Der Klang des Blutes - Waltraud Danner - E-Book

Der Klang des Blutes E-Book

Waltraud Danner

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Beschreibung

Der Thriller geht der Frage nach, wie sehr sich Musikalität vererbt und wie sich diese entwickelt, je nachdem wo die Person aufwächst und wie sie gefördert wird. Haben Traumata der Mutter Einfluss auf diese Entwicklung? Kann die Unterdrückung von Talenten negative Auswirkungen haben? Werden solche Menschen bösartig? Sind dieselben grausamen Charaktereigenschaften in mehreren Generationen erkennbar? Panikattacken können jeden Menschen treffen. Stresssituationen, die zu Schweißausbrüchen führen, den Blutdruck erhöhen, Herzrasen verursachen und uns handlungsunfähig machen, haben die meisten von uns schon erlebt. Doch woran liegt es, wenn eine Attacke ohne nachvollziehbaren Auslöser auftritt? Liegt die Signifikanz dieser Starre in der vererbten DNA oder am Umfeld? Fördert Hochbegabung die pathologische Veranlagung für Panikattacken? Sind »wahre« Künstler Nerds?

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Seitenzahl: 428

Veröffentlichungsjahr: 2024

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© 2024 Waltraud Danner

Text von: Waltraud DannerSatz und Covergestaltung: Franziska Herrmann

Schriften:Garamont (Ursprünglich Garamoünd von Claude Garamond, 16. Jh.)

Bree (von von Veronika Burian und José Scaglione, 2008)

ISBN Softcover: 978-3-384-33452-7

E-Book:978-3-384-33453-4

Druck und Distribution im Auftrag:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Waltraud Danner verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von Waltraud Danner, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Musik ist die Kunst, die sich der Seele am meisten nähert und diese am

meisten berührt.

Oscar Wilde

Prolog

Panikattacken können jeden Menschen treffen. Stresssituationen, die zu Schweißausbrüchen führen, den Blutdruck erhöhen, Herzrasen verursachen und uns handlungsunfähig machen, haben die meisten von uns schon erlebt.

Doch woran liegt es, wenn eine Attacke ohne nachvollziehbaren Auslöser auftritt?

Liegt die Signifikanz dieser Starre in der vererbten DNA oder am Umfeld? Fördert Hochbegabung die pathologische Veranlagung für Panikattacken? Sind »wahre« Künstler Nerds?

München, 14. Januar 2002

Fee starrte auf das Blut in ihrer Unterhose. Wie ekelhaft! War ihre Kindheit jetzt vorbei? »Mama, Mama, hilf mir!«, schrie sie.

Christine Lichtenfels eilte ins Zimmer und umarmte ihre Tochter. Sie flüsterte Fee ins Ohr, das alles halb so schlimm sei, führte sie ins Badezimmer und zeigte ihr, wie sie mit Monatsbinden die Menstruation unter Kontrolle bringen konnte. Dann reichte sie ihr eine Wärmflasche, legte sie ins Bett und strich ihr zärtlich über die braunen Locken, bis sich das Mädchen beruhigt hatte.

Am nächsten Morgen bekam Fee zum ersten Mal eine Panikattacke. Sie stand vor dem Spiegel und studierte ihr Gesicht. Hatte es sich seit gestern verändert? Sie fixierte ihre Augen, die dunkelbraun, fast schwarz ihr entgegen starrten – das konnten unmöglich ihre eigenen sein. Ihr Puls galoppierte. Ihr Herz tobte. Aus allen Poren drang Schweiß. Sie war unfähig, sich zu bewegen oder zu schreien. Sie fühlte es: Gleich würde sie sterben.

1

München, 18. Mai 2016

Fee Lichtenfels lag auf dem Sofa und las in der Biografie von Arthur Rubinstein, als ein metallisches Geräusch erklang. Sie lauschte. War das die Abdeckung des Briefschlitzes in der Haustür? Noch schleifte der eingeworfene Umschlag auf den polierten Fliesen.

Post? Um diese Tageszeit? Was war da hereingeflattert? Sie legte ihr Buch beiseite, wühlte sich aus ihrer Decke und ging in den Flur.

Ein weißes Kuvert, etwas größer als ein normaler Brief, lag mit der Stirnseite auf dem Boden. Sie hob den Umschlag auf und drehte ihn um. Keine Adresse. Kein Absender. Nur die Buchstaben F. L., mit Filzstift übergroß geschrieben, dominierten die Mitte. Sie wedelte mit dem Umschlag, als könne ihr die zu gefächerte Luft erklären, was das zu bedeuten hatte. F. L. waren ihre Initialen. Also war der Brief für sie.

Fee steckte ihren Zeigefinger durch die dreieckige, nicht ganz zugeklebte Lasche und musste mehrmals ansetzen, bis sie die Oberkante geöffnet hatte. Sie zog ein DIN-A4-Blatt heraus, das wie von selbst aufsprang. Große Druckbuchstaben bildeten die Worte:

DEINE MUTTER IST TOT. AN IHR KANN ICH MICH NICHT RÄCHEN. ICH NEHME RACHE AN DIR!

H.

Das Papier begann in Fees Händen zu glühen. Sie ließ es fallen und starrte auf die drei Sätze, die turbulent in ihrem Gehirn herumwirbelten, aber keine Erklärung lieferten. Krampfhaft zog sich ihr Magen zusammen. Mit heftigem Schlucken unterdrückte sie die ersten Anzeichen einer Panikattacke. Sie besah sich das Kuvert erneut und entdeckte ein zweites, halb so großes, nur einmal gefaltetes Papier. Sie schaffte es kaum, es herauszuziehen, so zitterten ihre Finger. Die linke Seite des Blatts sah aus, als sei es irgendwo herausgerissen worden. Ein Tagebuch, dachte Fee, denn in feiner, gut leserlicher Handschrift stand da:

… soll es im Bücherregal entdecken und lesen. Das ist meine Rache an ihm.

Morgen ist der Tag, an dem ich in den Westen fliehen werde. Nach dem Mauerfall besteht für mich die Chance, ihm zu entkommen. Gorbatschow sei Dank. Ich werde mein altes Leben hinter mir lassen und endlich frei leben können. Leider kann ich nur Anja mitnehmen. Hoffentlich gelingt das Wagnis.

Fee stierte ratlos auf die Zeilen. In welchem logischen Zusammenhang standen die beiden Blätter? Was hatte die Person mit ihr zu tun? Vor wem wollte sie fliehen? Der Mauerfall war 1989, ihrem Geburtsjahr. Wer hatte das geschrieben? Etwa ihre leibliche Mutter? Nein, das war absurd … oder doch? Und wer war H.? Ihr fiel niemand mit H ein. DEINE MUTTER IST TOT, stand auf dem Blatt. Warum sollte sie an ihrer Stelle büßen? Und wofür? Fees Herzschlag steigerte sich zu einem Trommelwirbel. Der Gedanke, dass der Brief von keinem Postboten eingeworfen worden war, sondern der Schreiber vor wenigen Augenblicken vor ihrer Haustür gestanden haben musste, die Gefahr in unmittelbarer Nähe lauerte, überstieg das Maß ihrer Selbstbeherrschung.

Fee rannte ins Schlafzimmer, riss die Nachttischschublade auf und suchte nach den Tabletten, die sie in den hintersten Winkel der Lade verbannt hatte. Sie fror und glühte gleichzeitig und es gelang ihr, zwei der Pillen aus dem Streifen herauszudrücken, sie in den Mund zu stecken und mit dem Wasser aus dem Glas neben ihrem Bett hinunterzuspülen. Sie legte sich gerade hin und atmete tief in ihre Lungen ein, so wie Professor Moser es ihr beigebracht hatte. Möglichst lange die Luft anhalten und sie gleichmäßig wieder ausströmen lassen. Nach mehrmaligen Wiederholungen beruhigte sich ihr Herz. Sie konzentrierte sich weiter auf ihren Atem und drückte den Körper tief ins weiche Polster. Er wurde schwerer und schwerer, bis sie in einen tiefen Schlaf sank.

Mit einem Mal war sie hellwach, riss die Augen auf, sah auf die Armbanduhr und stellte fest, dass sie fast zwei Stunden geschlafen hatte. Fee schnüffelte an dem verschwitzten T-Shirt. Es roch nach Angst. Ihr war zum Heulen zumute. Im Bad zog sie die stinkenden Sachen aus und stellte sich unter die Dusche. Die massierenden Wasserstrahlen auf der Haut aktivierten ihren Selbsterhaltungstrieb.

»Reiß dich zusammen!«, sagte sie und schlug mit der Faust gegen die Fliesen. »Ich darf nicht in den Abgrund schauen. Das hab‘ ich doch gelernt.« Fee grub ihre Zähne in die Knöchel ihrer geballten Hand und dachte an Professor Siegfried Moser. Ein warmes Gefühl der Zuneigung verdrängte die Wut auf sich selbst. »Wo wäre ich heute ohne seine Hilfe«, sagte sie mit weicher Stimme. »Er hat mir — zu Beginn der Pubertät — beigebracht, mit den plötzlichen Panikattacken fertig zu werden und sie in den Griff zu bekommen. Er hat erkannt, was mir die Musik bedeutet und mir beigebracht, mich auf sie zu fokussieren, selbstbewusster und erwachsener zu werden.« Fee straffte ihre Schultern und griff nach dem Badehandtuch. »Siegfried ist nicht nur ein fantastischer Arzt«, setzte sie ihr Selbstgespräch fort. »Er ist mein Mentor und steht mir näher als irgendein anderer Mensch, abgesehen von meinen Eltern und Max natürlich.«

Beim Abtrocknen kreisten Fees Gedanken weiter um diese außergewöhnliche Beziehung. Sie ließ die vergangenen dreizehn Jahre im Schnellgang durchlaufen, in denen der inzwischen emeritierte Professor und seine Frau zu Freunden der Familie geworden waren. Marianne und Siegfried Moser nahmen für Fee die Rolle von Großeltern ein, die sie nie hatte. Trotz des Angebots konnte sie die beiden nicht duzen. Dazu respektierte sie das Ehepaar zu sehr.

»Moser«, meldete sich Therapeut nach zweimaligem Läuten.

»Herr Professor. Hier spricht Felizitas. Kann ich zu Ihnen kommen? Ich hatte gerade einen Anfall. Den Grund möchte ich Ihnen persönlich sagen.«

»Aber natürlich, Felizitas. Komm sofort! Ich warte auf dich.«

***

Fee griff nach ihrem Mantel, schlang ein Tuch um den Kopf, schlüpfte in die Gummistiefel und zog die Tür hinter sich zu.

»Mist! Der Brief …« Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Und meine Handtasche steht auch noch auf dem Stuhl. Wenigstens hab‘ ich den Schlüssel noch in der Hand.« Ihre Hand zitterte und verfehlte mehrfach das Schloss. Endlich hatte sie es geschafft. Sie sah den Umschlag auf dem Heizkörper liegen und schnappte ihn. Ihr Blick fiel auf die Ablage, auf der sich mehrere ungelesene Tageszeitungen stapelten und ein Brief ohne Marke. »Ach, den hab‘ ich völlig vergessen. Der kommt mit.« Fee verstaute beide Briefe im Seitenfach ihrer Handtasche. »Jetzt aber nichts wie los«, spornte sie sich an.

Wurde sie verfolgt? Auf der anderen Straßenseite sah sie eine ältere Frau, die ihren Dackel Gassi führte. Sonst konnte sie niemanden entdecken. Dennoch hatte sie das Gefühl, verfolgt zu werden.

»Nur noch ein kurzes Stück, dann habe ich es geschafft«, ermutigte sich.

Zwei steinerne Löwen thronten auf marmornen Säulen. Sie flankierten die Freitreppe einer alten Villa in Bogenhausen. Fee stoppte und rang nach Atem. Dabei fasste sie an die Schnauze des rechten Tieres. Sie liebte die beiden Steinfiguren, die ihr — von jeher —, wie die Wächter des Hauses vorkamen. Unvermittelt erinnerte sie sich, wie Max sie einmal »die gaggenden Gatzen« nannte. Sein Sächsisch löste damals einen Lachanfall bei ihr aus. »Die Bezeichnung stammt nicht von mir«, gab er zu, »sondern vom Preußenkönig. Der trug auf seiner Pickelhaube einen ähnlichen Löwen«. Jetzt konnte ihr die Raubkatze nicht einmal ein Schmunzeln abringen. Völlig außer Puste sah sie die Stufen hoch und es kam ihr vor, als hätte sich ihre Anzahl verdoppelt.

Sie zählte ihre Schritte und konzentrierte sich dabei auf die verschrammte Messingtafel neben der Eingangstür, deren Inschrift kaum noch lesbar war, besonders jetzt, wo ein Sonnenstrahl das Metall reflektierte. Fee wusste ohnehin, was darauf stand:

Prof. Dr. Siegfried Moser

Psychotherapeut

Termin nach Vereinbarung

Wie beruhigend, dachte Fee. Es hängt noch. Opa Siegfried, – so nannte sie den Professor ins geheim –, wollte das Schild nach seiner Emeritierung entfernen lassen. Sie wusste, dass der Psychologe der Münchner Mordkommission mit seinem Fachwissen als Profiler bei kniffeligen Fällen unterstützte – als graue Eminenz im Hintergrund –, so bezeichnete er selbst seine Funktion.

Fee nahm das Kopftuch ab und stopfte es in ihre Manteltasche. Kaum hatte sie auf den Klingelknopf gedrückt, öffnete ihr Marianne Moser, eine rundliche Frau in den Siebzigern, die ihre Herzensenkelin mit strahlendem Lächeln ansah. Über ihrer hochwertigen Kleidung, die sie fast ausschließlich bei Lodenfrey erwarb und die Fee immer bewundernd lobte, trug sie eine Küchenschürze. Duft von frischem Gebäck füllte den Eingangsbereich.

»Felizitas, i freu mi, di zu sehn. Komm rein, Madel.«

Fee mochte Frau Mosers Bayerisch und wie sie ihren Vornamen aussprach, mit einem lang gezogenen »i«.

»Grüß Gott Frau Moser. Ich freue mich auch. Eine neue Frisur? Schick!« Fee bemühte sich, einen möglichst normalen Eindruck auf ihre Ersatzoma zu machen. Dass diese für Komplimente empfänglich war, hatte sie längst kapiert. Fee fand die Eitelkeit der Professorengattin charmant.

Marianne Moser fasste sich an den kurz geschnittenen Hinterkopf, reckte den Hals und grinste.

»Schee, gell? A bisserl mit der Zeit gehn, schad nix. Doch lass di anschaun. Du warst schon lang nit mehr bei uns. Hm, … bist neben der Spur? Willst drum zum Siegfried?« Fees Lächeln gefror. Ihr Herz saugte sämtliches Blut aus ihrem Gesicht. »Magst nachher an Kaffee mit uns trinke?«, wechselte sie das Thema. »I hab‘ frischen Zwetschgendatschi gebacken. Gib mir dein Mantel, Felizitas. I häng ihn da auf.«

»Danke, gern.« Fee überreichte ihr das Kleidungsstück. »Beinahe hätte ich es vergessen. Ich habe was für Sie.« Fee nahm ihre Handtasche von der Garderobenkommode und zog den länglichen Briefumschlag aus dem Seitenfach. Den anderen drückte sie noch tiefer hinein.

»Da sind zwei Freikarten drin, für mein Konzert am 1. Juni. Ich bin furchtbar aufgeregt.«

»Warum? Du gibst doch oft Konzerte.«

»Ja, aber nicht im Herkules-Saal. Zum ersten Mal spiele ich dort. Mit dem Bayerischen Rundfunkorchester und Sir Simon Rattle am Pult.«

»Oha! Was spielst denn?«

»Das 5. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie und Ihr Mann kämen.«

Marianne Moser zog die Karten aus dem Umschlag und strahlte. »So gute Plätze!«, jubelte sie im Diskant. »EMPEROR CONCERTO in Es-Dur. A bombige Überraschung, liebe Felizitas. Damit machst uns a große Freud. Dank dir scheen!«

Am liebsten hätte Fee sie umarmt, – so wie früher –, traute sich aber nicht. Schließlich war sie jetzt erwachsen.

»Aufi mit dir. Siegfried, wart schon auf di. Mir können später reden.«

Als Fee die Stufen hochstieg, drehte sie sich um und erschrak über Marianne Mosers ernst gewordenes Gesicht.

Fee klopfte und öffnete leise die Tür. Sie sah Siegfried Moser am Fenster stehen, der die Kastanie vor dem Haus betrachtete, die ihre Blütenkolben stolz in die Luft streckte. Sein Blick folgte einem Blatt, das sich vom Ast gelöst hatte, in Zeitlupe durch die Frühlingsluft schwebte und langsam, wie eine Feder, auf den Asphalt niedersank.

Wärme durchflutete Fee, als sie den Professor so in Gedanken versunken sah. Früher war ihr seine Ähnlichkeit mit Albert Einstein nicht aufgefallen: Sein graues Haar stand in alle Richtungen, als wolle es die Schwerkraft widerlegen. Er trug eine ausgebeulte Cordhose, ein kariertes Hemd, darüber eine beige Weste.

Fee hüstelte. Hatte Siegfried ihr Klopfen nicht gehört?

Der Professor drehte sich um, ging auf Fee zu und umhüllte ihre Hände. Das tat er immer.

»Felizitas. Ich bin froh, dich zu sehen. Seit deinem Anruf habe ich mir Sorgen gemacht. Wie geht es dir? Ich habe gehofft, es sei endgültig vorbei mit den Panikattacken. Setz dich und erzähl mir alles.«

Prof. Siegfried Moser deutete auf den Patientenstuhl vor seinem massiven Schreibtisch, auf dem sich kreisrunde Abdrücke von Tassen verteilten. Zwei hölzerne Buchstützen – in Form von sitzenden Löwen – keilten an der Stirnseite mehrere zerfledderte Fachbücher ein. Ein paar Papiere lagen locker gestapelt daneben. Fees Blick blieb an den Stiftspuren auf der Schreibunterlage hängen. Sie erinnerte sich daran, welchen Eindruck der Therapieraum vor dreizehn Jahren auf sie machte. Nichts hatte sich seither verändert.

»Sag, wie geht es dir?«, wiederholte er und sah ihr direkt in die Augen. »Wie schlimm ist es?«

»Schlimm ist, dass meine Eltern auf Gran Canaria sind und nicht da waren, als der Brief eingeworfen wurde.« Fee atmete tief durch.

»Aha! Es geht um einen Brief«, sagte Siegfried Moser und setze sich auf seinen Sessel, dessen Leder brüchige Stellen aufwies.

»Ja. Da ist er.« Mit zwei Fingern hatte sie den Umschlag aus ihrer Handtasche geangelt und hielt ihn unter die Nase des Professors. Es hatte sie Überwindung gekostet, die beiden Blätter wieder in das Kuvert zu stecken. Das ist, als müsste ich mit bloßen Händen Brennnesseln anfassen, hatte sie in dem Moment gedacht.

Professor Moser zog die Seiten heraus und setzte seine Lesebrille auf. Lange betrachtete er die beiden Schreiben. Er runzelte die Stirn, schnaufte wie ein Blasebalg, drehte und wendete die Blätter, als wolle er eine Geheimschrift entdecken. Sogar seine Lupe nahm er zur Hand.

Opa Siegfried kam ihr vor wie ein Pathologe, der eine Leiche seziert. Fee schauderte und richtete ihre Augen auf die gegenüberliegende Wand, an der Bilder berühmter Kollegen hingen, angeführt von Siegmund Freud und C. G. Jung. Diese vertrauten Fotos beruhigten sie und erlaubten ihr, gedanklich abzuschweifen.

Sie erinnerte sich an ihre erste Panikattacke. Damals glaubte sie, sterben zu müssen. Es war furchtbar. Ihre Mutter brachte sie kurz danach zu Professor Moser. Bei den ersten Sitzungen war Christine noch dabei und hielt ihre Hand. Sie machte gute Fortschritte und der Therapeut meinte, dass Fee nun stabil genug sei, die Stunde allein durchzustehen. Damals saß sie auf dem gleichen Stuhl, am gleichen Ort. Die Hausärztin der Lichtenfels erkundigte sich immer sofort, was dem Mädchen fehlte. Nicht so der Professor. Fee gewöhnte sich an die Wartezeit, in der sie von ihm beobachtet wurde, ohne etwas zu sagen. Fee entwickelte damals eine Strategie, seinem prüfenden Blick auszuweichen, indem sie die Lieblingsgeschichte ihrer Mutter wie ein Mantra wiederholte:

»Du bist ein Schreikind gewesen. Besonders bei lauten Alltagsgeräuschen hast du gestrampelt und mit den Armen gerudert, als wolltest du eine Gefahr abwehren. Ich habe Kinderlieder gesungen. Das half. Ich habe dir auf dem Klavier vorgespielt. Das half noch besser. Du hast dich beruhigt und aufmerksam den Klängen gelauscht. Du konntest noch nicht einmal laufen, da musste ich dich auf meinen Schoß nehmen. Dabei hast du mit deinen kleinen Händen einzelne Tasten gedrückt, die Töne zu Melodien zusammengefügt und dabei gequietscht vor Vergnügen.«

Siegfried Moser blickte auf.

»Felizitas, ich bin stolz auf dich. Auch weniger sensible Menschen wären bei dieser Nachricht in Panik geraten. Gut, dass du nicht mehr meine Patientin bist, sonst dürfte ich das nicht. Ich möchte den Brief Hauptkommissar Obermeier zeigen. Das ist eindeutig eine Drohung, die du nicht auf die leichte Schulter nehmen solltest.« Er wiegte den Kopf. »Da müssen Nachforschungen folgen. Ich kenne niemand Besseren als meinen Freund Karl. Er soll die Blätter untersuchen lassen. Vielleicht befinden sich Spuren auf den Papieren … außer unseren natürlich. Heutzutage bekommen sie im Labor fast alles heraus. Mich dünkt, der Verfasser des Schreibens ist entschlossen.«

»Sie glauben also, dass es ein Mann ist?«

»Unbedingt! Das sagt mir meine Erfahrung. Die Tagebuchseite hat eine Frau geschrieben. Ich müsste mich schon sehr irren, wenn das nicht zutrifft. Nur kann ich mir keinen Reim darauf machen, was das Ganze soll.«

Fee straffte ihren Körper.

»Gut, dass Sie sich drum kümmern. Ich traue mich nicht, ich meine … zur Polizei zu gehen und so. Was glauben Sie? Bin ich in Gefahr?«

»Hm, schwer zu sagen.« Siegfried Moser nahm seine Lesebrille ab. »Mach dir keine unnötigen Sorgen. Schade, dass deine Eltern verreist sind. Ich rate dir, bei Max zu übernachten.« Fee horchte auf. Ihrem feinen Gehör entging sein besorgter Unterton nicht.

»Ja, das habe ich mir auch überlegt. Wie gesagt: Morgen will er zurückkommen. Er weiß nichts von dem Brief … soll er auch nicht. Zumindest vorläufig. Er würde sofort alles stehen und liegen lassen und zu mir fahren. Das will ich vermeiden. Das Projekt ist wichtig für ihn.«

»Nun gut! Ruf ihn an und sage ihm, dass du in seiner Wohnung übernachten möchtest. Hast du einen Schlüssel?«

»Hab‘ ich.«

Der Professor nickte. »Gut! In dem großen Wohnhaus bist du von anderen Leuten umgeben.«

Fee hielt seinem Blick stand.

»Das werde ich tun. Ganz bestimmt.«

Siegfried Moser lächelte und stand auf.

»Lass uns runtergehen zu meiner Frau. Es duftet nach Kaffee. Später werde ich mich mit Karl in Verbindung setzen. Sobald ich mehr weiß, gebe ich dir Bescheid.«

Siegfried Moser öffnete die Tür und rief mit klingendem Bariton: »Wir kommen!«

***

Als Fee die Villa verließ, gingen gerade die Straßenlaternen an. Der typische Münchner Abendwind fegte die Wärme des sonnigen Frühlingstages weg. Mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern machte sie sich auf den zwanzigminütigen Heimweg in Richtung Denning. Wieder überkam sie das Gefühl, dass ihr jemand folgt. Sie lief schneller. Keuchend bog sie in die Dilschauerstraße ein und verlangsamte ihren Schritt erst kurz vor der Haustür. »Ich hätte Handschuhe anziehen sollen, ich dumme Kuh«, schimpfte sie und rieb die Hände, blies Atem in die geformte Mulde, bis sie die steifen Finger wieder bewegen konnte und griff nach dem Schlüssel. Ohne den Mantel auszuziehen, ging sie direkt in die Küche, hob den Wasserhahn hoch, ließ den Strahl in den Kessel fließen und stellte die Herdplatte an. Sie setzte sich auf den Drehhocker mit Rollen, den ihre Mutter so praktisch fand. Als wäre es eine avantgardistische Komposition, lauschte sie den zuerst zischenden, dann blubbernden Geräuschen des Wasserkochers, die in einem schrillen Pfeifen endeten.

Was für wunderbare Menschen die Mosers sind, dachte Fee, als sie das Wasser über den Teebeutel goss. Mit ihnen über Kunst, Literatur und Musik zu plaudern tut mir immer wieder gut.

»Köstlich!«, hatte sie nach dem ersten Bissen den Pflaumenkuchen gelobt.

»Die Frücht sind von unserm Baum. Magst welche haben? Die kannst a so essen. Sind keine Würmer drin.« Fee lehnte dankend ab, bewunderte aber das farbenprächtige Paradies, in das Marianne Moser ihren Garten verwandelt hatte. Wurde sie gerade aus ihrem Paradies vertrieben?

Gleich einer Spinne, die das Netz um ihren Körper webt, um sie darin zu ersticken, verengte sich ihr Brustkorb. Als Teenager wäre sie dieser Rachedrohung hilflos ausgeliefert gewesen. Doch diesmal fühlte sich ihre Angst anders an, nicht so diffus wie früher. Jetzt trug sie einen anderen Namen: FURCHT. Sie fürchtete sich vor dem Menschen, der sie bedrohte. Ein gewaltiger Unterschied. Gegen eine konkrete Gefahr ließ sich etwas tun, – hoffte sie zumindest.

»Ich werde mich wehren«, sagte sie und klopfte sich innerlich auf die Schulter. Den Rat des Professors wollte sie sofort in die Tat umsetzen und möglichst schnell zu Max Wohnung fahren. Doch zuerst musste sie ihn anrufen. Um diese Uhrzeit hatte er Feierabend. Sie zog den Mantel aus und legte ihn auf den Küchentisch, nahm die heiße Tasse wie einen Kelch in beide Hände und ging damit ins Wohnzimmer.

Sie setzte sich aufs Sofa, hob die runtergefallene Decke auf, legte sie sich auf den Schoß, griff nach dem Handy und drückte auf die gespeicherte Nummer.

»Brandstätter«, meldete sich Max.

Komisch. Hat er nicht auf das Display geschaut?

»Hallo mein Schatz. Ich hoffe, ich störe dich nicht.«

»Ach Fee, du bist es. Ich bin gerade auf dem Weg ins Restaurant. Ich will mich dort mit zwei Mitarbeitern zum Abendessen treffen. Schön, dass du anrufst. Ähm … du bist mir zuvorgekommen. Sag, wie geht es dir? Deine Stimme klingt komisch. Bedrückt dich was?«

»Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen. Doch ich habe eine Frage: Kann ich heute bei dir übernachten? Ich fühle mich so allein in dem leeren Haus und würde es mir gern in deiner Wohnung gemütlich machen. Wenn ich in deinem Bett schlafe, denke ich, dass du bei mir bist.«

»Klar kannst du bei mir schlafen. Sag, fühlst du dich alleingelassen? Soll ich mich ins Auto setzen? In vier Stunden könnte ich da sein. Ich habe morgen zwar noch eine Besprechung, aber die könnte ich sausen lassen.«

»Nein, auf keinen Fall!«, rutschte es ihr heraus. Sie versuchte, ihre brüske Äußerung abzumildern. »Bis morgen komme ich zurecht. Erledige du deine Arbeit. Ich werde dich am Nachmittag erwarten.«

»Wie du meinst.« Max klang beleidigt.

»Ach Schatz. So war das nicht gemeint. Natürlich wäre ich froh, wenn ich mich heute Nacht an dich kuscheln könnte. Aber du musst nicht gleich springen, wenn ich mal niese. Deine Arbeit ist wichtiger als meine kleinen Neurosen. Damit komme ich zurecht.«

«Wirklich?«

»Ja, wirklich.«

»Na gut. Allerdings ist mein Kühlschrank leer. Vielleicht findest du was in meinem Tiefkühler.«

»Mach dir deswegen keinen Kopf. Ich gehe früh ins Bett. Wir verzichten heute auf den Gute-Nacht-Anruf. Okay?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Ich liebe dich.« Fee schmatzte einen Kuss ins Telefon und legte auf.

Ihr Körper schmerzte. Sie hatte die ganze Zeit versucht, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Jetzt brachen sie sich Bahn. Schluchzend gab sie sich ihrer Emotion hin und heulte, bis sich die Schleusen wieder schlossen. Manchmal tut es gut, alles rauszulassen, dachte sie. Ich fühle mich wesentlich entspannter, fast munter. Also los! Schnell ein paar Sachen packen.

Fee schulterte ihre Reisetasche und ging in die Garage, wo die »Familienkutsche« stand, ein alter Audi, den sie »Dino« nannte. Mit Dino wollte sie auf dem schnellsten Weg in die Innere Wienerstraße gelangen. Sie schmiss ihre Tasche auf den Beifahrersitz und zündete den Motor. Mit quietschenden Reifen schoss sie aus der Garage.

Fee fuhr durch die beleuchtete Innenstadt und genoss den Anblick der Lichtreklamen, gönnte sich einen kurzen Blick auf die exquisit dekorierten Schaufenster der hier ansässigen Luxusgeschäfte und nahm die Stimmen der Menschen wahr, die vor den gut besetzten Lokalen den Abend verbrachten. Ihr Stimmungsbarometer stieg.

Sie parkte Dino auf Max Stellplatz in der Tiefgarage. Er soll sich wo anders hinstellen, beschloss sie ohne Gewissensbisse. Mit dem Lift fuhr sie ins fünfte Stockwerk und schloss die knarzende Tür auf.

»Huch, meine Nerven! Die muss Max unbedingt ölen. Ich sag‘s ihm morgen.« Sie ließ ihre Reisetasche neben seinen Schuhpaaren fallen, die wie aufgestellte Soldaten zu einer Parade wirkten.

Jedes Mal, wenn Fee die hohen Räume betrat, musste sie an Hilde Brandstätter denken, Max Tante, – eine waschechte Münchnerin, – die ihm die Wohnung vererbt hatte. Sonst könnte Max sich so ein begehrtes Domizil nicht leisten.

Fee ließ sich einen Espresso aus der Kaffeemaschine, schlenderte mit der Tasse ins Wohnzimmer und stellte sie auf dem Couchtisch ab. Jedes Möbelstück, die Bücher und die robusten Grünpflanzen strömen den Geist eines in sich ruhenden Menschen aus. Sie mochte die beiden Ölbilder von München und der Isar über dem Sofa. Kleinere gerahmte Fotos der Familie standen auf dem Sideboard. Eines davon zeigte ein Hochzeitsfoto von Max Eltern und noch einige mit ihnen und dem kleinen Jungen in verschiedenen Altersstufen. Fee dachte, wie schrecklich es für Max gewesen sein musste, seine Eltern so früh und so kurz hintereinander zu verlieren. Als er zwölf war, erkrankte die Mutter und erlag schließlich einem Herzinfarkt. Seine Eltern hatten sich sehr geliebt und es fiel dem Witwer schwer, den Tod seiner Frau zu verkraften. Darum hielt sich der Verdacht, dass es Selbstmord gewesen war, als sein Vater ein halbes Jahr später bei einem Unfall ums Leben kam. Die Polizei sagte, dass kein ersichtlicher Grund vorlag, warum sein Wagen den Begrenzungszaun der Brücke durchbrochen hat und in die Tiefe gestürzt ist.

Max musste danach therapiert werden, um den Verlust zu verarbeiten. Als Vollwaise wohnte er ab da bei Tante Hilde, zumindest in den Schulferien. Bis zum Abitur war er im Internat. Der Gedanke an Max grausames Schicksal legte sich wie Schwingen eines schwarzen Vogels auf ihre Seele. Das durfte sie nicht zulassen.

Es zog Fee in Max Arbeitszimmer, wo ihr Lieblingsbild hing. Claude Monets: Die Frau mit Sonnenschirm. Es stammte ursprünglich aus einem übergroßen Kunstkalender. Max hatte es ihretwegen rahmen lassen. Sie fand es schade, die Monatsseite vom April mit dem Altpapier zu entsorgen. Ihr gefielen die leicht hingetupften Wolken und der sich bauschende Rock der Trägerin, die gemeinsam mit dem Kind in Richtung des Betrachtenden schaut. Das impressionistische Gemälde strahlte eine erfrischende Dynamik aus. Auf mich wirkt es wie eine frische Meeresbrise, dachte Fee und ließ die Stimmung auf sich wirken. Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Sie rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, stopfte ein Kissen in den Rücken, schlüpfte aus ihren Sneakers und legte die Füße auf den Glastisch. Der Espresso war inzwischen kalt geworden und schmeckte bitter.

Wonach stand ihr der Sinn? Schlafen konnte sie noch nicht. Lesen? Unmöglich! Den Fernseher anmachen? Keine Lust. Da bevorzugte sie ihr Kopfkino. Sie lehnte sich zurück und betrachtete die stuckverzierte Decke.

Fee zupfte sich am Ohrläppchen. »Ach Max. Du bist so stark, obwohl du so viel durchgemacht hast«, sagte sie leise. »Du ahnst nicht, wie sehr ich dich bewundere. Gegen deine seelischen Qualen kommen mir meine banalen Ängste bescheuert vor. Ich hatte Hilfe, mit meinen Dämonen fertig zu werden. Und du?« Fee spann den Faden lautlos weiter:

Deine Tante muss eine pragmatisch denkende Frau gewesen sein. Sie hat dir geraten, Sport zu treiben. Jeden Morgen bist du eine Stunde joggen gegangen. Das hat dir geholfen, über den Tod deiner Eltern hinwegzukommen, hast du gesagt. Für mich wäre die Rennerei nichts. Hilde hat dir alternativ vorgeschlagen zu malen. Doch bildende Kunst lag dir nicht … mangels Talents, hast du behauptet. Wenigstens eine kleine Schwäche, die ich mit dir teile. Fee lächelte. Ein Instrument spielen zu lernen, war auch nicht dein Ding. Ihr Mund wurde noch breiter. Aber wenigstens bist du gern in Konzerte gegangen. Auch in einen meiner Klavierabende. Mein Gott, das ist schon fünf Jahre her. Die Szene ihres Kennenlernens nahm Gestalt an:

»Würden Sie mir bitte ein Autogramm geben? Ich bewundere ihr tief emotionales Spiel«, sagte Max damals, schaute auf den Boden und hielt ihr das Programm hin. »Sie gehen vollkommen in der Musik auf und sind fähig, ihre Empfindsamkeit zu übertragen. Ihr Klavierspiel ist wie Medizin für kranke Seelen.«

Mit diesem Kompliment hatte er sie im Sack. Niemand zuvor konnte in wenigen Worten ausdrücken, was Musik für sie bedeutete, und so wollte sie den Augenblick möglichst lange genießen. Sie fachsimpelte mit ihm über eine halbe Stunde, obwohl Claudia auf sie wartete. Zum ersten Mal tat Fee etwas, was ihr unmöglich schien. Sie flirtete. Der junge Mann mit den wuscheligen Haaren, den blau-grauen Augen und dem durchtrainierten Körperbau gefiel ihr. Sie wagte den Blickkontakt. Seine Augen schauten sie offen an.

Das war wohl mein erster Schritt ins Frausein, reflektierte sie und nieste. »Kuck an, meine Nase ist derselben Meinung«, rutschte es ihr heraus. Fee griff nach der Packung Papiertaschentücher auf dem Tisch und schnäuzte sich ausgiebig. »Ich war ganz schön schräg, damals. Mager, ungelenk, ohne eine Spur von Sex-Appeal. Unglaublich, wie kindlich ich fast bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr war.« Fee ließ das Kopfkino weiterlaufen:

Ich wollte Max unbedingt wiedersehen. Er mich auch. Wir verabredeten uns, und meine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Er erfüllte meine Wünsche, bevor ich sie aussprechen konnte. Kleinigkeiten, gewiss. Er hängte mir sein Jackett über die Schultern, bevor ich zu frieren begann, reichte mir ein Getränk, bevor ich Durst spürte, nahm meine Hand, wenn im Kino eine ergreifende Szene lief. Vor allem konnte er gut zuhören. Er gab mir nie das Gefühl, sonderbar zu sein … was ich definitiv war und noch immer bin. Fee sah an sich herab und betrachtete ihre Rundungen. »Vielleicht bin ich jetzt doch …«, entfuhr es ihr und sie spürte das Blut in ihre Wangen schießen. Ich wollte meine Freizeit nur noch mit ihm verbringen. In den ersten beiden Jahren berührte Max mich kaum. Küsschen auf die Wangen und ein gelegentliches Berühren meiner Hände. Das war alles, was er sich traute. Ich dachte schon, dass er sei schwul. Damit hätte ich leben können. Seine Freundschaft wollte ich auf keinen Fall verlieren. Ich wusste, ein NEIN nahm er wörtlich. Ich entwickelte selbst das Bedürfnis, ihn anzufassen, mich an seine Brust zu schmiegen. Bei einer unserer Wanderungen ist es dann passiert. Wir befanden uns gerade auf dem Rückweg vom Ebersberger Forst, da hörte ich Donnergrollen in der Ferne. Es war ein schwülheißer Tag gewesen.

»Fee, ich fürchte, wir schaffen es nicht bis zum Auto. Es wird gleich regnen«, sagte Max besorgt, weil er wusste, wie hysterisch ich bei Gewitter reagiere. Kaum hatte er das gesagt, ergriff mich ein Strudel der Panik.

»Nicht weit von hier ist die Hubertuskapelle. Dort können wir uns unterstellen, bis der Sturm vorbeigezogen ist. Keine Angst. Ich bin bei dir. Uns passiert schon nichts.«

Ich war vollkommen neben mir. Max nahm mich bei der Hand und zog mich mit großen Schritten in die andere Richtung. Die Wolkenbank kam immer näher. Wetterleuchten ließ sie bedrohlich aussehen. Der Wind nahm zu, wirbelte trockenes Laub auf und fegte es zwischen den sich biegenden Bäumen des Waldes durch. Ich zog instinktiv die Kapuze meines Anoraks über den Kopf, um ihn von herabfallenden Tannenzapfen und Eicheln zu schützen. Erste dicke Tropfen und dann Hagelkörner trafen mich wie Steine. Da sah ich die weiße Kapelle im Blitzlicht leuchten. Unseren Zufluchtsort. Bevor der Orkan richtig in Fahrt kam, hatten wir die schützenden Wände erreicht und kauerten uns am Fuße des kleinen Altars zusammen. Ich erinnere mich gut, welche Gefühle mich in dem Moment durchströmten. Wie in einem Faradayschen Käfig konnte die Gewalt der Natur mir nichts anhaben. Max beschützte mich. Und Gott? So wenig ich an ihn glaube, in diesem Moment fing ich an zu beten. Ich wurde immer ruhiger und schmiegte mich in Max Arme. Die Blitze ließen nach und die Abstände zwischen den Donnerschlägen wurden größer. Meine Sinne waren aufs Äußerste geschärft. Ich habe die verschiedenen Düfte noch heute in der Nase. Harziges Holz, der leicht modrige Geruch von Pilzen, nassen Tannennadeln und Wildkräutern, gemischt mit der männlichen Ausdünstung seines Körpers. In freier Natur, – weit weg von anderen Menschen –, kamen Bedürfnisse in mir hoch, die ich bisher nicht kannte. Ich wollte Max küssen und hob den Kopf. Seine Lippen berührten mich sanft. Plötzlich war ich diejenige, die kein Halten mehr kannte.

»Möchtest du das wirklich, Fee?«, fragte Max, als ich wieder zu Atem kam.

»Ja, wirklich!« Das war mir in diesem Moment klar. Wir küssten uns, wie beim Happy End einer Liebesschnulze. Fehlte nur noch das Einsetzen eines Orchesters und seinen jubilierenden Geigen, die in den Abspann münden. Der Film war zu Ende.

Fee schüttelte sich und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Puh, ist das kitschig!«, wiederholte sie die Worte ihrer Freundin Claudia, der sie die Geschichte einmal erzählt hatte. Gegen deren Liebesleben … Und wenn schon! Ich bin nun mal so und kann mich nicht verbiegen. Fee reckte ihr Kinn und dachte über ihre Libido nach. Im Nachhinein war sie froh, ihre Intimität mit Max so lange hinausgezögert und ihre Beziehung auf einer starken Freundschaft aufgebaut zu haben. So konnte das gegenseitige Vertrauen wachsen. Er hatte seine Zurückhaltung anders begründet.

»Ich wollte kein Risiko eingehen und war bereit, dich nur platonisch zu lieben … wie ein Bruder für dich zu sein. Es liegt an deiner unantastbaren Aura, warum ich mich nicht getraut habe, dich ins Bett zu kriegen.« Fee sah an sich runter. Wo steckt diese Aura nur? Ich sehe sie nicht. Meine Antwort war ziemlich dreist, für meine Verhältnisse.

»Das wäre ein unverantwortliches Opfer.« Fee glitt mit den Händen über ihre Brüste, ihren Bauch und landete zwischen den Beinen. »Wenn ich daran denke, wie fantastisch unser Sex ist.« Fee atmete genüsslich ein und schaute auf die Wanduhr.

»Ach, du Schreck. Jetzt habe ich fast eine geschlagene Stunde mit Tagträumen verbracht. Ich muss dringend aufs Klo.«

Nachdem sie sich erleichtert hatte, spürte sie ein hohles Gefühl im Bauch. Vom Kuchen am Nachmittag und dem kalten Espresso hatte sie Sodbrennen. Ihr Magen verlangte etwas Herzhaftes. Sie zog die obere Schublade des Tiefkühlers auf und entdeckte eine Packung Baguette-Stangen. Darauf Schinken und Käse. Zehn Minuten in einen vorgeheizten Backofen schieben, stand drauf.

Das kann sogar ich, dachte sie und nahm die beiden Teile aus dem Karton, klappte die verglaste Tür des Ofens auf, holte ein Blech raus und legte sie auf Backpapier. Auf dem Balkon stand eine Kiste Weizenbier. Eine Flasche davon quetschte sie in die entstandene Lücke des Eisfachs, stellte den Ofen auf 180 Grad und wartete, bis das Lämpchen ausging. Dabei fiel ihr ein, dass sie unbedingt ihre Eltern anrufen musste. Sie hatten eine Nachricht auf dem Festnetz AB hinterlassen, dass sie sich möglichst heute noch melden sollte.

»Ach, wie blöd. Wie konnte ich das vergessen«, warf sie sich vor. »Nun macht schon, ihr Dinger!« Die zehn Minuten dehnten sich. Appetitanregender Duft schlug ihr entgegen, als sie die Klappe öffnete. Beinahe hätte sie sich die Finger verbrannt.

Mampfend drückte sie die Handynummer ihres Vaters.

»Hallo Engelchen, schön, dass du dich meldest. Mama und ich warten schon den ganzen Abend auf deinen Anruf. Wir sitzen gerade mit einem Cocktail auf der Terrasse und haben die Sonne im Meer versinken sehen. Du siehst, uns geht es gut. Aber sag, wie geht es dir? Alles in Ordnung?«

»Aber klar, Papa. Ich muss viel üben … für meine Tournee in der nächsten Woche. Wann kommt ihr zurück?«

Johannes Lichtenfels räusperte sich. Fee hörte ihre Mutter im Hintergrund reden.

»Nun, es gefällt uns großartig hier, aber spätestens zu deinem großen Konzert wollen wir wieder in München sein. Deinen Auftritt dürfen wir auf keinen Fall verpassen. Aber warum fragst du? Ist irgendwas nicht in Ordnung? Sollen wir früher kommen?«

»Nicht doch. Bleibt wo ihr, seid. Ihr würdet mich eh nicht zu Gesicht bekommen. Wie gesagt, ab nächsten Mittwoch gehen meine fünf Rezitals in Italien los.«

»Ach ja, stimmt. Habe ich grad vergessen. Das wird sicher eine schöne Abwechslung für dich.«

»Ich freu mich auch riesig darauf. Wenn ihr am 31. Mai zurück seid, ist das rechtzeitig genug. Nach dem Klavierkonzert habe ich erst mal Ferien. Da können wir mehr Zeit miteinander verbringen.«

»Das werden wir, Engelchen.«

»Ein bisschen beneide ich euch um den Urlaub. Genießt ihn. Dann machen wir mal Schluss. Ich gehe gleich ins Bett. Der Tag war anstrengend.«

Doch so schnell ließ sich der Anwalt nicht abwimmeln. Er bestand darauf, dass Fee ein paar Worte mit seiner Frau wechselte. Die Unterhaltung verlief so, wie sie jede besorgte Mutter mit ihrem Kind führt, egal wie alt es ist. Fee wusste, dass sie Christine kaum täuschen konnte, wenn es um ihren Gemütszustand ging. Sie musste sich zusammennehmen und so tun, als sei alles bestens. Sonst würde sie nicht lockerlassen. Mit großer Konzentration gelang es ihr einigermaßen, ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen. Christine wünschte ihr schließlich eine gute Nacht und dass sie auf sich aufpassen solle.

Fee war nach dem Gespräch erschöpft. Ihre Glieder fühlten sich wie poröses Eisen an. Schwer und zerbrechlich zugleich. Nach einer Katzenwäsche schlüpfte sie in ihr Nachthemd und vergrub sich unter Max Bettdecke. Sie versank kurz danach in traumlosen Schlaf. Erst gegen morgen packte sie der Alb. Sie rannte mit nackten Füßen über vertrocknete, spitz aus dem Boden ragende Grasstoppel und scharfkantige Steine. Trotz immenser Kraftanstrengung kam sie nicht voran. Sie blieb auf der Stelle und konnte keine Distanz zu ihren Verfolgern schaffen. Tränen liefen ihr übers Gesicht wie Sprühregen, der ihre Augen überlaufen ließ. Ihre Tränenflut verwandelte sich in einen See, durch den sie verzweifelt schwamm, ohne zu wissen, in welcher Richtung sich das rettende Ufer befand. Ihre Verfolger hatten sich in Raubfische verwandelt, die kurz davor waren, sie zu schnappen. Ein Signalton verscheuchte plötzlich den Schwarm. Sie japste und riss die Augen auf.

»Das war ein Albtraum und was für einer!« Fee atmete erleichtert auf, setzte sich und erschrak über das Schlachtfeld um sich herum, bestehend aus dem rausgezogenen Laken und der zerwühlten Bettdecke. In der Mitte der Matratze hatte sich ein feuchter Fleck gebildet und auch das Kopfkissen war nass. Immer noch drang der Signalton an ihr Ohr.

»Verflixt! Das ist mein Handy!« Sie tastete den Nachttisch ab, bis sie das Telefon gefunden hatte. Die Nummer auf dem Display verschwamm vor ihren verklebten Augen.

»Ja«, hauchte sie.

»Liebes hab‘ ich dich aus der Dusche geholt? Es hat so lange gedauert, bis du abgenommen hast.«

»Wie hast du das erraten?« Fee bemühte sich, ruhig zu klingen.

»Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich jetzt losfahre. In vier Stunden bin ich bei dir, falls es unterwegs keine Staus gibt. Ich freue mich auf dich.«

»Ja, ich auch. Übrigens steht Dino auf deinem Parkplatz. Du musst wo anders parken. Tut mir leid.« Zum Glück fiel ihr das gerade noch ein.

»Macht nichts. Mein Nachbar ist mit seinem Auto verreist. Er hat mir erlaubt, seinen Parkplatz zu benutzen. Aber danke für den Hinweis. Dann bis später.«

Nachdem Max aufgelegt hatte, stieg Fee aus dem feuchten Bett. Sie fuhr sich durch die Haare, die sich verschwitzt um ihren Kopf kringelten.

»Das Bettzeug muss in die Wäsche und ich unter die Dusche!«, sagte sie pragmatisch, zog das Kissen und die Decke aus ihren Bezügen, entfernte das Spannbetttuch, schlüpfte aus ihrem Schlafshirt und stopfte alles in Max Waschmaschine, schüttete etwas Pulver in den herausgezogenen Behälter, – Weichspüler konnte sie nicht finden, – stellte die Maschine auf sechzig Grad und drehte den Duschhahn auf. Sie hielt ihren Kopf und ihr Gesicht unter die warmen Strahlen, ließ das Wasser in ihren geöffneten Mund laufen, gurgelte und spuckte es wieder aus. Fast eine halbe Stunde verbrachte sie unter der Dusche, bis sie endgültig sicher war, den quälenden Nachtmahr ab- und ausgewaschen zu haben.

Sie schlüpfte in Max blauen Bademantel, — der ihr fast bis zu den Füßen reichte —, schob die Ärmel hoch und band sich ein Handtuch um den Kopf, ging in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und durchsuchte Max Schränke nach etwas Essbarem. Ihre Ausbeute bestand aus einer angebrochen Tüte Müsli und H-Milch. In einem Korb auf der Mikrowelle stand ein Obstkorb mit Äpfeln, die schon etwas schrumpelig aussahen, aber sonst noch gut waren. Sie schälte die Früchte, schnippelte sie in eine Schale und bereitete sich ihr Frühstück. Während sie mit großem Appetit aß, überlegte sie, wie sie Max möglichst schonend über die Ereignisse des Vortags informieren konnte. Trotz der Nähe, die sie beide zueinander hatten, wollte sie ihn nicht belasten. Doch wen, wenn nicht ihn …?

»Warum bin ich so … so feig, so ein Hahnenfuß?«, sagte sie resigniert und seufzte. »Ich muss meine Scheu endlich überwinden. Zum Glück hat Siegfried mir die Verantwortung für den Brief abgenommen.« Fee stand auf und öffnete die Balkontür. Ein sonniger Frühlingstag lachte ihr entgegen. Sie sog die klare Luft tief in ihre Lungen. Egal, welches Geheimnis hinter dem Brief stecken mochte. Fee war froh, dass Max auf ihr Wohlergehen achtete. Von ihrem Albtraum wollte sie ihm lieber nichts erzählen. Den musste sie allein verarbeiten.

Die Waschmaschine hatte ihr Werk getan und Fee füllte den Trommelinhalt in den Trockner.

Gegen vierzehn Uhr klingelte es an der Tür und Fee hörte, wie der Schlüssel ins Loch gesteckt wurde.

»Wie rücksichtsvoll. Typisch Max. Nur jemand wie er, meldet sich an, wenn er die eigene Wohnung betritt«, sagte sie freudig. »Er hätte keine Minute früher kommen dürfen.«

Fee hatte es gerade geschafft, das Schlafzimmer wieder in Ordnung zu bringen und mit etwas Make-up, Rouge und anderen farbgebenden Schminkutensilien die Spuren der Nacht in ihrem Gesicht zu übertünchen. Sie stürzte sich in seine Arme.

»Hoppla, meine Süße. Hast du mich vermisst? Das ehrt mich, oder anders ausgedrückt: Das macht mich glücklich. Du hast mir auch unendlich gefehlt. Es war eine verdammt lange Woche. Telefonieren reicht einfach nicht. Ich muss dich spüren.« Max rieb seinen Körper an ihrem. »Bist du in meinen vier Wänden klargekommen?«

»Ja, prima. Ich bin nicht verhungert und hab‘ prima geschlafen.« Etwas in Fees Tonfall irritierte ihn. Er drückte sie an den Schultern zurück und sah ihr in die Augen.

»Los, sag mir die Wahrheit! Da stimmt was nicht mit dir.«

»Jetzt komm erst mal an«, wich sie seiner Frage aus. Sie wusste, dass er nicht lockerlassen würde. »Es stimmt, ich muss dir was erzählen. Das hat aber Zeit. Du hast sicher Hunger, nach der langen Fahrt. Lass uns in die Trattoria gehen. Dort kann ich in Ruhe mit dir reden. Ist das okay für dich?«

»Keine schlechte Idee. Ich habe gewaltigen Appetit, will aber zuerst schnell meine Sachen versorgen.«

Max ging ins Schlafzimmer und stellte seine Reisetasche aufs Bett.

»Es riecht so frisch hier. Dabei habe ich die Bettwäsche seit vierzehn Tagen nicht gewechselt.«

Fee kämpfte mit sich. Sollte sie ihm doch von ihrem Albtraum erzählen? Nein, keine gute Idee.

»Du riechst mein Parfüm.«

»Möglich. Die Bettwäsche hat deinen Duft angenommen. Du musst öfter bei mir schlafen, auch wenn ich nicht da bin«, sagte er schmunzelnd.

»Jetzt übertreibe nicht. Das Wichtigste fehlt in deiner Wohnung.« Max sah sie erstaunt an. »Du besitzt keinen Flügel oder zumindest ein Klavier.«

Ein Schatten huschte über Max Gesicht. Doch er fing sich sofort wieder.

»Damit kann ich der Künstlerin natürlich nicht dienen, aber ich habe gehofft, du sagst: Das Wichtigste in meiner Wohnung sei ich.« Max kräuselte seine Lippen, was er nur tat, wenn er gekränkt war. Mist! Warum verlangte sie erhöhte Achtsamkeit von ihm, zu der sie selbst nicht fähig war.

»Du bist fies! Du weißt, wie ich das meine. Lass uns gehen. Hörst du, wie mein Magen knurrt?«, versuchte sie ihn abzulenken. Es belastete sie schon immer, wie sehr sie auf ihre Lebensstruktur angewiesen war. Sie brauchte ihr tägliches Ritual, um störungsfrei agieren zu können. Im Moment waren ihre Ankerpunkte ausgehebelt. Kein Wunder, dass sie bei der geringsten Kleinigkeit in Tränen ausbrach. Ganz hinten in ihrem Gehirn versteckte sich der Dämon, zusammengekauert und nur mühsam in Schach gehalten. Bisher war es Siegfried Moser nicht gelungen, ihn zu eliminieren. Ihr persönlicher Quälgeist war leider nicht mit dem Drachen in Wagners Nibelungenring vergleichbar. Obwohl der Professor den gleichen Vornamen trägt, wie der junge Held, der mit Wotans Schwert Nothung, dem Lindwurm den Garaus macht. Witziger Vergleich, dachte Fee.

Das Innere im Fortuna, – dessen Wände handgemalte Motive des Mittelmeerlandes zierten –, ließ Feriengefühle in Fee hochsteigen und die kleine Unstimmigkeit verblassen. Mit etwas Fantasie konnte sie sich in diesem Lokal in das Land der Sehnsucht hineinversetzen (wie Goethe es einst ausdrückte) und die Canzone innerlich mitsingen, die leise aus den Lautsprechern tönten. Jetzt war sie bereit, Max von dem Drohbrief zu erzählen.

»Bei unserem Telefonat am Donnerstagabend habe ich dir gesagt, wie anstrengend der Tag war. Ich musste so viel Organisatorisches erledigen. Gar nicht mein Ding. Am Freitag wollte ich mich ausruhen und hatte es mir gerade auf dem Sofa bequem gemacht, da wurde ein Brief eingeworfen.«

Fee machte eine Pause. Die nächsten Worte brachte sie nur mühsam über die Lippen. Sie trank einen großen Schluck des trockenen Rotweins und räusperte sich. Es gelang ihr, die Situation und den Inhalt des Briefs zu schildern, verschwieg aber ihre Panikattacke.

»Ich kann ihn dir leider nicht zeigen. Den hat der Professor. Er kümmert sich darum.«

»Wieso hat ihn dein Therapeut?«

»Er ist der einzige Mensch, den ich um Rat fragen konnte. Ich wusste nicht, was ich mit dem Brief machen soll. Du warst in Frankfurt.«

»Ist das ein Vorwurf?«

»Ups … nein! Wirklich nicht.«

»Ich wäre sofort losgefahren.«

»Ich weiß. Genau das wollte ich nicht. Ich bin eine erwachsene Frau und muss endlich lernen, mit Herausforderungen umzugehen. Ich muss und will allein stark sein. Nichts für ungut, mein Schatz. Aber ich erinnerte mich in dem Moment, dass Siegfried Moser jemanden von der Polizei kennt.«

»Ach so, verstehe. Clever von dir.« Max zog anerkennend seine Brauen hoch.

»Vielleicht ist das Ganze ein dummer Scherz. Keine Ahnung.«

»Wie, ein Scherz? So kommt mir das nicht vor. Du sagst, die handgeschriebene Seite sei alt, scheint also echt zu sein. Hm, … wirklich rätselhaft. Blöd, dass du den Brief angefasst hast und auch der Professor. Da ist es schwer, noch fremde Fingerabdrücke zu entdecken.«

»Ich weiß!«, sagte Fee genervt. »Noch mal wird mir das nicht passieren.«

»Soll ich nächste Woche bei dir bleiben, Liebes?« Max nahm einen Bissen von seinem Fisch.

»Das ist nicht nötig. Du weißt doch, dass ich am Mittwochvormittag mit Claudia zu meinem ersten Rezital nach Bozen fahre. Dann geht es weiter nach Venedig, Verona, Florenz und schließlich Mailand. Wir kommen am 28. Mai wieder zurück. Dann habe ich Endproben für das Konzert am 1. Juni. Meine Eltern werden ab da wieder in München sein.«

»Das hört sich gut an. Trotzdem werde ich bis Mittwoch nicht von deiner Seite weichen. Mein Assistent kann solange das Bauprojekt betreuen. Ich glaube, bei deiner Managerin bist du in guter Obhut. Du musst sie unbedingt einweihen, falls irgendetwas auf eurer Reise passiert.«

»Mach mir keine Angst!« Fee puffte ihn am Arm.

»Oh, entschuldige. Wie blöd von mir. Ich bin überzeugt, dass du im Ausland von dem Briefeschreiber nichts zu befürchten hast.« Er nahm Fees Faust und küsste sie. »Willst du noch weiter darüber reden?«

»Nein. Bring mich lieber auf andere Gedanken. Ich möchte den Rest des Tages mit dir genießen.«

2

Fischer-Hof, nahe Schwedt DDR, 28. September 1972

Helene stützte ihren Rücken mit beiden Händen und sah auf ihren Bauch. Sie überlegte, wie lange sie noch durchhalten musste.

»Knapp vier Wochen, dann kann ich dich endlich in den Armen halten«, sagte sie sanft und lächelte. Sie hob ihre Augen und ließ ihren Blick über die abgeernteten Ackerböden schweifen. Gerade versank die Sonne am Horizont, die ihre Wärme mit in den Abgrund nahm. Ein Schauer durchfuhr sie. Das Kartoffelfeld lag ausgetrocknet vor ihr, von tiefen Furchen durchzogen, in denen sich die übrig gelassenen Kartoffeln befanden. Das Gras an den Rändern bildete einen grünen Rahmen um das Feld. Flirrend, wie eine Wand, stand die Luft. Sie ermöglichte dem Staub, sich auf den Trecker und den Erntewagen zu legen. Eine Staubschicht lag auch auf den Seelen der Menschen, die um diese Uhrzeit ihr Tagwerk beendet hatten.

Es half nichts. Sie musste wenigstens ein paar der restlichen Knollen einsammeln. Lotte konnte sie nicht schicken. Das Mädchen war mit der Wäsche beschäftigt. Wenn ihr Bruder keine sauberen Hemden im Schrank vorfand, wurde er fuchsteufelswild. Er hat sich so verändert. Wir haben uns alle verändert, dachte Helene.

Das Kind im Bauch drückte auf ihre Blase. Obwohl sie gerade auf dem Klo war, musste sie schon wieder pinkeln. Sie erleichterte sich am Rand des Feldes, hinter einem Findling. Das konnte sie getrost tun, ohne beobachtet zu werden. Weit und breit war niemand zu sehen. Der Stein diente ihr gelegentlich als Sitzgelegenheit, wenn sie eine Pause bei der Feldarbeit einlegte. Auch jetzt wollte sie noch etwas ruhen, bevor sie sich in gebückte Haltung begeben musste. Sie streichelte ihren Bauch und summte eine Melodie von Mozart, die sich wie ein Seidentuch auf dem Acker ausbreitete. Versunken in das diffuse Licht, betrachtete sie den Horizont, der in Abenddämmerung getaucht war, als wäre er durch einen Weichzeichner unscharf verrückt. Helene legte ihren Kopf in den Nacken, schloss die Augen und dachte an Oskar. Wo steckte er gerade? War er immer noch in Schwedt? Auch wenn er schon zu Hause wäre, könnte sie ihm das Buddeln in der Erde nicht zumuten. Seine Hände eigneten sich nur zum Spielen der geliebten Geige. Wenigstens versorgte er sie mit seinem kleinen Gehalt als Musiklehrer. Er kam in letzter Zeit immer später nach Hause. Oft am Abend oder sogar erst nachts. Wahrscheinlich traf er sich mit Leuten, die eine Republikflucht planten. Warum sprach er nicht mit ihr darüber? Sein Schweigen verletzte sie. Das Gefühl, dass er ihr aus dem Weg ging, vertiefte sich in den letzten Monaten. Helene schob den düsteren Gedanken weg und stand auf.

»Ich schaffe das«, ermutigte sie sich. »Und du, mein kleiner Liebling, machst dich so leicht wie möglich. Du willst doch auch, dass deine Mama was in den Magen bekommt.« Sie spürte, wie der kleine Mensch seinen Fuß gegen die Rippen presste, was Helene als Zustimmung deutete, und begab sich in die Hocke. Ihr Rücken wehrte sich gegen diese Position und schickte einen stechenden Schmerz in ihre Wirbelsäule. Doch es gab im Moment niemanden in der Familie, den sie mit der Arbeit betrauen konnte. Sie hob einige Knollen auf, die sich noch fest anfühlten, und steckte sie in ihren Stoffbeutel. Diese gesunde und kraftgebende Erdfrucht ließ in ihr die Hoffnung aufkeimen, dass bald alles gut würde.

»Hallo Helene«, rief Lotte. »Ich habe dich schon überall gesucht.« Das Mädchen kam auf sie zugelaufen und nahm ihr den gefüllten Sack ab. »Mit dem dicken Bauch aufs Feld. Warum hast du mich nicht gerufen?«

»Lass mal, Lotte. Ein bisschen Bewegung schadet mir nicht. Du siehst, es ist alles in Ordnung.«

»Mag sein. Doch ist das meine Aufgabe.«

»Und die Hemden meines Bruders wären dreckig geblieben. Die Folgen wollen wir uns nicht vorstellen. Das weißt du.« Helene kreiste in großen Rädern ihre Arme, was den Tumult veranschaulichen sollte, der entstanden wäre, hätte Lotte ihre Arbeit vernachlässigt.

»Übrigens, dein Bruder hat zwei Fasane geschossen. Sie liegen auf dem Küchentisch. Ich werde sie heute noch rupfen und ausnehmen. Am Sonntag gibt es Fleisch.«

»Wunderbar. Dann bekommen wir endlich mal wieder einen Leckerbissen auf den Tisch. Ist mein Mann schon da?«

»Nein. Er muss noch auf eine Sitzung. Zumindest hat er das am Telefon gesagt. Mehr weiß ich nicht.«

Helene runzelte die Stirn.

»Stimmt! Habe ich ganz vergessen.« Helene wollte die Siebzehnjährige nicht damit belasten, dass es zwischen den Eheleuten kriselte und Oskar sie nicht informiert hatte. Ohnehin nagte an ihr das schlechte Gewissen, Lottes Arbeitskraft bis zum Äußersten auszunützen. Sie war dankbar, dass die jüngste Tochter von Mamis Cousine sich bereit erklärt hatte, die Schwangere zu unterstützen. Persönliche Probleme sollte das Mädchen nicht auch noch mitbekommen. Als hätte Helene ihre Gedanken laut ausgesprochen, blieb Lotte stehen.

»Ach, da ist noch was.«

»Ja?«

»Deine Mutter will unbedingt mit dir sprechen. Du sollst, wenn’s geht, heute noch ins Nebengebäude kommen.«

»Ist was mit ihr? Geht es ihr nicht gut?«

»Nein, das ist es nicht … hm, vielleicht geht es um den Herrn Oberst.«

»Was ist mit meinem Vater?«

»Körperlich unverändert. Aber seine Demenz wird schlimmer. Vorgestern hat er mich Helene genannt. War mir peinlich.«

»Oje! Ich kann dich verstehen. Ich hätte gern eine zusätzliche Hilfe, die dich unterstützt. Vielleicht stellt mir die LPG einen Landarbeiter zur Verfügung. Ich werde nachfragen.«