Der Klang der verborgenen Räume - Felicity Whitmore - E-Book
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Der Klang der verborgenen Räume E-Book

Felicity Whitmore

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Beschreibung

Das Geheimnis von Stone Abbey Nach dem Tod ihrer Mutter erbt Nina Altmann, eine 24-jährige Konzertpianistin, Stone Abbey, einen wild-romantischen Landsitz im Herzen Englands. Doch das Erbe ist an einen Auftrag geknüpft: Nina soll die Unschuld ihrer Vorfahrin Anna Stone beweisen, die 1858 als Mörderin hingerichtet wurde. Seit Nina weiß, dass Anna ebenfalls Pianistin war, spürt sie eine sonderbare Verbindung zu ihr. Die Musik ist es schließlich, die Nina hilft, Annas Geschichte zu enthüllen. Sie stößt auf eine große Liebe, auf Intrigen und Verrat. Und auf eine einflussreiche Familie, die mit aller Macht verhindern will, dass die Wahrheit ans Licht kommt.  

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Seitenzahl: 535

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Felicity Whitmore

Der Klang der verborgenen Räume

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Für Dario

Prolog

London, Mai 1851

 

Sein dunkles Haar schimmerte im Glanz der zahlreichen Kerzen, während er sich den Weg durch ein wogendes Meer aus kostbaren Stoffen und Edelsteinen bahnte. Er sog den Duft teurer Parfums ein, der sich mit dem Geruch von Schweiß und Zigarrenrauch vermischte. Vor dem großen Kamin, der in dieser warmen Mainacht wohl nicht zum Einsatz kommen würde, saßen die Musiker des Tanzorchesters. Sie spielten gegen das Stimmengewirr aufgeregter Debütantinnen an, die sich Luft zufächelten und die Köpfe zusammensteckten. Beobachtet von ihren Müttern, die jeden Tanz und jedes Gespräch ihrer Töchter genau verfolgten.

Er spürte die Blicke der Frauen, während er durch den Saal schritt. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er einer der begehrtesten Junggesellen Londons gewesen und hatte sich vor Einladungen kaum retten können. Nach seiner Hochzeit war es ruhiger geworden, aber das störte ihn keineswegs. Er wusste, dass die Damen ihn immer noch äußerst attraktiv fanden, und genoss einen kleinen Flirt oder eine diskrete Unschicklichkeit, wenn sich die eine oder andere Dame der Gesellschaft gelegentlich dazu hinreißen ließ.

Momentan war er allerdings nicht auf der Suche nach Zerstreuung, sondern nach Sir George Gilbert Scott, dem er den Auftrag für sein Bauprojekt in Wales übertragen hatte. Das war das Angenehme an der Londoner Ballsaison. Aufwendige Reisen erübrigten sich, denn ein paar Wochen lang waren die wichtigsten Mitglieder der Gesellschaft in London versammelt. In dieser Zeit wurden die besten Geschäfte abgeschlossen.

Allmählich begannen die täglichen Bälle ihn unendlich zu langweilen, aber so erging es ihm jedes Jahr, wenn er zur Saison in London war. An den ersten Abenden machte es ihm noch Spaß, alte Bekannte und Freunde wiederzusehen, neue Kontakte zu knüpfen und mit den Damen zu flirten. Nach wenigen Tagen jedoch wiederholte sich alles. Es waren immer die gleichen Gesichter, denen er begegnete, nur die Häuser, in denen die Bälle stattfanden, unterschieden sich.

Es wurde Zeit, London wieder zu verlassen, doch zuvor hatte er noch ein paar wichtige Gespräche zu führen.

Im Vorübergehen nickte er den Damen zu und begrüßte ein paar Freunde und Geschäftspartner. Es konnte für ihn zurzeit nicht besser laufen: Er befand sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere, er hatte Erfolg bei all seinen Unternehmungen und endlich Kontakte zum Königshaus knüpfen können.

Er verließ den Ballsaal, stieg eine Treppe hinauf und betrat die lange Galerie, die zu verschiedenen kleineren Räumen führte. Gerade war er im Begriff, in den Garten zu gehen, um dort nach dem Architekten zu suchen, als er fasziniert stehen blieb.

Aus einem der Zimmer erklang eine Melodie, die ihn auf sonderbare Weise berührte. Jemand spielte Klavier. Obwohl die Tür zu dem Zimmer geschlossen war, konnte er den Zorn spüren, den der Pianist in sein Spiel legte. Die Töne wurden hart angeschlagen, fast auseinandergenommen, und zugleich lagen viel Gefühl, Verletztheit und eine gewisse Zärtlichkeit darin.

Neugierig geworden öffnete er vorsichtig die Tür. Als sein Blick auf den Flügel fiel, stutzte er. Er wusste nicht genau, warum er davon ausgegangen war, einen Mann am Klavier vorzufinden. Vielleicht weil das Spiel so aggressiv geklungen hatte.

Doch die junge Frau, die am Flügel saß, wirkte alles andere als männlich. Sein Blick glitt über die wohlgeformten Schultern, den langen Hals und das üppige Dekolleté. Eine blonde Strähne hatte sich aus ihrem Haarknoten gelöst.

Sie war vollkommen in ihr Klavierspiel versunken. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund war leicht geöffnet, und ihre Gesichtszüge wirkten völlig entspannt. Dabei strahlte sie eine Leichtigkeit aus, die in starkem Gegensatz zu ihrem zornigen Spiel stand. Ihre Finger flogen über die Tasten und entlockten dem Instrument virtuose Tonfolgen.

Er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. Erst als der letzte Ton verklungen war, sah sie auf, und ihre Blicke trafen sich. Einen Moment lang weiteten sich ihre Augen, die ihm vollkommener erschienen als die Smaragde in einem der zahlreichen Colliers seiner Ehefrau.

»Was haben Sie gespielt?« Er konnte nicht länger warten, musste ihre Stimme hören.

Sie lächelte nachdenklich und zuckte die Schultern. Alles an ihr war perfekt. Die helle reine Haut, der weibliche Körper, die schmale Taille.

Sie strich sich die Haarsträhne zurück und stand auf.

»Ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich mich selbst.« Ihre Stimme war genauso kräftig wie ihre Erscheinung. Sie hatte einen leichten, vermutlich deutschen Akzent.

»Sich selbst?«

Sie nickte.

Er trat näher an sie heran. Der Abstand zwischen ihnen war gerade noch so groß, dass es nicht anstößig war. Und doch war er ihr nah genug, um den zarten Duft von Seife und Maiglöckchen wahrzunehmen. »Und wer sind Sie?«

Sie lachte und warf ihren Kopf zurück. »Sie haben mir zugehört. Sie müssten es also wissen.«

»Ich habe so viel gehört, dass es mich verwirrt.«

»Natürlich.« Die Haarsträhne hing ihr wieder ins Gesicht. Achtlos steckte sie sie hinters Ohr. »Mein Klavierspiel ist ehrlich. Ich drücke meine Gefühle darin aus. Damit können Sie als Engländer nicht umgehen. Ich bin erst seit wenigen Wochen in Ihrem Land, aber eines habe ich seitdem gelernt: Gefühle zu zeigen, gehört nicht zu den Stärken der Engländer.«

Jetzt musste er lachen. Keine englische Dame würde ihre Gedanken so unverblümt äußern.

»Nein. Gefühle zu zeigen, ist gefährlich.«

Sie sah ihn nachdenklich an, und ihre grünen Augen erforschten sein Inneres. »Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht gefährlicher ist, es nicht zu tun.«

»Ich habe Zorn und Wut gehört. Sind Sie etwa zornig?«

»Oh ja.« Die Gelassenheit, die sie gerade noch gezeigt hatte, war mit einem Mal verschwunden. Die zarten Finger, die eben noch über die Tasten geglitten waren, ballten sich zu Fäusten. »Ich war noch nie in meinem Leben so zornig!«

Sie setzte zum Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner an, und ihre Hände fuchtelten wild in der Luft herum. Er wich ihnen geschickt aus und musste wieder lachen. Das schien ihre Wut jedoch zusätzlich anzufachen.

»Sie haben kein Recht, über mich zu lachen.« Sie neigte ihren Kopf zur Seite. »Sie wissen doch überhaupt nicht, was mich so wütend gemacht hat.«

»Sagen Sie es mir«, schlug er vor.

Sie starrte ihn kampflustig an. »Nein.«

»Dann dürfen Sie mir auch nicht böse sein, wenn ich amüsiert bin.«

Sie stand jetzt ganz dicht vor ihm. Hatte er jemals einen so vollkommenen Duft von Maiglöckchen gerochen? Winzige schwarze Sprenkel mischten sich in das leuchtende Grün ihrer Augen. Sie hielt seinem Blick stand, schlug die Augen nicht nieder, wie er es bei einer Engländerin erwartet hätte.

»Wovor haben Sie Angst?«

Einen Moment lang schien sie verwirrt. »Was meinen Sie?«

»Sie sind verletzt worden. Das haben Sie mir alles durch Ihr Klavierspiel verraten.«

»Sie haben mich belauscht. Es war nicht für Ihre Ohren bestimmt.«

Sie wandte sich ab. Mit zwei Schritten war er bei ihr, packte sie am Arm und drehte sie zu sich. Ihre Augen funkelten zornig. Ihr Gesicht war ganz nah an seinem.

»Ja, das stimmt«, sagte er leise. »Doch ich bereue es nicht, denn ich habe nie zuvor jemanden so eindringlich spielen hören wie Sie. Niemals hat mich eine Melodie so sehr berührt wie vorhin.«

Sie öffnete ihren Mund, als wollte sie etwas erwidern, schloss ihn dann aber wieder. Ihre vollen, geschwungenen Lippen schimmerten seidig.

Er wusste hinterher nicht, wie es gekommen war, ob sie sich ihm genähert hatte oder er sich ihr. Plötzlich trafen sich ihre Lippen, und es war, als beträte er eine Welt, die er zuvor nicht gekannt hatte. Er hatte schon viele Frauen geküsst, aber nichts war mit diesem Kuss vergleichbar.

Ihre Lippen waren weich und warm, sie drängten sich ihm erwartungsvoll entgegen. Dieser Kuss schmeckte nach der Virtuosität ihres Spiels, nach dem Klang der Töne, die eben noch den Raum erfüllt hatten. Er verlor jegliche Orientierung und wusste hinterher auch nicht, wie lange sie sich geküsst hatten, ob es Sekunden oder Minuten gewesen waren.

Irgendwann waren Schritte auf der Galerie zu hören und jemand lachte. In diesem Moment löste sie sich von ihm und lief zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. Dann war sie aus seinem Leben verschwunden.

Kapitel 1

Stone Abbey, Oktober 2015

 

Der Weg wurde immer mühsamer. Eigentlich müsste das Haus längst zu sehen sein. Stattdessen wurde der Wald dichter und dichter. Ninas Jeans verfing sich alle paar Meter im Dornengestrüpp. Zweimal war sie bereits über eine Wurzel am Boden gestolpert. Die schwarze Tasche rutschte ihr von der Schulter.

Nina blieb stehen und sah sich um. Nichts erinnerte daran, dass hier einmal ein gepflegter Park gewesen war. Der Weg, den sie eingeschlagen hatte, war bestenfalls als Trampelpfad zu bezeichnen.

Nina sog den Duft von Holz, Tannennadeln, Pilzen und feuchter Erde ein. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah in das tiefe Blau des Himmels, das über den Baumwipfeln aufleuchtete. Das Wetter hätte nicht besser sein können. Dazu die sanften Hügel der Cotswolds, die Dörfer mit ihren Sandsteinhäusern, die Bäche mit den kleinen Brücken, die Nina vom Zug aus gesehen hatte.

Sie riss sich vom Anblick des Himmels los und runzelte die Stirn, während sie sich langsam weiterkämpfte. Der Pfad schien ins Nirgendwo zu führen.

Doch gerade als sie beschlossen hatte, umzukehren und nach einem besseren Weg zu suchen, endete der Wald. Vor ihr lagen weite Wiesen, die sich bis in ein Tal hinunter erstreckten. Und in diesem Tal lag ein viereckiges Gebäude aus dem typischen Cotswolds-Sandstein. Nina hielt einen Moment lang den Atem an. Das also war Stone Abbey.

Dieses Haus sollte mitsamt seinen Geheimnissen nun ihr gehören. Nina musste unwillkürlich lachen, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, jemals so verzweifelt gewesen zu sein.

Und plötzlich erschien ihr alles vollkommen unwirklich. In den letzten Wochen waren die Ereignisse wie hohe Wellen über ihr zusammengeschlagen. Zuerst diese schreckliche, verhängnisvolle Nacht in Madrid, in der sie sich von Johannes’ Charme hatte blenden lassen. Wie hatte sie nur so schwach und so gemein sein können, mit dem Mann ihrer besten Freundin ins Bett zu steigen?

Danach war sie überstürzt aus Madrid abgereist, und bei ihrer Ankunft zu Hause in Dortmund hatte sie die Nachricht des Anwalts erwartet. Nina war noch so durcheinander gewesen, dass sie gar nicht richtig zugehört hatte. Erst zwei Tage später, als die Dokumente schließlich vor ihr lagen, hatte sie langsam begriffen, was der Rechtsanwalt ihr zu erklären versuchte. Sie hatte ein Haus in England geerbt, von ihrer Urgroßtante Ernestine.

Nina ließ die Tasche von der Schulter gleiten und tastete nach dem Brief, den ihr ein Angestellter der Kanzlei überreicht hatte. Nina rieb sich mit den Fingerspitzen über die Augen und schüttelte den Kopf, als sie auf die zittrige Handschrift der alten Frau blickte. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Nach all den Jahren, in denen sie sich ständig gefragt hatte, ob sie jemals Antworten auf ihre Fragen finden würde, fiel ihr ihre Familiengeschichte quasi in den Schoß. Sie strich das fliederfarbene Papier glatt und las den Inhalt, den sie bereits auswendig kannte:

Liebe Nina,

ich bin froh, dass mein Anwalt herausgefunden hat, dass ich eine Urgroßnichte in Deutschland habe. Nun ist es also so weit. Wenn Du diesen Brief liest, werde ich Stone Abbey für immer verlassen haben. Ich bemühe mich, ohne Wehmut und in Dankbarkeit Lebewohl zu sagen. Wer hat schon das Glück, sein Leben lang im selben Haus leben zu dürfen? Ich bin hier geboren und werde hier auch sterben.

Stone Abbey wird nun Dir gehören. Meine Großmutter Abigail hat in ihrem Testament bestimmt, dass das Anwesen nur an weibliche Nachkommen vererbt werden darf. Ich hoffe, dass Du Dir der Verantwortung für dieses Haus und seine Geschichte immer bewusst sein wirst.

Doch mit Stone Abbey vererbe ich Dir noch etwas anderes.

Es ist ein wohlgehütetes Geheimnis, das mich, meine Mutter und besonders meine Großmutter schwer belastet hat. Die Ereignisse liegen mittlerweile weit zurück, und doch reichen ihre Schatten bis in die Gegenwart. Damals soll meine Urgroßmutter, Anna Stone, große Schuld auf sich geladen haben. Angeblich war sie eine Mörderin, psychisch gestört und gefährlich. Meine Großmutter Abigail, Anna Stones Tochter, kannte die ganze Geschichte. Leider ist sie gestorben, als ich noch sehr klein war. Meine Mutter erzählte mir später, Abigail sei davon überzeugt gewesen, dass man ihrer Mutter Anna Stone großes Unrecht getan habe. Aber meine Mutter hat nicht gern darüber gesprochen. Ich habe bis heute den Verdacht, dass sie ebenfalls unter einer psychischen Störung gelitten hat. Auch ich selbst habe mein Leben lang Zweifel mit mir herumgetragen. Was genau hat man meiner Urgroßmutter vorgeworfen, und ist sie tatsächlich ungerecht behandelt worden? Oder war sie wirklich die wahnsinnige Mörderin, von der in Stone nur ungern gesprochen wurde? Der Name Anna Stone wurde hier nur geflüstert.

Ich hatte mir vorgenommen, Annas Geschichte auf den Grund zu gehen, aber es ist aus verschiedenen Gründen, die ich nun zutiefst bedaure, niemals dazu gekommen.

Nina, wir haben uns leider nie persönlich kennengelernt. Meine Bitte erscheint Dir vermutlich sonderbar, und doch wage ich, sie zu formulieren: Hole das nach, was ich nicht geschafft habe. Versuche, Annas Geschichte zu ergründen, damit sie, ihre Tochter Abigail, meine Mutter und auch ich in Frieden ruhen können. Die Türen von Stone Abbey stehen Dir offen. Das Haus gehört nun Dir.

In Liebe

Ernestine

Nina ließ den Brief sinken. Was genau hatte Anna Stone getan, dass es die Familie über Generationen hinweg belastete? Seit Jahren hatte sie sich immer wieder gewünscht, sie hätte ihrer Mutter all die Fragen über ihre Familie stellen können, die ihr zu spät eingefallen waren. Nina war mit acht Jahren zur Halbwaise geworden, und erst Jahre später war ihr bewusst geworden, wie wenig sie über ihre eigenen Wurzeln wusste.

Ninas Vater hatte ihr nichts über die Familie seiner Frau sagen können. Als er kurz nach dem Tod von Ninas Mutter erneut geheiratet hatte, schickte er seine Tochter auf ein Internat und bald darauf aufs Konservatorium. Heute hatte Nina kaum noch Kontakt zu ihm. Auf der Musikhochschule in Wien hatte sie Mareike kennengelernt, die bald zu einer zweiten Mutter für sie wurde.

Nina seufzte und zwang sich, nicht an Mareike und Johannes zu denken. Stattdessen ließ sie ihren Blick über das Anwesen im Tal wandern.

Das Haus war riesig. Eigentlich wirkte es eher wie ein Schloss. Doch selbst von hier oben konnte Nina den Verfall deutlich erkennen. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln, die ursprünglich weiße Farbe der Fensterrahmen war an vielen Stellen abgeblättert oder dunkel verfärbt. Efeu rankte sich an der Hauswand empor und hatte eines der Fenster im ersten Stock fast gänzlich überwuchert.

Nina ließ sich erschöpft in das kniehohe Gras fallen und streckte die Beine aus. Es kam ihr vor, als hätte man dieses Gebäude vor Jahrhunderten dort abgestellt und dann vollkommen vergessen.

Kein Rauch stieg aus den Kaminen auf, kein Fenster stand zum Lüften offen und niemand arbeitete im Garten.

»Als wäre das Haus aus einem Märchen gefallen«, murmelte Nina.

Sie blieb eine Weile im Gras sitzen und sah auf das Gebäude hinunter. Was würde sie hinter diesen Türen erwarten? Würde sie hier endlich mehr über ihre Familie erfahren? Die hohen Gräser bewegten sich sanft im Wind, Margeriten und Rosen leuchteten dazwischen auf. Sie spürte die Oktobersonne auf ihrer Haut und lauschte dem perfekten Klang der Natur, den kein Komponist besser hätte erschaffen können. Die Vögel sangen, und der Wind ließ die Blätter rauschen.

Nina stand auf und griff nach ihrer Tasche. Gut, dass sie es bald geschafft hatte, lange würde sie dieses Gewicht nicht mehr herumschleppen können. Sie hatte vom Bahnhof aus ein Taxi genommen und sich an der verfallenen West-Lodge von Stone Abbey absetzen lassen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie der Weg von dort aus noch so lange durch die Wildnis führen würde.

Nina ging den Hügel hinunter und über die ungepflegte Rasenfläche seitlich auf das Haus zu. Rechts von ihr schlängelte sich die zugewachsene Straße zum Haupteingang. Nina konnte den ehemaligen Glanz der Auffahrt erahnen, die früher einmal breit und stattlich gewesen sein musste. Jetzt hatten sich Moos, Disteln und anderes Unkraut darauf angesiedelt. Vor dem Haus standen rechts und links zwei große Vasen aus hellem Stein, die stark verwittert und am Sockel bereits beschädigt waren.

Je weiter Nina sich dem Gebäude näherte, umso mehr marode Stellen erkannte sie. Einige Ziegel waren aus der Hauswand gebrochen, eine Fensterscheibe war herausgefallen und durch ein Stück Pappe ersetzt worden.

Nina ging um das Haus herum. Als sie die Südseite erreicht hatte, blieb sie stehen. Die Fassade wurde von einem mächtigen Säulengang dominiert. Auf Höhe der ersten Etage gab es einen Vorsprung, auf dem Bäume und Sträucher wuchsen. An den Eckpavillons, die das Gebäude flankierten, wucherte Efeu.

Nina fiel der kurze Wikipedia-Eintrag ein, den sie über das Haus gefunden hatte:

Stone Abbey ist ein denkmalgeschütztes Landhaus in der Nähe von Broadway, England. Es liegt in den Cotswolds und befindet sich seit 1723 im Besitz der Familie Stone. Erbaut wurde es zwischen 1698 und 1702 von Colonel Grafford. Er verkaufte es 1723 an die Familie Stone, der es seinen heutigen Namen verdankt. Das Gebäude wurde als Wohnhaus errichtet und hat nie als Kloster fungiert. Der Name »Abbey« geht auf das Mittelalter zurück, als auf dem Gelände ein Kapuzinerkloster stand.

Schade, dachte Nina. Ein ehemaliges Kloster wäre wirklich spannend gewesen. Sie stellte sich vor, wie Mönche hier auf den Feldern gearbeitet hatten und die Wege entlanggelaufen waren. Hatte die Landschaft damals ähnlich ausgesehen? Heute, viele Jahrhunderte später, drängte sich von beiden Seiten der Wald heran. Kaum vorstellbar, dass hier einmal Kutschen gefahren waren.

Als Nina dicht vor dem Haus stand, stutzte sie. Sie hatte ein imposantes Portal erwartet. Doch es gab nur eine unscheinbare Tür, die wie ein Dienstboteneingang wirkte. Sie suchte nach dem Schlüsselbund, den der Anwalt ihr gegeben hatte, und probierte einen Schlüssel nach dem anderen.

Der vorletzte passte. Er war altmodisch und schwer. Die Tür ließ sich problemlos öffnen.

Nina betrat eine niedrige dunkle Eingangshalle, die eher an einen Kellerraum erinnerte als an den Empfangsraum eines herrschaftlichen Hauses. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Sie wartete einen Moment, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Es roch nach altem Holz, feuchten Tapeten, Büchern und Rauch.

Sie tastete sich durch den Raum und stand schon bald vor einer weiteren Tür. Nina betrat vorsichtig ein Treppenhaus. Breite, flache Stufen führten nach oben. Die aufwendigen Schnitzereien in dem dunklen Holz des Geländers deuteten auf den vergangenen Glanz des Gebäudes hin. Heute war der Läufer, der auf den Stufen lag, zerschlissen und fadenscheinig.

Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Doch hier war niemand, den sie stören konnte. Die letzte Bewohnerin des Hauses war seit Wochen tot.

Trotzdem hatte sie das Gefühl, ein Eindringling zu sein. Sie spürte deutlich ihren Herzschlag, während sie in das Haus hineinlauschte. Durch die schmutzigen Fenster auf dem Treppenabsatz über Ninas Kopf kämpften sich Sonnenstrahlen. Staubkörnchen tanzten im Licht. Nina drehte sich einmal um sich selbst. Am Fuß der Treppe lief ein Flur entlang. Aus der einen Richtung war sie gekommen. Dort lag die niedrige Eingangshalle. Auf der anderen Seite gingen verschiedene Türen ab. Nina stellte ihre Reisetasche auf der untersten Treppenstufe ab und ging dann auf eine der Türen zu.

Sie widerstand dem Drang anzuklopfen und drehte den Türknauf. Ein Knarren begleitete das Öffnen der Tür. Nina trat langsam in den Raum, als wollte sie die Geister nicht stören, die sich hier niedergelassen hatten.

Das Zimmer schien bewohnt. Ein altmodischer Röhrenfernseher stand auf einem niedrigen Eichentischchen. Ninas Blick wanderte zu dem Sessel davor. Er war mit Spitzendeckchen behängt. An der Wand stand eine große Vitrine, die Teller, Tassen und verschiedene Spieluhren enthielt. An der gegenüberliegenden Wand hingen einige Fotografien.

Die Luft roch nach einem schweren Parfum, das wohl von der letzten Bewohnerin des Anwesens regelmäßig hier versprüht worden war. Fernsehzeitschriften lagen überall herum.

Nina durchquerte den Raum und betrat ein angrenzendes Schlafzimmer. Das Bett hatte sicher schon bessere Zeiten erlebt. Der Schrank war vollgestopft mit Kleidern, und das Parfum war hier noch deutlicher wahrzunehmen als nebenan.

Auf dem Nachttisch standen ein Glas, eine leere Blumenvase und ein Stapel Bücher, die darauf warteten, gelesen zu werden. Nina fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. Es waren zwei Kriminalromane von Agatha Christie, Sturmhöhe von Emily Brontë und zwei Sammelbände mit Liebesgeschichten. Auf dem Kaminsims lagen Briefe und Postwurfsendungen.

Das hier mussten die Zimmer gewesen sein, in denen Ninas Urgroßtante Ernestine bis zu ihrem Tod gelebt hatte. Eine gute Wahl für eine Hundertzweijährige, die keine Treppen mehr steigen konnte. Auch wenn es bestimmt noch schönere Zimmer auf dem Anwesen gab. Nun waren Ernestines Räume verwaist.

Nina fröstelte. Es war ein eigenartiges Gefühl, durch die Überreste eines gelebten Lebens zu wandern.

Sie zog die Tür hinter sich zu, um sich die restlichen Zimmer des Gebäudes anzusehen, deren Bewohner schon länger tot waren. Eine innere Unruhe hatte sie befallen, seit sie von Anna Stone wusste. Sie wollte herausfinden, was es mit dieser Geschichte auf sich hatte. Schließlich floss das Blut ihrer Ahnin auch in Ninas Adern.

Sie sah an der Eichenholztreppe hoch, die in die oberen Stockwerke führte. Was würde sie dort erwarten? Würde sie vielleicht Hinweise finden, wie sie sich Annas Geheimnis nähern konnte?

Nina stieg die breiten Stufen hinauf und betrachtete im Vorbeigehen die Pferdegemälde an den Wänden. Als sie die erste Etage erreicht hatte, blieb sie stehen und schaute sich zögernd um. Dann betrat sie den Raum, der ihr direkt gegenüberlag. Wieder umgab sie Dämmerlicht. Es roch muffig. Als sie sich nach rechts wandte, schrie sie auf.

Zwei leuchtende Augen starrten sie aus dem Dunkel an. Nina wich zurück und stieß gegen etwas Hartes. Instinktiv drehte sie sich um. Mehrere Augenpaare waren auf sie gerichtet.

Sie zwang sich durchzuatmen. Vorsichtig tastete sie nach ihrem Smartphone und schaltete mit zitternden Fingern die Taschenlampenfunktion ein. Das Licht spiegelte sich in einer Scheibe direkt vor ihr. Es waren ausgestopfte Tiere in einer Vitrine! Nina atmete auf. Sie musste sich zusammenreißen.

Langsam tastete sie sich weiter in den Raum hinein. Das Geräusch ihrer Schritte hallte von den Wänden wider. Nina kämpfte sich durch die dicht beieinanderstehenden Möbel und Glaskästen. Endlich stieß der Strahl ihrer Taschenlampe auf gelbe Vorhänge. Sie zog den zerschlissenen Stoff zurück, und Licht strömte in den Raum. Sofort fühlte sie sich wohler. Sie musste wirklich souveräner werden. Gut, dass sie allein war und niemand sah, dass sie sich in der Dunkelheit wie ein schreckhaftes Kätzchen benahm.

»Oh mein Gott.« Nina schaute sich um. Der Raum war viel größer, als sie zunächst gedacht hatte. Vermutlich hatte er einmal als Ballsaal gedient. Jetzt allerdings war er mit Möbeln vollgestellt. In der Mitte erkannte sie einen wuchtigen Billardtisch. Und daneben stand ein Flügel. Er musste schon alt sein, bestimmt aus dem vorletzten Jahrhundert.

Normalerweise hätte Nina gleich angefangen, den Flügel zu spielen. Aber jetzt schob sie den Gedanken schnell beiseite. Sie konnte nicht mehr Klavier spielen. Seit dieser schrecklichen Affäre mit Johannes weigerten sich ihre Hände zu funktionieren. Sobald sie auch nur in die Nähe eines Klaviers kam, verkrampften sich ihre Finger so sehr, dass es unmöglich war, auch nur eine Taste anzuschlagen. Und dabei war gerade alles so gut für sie gelaufen. Seit Jahren hatte Nina darauf hingearbeitet, in Warschau beim Chopin-Wettbewerb antreten zu dürfen. Und dieses Jahr hatte sie es endlich geschafft und war als Kandidatin ausgewählt worden. Mareike war so stolz auf sie gewesen.

Doch dann hatte Nina diesen unverzeihlichen Fehler begangen und ihre gesamte Karriere damit aufs Spiel gesetzt. Nach Warschau war sie nicht gefahren, und sie fragte sich, ob sie überhaupt jemals wieder in der Lage sein würde, Klavier zu spielen.

Nina atmete tief ein, um die Panik zu vertreiben. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Diese Erbschaft war ein Segen und hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Sie hatte Ernestines Bitte, Annas Geschichte nachzugehen, nur zu gern zum Vorwand genommen, um ihr altes Leben für eine Weile hinter sich zu lassen. Vielleicht konnte sie das Familiengeheimnis lüften und damit zumindest eine Zeit lang ihren eigenen Sorgen und Problemen aus dem Weg gehen.

Vorsichtig ging sie ein paar Schritte in den Raum hinein. Überall standen Vitrinen mit ausgestopften Tieren, Steinen, Muscheln und anderen Gegenständen. Zahlreiche Gemälde und Hirschgeweihe schmückten die Wände. An der Stirnseite des Raumes hing über einem Kamin aus Marmor das lebensgroße Porträt einer jungen Frau. Als Nina näher herantrat, fuhr sie überrascht zusammen. Die junge Frau war sie selbst. Keine Fotografie hätte Ninas Gesicht besser einfangen können als dieses Gemälde.

Nina starrte auf das Kunstwerk. Ihr Herz raste, die kleinen Härchen auf ihren Unterarmen hatten sich aufgestellt, und ihre Augen waren feucht geworden. Dieses Porträt ihrer selbst wirkte so lebendig, so wirklich, dass sie sich in das Bild hineingezogen fühlte. Wieso hatte Ernestine Stone dieses gewaltige Ölgemälde von Nina an der Wand hängen? Nina hatte ihre Urgroßtante nie persönlich kennengelernt. Wer hatte dieses Bild gemalt? Es musste nach einer Fotografie entstanden sein.

Nina konnte ihren Blick nicht von der Leinwand abwenden.

Auf dem Bild saß sie an einem Flügel, die Augen auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Sie trug ein Kleid aus dunkelblauem Samt. Obwohl sie sich nicht erinnern konnte, jemals ein solches Kleid getragen zu haben, meinte sie, den Stoff spüren zu können. Im Vordergrund des Gemäldes erkannte sie einen achteckigen Tisch, auf dem eine Vase mit Sommerblumen stand. Hinten war ein buntes Fenster zu sehen, das wunderschön leuchtete. Es musste noch andere Lichtquellen gegeben haben, denn der Raum war von hellem Licht durchflutet. Aber Ninas Blick wanderte immer wieder zu ihrem Gesicht. Die grünen Augen, die blonden Haare, die etwas zu spitze Nase und die hohe Stirn, all das war ihr völlig vertraut. Sie sah es jeden Tag im Spiegel. Die Haltung, die der Maler eingefangen hatte, ihren leicht gekrümmten Rücken und den vorgestreckten Kopf. So sah sie aus, wenn sie Klavier spielte.

Nina war fasziniert von ihrem eigenen Anblick. Der Maler hatte es geschafft, das Bild lebendig erscheinen zu lassen. Sie hörte fast die Musik, die sie, während er an dem Bild gearbeitet hatte, gespielt haben musste.

Und doch war irgendetwas daran merkwürdig. Sie saß an einem Flügel, der älter zu sein schien als herkömmliche Flügel. Nina konnte sich nicht daran erinnern, je ein solches Instrument gespielt zu haben. Auch die altmodische Frisur und das samtene blaue Kleid waren ihr fremd. War das eine kleine Narbe da an ihrem Kinn? Sie fuhr mit der Hand über ihre Haut. Nein, da war nichts.

Wann war dieses Porträt entstanden? Warum konnte sie sich nicht an die Szene erinnern? Sie musste mehr über das Bild herausfinden.

Um die Vitrinen und Schränke herum ging sie vorsichtig zum Kamin. Je näher sie dem Porträt kam, desto stärker zog sie der Blick der in die Ferne gerichteten Augen an. Sie erkannte die winzigen dunklen Sprenkel in dem tiefen Grün. Der Maler hatte wirklich ganz genau hingesehen.

Das Bild steckte in einem dicken Goldrahmen. Nina suchte vergeblich nach einer Signatur. Vielleicht war sie auf der Rückseite angebracht und es gab dort auch einen Hinweis auf den Künstler und das Entstehungsjahr?

Aber allein würde sie das Gemälde nicht abnehmen können. Es war viel zu groß und außerdem hing es sehr hoch.

Nina riss sich nur schwer von dem Anblick des Kunstwerkes los. Doch sie musste weiter, um eine Schlafstelle zu finden. Wenn sie etwas über ihre Familiengeschichte erfahren wollte, würde sie wohl eine Weile auf Stone Abbey bleiben müssen. Und Tante Ernestines Bett im Untergeschoss machte keinen einladenden Eindruck auf sie.

Sie verließ den großen Salon und betrat ein Zimmer nach dem anderen im ersten und zweiten Stock. Die meisten Zimmer schienen schon ewig nicht mehr benutzt worden zu sein. Es gab ein großes Esszimmer, eine wunderschöne alte Bibliothek mit zahlreichen Büchern, eine zweite, kleinere Bibliothek, ein altes Schulzimmer, ein viktorianisches Wohnzimmer mit kleinen Porzellanvasen, Figuren und anderem Nippes. Und Dutzende von Schlafzimmern.

Die meisten davon waren als Abstellkammern missbraucht worden, und auf den Betten und Böden standen Kisten, Truhen und ausrangierte Möbel.

Eines der Schlafzimmer im ersten Stock mit einem großen Erker war nicht ganz so vollgestellt wie die anderen. Nina setzte sich vorsichtig auf das Bett aus Eichenholz. Die Matratze quietschte unter ihrem Gewicht, aber ansonsten schien es stabil zu sein. Wunderbar, hier würde sie ihr Nachtlager aufschlagen. Nina stand auf und trat an den Frisiertisch, dessen Spitzendecke einmal weiß gewesen sein musste. Die silbernen Bürsten und Kämme waren angelaufen. Die Puderdose trug eine dicke Staubschicht. Sie würde hier erst einmal gründlich sauber machen müssen.

 

Nina gab die Suche nach geeigneten Putzutensilien bald auf. Das Haus war so groß, dass sie weder die Küche noch andere Wirtschaftsräume finden konnte. Sie nahm ihre Tasche und beschloss, ins Dorf zu laufen, um dort Reinigungsmittel und vielleicht etwas zu essen zu kaufen. Es war bereits Nachmittag und ihr Magen knurrte. Das Letzte, was sie gegessen hatte, war ein belegtes Käsebrötchen gewesen, früh am Morgen im Dortmunder Flughafen.

Sie war bereits eine halbe Stunde unterwegs, als sie endlich ein großes schmiedeeisernes Tor vor sich sah. Rechts und links davon befanden sich kleine Backsteinhäuser, die früher bestimmt nett anzusehen gewesen waren. Das musste das Pförtnerhaus sein.

Auf der anderen Seite des Portals erwartete sie eine asphaltierte Straße, die nach wenigen Metern in ein kleines Städtchen führte. Nina las das Schild am Ortseingang: »Welcome to Stone Village. Thank you for driving carefully.«

Sie betrachtete die Sandsteinhäuser zu beiden Seiten der Hauptstraße. Manche waren schlichte Wohnhäuser, in anderen befanden sich Souvenirläden, eine Bäckerei, ein Süßigkeitenladen und ein Supermarkt. Direkt daneben luden grün-weiß gestreifte Markisen eines Tearooms zum Verweilen ein. Nina betrat das Café.

Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster und studierte die Menükarte. Schließlich entschied sie sich für eine Victorian-Limonade und ein Sandwich. Eine pummelige Kellnerin mit roten Locken nahm Ninas Bestellung auf. Am Tisch nebenan saß eine alte Frau. Zwei junge Leute mit Fotoapparat und Reiseführer nahmen ein Stück weiter, in einer kleinen Nische, ihren Lunch ein.

»Machen Sie hier Urlaub?« Die Kellnerin goss ihr die Limonade aus der Glasflasche ein.

»Ja und nein«, antwortete Nina. »Meine Urgroßtante hat mir hier ein Haus vererbt.« Außerdem laufe ich vor dem größten Fehler meines Lebens davon, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Hier in Stone?« Die Kellnerin sah Nina an. Das schien interessanter zu sein als das übliche Touristengespräch.

Nina nickte. »Stone Abbey. Kennen Sie das Haus?« Vielleicht konnte ihr die Frau ja etwas darüber erzählen.

Die Kellnerin hob die Augenbrauen. »Natürlich kenne ich es. Es ist das Herrenhaus, das zu unserem Dorf gehört. Früher gehörte das ganze Dorf mit allen Häusern der Familie Stone. Heute nicht mehr. Sie haben nur das Herrenhaus behalten. Ich war lange nicht mehr dort.« Sie lächelte. »Als Kinder haben wir uns manchmal heimlich auf das Anwesen geschlichen und in den Stallungen gespielt. Oder wir haben Mutproben veranstaltet, bei denen wir zum Haus runterlaufen und an die Tür klopfen mussten, oder ähnliche Dinge.«

»Wie lange ist das her?« Ninas Fuß wippte zum Takt der Musik, die im Hintergrund lief.

»Dass wir jung waren?« Die Frau lachte und dachte einen Moment nach. »Mittlerweile sind es fünfundzwanzig, dreißig Jahre. Die Zeit vergeht so schnell.«

»Standen die Stallungen denn damals auch schon leer?«

Die Frau nickte, während sie ihre weiße Schürze glatt strich. »Solange ich denken kann. Und die Elektrizität kam erst in den Sechzigerjahren nach Stone Abbey.«

Nina stellte erstaunt ihr Glas ab, aus dem sie gerade einen Schluck trinken wollte.

»Mein Vater hat damals beim Verlegen der Leitungen geholfen.«

Das Glöckchen an der Tür bimmelte und kündigte die Ankunft eines neuen Gastes an. Ein grauhaariger Mann mit einem Springer Spaniel setzte sich an den Tisch hinter Nina. Die Kellnerin entschuldigte sich bei ihr und holte eine Tasse Kaffee für den Hundebesitzer und ein Schälchen Wasser für den Vierbeiner. Sie wechselte ein paar Worte mit dem Mann und kam dann zu Nina zurück.

»Sie sagten, Sie haben das Haus der alten Mrs Stone geerbt. Aber ich habe Sie vorher nie hier gesehen.« Sie wischte mit einem feuchten Lappen über Ninas Tisch, der vorher auch schon sehr sauber ausgesehen hatte.

Nina nickte. »Das stimmt. Ich wusste bis vor wenigen Wochen überhaupt nichts von der Existenz meiner Urgroßtante. Meine Mutter ist gestorben, als ich acht Jahre alt war. Leider habe ich kaum Informationen über ihre Familie oder Stone Abbey.«

Der Springer Spaniel schlabberte geräuschvoll sein Wasser.

»Hatte Mrs Stone denn sonst keine Verwandten?« Die Kellnerin stützte die Arme in die Hüften.

Nina schüttelte den Kopf. »Wohl nicht. Und es wurde schon vor Generationen festgelegt, dass das Anwesen nur an weibliche Nachkommen vererbt werden darf.«

»Ja. Das ist eines der vielen Gerüchte, die sich um Stone Abbey ranken.« Die Kellnerin rückte ein paar Marmeladengläser zurecht, die in einem Regal neben Nina zum Verkauf bereitstanden. »Dann stimmt es also. Außerdem sollen die Frauen auch immer darauf bestanden haben, den Namen Stone beizubehalten.«

Nina sah die Frau erstaunt an. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Dann wanderte ihr Blick zu der Zeichnung von Stone Abbey, die auf den Marmeladengläsern zu sehen war. Sie zeigte ein Herrenhaus, das noch völlig intakt war. »Was gibt es denn sonst noch für Gerüchte?«

»Ach, alles Ammenmärchen. Ich würde nichts darauf geben.« Die Kellnerin wischte über die Regalbretter.

»Haben diese Geschichten mit Anna Stone zu tun? Damit, dass meine Vorfahrin angeblich eine Mörderin war?« Nina dachte an den Brief.

Die Kellnerin drehte sich wieder zu ihr um. »Diese Gerüchte haben der Familie Stone schwer zugesetzt.«

»Wie meinen Sie das?«

Die Kellnerin schien nicht gern über das Thema zu sprechen. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, aber ihre Augen blieben ernst. »Damals waren die Menschen noch abergläubischer als heute. Am besten, Sie vergessen das alles und konzentrieren sich auf die Gegenwart. Das Haus ist doch bestimmt stark renovierungsbedürftig, nicht wahr?«

Nina nickte. »Ich weiß noch nicht, ob ich es behalten werde. Die ganze Sache wird vermutlich viel zu teuer für mich. Waren Sie selbst auch schon mal im Haus?« Vielleicht wusste sie ja über das Porträt im Salon Bescheid.

Aber die Kellnerin schüttelte den Kopf. »Nein, die Familie hatte nur wenig Kontakt zu uns Dorfbewohnern. Penelope Huffkins hat bei der alten Dame geputzt, soweit ich weiß. Vielleicht sollten Sie sich mal mit ihr unterhalten.« Die Kellnerin ging zurück an den Tresen.

»Wo finde ich sie?« Als Putzfrau hatte Mrs Huffkins bestimmt einiges mitbekommen. Nina trank einen Schluck Limonade.

»Gehen Sie einfach die Main Street hinunter. Am Ende der Straße steht Rose Cottage. Da wohnt Penelope.« Ihr roter Lockenkopf verschwand in der Küche, und kurz darauf brachte sie einen Teller mit Sandwiches herein. »Sie sind keine Engländerin, nicht wahr?«

Nina sah sie erstaunt an. War ihr Englisch etwa doch nicht so gut, wie sie immer geglaubt hatte? »Hört man das?«

Die Kellnerin lachte. »Ja. Wo kommen Sie her?«

»Aus Deutschland.« Nina schob sich ein paar Chips in den Mund, die neben dem Sandwich lagen.

Die Kellnerin blieb an ihrem Tisch stehen. »Mein Schwager war lange in Deutschland stationiert. Wir haben ihn dort ein paarmal besucht.«

Nina plauderte mit ihr über Deutschland und hörte sich eine langatmige Geschichte über ihren Schwager an. Sie war froh, als sie ihr Sandwich endlich gegessen hatte, und bedankte sich bei der Frau für die Auskünfte.

 

Das Cottage von Penelope Huffkins erinnerte Nina an das Setting der alten Miss-Marple-Filme mit Margaret Rutherford. Auch das ganze Dörfchen Stone Village hätte aus einem dieser Filme stammen können. Alles wirkte idyllisch und friedlich, doch hinter jedem Fenster und hinter jeder Tür konnten alte Geheimnisse lauern. Die kleinen Sandsteinhäuschen schienen mehrere Hundert Jahre alt zu sein, die meisten davon waren reetgedeckt. Die Blumen in den Vorgärten mussten im Sommer wunderschön blühen. Nina war die Dorfstraße entlanggelaufen und an einer kleinen Kirche vorbeigekommen. Verwitterte Grabsteine auf der Wiese davor zeugten davon, dass sowohl die Kirche als auch die Gräber sehr alt sein mussten. Die Inschriften auf den Steinen waren kaum noch zu lesen. Nina konnte mit Mühe Jahreszahlen aus dem achtzehnten Jahrhundert entziffern. Vor der niedrigen Mauer, die den Kirchhof säumte, standen eine rote Telefonzelle und eine Holzbank. Die kleinen Rasenflächen vor den Häusern waren alle akkurat gemäht.

Kaum dass Nina Rose Cottage erreicht hatte, wurde die Haustür geöffnet. Eine ältere Frau in Kittelschürze war gerade dabei, eine Schale mit Milch vor die Tür zu stellen.

»Guten Tag«, rief Nina und ging auf die Frau zu. »Die Kellnerin im Tearoom hat mir geraten, mich an Sie zu wenden.«

Die Frau sah erstaunt auf. Nina fuhr schnell fort: »Ich bin heute in Stone Abbey eingezogen. Sie haben für meine Urgroßtante Ernestine geputzt?«

Die Frau stutzte. »Für Ernestine Stone? Ja, das stimmt. Kann es sein, dass wir uns irgendwo schon mal begegnet sind?«

»Nein, ich glaube nicht.« Nina überlegte kurz. Dann sah sie der älteren Dame nachdenklich in die Augen. »Oder vielleicht doch? Sie haben vermutlich mein Bild im Haus meiner Tante gesehen.«

Mrs Huffkins runzelte die Stirn. »Kann sein. Aber kommen Sie doch erst mal herein. Ich mache uns eine Tasse Tee.«

Am liebsten hätte Nina auf den Tee verzichtet. Sie wollte jetzt dringend mehr erfahren.

Sie folgte der Frau in ein winziges Wohnzimmer und nahm auf einem Sofa zwischen zwei schnurrenden Katzen Platz.

»Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Damit verschwand Mrs Huffkins in der Küche.

Nina streichelte die Katzen und betrachtete die zahlreichen Familienfotos auf dem Kaminsims, bis ihre Gastgeberin mit einem Tablett zurückkam. Sie schenkte ihnen Tee ein und stellte einen Teller mit Keksen vor Nina auf den Tisch.

»Ein Bild, sagen Sie?«, griff Mrs Huffkins das Thema wieder auf. »Meinen Sie eine der Fotografien im Schlafzimmer?«

Nina schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine das große Gemälde im Salon.«

Mrs Huffkins nahm die Teetasse und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Ach Gott, da oben war ich seit Jahren nicht mehr. Die Zimmer wurden ja nicht mehr benutzt, und wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich nur die Wohnräume Ihrer Tante reinige.«

Nina beobachtete, wie Mrs Huffkins in ihrem Tee rührte. »Aber früher waren Sie mal dort oben?«

»Ja, aber das ist lange her.« Mrs Huffkins nippte an dem heißen Getränk.

»Erinnern Sie sich an das Bild?«

Eine der Katzen machte es sich auf Ninas Schoß bequem. Ihre Tatzen krallten sich im Rhythmus ihres Schnurrens immer wieder schmerzhaft in Ninas Oberschenkel.

Mrs Huffkins schloss einen Moment lang die Augen und dachte nach. »Ja, tatsächlich. Ich sehe es wieder vor mir. Es hat mich damals sehr berührt. Das Bild strahlt irgendwie so viel …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »es strahlt Liebe aus.« Die Frau grinste, als schämte sie sich für diesen Gedanken.

Sie hatte recht. Nina hatte es auch gespürt, als sie vor dem Bild stand. Vielleicht hatte der Maler die Liebe eingefangen, die sie der Musik entgegenbrachte.

»Sie haben tatsächlich Ähnlichkeit mit der Frau auf dem Bild.« Mrs Huffkins betrachtete Nina. »Sogar eine ganz erstaunliche. Allerdings kann es kein Porträt von Ihnen sein.«

»Das habe ich auch gedacht. Die Kleidung, die Frisur, der Flügel, all das ist mir vollkommen fremd. Und doch bin ich es. Es ist wirklich seltsam. Warum hat meine Urgroßtante ein Bild von mir malen lassen? Ich nehme an, dass es nach einer Fotografie entstanden ist.« Nina bemühte sich, die Krallen auf ihren Oberschenkeln zu ignorieren, und streichelte die Katze tapfer weiter.

Mrs Huffkins lächelte und hielt ihren Blick forschend auf Nina gerichtet. »Nein, es ist noch viel seltsamer. Das Bild zeigt eine Vorfahrin von Ihnen, der Sie erstaunlich ähnlich sehen, Ernestines Urgroßmutter Anna Stone.«

Kapitel 2

London, April 1851

 

Betteln und Hausieren verboten!« Der Butler schlug ihr die Tür vor der Nase zu.

Anna musste niesen. Sie hatte den ganzen Tag schon in den feuchten Kleidern verbracht. Wenn sie jetzt nicht schnell ins Warme kam, würde sie eine üble Erkältung bekommen. Vermutlich war es sowieso schon zu spät. Ihr Hut war so nass, dass es sich anfühlte, als trüge sie einen Eimer mit Wasser auf dem Kopf, der ständig überschwappte. In ihren Stiefeln schienen sich bereits Pfützen gebildet zu haben. Es hörte aber auch nicht auf zu regnen.

Anna hatte den Weg von Dover oben auf der Postkutsche zurückgelegt, obwohl es im Inneren der Kutsche noch freie Plätze gab. Die hatte sie sich jedoch nicht leisten können. Ihr Onkel hatte das Reisegeld genau abgezählt und beschlossen, dass ein Außenplatz für Anna ausreichend sein musste. Und ihre eigenen wertvollen Ersparnisse hatte sie nicht anrühren wollen. Der Regen hatte ihr ins Gesicht gepeitscht, und der kalte Wind war durch ihren Mantel gefegt.

Anna seufzte und griff noch einmal nach dem Türklopfer. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre zurück nach Deutschland gefahren. Zurück nach Grünberg. Zurück zu ihren Freunden und all den Menschen, von denen sie sich am Tag zuvor hatte verabschieden müssen. Noch immer konnte sie nicht daran denken, ohne dass ihr die Tränen kamen.

Anna hörte Schritte. Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet.

»Betteln und …«

»Warten Sie!« Diesmal war Anna vorbereitet und stellte ihren Fuß in die Tür. »Ich werde erwartet. Mein Name ist Anna Stone.«

Der Butler starrte sie einen Moment lang an. Sie musste einen erbärmlichen Anblick bieten. Strähnen ihres langen blonden Haares hatten sich aus dem Knoten gelöst und hingen unordentlich unter ihrem Hut herab. Ihre sonst so helle und makellose Haut war mit Sicherheit von der Kälte gerötet wie bei einem der Schweinchen auf dem Gut ihrer Großeltern.

Der Butler trat mit ausdruckslosem Gesicht zur Seite und ließ sie hinein. Anna griff nach ihrer Reisetasche, die nicht weniger vom Regen durchnässt war als sie selbst, und betrat die große Eingangshalle. Sie sah sich um. Im Empfangsraum standen nur wenige Möbelstücke, die ordentlich, jedoch unbequem wirkten.

»Die Herrschaften sind ausgegangen.« Der Butler schien zu überlegen, wo die tropfnasse Anna am wenigsten Schaden anrichten konnte. »Wenn Sie solange hier in der Halle warten würden.«

»Wann werden Mr und Mrs Stone denn zurück sein?« Anna wollte nicht warten. Sie wollte auf ihr Zimmer gehen und sich endlich umziehen.

»Um sechs Uhr spätestens.« Der Butler wandte sich ab.

Es war gerade vier vorbei.

»Einen Moment noch.« Anna stellte ihre Tasche ab. »Ich werde hier wohnen. Mr Stone hat Ihnen doch gewiss Bescheid gegeben.«

Der Butler sah sie an, ohne etwas zu erwidern. Also sprach sie weiter. »Ich möchte gern die nassen Kleider ausziehen. Würden Sie mir bitte schon mein Zimmer zeigen?«

Der Butler schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie, Miss. Ich muss darauf bestehen, dass Sie auf Mr Stone warten.« Damit ging er lautlos davon.

Anna seufzte und ließ sich auf einen der unbequemen Holzstühle fallen. Vorsichtig löste sie die Hutnadel und nahm ihren Hut ab. Die nassen Haare hatten sich jetzt vollständig aus dem Knoten gelöst und fielen ihr wirr ins Gesicht. Müde strich sie die Strähnen zurück und sah sich in der Halle um. Das war also das Haus, in dem ihr Vater aufgewachsen war. Zumindest in den Sommermonaten hatte er sich immer hier aufgehalten.

»Zur Saison«, hatte er ihr erklärt, wenn er von seiner Kindheit und der Zeit in London gesprochen hatte.

Sein Vater, Annas Großvater, hatte eine große englische Handelsfirma betrieben, die Schafwolle kaufte und wieder verkaufte. Im Winter hatte die Familie in den Cotswolds gewohnt, auf dem Landsitz Stone Abbey, und im Sommer in der Großstadt. Anna hatte so viele Geschichten darüber gehört, dass sie meinte, die beiden Häuser genauso gut zu kennen, wie ihr Vater sie gekannt hatte. Sie erinnerte sich an lange Winterabende, an denen sich alle Kinder aus Grünberg in ihrem Fachwerkhaus versammelt hatten und Annas Vater Geschichten aus England erzählte. Für Anna und ihre Freunde waren diese Berichte wie Reisen, die sie nie würden unternehmen können. So hatten sie teilhaben können an der Welt jenseits der grünen Berge, denen Grünberg seinen Namen verdankte. An diesen Abenden, wenn das Fachwerkhaus der Stones voller Kinder war, hatte Annas Vater Deutsch gesprochen. Anna musste lächeln, als sie an seine entsetzliche Aussprache dachte. Wenn er mit ihr allein war, hatten sie sich immer auf Englisch unterhalten. Ihre Sprachkenntnisse konnten ihr jetzt sicher zum Vorteil gereichen.

Denn nun war Anna doch aus Deutschland herausgekommen. Aber es war eine Reise ohne Rückkehr. Anna schluckte den Kloß hinunter, der sich plötzlich in ihrem Hals gebildet hatte, und betrachtete die Eingangshalle mit den Augen ihres Vaters. Sie stellte sich vor, wie er als junger Mann die Eichentreppe heruntergekommen war, die in der Mitte der Halle endete. Sie sah ihn als Kind auf dem Steinfußboden Murmeln spielen, die Ahnenporträts an den Wänden betrachten oder nach einem Geheimfach in den Eichenpaneelen suchen.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie vermisste ihn so sehr. Dabei war inzwischen mehr als ein Jahr vergangen, seit er gestorben war. Ein schreckliches Jahr, in dem Anna hatte erwachsen werden müssen. Aber mittlerweile wusste sie, dass alles noch viel schlimmer kommen konnte.

Vor vier Monaten war ihr Onkel Timothy plötzlich in Grünberg erschienen, und seitdem war nichts mehr wie zuvor.

Das ganze Dorf war in Aufregung gewesen, als die große Kutsche vor ihrem Haus gehalten hatte. Es kam manchmal vor, dass teure Equipagen auf der Hauptstraße vorüberfuhren, und ihr Erscheinen war im Dorf stets Gesprächsstoff für mehrere Wochen. Grünberg bestand aus einem Dutzend Häusern, einer Kirche, zwei Bauernhöfen, einem Krämerladen, der gleichzeitig als Poststation diente, und Gut Reichholz, dem Gutshof, auf dem Annas Mutter aufgewachsen war.

Sämtliche Kinder des Dorfes hatten sich vor dem Fachwerkhaus der Stones versammelt, noch bevor Timothy aus dem eleganten Gefährt herausgeklettert war.

Wäre er bloß für immer in dieser Kutsche geblieben!

Die Tage nach seiner Ankunft kamen Anna wie ein böser Traum vor. Alles war so schnell gegangen und fühlte sich vollkommen falsch an. Warum hatte ihre Mutter sich bloß auf eine Ehe mit ihrem Schwager, dem Bruder von Annas Vater, eingelassen? Anna hatte den Eindruck gehabt, sie fürchtete sich vor ihm. Sobald sie Timothy in seiner Kutsche erspäht hatte, war ihre Mutter in einen ihrer schlimmen Zustände gefallen.

Anna hatte fast eine Stunde lang für sie Klavier spielen müssen, bis sie aus ihrer Abwesenheit zurückgekehrt war.

In der Gegenwart ihres Schwagers hatte Annas Mutter kaum ein Wort gesprochen. Anna konnte es nicht fassen, als ihr zwei Tage später die Verlobung der beiden mitgeteilt wurde.

Timothy und Annas Mutter waren sofort nach England gereist, um dort zu heiraten, und Anna sollte wenige Wochen später nachkommen. Sie hatte ihre Mutter angefleht, mit ihr reisen zu dürfen, aber die hatte sich voll und ganz den Plänen Timothys unterworfen.

Anna blieb in Grünberg zurück. Sie hatte kein gutes Gefühl dabei gehabt, sich von ihrer Mutter zu trennen. Das ganze letzte Jahr über hatte sie sich um ihre Mutter gekümmert. Würde Timothy mit den Zuständen umgehen können, die seine Frau regelmäßig ereilten? Anna schüttelte den Kopf. Es hatte lange gedauert, bis sie die heilende Kraft ihres Klavierspiels erkannt hatte. Seitdem konnte sie ihre Mutter in wenigen Minuten von der Schwermut befreien. Ohne Anna war sie hilflos.

Anna seufzte und erinnerte sich an ihren Abschied von Grünberg. War das wirklich erst gestern gewesen? Sie war an dem Apfelbaum vorbeigegangen, an dem sie als Kind so gern geschaukelt hatte. Sie war ein letztes Mal über die Blumenwiese gelaufen, wo ihr Vater sie früher immer durch die Luft gewirbelt hatte.

»Du wirst eines Tages zu den Sternen fliegen«, hatte er gerufen und sie dabei lachend hochgeworfen, als wäre sie ein Vogel.

Gestern hatte Anna das Gefühl gehabt, weiter von den Sternen entfernt zu sein als je zuvor. Sie hatte den Stamm der alten Birke gestreift. Sie hatte ein letztes Mal ihre geliebten Kätzchen Johanna, Erna und Brunhilde gestreichelt. Gustav hatte ihr unter Tränen versprochen, gut auf die drei aufzupassen. Unfassbar, dass all das plötzlich nur noch Vergangenheit sein sollte.

Anna hatte in den letzten Wochen immer wieder darüber nachgedacht: Warum hatte ihre Mutter, die das ganze Jahr über keinen Tag ohne Anna hatte auskommen können, eingewilligt, sich von ihrer Tochter zu trennen?

Anna schreckte aus ihren Gedanken hoch, als draußen Hufgeklapper zu hören war. Eine Kutsche hielt vor dem Haus. Der Butler betrat mit einem Regenschirm die Halle und eilte, ohne Anna eines Blickes zu würdigen, hinaus in den Regen.

Wenige Minuten später waren Schritte auf der Außentreppe zu hören, und die Tür wurde schwungvoll aufgestoßen.

»Danke, Morgan.« Annas Onkel Timothy erschien in der Haustür, dicht gefolgt von einer Gestalt, die in einem viel zu großen Mantel steckte.

Anna war aufgestanden und trat ihrem Onkel einen Schritt entgegen.

Als Timothy sie sah, stutzte er einen Augenblick. Dann lächelte er. »Anna. Ich hatte vergessen, dass du schon heute kommst.«

Deshalb also war nichts für ihre Ankunft vorbereitet. »Guten Tag, Onkel Timothy.«

Timothy drehte sich zu der Frau im Mantel um. »Marianne, begrüße deine Tochter.«

Anna erschrak. Die abgemagerte Frau war ihre Mutter? Als sie sich vor fast vier Monaten voneinander verabschiedet hatten, war ihre Mutter noch mindestens zwanzig Pfund schwerer gewesen.

Anna bemühte sich, ihr Entsetzen zu verbergen, und ging auf ihre Mutter zu, die noch immer zögernd neben der Eingangstür stand.

»Mutter, ich freue mich, Sie wiederzusehen!« Anna griff nach der kalten Hand. »Wie geht es Ihnen?«

Sie zuckte zusammen, als sie merkte, wie viel Anstrengung ihre Mutter das Lächeln kostete. Das Gesicht war grau unter der Haube, die sie trug. Dunkle Ringe lagen um ihre Augen.

»Danke, es geht mir gut.« Ihre Mutter wandte sich zur Treppe. »Entschuldige, ich möchte mich ein wenig ausruhen.«

»Natürlich.« Anna trat zur Seite.

Ihre Mutter nickte kurz und stieg dann langsam die Treppe hinauf. Anna sah ihr nach und machte sich größere Sorgen denn je. Warum war ihre Mutter so zurückhaltend? Freute sie sich nicht über das Wiedersehen?

Solange Anna denken konnte, hatte ihre Mutter unter Schwermut gelitten, aber als Annas Vater noch lebte, waren die Zustände selten gewesen. Der Tod ihres Mannes hatte sie vollkommen erschüttert. Seitdem war sie immer wieder von Verstimmungen heimgesucht worden, bis Anna schließlich die Klaviertherapie entdeckt hatte. Die Zustände waren dadurch nicht nur deutlich kürzer, sondern auch wieder seltener geworden.

Anna wandte den Blick von der Tür am Ende der Treppe ab, hinter der ihre Mutter verschwunden war, und drehte sich zu ihrem Onkel. »Hatten Sie eine schöne Hochzeitsfeier?«

Statt einer Antwort traf sie ohne Vorwarnung ein Schlag ins Gesicht. Anna schnappte nach Luft. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie.

Ihr Onkel hatte sie geschlagen. Sie starrte ihn erschrocken an. Er griff ihr ins nasse Haar und bog ihren Kopf zurück. Anna schrie auf.

In seinem Blick lag reine Verachtung. »Dieses Auftreten werde ich künftig nicht dulden. Komme mir nie wieder in einem derart verwahrlosten Zustand unter die Augen.«

»Wie bitte?« Anna schluckte.

»Du siehst aus wie eine Vagabundin. Vollkommen durchnässt und schmutzig.«

Anna spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Ihre Wange brannte von dem kräftigen Schlag ihres Onkels. »Es hat geregnet. Ich saß auf der …«

»Ich weiß, dass es regnet«, unterbrach Timothy sie. »Aber eine Dame sieht immer gepflegt und ordentlich aus, egal ob es regnet, schneit oder die Sonne vom Himmel brennt.«

Er ließ sie los und wandte sich an seinen Butler, der die Szene mit unbewegter Miene verfolgt hatte. »Morgan, bringen Sie meine Nichte auf ihr Zimmer. Sie kann die Kammer ganz oben, direkt neben der Treppe haben. Wenn das neue Hausmädchen kommt, soll es eines der Zimmer auf der Nordseite beziehen.«

Anna presste die Lippen zusammen. Innerhalb weniger Minuten hatte ihr Onkel ihr gezeigt, welchen Stellenwert sie in seinem Haus einnehmen würde. Sie wagte es nicht, den Butler anzusehen. Eine solche Herabwürdigung hatte Anna noch nie erleben müssen. Zu Hause war sie niemals vor einem Dienstboten getadelt worden, selbst wenn sie einen großen Fehler begangen hatte. Vor einem Angestellten geschlagen zu werden, war das Erniedrigendste, was Anna sich vorstellen konnte.

»Wir essen um sieben Uhr.« Annas Onkel stieg die Treppe hoch und drehte sich auf dem ersten Absatz noch einmal zu ihr um. »Unpünktlichkeit dulde ich nicht.«

 

Als Anna um sieben aus ihrem Zimmer kam, empfing Morgan sie am Fuß der Treppe und führte sie in den Salon, wo im Kamin gegenüber der Tür ein Feuer brannte. Anna hatte sich zwar umgezogen, aber ihr war immer noch schrecklich kalt. Die Kleider in ihrer Reisetasche waren vom Regen genauso nass geworden wie das Kleid, das sie unter ihrem Umhang getragen hatte. In der Dachkammer, die ihr Onkel ihr zugewiesen hatte, brannte kein Feuer, und der Wind pfiff kräftig durch die Fensterritzen. Hoffentlich würde das Wetter bald wärmer werden, es war immerhin schon Ende April.

Anna ging direkt auf den Kamin zu, als sie plötzlich zusammenzuckte. Ein Schatten löste sich aus einer Ecke des nur durch wenige Kerzen beleuchteten Raumes.

»Guten Abend.« Der Whisky im Glas des Mannes schimmerte bernsteinfarben, während er auf Anna zutrat.

»Entschuldigen Sie, dass ich uns einander selbst vorstelle – ich nehme an, Sie sind Anna Stone, die Nichte meines Freundes Timothy.«

Anna nickte und sah zu der geschlossenen Tür hinter sich. Ihr Onkel brachte sie anscheinend gern in kompromittierende Situationen. Sie war ganz allein mit einem fremden Mann in einem Zimmer.

Anna zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, Sie haben recht. Es wäre besser … Ich werde sofort nachsehen, wo mein Onkel bleibt.«

Sie wollte zur Tür eilen, aber der Mann hielt sie auf. »Das ist nicht nötig. Er ist in die Küche gegangen, um etwas mit der Köchin zu besprechen. Gestatten, Philip Lyme.« Er lächelte sie an.

Anna stand unentschlossen mitten in dem Salon, der mit zahlreichen Möbeln ausgestattet war. Sollte sie Mr Lyme einen Platz anbieten? Immerhin lebte sie jetzt in diesem Haus, auch wenn sich alles noch so fremd anfühlte.

Mr Lyme schien ihre Unsicherheit zu bemerken. »Ich denke, wir sollten uns setzen.« Er deutete auf die Sessel, die um einen runden Tisch herumstanden, und betätigte die Klingel neben dem Kamin. »Was möchten Sie trinken? Einen Sherry?«

Anna nickte. »Wo ist Mrs Stone?«

»Ihr Onkel sagte mir, sie lasse sich entschuldigen. Sie leide unter Kopfschmerzen.«

»Oh.« Anna setzte sich in einen der mit gelbem Seidenstoff bezogenen Sessel. Sie hatte sich darauf gefreut, ihre Mutter an diesem Abend zu sehen, und gehofft, mehr darüber zu erfahren, wie es ihr wirklich ging. Gern hätte sie für ihre Mutter auch Klavier gespielt. Sie sah sich um.

»Wonach halten Sie Ausschau?« Mr Lyme hatte sich in einen Sessel ihr gegenüber gesetzt und schlug die Beine übereinander. Das Möbelstück schien unter dem großen und kräftigen Mann beinahe zu verschwinden.

»Ich dachte nur … verzeihen Sie, wissen Sie, ob mein Onkel ein Klavier oder ein Cembalo besitzt?«

»Ein Klavier?« Mr Lyme sah sie überrascht an. Dann lachte er. »Ich verstehe. Jetzt kommen Damen ins Haus. Da wird Timothy natürlich ein Instrument brauchen. Ich befürchte, bislang gab es kein Pianoforte oder Ähnliches hier. Als eingefleischter Junggeselle hat er wenig für die schönen Künste in seinem Haus getan.«

»Sprecht Ihr über mich?«

Anna fuhr herum. Timothy hatte den Salon betreten. Auch Morgan war plötzlich da und reichte ihr ein Glas Sherry.

»Ihr habt euch also bereits kennengelernt.« Timothy setzte sich zu ihnen an den runden Tisch.

»Ich habe mich deiner reizenden Nichte selbst vorgestellt. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.« Mr Lyme prostete seinem Freund zu.

»Natürlich nicht.« Timothy musterte Anna von oben bis unten. »Wie gefällt sie dir? Es ist noch einiges zu tun. Sie kommt aus Deutschland. Vom Lande.«

Anna spürte, wie sie schamrot wurde. Wie konnte ihr Onkel nur so indiskret sein? Er schien Freude daran zu haben, sie von einer unangenehmen Situation in die nächste zu bringen.

»Ich weiß.« Mr Lyme lächelte. »Du vergisst, dass ich damals auch in Grünberg war.«

»Sie kennen Grünberg?« Anna sah Mr Lyme an. Wie schön, mit jemandem über ihre Heimat sprechen zu können.

»Ja, ein sehr hübscher Ort. Aber es ist schon lange her.« »In diesen Kleidern wird sie nicht herumlaufen können«, unterbrach Timothy seinen Freund und taxierte Anna jetzt wie einen Gaul auf dem Pferdemarkt. »Wir werden morgen den Schneider aufsuchen müssen.«

Annas Wangen brannten unter dem forschenden Blick ihres Onkels, der über ihr Dekolleté, ihre Brüste und Taille strich. Schnell wechselte sie das Thema. »Mr Lyme sagte, meiner Mutter gehe es nicht gut?«

»Sie leidet unter Kopfschmerzen.« Timothy trank einen Schluck Whisky, während sein Blick auf Anna ruhen blieb. »Wenigstens hat sie zarte Rundungen. Auch das Haar ist annehmbar. Zwar nicht gut frisiert, aber es schimmert sehr hübsch im Licht. Volle Lippen, schöne grüne Augen. Die Nase ist natürlich zu spitz. Und die Taille ist auch nicht schlank genug. Trägst du ein Korsett?«

Anna stieß die Luft aus. Diese Unverschämtheit konnte sie nicht länger ertragen. Sie stand auf und wollte gerade das Zimmer verlassen, als die Stimme ihres Onkels sie zurückhielt.

»Setz dich.«

Anna zögerte. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, ihm gesagt, wie respektlos sein Verhalten war, doch sie erinnerte sich noch gut an die schmerzende Ohrfeige, die er ihr erst vor ein paar Stunden versetzt hatte.

»Ich würde mich sehr freuen, wenn du Miss Stone nächste Woche zu dem Ball meiner Nichte mitbringen würdest. Du wirst sie doch in die Gesellschaft einführen, oder?« Mr Lyme sah seinen Freund fragend an.

»Nun, wenn du darauf bestehst … Zurechtgemacht könnte sie ganz passabel aussehen.«

Anna schluckte.

Mr Lyme schien zu bemerken, wie unwohl sie sich fühlte. »Miss Stone ist eine Schönheit. Ich befürchte nur, wir bringen sie gerade in Verlegenheit. Entschuldigen Sie unsere Indiskretion, junge Dame.«

Doch Timothy achtete nicht auf die Worte seines Freundes. »Bei Hofe kann man sie natürlich nicht zeigen. Schade, ich hätte das ganze Tamtam gern mal mitgemacht. Aber ein paar Bälle können nicht schaden. Ich werde Kontakte knüpfen können.« Timothy warf seinem Freund einen amüsierten Blick zu. »Und ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du dich bereit erklärt hast … Wenigstens muss ich jetzt keinen geeigneten Ehemann mehr für die Kleine finden …«

»Was?« Anna sah ihren Onkel entsetzt an. Timothy wollte sie mit diesem Lyme verheiraten? Sie dachte an ihre Freundin Maria in Grünberg, die zu einer Ehe mit dem alten Bauern Weilmann gezwungen worden war. Anna hatte damals mit ihrer Freundin gelitten, und sie hätte niemals geglaubt, selbst einmal in eine ähnliche Situation zu geraten.

»Dachtest du, ich würde dich hier jahrelang durchfüttern?« Er lachte ihr ins Gesicht.

»Wie bitte?« Annas Entsetzen verwandelte sich in Wut. Ihr Onkel behandelte sie wie ein Kalb, das er auf dem Markt verkaufen wollte.

Mr Lyme eilte ihr zu Hilfe. »Timothy, ich sehe nur Vorzüge bei Miss Stone. Sie scheint mir eine perfekte junge Dame zu sein. Doch nun lass uns das Thema wechseln.« Mr Lyme stellte sein Glas entschieden ab und Anna sah ihn dankbar an. »Deine Nichte hatte sich eben gefragt, ob du wohl ein Klavier besitzt?«

»Wozu? Du hoffst besser nicht darauf, dass wir hier so einen lästigen Kasten aufstellen. Ich kann das Geklimper nicht ertragen.«

Annas Hände ballten sich zu Fäusten. In Köln hatten sich die Leute um die Plätze gerissen, wenn Anna bei einem der beliebten Salonkonzerte gespielt hatte. Sie war regelmäßig mit Professor Falkenstein dorthin geritten, um für die vornehme Gesellschaft Vorstellungen zu geben. Anna hatte diese Ausflüge geliebt. Sie wurde immer mit großem Respekt behandelt, durfte in luxuriösen Häusern zu Gast sein und ihre Zuhörer mit ihren Melodien erfreuen.

Verzweiflung mischte sich unter ihre Wut. Es gab kein Instrument im Hause ihres Onkels, und er war auch nicht bereit, eines für sie anzuschaffen. Seit sie aufrecht sitzen konnte, war in ihrem Leben kein Tag vergangen, an dem sie nicht Klavier gespielt hatte. Wie sollte sie nur in einem Haus überleben, in dem es kein Instrument gab?

 

Hunderte von Kerzen ließen den Ballsaal in warmem Licht erstrahlen. Der hohe Raum war von Stimmengewirr, dem Rascheln von Seide und von heiterer Musik erfüllt. Die feinsten und teuersten Ballkleider fanden ihre Gegenstücke in eleganten und modischen Anzügen. Frauen mit aufwendig gesteckten Frisuren, glitzernden Edelsteinen und schimmernden Federn bewegten sich zur Musik oder standen in Gruppen am Rande der Tanzfläche zusammen. Aufgeregte Mädchenstimmen tuschelten hinter Anna.

»Ich habe schon jetzt keinen Tanz mehr frei.«

»Mich hat gerade John Grant um den nächsten Tanz gebeten.«

»Ich glaube, er wird uns in den nächsten Tagen besuchen.«

Anna ließ sich treiben. Diese Welt war ganz anders als die, aus der sie kam. Atemlos sah sie den Paaren zu, die schwungvoll über die Tanzfläche wirbelten. Unwillkürlich machte sie einen der Tanzschritte mit, so ansteckend war die Musik. Sie schlenderte am Rand entlang und beobachtete die Tänzer. Sie kannte diese Schritte nicht. In Deutschland hatte sie auf den Dorffesten gern getanzt, aber es waren andere Tänze gewesen als diese hier. Zu Hause hatten sie sich vom Rhythmus der Musik treiben lassen, waren herumgesprungen, bis ihnen die Luft ausgegangen war. Die Tänzer hier schienen ihre Bewegungen genau einstudiert zu haben. Alles folgte einem Muster.

»Anna, darf ich dir Sir John Stroud vorstellen?« Plötzlich stand Timothy vor ihr, einen eleganten Herrn neben sich.