Fortschritte. Ach, hätte ich doch von Anfang an eine Anleitung für die Erschaffung von Euch Menschen in Händen gehabt, es wäre wohl alles um vieles einfacher gewesen.“
Der Luis weiß, wovon Gott spricht angesichts der verworrenen Begebenheit zuvor an der Kreisverkehrsinsel.
„Mein Herr, ich bin wahrlich von einfacher Natur und doch verstehe ich Eure Sorge. Mir würde desgleichen dünken. Und doch möchte ich Euch versichern, dass vieles Euch gelungen und nur manches misslungen ist. Sehet die Schönheiten der Natur, sehet die Wärme in den Herzen mancher Menschen.“
Der Luis kann nicht glauben, welche Worte da aus seinem Munde kommen. So gepflegt und mit bedachter und gewählter Wortwahl hat er in seinem Leben noch nie gesprochen, ja nie sprechen können. Seine Schulbildung, acht Jahre ohne nennenswerte Erfolge und Abschluss, hätte das nie und nimmer ermöglicht oder zugelassen. Und jetzt diese Sätze? Woher nur?
Gott fährt dem Luis in die arschkriecherischen Worte.
„Ach was, hör auf mit Deinem Gesäusel. Ich bin es leid, dass mir Menschen ständig was vorgaukeln wollen, mir versichern wollen, dass sie eh immer alles gut meinen und gottesfürchtig leben. Ihr Menschen braucht keine Furcht vor mir zu haben. Denkt nicht an mich, denkt an Euch selbst, an Eure Familien, Freunde, denkt an all die Menschen und Tiere auf Erden und macht Euch zu Untertanen der Natur, die ich für Euch geschaffen hab. Was jammert Ihr immer tagein, tagaus? Nehmt es, wie es ist. Ich hab Euch einen Rohdiamanten in die Obhut gelegt. Ihr habt ihm den Schliff gegeben und daraus gemacht, was nun vor Euch liegt. Ich übernehme keinerlei Verantwortung mehr dafür!“
Gott ist wütend.
„Wos hot‘n der?“, flüstert der Brunner Luis in sich hinein und wacht langsam aber sicher aus der Ohnmacht auf.
Zwei Menschen in weißen Mänteln stehen neben ihm und scheinen sich dafür zu interessieren, was er nun so nach dem Aufwachen machen wird. Ein paar Meter dahinter ein Polizist. Sagt der eine Weißbemäntelte zum anderen:
„Mal sehen, ob seine Erinnerung intakt ist. Der Unfall könnte eine Amnesie ausgelöst haben.“
Der Luis hat keine Ahnung, wovon der Mann in Weiß spricht. Was hat das mit dem Unfall auf sich? Wo ist er überhaupt? Er kann sich nur an Gott erinnern und an irgendeinen Lichtschalter, der nicht funktioniert hat.
Der Polizist mischt sich ein.
„Wann glauben Sie, wird er vernehmungsfähig sein?“
Die Ärzte bitten um Geduld angesichts der Umstände. Man wird erst morgen wissen, wie der Geisteszustand des Patienten sein werde. Der Polizist lässt aber nicht locker.
„Sie wissen aber schon, dass dieser Mann da in ein Verbrechen verwickelt ist, ja sogar der Hauptverdächtige ist. Alle Fakten weisen darauf hin. Oder glauben’s, dass die nackte Frauenleich zufällig unter ihm zum Liegen gekommen is‘?“
Dem Brunner Luis wird’s zu bunt und er versucht angestrengt, aber dennoch vehement seine Meinung kundzutun.
„I hob olles verstanden, und glaubt’s nit, dass i blöd bin. Wos is‘ do los? Wo bin i überhaupt? Wer hot mi doherbrocht?“
Die beiden Ärzte schauen einander verwundert, aber erfreut an, denn sie haben nicht damit gerechnet, dass der Luis kurz nach dem Unfall so hell im Kopf wäre. Spontanheilung quasi.
Der Polizist versucht den Dulmitz anzurufen und ihm die Vernehmungsfähigkeit des mutmaßlichen Mörders zu bestätigen.
„Servus Wolfgang. Du, der Brunner ist aufgewacht und der ist ziemlich hell im Kopf. Anscheinend sind die Verletzungen nicht so schlimm. Er ist vernehmungsfähig, soweit ich das beurteilen kann.“
Kurze Pause.
„Ich frag nach.“
Der Polizist legt auf, besser gesagt, er drückt auf das rote Hörersymbol seines Handys und widmet sich den Ärzten.
„Ich gehe davon aus, dass wir den Brunner bald mitnehmen können für die Vernehmung. Wann kann er abgeholt werden?“
Einer der Ärzte bittet um etwas Geduld. Man kann beim besten Willen nicht jetzt sofort sagen, wann er das Krankenhaus verlassen könne. Es müssen noch einige Untersuchungen gemacht werden und sollte sich dann herausstellen, sollte sich dann wirklich, aber auch wirklich herausstellen, dass er entlassungsfähig wäre, würde man die Polizei in aller Höflichkeit schon verständigen.
„Ich werde veranlassen, dass ein Kollege vor dem Zimmer Wache schiebt. Es besteht Fluchtgefahr.“
Auf seine Ankündigung hinaus verlässt der Polizist den Raum und der Brunner Luis lässt sich erleichtert in das Kissen fallen. Er führt sich den letzten Satz vor Augen. Es besteht Fluchtgefahr. Wieso Fluchtgefahr? Wer sollte denn fliehen wollen? Wenn sich der Luis an die Vorgänge der letzten Nacht bis in die frühen Morgenstunden wenigstens erinnern könnte. So aber tappt er im Dunkeln und hofft, dass ihn Gott wieder zu sich holen würde. Da wäre er wenigstens sicher.
5
22. Juni 2021, 16:00. Die Spüringer steht vor dem gesammelten Ermittlungsteam, um Fakten und weitere Vorgangsweise zu besprechen.
Der Dulmitz sitzt in der ersten Reihe und mustert seine Vorgesetzte von Kopf bis Fuß, besser gesagt von Brust bis Knie. Warum bloß hat sie ihm noch nicht das Du-Wort angeboten?
„Kollege Dulmitz“ - dieser verlässt auf der Stelle seine erotischen Vorstellungen und widmet sich dem Vortrag - „und ich haben das Team zusammengestellt. Wir alle haben die Aufgabe, auf schnellstem Wege den Fall zu lösen. Die Fakten sind: Auf der Kreisverkehrsinsel wurde der Aixam auf dem Dach liegend vorgefunden, ebenso der Verdächtige Alois Brunner. Berichtigung: Natürlich wurde er nicht auf dem Dach liegend, sondern einfach nur liegend und verletzt vorgefunden. Aber auf einer nackten Frauenleiche. Die Identität der Frau konnte schon festgestellt werden. Es handelt sich um die achtundzwanzigjährige Prostituierte Bredica Iliescu. Anmerkung nebenbei: Ihr Vorname ist geradezu prädestiniert für den Beruf, denn er bedeutet ‚Geliebte der Nacht‘. Mag ein Hinweis für die Ermittlungen sein. Sie ist rumänische Staatsbürgerin und lebt seit drei Jahren ohne Auffälligkeiten in Österreich, zuletzt in Feldbach. Ob sie in die eigene Tasche auf den Strich gegangen ist oder für einen Zuhälter gearbeitet hat, konnte noch nicht festgestellt werden. Es gilt als belegt, dass sie in der besagten Nacht ihrem Broterwerb nachgegangen ist.“
Ein Raunen geht durch das Team. Der Dulmitz erhebt sich mit dem Versuch einer Informationsmitteilung.
„Kurze Zusatzinfo von meiner Seite: Ich konnte ausfindig machen, dass …“
Seine Chefin fährt ihm mit tadelnder Betonung ins Wort.
„Unser Kollege wird nach Beendigung meiner Einleitung sicher ausreichend Zeit finden, um seine Ermittlungsergebnisse kundzutun.“
Deprimiert nimmt der Dulmitz wieder Platz und hofft auf eine erneute Chance, aus dem Schatten seiner Chefin treten zu können, die mit dem Vortrag fortfährt.
„Weitere Fakten: Die Frauenleiche weist auf den ersten Blick nur leichte Spuren von Gewalteinwirkung auf, es wurden keine Hinweise auf Alkohol- oder Drogenkonsum gefunden, auch nicht auf Einnahme oder Verabreichung von toxischen Stoffen. Die Todesursache ist ungeklärt, vorbehaltlich der noch ausständigen Leichenschau.“
Ein Kollege versucht sich wichtigzumachen.
„Kann man also davon ausgehen, dass es kein Delikt im Sinne des Strafgesetzbuches ist?“
Der Spüringer waren Kollegen schon immer suspekt, die sich durch Wichtigtuerei ins Zentrum bringen wollten, um die Gunst in Vorgesetzten zu erzwingen.
„Herr Kollege, wir gehen zur Zeit von rein gar nichts aus. Es liegt an uns, weitere Indizien und Hinweise zu finden, um den Fall zu lösen. Also nehmen Sie sich nicht so wichtig. Wenn Sie neue Fakten auf den Tisch legen können, dürfen Sie sich wieder melden.“
Die Spüringer hat während der Schelte den vorlauten Kollegen keines Blickes gewürdigt und kehr wieder zurück in die Normalspur.
„Der Tatort ‚Kreisverkehrsinsel‘, wenn er es denn überhaupt ist, wurde eingehend untersucht, die Arbeiten sind abgeschlossen. Die Leiche wird wie üblich einer gerichtsmedizinischen Untersuchung unterzogen, um Spuren zu finden, die uns weiterbringen. Ob die Dame kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte, wissen wir noch nicht, meiner Meinung aber schon. Es wird nach DNA-Spuren des Aixam-Lenkers an der Leiche gesucht, sowieso nach DNA-Spuren überhaupt.“
Dem Dulmitz wurde ganz anders zumute, als die Spüringer das Wort ‚Geschlechtsverkehr‘ in den Mund genommen hat. Wieder mustert er die ansehnliche Gestalt seiner Vorgesetzten und schweift gedanklich ab, bis er durch eine Aufforderung der Spüringer zurückgeholt wird.
„Kollege Dulmitz, Sie werden sich heute noch mit einem Kollegen ihrer Wahl auf die Suche machen nach Beobachtungen von Anrainern des Kreisverkehrs und sowieso generell der ganzen Leitenbacher Dorfbevölkerung. Der Vorfall ist zwar spät in der Nacht passiert, es kann aber durchaus sein, dass es Hinweise gibt, die uns weiterbringen. Vielleicht hat jemand etwas während des Ganges zum Klo beobachtet, oder es ist wer zu dieser Zeit gerade nach Hause gekommen oder hat gerade das Haus verlassen. Alles ist möglich. Also holen Sie sich wen ins Boot und grasen Sie zuerst mal die nähere Umgebung des Kreisverkehrs ab.“
Die Spüringer blickt ihrem Untertan tief in die Augen, der auf der Stelle seine Bereitschaft erklärt.
„Mach ich sofort, Frau Chefinspektor, äh, ich meine Frau Chef.“
Die Spüringer ist ein aufgeklärter Mensch, der etliche Stufen der Ausbildung durchlaufen hat und daher dem Gendern und der korrekten Ansprechweise zugetan ist. Sie fordert daher den Dulmitz durch sekundenlanges Starren auf seine Netzhaut zur Korrektur auf. Und ja, sie hat ihm direkt auf seine Netzhaut geschaut, einfach so durch Hornhaut, Linse und Glaskörper hindurch, ohne diese wichtigen Bestandteile des Auges zu würdigen, was auch Wirkung zeigt. Solches gehört heutzutage zum allgemeinen Lehrplan der Ausbildung zum Kriminalkommissar. Und die Spüringer ist gut darin, sogar verdammt gut.
„Chefin natürlich, Chefin. Alles klar, ich mach mich gleich auf die Socken.“
Die Spüringer wendet sich wieder vom Kollegen ab und beendet das Briefing mit der Aufforderung, alles Menschenmögliche für die rasche Aufklärung des Falles zu unternehmen, denn die Augen der Medien und des Ministeriums sind bereits auf das LKA gerichtet.
Der Dulmitz holt sich daraufhin den Kollegen Balzer aus den Reihen, der bei der Befragung der Leitenbacher mitmachen soll. Die beiden kennen sich schon lange und können grundsätzlich gut miteinander. Dem Dulmitz sind Investigationen mit einem männlichen Kollegen tausendmal lieber als mit einer Frau. Wenn’s mal eine Frau ist, die von der Natur nicht mit Schönheit ausgestattet wurde, ist’s ja ok, damit kann er gut umgehen, die kann er als seinesgleichen betrachten. Aber wenn er mit einer Kollegin im Dienst ist, wo er sich nur denken muss ‚olter Fuchs!‘ oder ‚bist du deppert!‘, dann wird’s haarig, denn dann kann er oft kaum einen vernünftigen Gedanken fassen, den er für die Arbeit ja eigentlich brauchen würde.
Jetzt mögen viele von ihm den Eindruck haben, dass er ein triebgesteuerter Gockel ist, der Dulmitz. Dem ist aber nicht so, also zumindest nicht ganz so, wie man sich das jetzt vorstellen würde. Etwas Trieb mag schon dahinter sein, aber der Dulmitz hat diesen bisher noch immer recht gut im Griff gehabt, den Trieb.
So also hat er sich gleich den Balzer genommen. Da kommt er gar nicht auf blöde Gedanken, die mit der Arbeit aber sowas von nichts zu tun haben und ihn ablenken. Und da darf es auch ab und zu mal passieren, dass sie bei einem oder zwei Bier zusammensitzen und Blödsinn reden. Also eigentlich darf sowas nicht während des Dienstes passieren, so die offizielle Vorgabe des LKA. Aber es kann passieren und es belebt die Kollegenschaft. Von der Obrigkeit wird es selbstverständlich nicht gerne gesehen, manchmal aber doch geduldet. Die sind ja auch nur Menschen.