Memoiren einer Mansarde - Waltraud Danner - E-Book

Memoiren einer Mansarde E-Book

Waltraud Danner

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mysteriöse Geheimnisse umhüllen eine Mansarde, deren Gebäude vor dem Abriss steht. Der Raum im Dachgeschoss erzählt Geschichten von unterschiedlichsten Menschen, die während seiner Existenz in ihm wohnten. Beginnend in den Sechzigerjahren bis hin in die Neuzeit. Amüsant, spannend, berührend, erotisch und unterhaltend entführen die Erzählungen den Lesenden in die Gedankenwelt eines Zimmers, dessen Besonderheit erst am Ende des Buches entdeckt wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 244

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Memoiren einer Mansarde
Impressum
Vorwort
Wer bin ich?
Erster Teil
1 – Die Haushälterin
2 – Das Au-pair
3 – Der Student
4 – Die Künstlerin
5 – Die Tierliebhaber
6 – Das Kind
7 – Der Bürohengst
8 – Die Hellseherin
9 – Der Kaufmann
10 – Der Schauspieler
11 – Magere Zeiten
12 – Der besondere Gast
Zweiter Teil
13 – Die Hausbesetzer
14 – Der Forscher
15 – Die Wendung
16 – Finale

Waltraud Danner

Memoiren einer Mansarde

Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-214-3

E-Book-ISBN: 978-3-96752-712-4

Copyright (2023) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder: Stockfoto-Nummer: 1835366155

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag unter Verwendung von Illustrationen der Autorin Waltraud Danner

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH,

Alte Heerstraße 29

27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Der mit Abstand wichtigste Raum im Weltall

Ist der zwischenmenschliche.

Ernst Ferstl

Vorwort

Geliebte Menschen,

ihr wundert euch sicher über diese Anrede. Nun, das liegt daran, dass ich kein Mensch bin, sondern ein Dachzimmer in einem Mehrfamilienhaus. Ich existiere seit etwa fünfzig Jahren. Das ist nur eine grobe Schätzung, denn im Laufe meines Daseins verbrachte ich viele Jahre in Dunkelheit und verlor das Zeitgefühl. Das Haus soll demnächst abgerissen werden. Alle Zeichen weisen darauf hin. Diese Vermutung veranlasst mich, die Zeit meiner Existenz Revue passieren zu lassen. Ich durchlebe nochmals die Geschichten meiner Bewohner und bekämpfe damit die unerträgliche Angst vor dem Ende.

Zuerst muss ich euch erklären, wie es dazu gekommen ist, dass ihr meine Memoiren in Buchform lesen könnt:

Eine Mansarde schreibt normalerweise keine Bücher. Stimmt! Doch ich kann es. Wenn ihr erfahren wollt, woher ich diese besondere Fähigkeit habe, müsst ihr bis zum Schluss durchhalten. Im ersten Teil gebe ich – so authentisch wie möglich – die Erlebnisse und Gefühle wieder, die ich bisher nur in Gedanken reflektieren konnte.

Vielleicht bekommt ein ehemaliger Mieter oder eine Mieterin dieses Buch zufällig in die Hände und ich löse eine schöne Erinnerung damit aus. Dann hätte sich mein Rückblick doppelt gelohnt. Ich existiere weiter in ihren Köpfen, bin ein Teil ihrer Seele.

Im Laufe meiner Existenz durfte ich einige Exemplare eurer Spezies kennenlernen. Meine Empathie für die Gattung Mensch ist kontinuierlich gewachsen und es tut mir sehr leid, bald nicht mehr für euch da sein zu dürfen. Mir habt ihr viel gegeben, mehr als ihr euch vorstellen könnt. Jeder von euch hat seine Spuren in mir hinterlassen. Wie oft konnte ich euer Lachen hören, eure Tränen fließen sehen, eure Geräusche vernehmen, Gerüche und Körpersäfte so miterleben, dass meine tapezierte Haut alles aufsaugte und zu dem machte, was ich jetzt bin. Ein paar von euch haben meine Gefühle mit kleinen Gesten erwidert. In den vielen Jahren meines Daseins habe ich erfahren, was euch ausmacht, eure Stärken und Schwächen kennengelernt.

Vor ein paar Wochen bemerkte ich, dass fast alle Bewohner des Hauses nach und nach ausgezogen waren. Schon länger, wesentlich länger, stand ich leer. Es war wohl Ende Mai, während der Kastanienbaum im Garten in voller Blüte stand, als der letzte Mieter seine Wohnung räumte. Inzwischen hatte die Kastanie alle Früchte und Blätter abgeworfen. Regen, der an meine Fensterscheibe prasselte, heftige Winde, die dunkle Wolken vor sich hertrieben, wechselten sich mit schräg einfallenden, blendenden Sonnenstrahlen ab. Sie sorgten wenigstens für optische Unterhaltung in den einsamen Tagen des Wartens. Schneeflocken tanzten um »meinen« Kastanienbaum, ließen sich auf ihm nieder, bis seine starken Arme weiß wurden, als hätte man Federdecken auf ihm ausgebreitet. Sie formten den erbaulichen Anblick eines filigranen Bildes, in Schwarz-Weiß gehalten. Zumindest war der Rollladen vom letzten Mieter nicht heruntergelassen worden. Sonst hätte ich keine zeitliche Orientierung mehr gehabt und könnte mich nicht an der Kastanie erfreuen.

Tagsüber lauschte ich auf alle Geräusche im Haus, die immer weniger wurden. Dann hörte ich lange Zeit gar nichts mehr und dämmerte so vor mich hin, bis mich lautes Getrampel auf der Treppe aus diesem Dämmerzustand weckte. Ich hörte tiefe, männliche Stimmen. Die unteren Wohnungen wurden inspiziert. Die Geräusche kamen näher.

Meine Tür öffnete sich. Voller Vorfreude versuchte ich, mich vorteilhaft zu präsentieren, soweit mir das – mit der sich an manchen Stellen lösenden Tapete – möglich war. Zwei Männer mit Notizblock, Zollstock und Lageplan traten ein, schauten aus dem Fenster und nahmen meine Maße. Einer sprach vom Verkauf des Hauses und erklärte seinem Partner, dass der Käufer auch das Eckhaus nebenan erworben habe. Auf dem mitgebrachten Plan zeichnete der Wortführer die Umrisse des Projektes ein. Beide Häuser würden in Bälde abgerissen. Auf dem ganzen Grundstück war ein sechsstöckiger, luxuriöser Neubau geplant, bestehend aus Eigentumswohnungen und Büros. Dafür benötigte der Bauherr auch die ganze Gartenfläche.

Ein Schauder des Entsetzens lief mir über die Wände. Sogar mein Freund – der Kastanienbaum – würde dem Bauvorhaben zum Opfer fallen. Dass alles Organische endlich ist, war mir klar. Aber mein Gemäuer einfach zerstören? Bisher ein unvorstellbarer Gedanke. Dagegen war ich machtlos.

Wer bin ich?

Damit ihr eine Vorstellung von mir bekommt, muss ich mich zuerst beschreiben. Die Menschen nennen mich MANSARDE. Dieser Begriff ist aus der Mode gekommen, da moderne Häuser kaum noch mit Dachzimmern meiner Art gebaut werden. Ich finde die Bezeichnung MANSARDE schick, als wäre sie mein Name. Später gab es noch andere Bezeichnungen wie zum Beispiel: Dienstmädchenzimmer, Abstellraum, Gästezimmer, Computerlounge, Esoterik-Raum, Pflegezimmer, Studentenbude, Büro, Lager, Hobbyraum und Liebesnest. Diese Bezeichnungen habe ich mir gemerkt.

Es war wohl Anfang der sechziger Jahre, als das Haus erbaut wurde. Ich hatte damals noch kein Zeitgefühl. Das mit dem Zeitgefühl hat sich erst viel später entwickelt.

Wie ein naives Kind nahm ich unreflektiert alles auf, was meine Bewohner mir boten. Ich liebte es, euch zu beobachten, eure individuellen Charaktere unterscheiden zu lernen und allmählich zu begreifen, worauf es bei euch Menschen ankommt. Keine Ahnung, warum dieser Lernprozess so lebensnotwendig für mich war? Um es menschlich auszudrücken: Emotionen und Empathie eurer verschiedenartigen Persönlichkeiten dienten mir als Nahrung. Ich gedieh und wuchs. Manchmal fragte ich mich, was wohl in meinen Mörtel hineingemischt wurde.

Um es vorwegzunehmen: Ich liebe Bücher. Da steht so viel Aufregendes und Wissenswertes drin. Ohne den Genuss von Literatur – die ich von euch zu lesen bekam – wäre ich jetzt sicher nicht in der Lage, ein eigenes Buch zu verfassen. Bei einer meiner späteren Bewohnerinnen hörte ich zu, wie sie ihrer Tochter die Geschichte von »Pinocchio« vorlas. Da wurde – durch die Zauberkraft einer Fee – aus einem Holzstück ein richtiger Mensch. Dieser holzgeschnitzte Junge hatte Gefühle und konnte auf kindliche Weise denken. Mich berührte dieses Märchen sehr, denn ich wünschte mir, eines Tages ebenfalls menschlich werden zu können.

Wie bei einem Fötus im Mutterleib bekam ich von meiner Entstehung nichts mit. Statt Hände und Füße wuchsen bei mir der Estrich, vier Wände, die Decke und das Fenster. Soweit ich mich erinnere, gab es kurz vor der Fertigstellung des Gebäudes ein gewaltiges Unwetter, welches kleinere Schäden im Gemäuer verursachte. Die Außenmauer auf der Rückseite des Hauses musste neu verputzt werden. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, begann meine Existenz in dieser Sturmnacht vergleichbar der Erweckung von Frankensteins Monster durch Blitzeinschläge (wieder ein literarischer Vergleich, auch wenn ich sicher kein Monster bin). Das ist eine amüsante Vorstellung, nicht wahr?

Mein Haus befindet sich in der Schweizer Stadt Basel im sogenannten »Schützenmattquartier«. In Basel spricht man »Schwyzerdütsch«, ein Dialekt der deutschen Sprache. Die Stadt liegt am Rhein, der dort in eine Kurve biegt wie beim Beingelenk eines Menschen. Die Kurve wird daher auch »Rheinknie« genannt.

In einer Querstraße meines Wohnviertels schmiegen sich kleine Reihenhäuser gleichförmig aneinander. Sie haben Vorgärten, die wunderhübsch anzuschauen sind, mit akkurat gestutzten Hecken, unterschiedlich farbigen Blumenbeeten, dekorativen Glaskugeln auf Eisenstangen und vieles mehr. Besucher und Passanten sollen gleich einen guten Eindruck von den Bewohnern bekommen. Die Schweizer sind bekannt für ihren Schönheitssinn, ihre Sauberkeit und ihre Ordnung. Sie geben sich viel Mühe, ihr Grundstück herauszuputzen. Eine Ehrensache für Schweizer Bürger. Zugereiste haben es schwer, mitzuhalten. Zum Leidwesen der Einheimischen benutzen die Zuzügler diesen Vorgarten zum Abstellen von Fahrrädern, Kinderwagen und oft sogar für die typischen, schwarzen Müllbeutel.

Das weiß ich alles nur von Beschreibungen. Ich selbst konnte nie einen Blick auf die Straßenseite werfen, weil mein einziges Fenster zum Garten zeigt. Dafür kann ich den großen Kastanienbaum sehen, der inzwischen bis zu meinem Fenster reicht. Der beruhigende Blick ins Grüne tröstete mich, wenn es mir mal dreckig ging.

Die drei unteren Stockwerke meines Hauses sind in 3-Zimmerwohnungen aufgeteilt. Im dazugehörigen Garten dominiert meine Kastanie den idyllischen Ort. Jede Wohnung verfügt über einen kleinen Balkon. Nur im Dachgeschoss gibt es keinen. Da gibt es schräge Wände.

Auf meinem Stockwerk befindet sich ein großer Flur, den die anderen Geschosse nicht haben. Zwei Wohnungen, mit jeweils zwei Zimmern, teilen sich diesen Vorplatz. Das dritte Zimmer wurde hier oben abgetrennt und als Mansarde konzipiert.

Da das Haus symmetrisch aufgebaut ist, bin ich hier oben nicht die einzige Mansarde. Ich teile eine Wand mit einem spiegelverkehrten Raum gleicher Art und Bestimmung. Allein von der Existenz dieser anderen Mansarde zu wissen, gab mir anfangs Halt und ich hoffte, mit ihr in Kontakt treten zu können. Schnell merkte ich, dass meine Wände sich dehnen, wenn ich mich freue. Wenn ich mich ärgere, ziehen sie sich zusammen. Dabei entsteht ein leises Knarzen. Ich trainierte diese Fähigkeit, bis ich dieses Geräusch steuern konnte. Waren keine Menschen im Haus, steigerte ich die Lautstärke. Ich wollte damit meinen Zwilling provozieren, in ähnlicher Weise zu antworten. Doch da kam nichts. Enttäuscht gab ich auf.

Zu den beiden Mansarden gehörte jeweils eine separate Toilette mit Waschbecken, in einem kleinen Raum gegenüber dem Zimmer. Eine kluge Einrichtung! So konnten auch externe Mieter diesen Raum nutzen. Diesem Privileg verdankten wir es, so viele unterschiedliche Menschen beherbergt zu haben.

Der Luxus des erwähnten Fensters ist ein zusätzlicher Pluspunkt. Eine Dachgaube begradigt die Hälfte der schrägen Wand. Nur etwa zwei Meter meiner Außenwand – links vom Fenster – sind schräg. Unter der Schräge rechts hat der Architekt einen Stauraum angebracht, den man verschließen kann. Eine praktische Idee. Die jeweiligen Bewohner konnten dort alles unterbringen, was den Raum unwohnlich gemacht hätte. Ansonsten umfassen meine Wände ungefähr vierzehn Quadratmeter. Anfangs waren sie mit gemusterter Tapete beklebt. Meinen Estrich bedeckte ein grau marmorierter Linoleumbelag. Der dem Geschmack in den Sechzigern entsprach.

Nach der Einweihung füllte sich das Haus mit Leben. Fast täglich hielt ein Möbelwagen, wurde von starken Männern ausgeladen und Schränke, Betten, Tische, Lampen usw. in die jeweiligen Wohnungen transportiert.

Bohren, Hämmern und Möbel rücken bildeten die ersten Geräusche, die ich vernahm. Ein paar Wochen hörte ich dem Treiben zu und genoss meinen frischen, tadellosen Zustand. Niemand öffnete meine Tür. Es hätte so bleiben können, ohne dass ich etwas vermisste, denn ich kannte euch noch nicht.

Dann war es so weit. Mein bequemes, unberührtes Dasein endete. Ich wurde möbliert! Viel war es nicht, was man in mich hineintrug. Die wenigen Möbel wurden von einem bärtigen Schweiß ausdünstenden Mann aufgebaut. Der erste olfaktorische Eindruck von euch Menschen, den ich bewusst wahrnahm.

In der Regel besteht ihr Menschen aus zwei Geschlechtern, die ihren Fortbestand durch den Austausch von Körpersäften möglich machen. Seit ich das begriffen habe, fasziniert mich dieses Werden und Vergehen von Organismen, seien es Pflanzen, Tiere und besonders: MENSCHEN!

Heute, wo ich euch besser kenne, kann ich euch verständlicher erklären, wie ich mich damals fühlte: Ich war aufgeregt, nervös, euphorisch, gespannt, durcheinander, hoffnungsfroh, zuversichtlich, zweifelnd und konnte es kaum mehr erwarten. Was würde jetzt auf mich zukommen? Würde ich fähig sein, meiner Bestimmung gerecht zu werden?

Erster Teil

1 – Die Haushälterin

Die erste Person war eine Frau. Sie hieß: »Marie Rüttli«. Von ihrer Herrschaft im ersten Stock wurde sie nur Marie gerufen. Diesen Namen hauchte ihr später auch der Geliebte ins Ohr.

Damals vermochte ich nicht Äußerlichkeiten zu beurteilen. Aus heutiger Sicht könnte man sie so beschreiben: Marie war etwa vierzig Jahre alt, hatte eine rundliche Figur und trug stets flache Schuhe. Ihre kinnlangen, lockigen Haare versteckte sie unter einem Kopftuch und ihre Kleidung unter einer Schürze, wenn sie das Zimmer verließ. Sie wirkte unscheinbar und schüchtern. Das alte Ehepaar – das sie tagein, tagaus umsorgte – ließ sie vor Erschöpfung manche Träne am Abend vergießen. Ich sah Marie auf dem Bett liegen und weinen.

Doch dann ging eine Veränderung mit ihr vor. An einem ihrer dienstfreien Tage kaufte sie sich ein beigefarbenes Kleid und Schuhe mit Absatz drehte sich in ihrem neuen Outfit vor dem Spiegel und summte eine Melodie. Einmal brachte sie einen Blumenstrauß mit ins Zimmer und schaute ihn lange an. In der darauffolgenden Woche noch einen und da verstand ich es: Sie bekam die Blumen von einem anderen Menschen geschenkt. Einem Mann!

Einmal lernte ich Maries Freund kennen. Er kam abends mit ins Zimmer. Die Hausbewohner schliefen schon, sonst hätte Marie sich nicht getraut, ihn mitzubringen. Herrenbesuche waren damals strengstens verboten. Die beiden unterhielten sich nur flüsternd. Er war jünger als Marie und kein Eidgenosse, da ich seine Sprache nicht verstand. Marie anscheinend schon. Trotzdem bemühte er sich redlich, die ihre Sprache zu sprechen. Ein paar Worte wiederholten sich wie: »Liebe«, »Schmuck« und »Zukunft.«

Zum ersten Mal begegnete ich dem Wort LIEBE. Marie stöhnte: »Ich liebe dich.« Er knabberte an ihrem Ohrläppchen »Amore mio« und »ti amo« seufzend. Wie existenziell dieses Wort LIEBE für die Menschen ist, kann ich erst heute ermessen, nachdem ich so viele Varianten davon miterlebt habe.

Eines Tages standen zwei Polizisten vor Maries Tür. Marie öffnete, wurde kreidebleich beim Anblick der Beamten und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Polizisten sprachen von einem gewissen »Guido Vecchio«, den sie festgenommen hatten. Er ging ihnen zufällig ins Netz, als sie seinen Ausweis durch die Datenbank laufen ließen. Auf dem Weg nach Italien fischten ihn die Beamten an der Grenzstation heraus. Weil er vorbestraft war, durchsuchte man sein Auto und fand Schmuck. Unter anderem wertvolle Ketten und Ringe, die Maries Herrschaften gehörten. Der überführte Dieb gab an, den Schmuck von Marie Rüttli geschenkt bekommen zu haben. Um diese Aussage zu überprüfen, kamen die Polizisten ins Haus. Das ältere Ehepaar hatte den Verlust des Schmucks tags zuvor angezeigt und schnell war den Beamten der Zusammenhang klar.

Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Die beiden Liebenden schmiedeten in jener Nacht einen Plan, den Schmuck der Arbeitgeberin zu stehlen. Die alte Dame hatte ihn in einer Box im untersten Fach ihres Wäscheschranks versteckt, bedeckt von aussortierten Tischdecken. Seit Marie hier arbeitete, wurde das Geschmeide niemals erwähnt, noch konnte die behinderte Frau die Kassette – ohne Hilfe – herausholen. Marie fand sie beim Aufräumen und erzählte ihrem Freund davon. Ihrer Meinung nach legte die alte Frau keinen Wert auf diesen Schatz, der für Marie brachliegendes Kapital bedeutete. Sie erlag der Versuchung, dem Vorschlag ihres Freundes nachzukommen und entwendete unbemerkt die Schmuckstücke. Der versprach, alles zu Geld zu machen und damit ihrem jungen Glück ein gemeinsames, sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

Wenn der Diebstahl eines Tages entdeckt würde, wären sie beide schon längst im Ausland. Marie hätte Guido geheiratet und somit einen neuen Namen angenommen. Sie malte sich ihre strahlende Zukunft in den schönsten Farben aus. Dafür war sie bereit, eine Straftat zu begehen, obgleich sie ansonsten eine grundehrliche Haut war. Mögliche Konsequenzen ihres kriminellen Handelns verdrängte sie. Sie breitete das Diebesgut auf dem Bett aus und betrachtete sich jedes Stück genau, legte die Halsketten einzeln an und streifte auch die Ringe über. Wie im Rausch drehte sie sich und tönte mit Begeisterung: »Oh … wie schön, oh wie schön!« Sie erinnerte mich an »Gretchen« in Goethes Faust, die – durch die geschenkten Preziosen – von der wahrhaftigen Liebe ihres Galans überzeugt war.

Dann steckte Marie die Sachen in einen Stoffbeutel, den sie am nächsten Tag in die Stadt mitnahm, wahrscheinlich um ihn Guido zu übergeben.

Das Schicksal wollte es, dass kurz danach die Enkelin des alten Paares zu Besuch kam. Die Großmutter wollte der angehenden Studentin eine Freude zum bestandenen Abitur machen und bat das Mädchen, eine bestimmte Kette herauszuholen. Was für ein Schock! Die Kassette war leer. Der Diebstahl entdeckt.

Marie musste mitkommen. Auf dem Revier gestand sie sofort ihre Tat und die Umstände, warum sie der Versuchung erlegen war. Guido hingegen schob alle Schuld auf seine Geliebte. Er wollte straffrei davonkommen. Aber die Taktik half ihm nichts. Sein Vorstrafenregister mit ähnlichen Delikten als Heiratsschwindler lag den Beamten vor. Ein weiterer Gefängnisaufenthalt war ihm sicher. Bei Marie verhielt sich die Sache anders. Da sie sich bisher nichts zu Schulden hatte kommen lassen, blieb es bei einer Bewährungsstrafe. Sie war in eine Falle getappt, aus blinder, naiver Liebe. Der mild gestimmte Richter erkannte die Umstände und Marie kam auf Bewährung frei. Guido hatte nie im Sinn, sie zu heiraten. Es ging ihm nur darum, mit seinem Charme eine törichte Frau auszunehmen. Ich begriff, dass Menschen auch gemein sein können.

Marie wurde gekündigt und drei Tage später verließ sie mich. Als sie schon in der Tür stand, warf sie einen letzten traurigen Blick zurück ins Zimmer und strich mit ihrer Hand zärtlich über meine karierte Tapete.

Mir fiel der Abschied auch nicht leicht. Ich hatte mich an Marie gewöhnt und angenommen, dass wir noch lange zusammenbleiben würden.

Mit der Zeit und der zunehmenden Anzahl meiner Bewohner bin ich gelassener geworden.

2 – Das Au-pair

Jetzt stand ich erst einmal leer. Die Grundmöblierung blieb. Ich fasste mich in Geduld und träumte vor mich hin, sah dem Kastanienbaum zu, wie seine Blätter sprossen, wie sich seine Äste im Wind bewegten, als wollten sie mir zuwinken. Dieser Freund würde mich nicht so schnell verlassen. Wir teilten das Schicksal, dem uns vorbestimmten Ort nicht entfliehen zu können.

Kurz darauf zog auch das alte Ehepaar in ein Seniorenheim. Ihre Parterre-Wohnung wurde – als günstiges Mietobjekt – in der Basler Zeitung inseriert. Zahlreiche Leute traten ein und prüften das Domizil und ob es für sie infrage käme.

Den Zuschlag bekam eine bildhübsche Frau in Begleitung zweier Miniaturausgaben von sich. Goldige, blond-gelockte Mädchen im Alter von drei und fünf Jahren. Man konnte sie nur durch ihre Körpergröße unterscheiden. Jedermann schloss die Drei sofort ins Herz. Die Schönheit der alleinerziehenden Mutter hatte die Mitarbeiter der Liegenschaftsverwaltung für sich eingenommen.

»Gloria Blum« hieß die neue Mieterin. Da sie nur halbtags arbeitete, musste sie ihr Geld umsichtig einteilen. Große Sprünge – wie in Zeiten ihrer Ehe – konnte sie sich nicht mehr leisten. Späteren Äußerungen der jungen Frau entnahm ich, dass der wohlhabende Ehemann es mit der Treue nicht so ernst genommen hat. Also ein klassischer Scheidungsgrund.

Gloria wollte kein Geld von ihrem geschiedenen Mann, obwohl sie darauf Anspruch gehabt hätte. Nur für den Unterhalt der Kinder musste er zahlen. Er bezahlte auch das Au-pair. Seiner Meinung nach sollten seine Töchter professionell betreut werden, wenn die Mutter schon arbeiten ging. Es nagte wohl an seinem Verständnis von Männlichkeit, dass seine Frau auch ohne ihn klarkam. Ihr Wunsch, schon während der Ehe arbeiten und finanziell auf eigenen Beinen stehen zu wollen, endete immer im Streit. Für ihn bestand der Wert seiner Frau in ihrer Schönheit, mit der er sich schmückte. Sie sollte ihn verwöhnen, den Haushalt führen, sich um die Dinner-Partys und die Kinder kümmern.

Auch wenn er der Scheidung zustimmen musste, wollte er seine Einflussnahme auf die Mädchen sichern, indem er das Kindermädchen engagierte. Er hoffte, das Au-pair könnte auch seine undankbare Ex-Gattin überwachen. Besonders interessierte ihn das künftige Liebesleben Glorias. Es fiel ihm schwer, sich einzugestehen, wie sehr er unter seinem gekränkten Selbstbewusstsein und seiner Eifersucht litt.

Mit der Einstellung dieses Kindermädchens kam ich ins Spiel. Diese Arbeitskraft aus Frankreich wurde in der Mansarde untergebracht. Das Mädchen sollte einen privaten Rückzugsort haben und dafür bot sich meine Räumlichkeit perfekt an.

Was für ein Glück für MICH. Ich war richtiggehend begeistert von der quirligen neunzehnjährigen Yvonne, die in der Schweiz ihre deutschen Sprachkenntnisse verbessern wollte. Sie stammte aus der Bretagne und brachte ein gewisses französisches »Flair« mit und infizierte damit alle Hausbewohner.

Aus Yvonnes brünettem Haar hatte der Friseur einen »Bob« geschnitten. Manche sagen auch »Pagen-Schnitt« dazu. Das war damals der letzte Schrei, da eine populäre französische Schlagersängerin diese Frisur zum Kult machte. Yvonnes Kleidungsstil unterschied sich vom Erscheinungsbild der einheimischen jungen Leute. Obwohl sie nicht viel Geld hatte, sah sie immer aus, als hätte sie außergewöhnliche Designerstücke erworben. Sie ging regelmäßig auf Flohmärkte, suchte sich dort Teile zusammen, die sie mit ihrer kleinen Reisenähmaschine im Handumdrehen in unverwechselbare Einzelstücke verwandelte. Eine echte Begabung!

Seit sie im Haus wohnte, wurde der Geräuschpegel lauter und fröhlicher. Die Leute unterhielten sich im Treppenhaus und scherzten mit den Kindern. Im Garten tobte der Bär. Zumindest war immer etwas los, wenn das Wetter mitmachte. Herr Fluri, aus dem ersten Stock hängte eine Schaukel am Kastanienbaum auf, damit er den Kindern eine Freude machen und ihnen beim Spielen zusehen konnte. Er lebte allein und unauffällig in seiner Wohnung. Niemand im Haus kannte ihn. Es hieß, er wäre ein höheres Tier bei NOVARTIS, einem Basler Pharmakonzern. Warum er ausgerechnet hier wohnte, wo er ein gutes Einkommen hatte, konnte keiner begreifen. Da er aber völlig zurückgezogen lebte, fragte bald niemand mehr nach dem Grund. Erst jetzt, wo Frau Blum eingezogen war, sah man ihn öfter. Er nahm auch an den Grillabenden teil, die inzwischen regelmäßig im Garten stattfanden. Diese Yvonne hatte es fertiggebracht, alle Nachbarn miteinander bekannt zu machen, die sich vorher nur flüchtig grüßten.

Nicht allein für ihre fantasievolle Bekleidung hatte sie ein Händchen. Sie spielte Gitarre und sang französische Chansons dazu. Alle waren von ihrer Lebensfreude und ihrem Charme verzaubert. Für durchschnittliche Schweizer ist das außergewöhnlich. Sie öffnen sich nicht so schnell.

Frau Stöckli und ihr Mann aus der zweiten Etage rechts waren besonders helvetisch. Sie hatten immer etwas zu meckern, vor allem, wenn sie gegen die Hausordnung verstießen. Den Nörgeleien des frustrierten Paares gingen die Bewohner vorsorglich aus dem Weg. Doch sogar bei diesem Gespann konnte Yvonne vermitteln. Aus reiner Neugier kamen sie gelegentlich zu den anderen Bewohnern in den Garten. Dabei stellte sich heraus, dass die Nachbarn das Paar völlig falsch eingeschätzt hatten. Die Sprödigkeit der Stöcklis entsprang eher einer Unsicherheit. Die beiden wollten die Mitbewohner auf Abstand halten, um selbst nicht kritisiert zu werden.

Nachdem das Eis gebrochen war, entpuppte sich Frau Stöckli als kreative Hausfrau mit großem Herzen. Sie brachte immer etwas Essbares zu den Treffen mit, wie beispielsweise eine Schüssel schmackhaftem Salat, den sie und ihr Mann im Schrebergarten geerntet hatten. Von ihm erzählten sie den Mitbewohnern voller Stolz und reichten Fotos von besonders großen Kürbissen herum. Mit dem Garten hatten sie eine gesunde Beschäftigung und zudem immer frisches Gemüse auf dem Tisch. Ihre Obstbäume lieferten – je nach Jahreszeit – biologisch einwandfreie Früchte. Ein Glücksfall für alle.

Einmal machte Frau Stöckli eine Pfirsich-Bowle, in der sich eine gewaltige Menge Alkohol befand. Die schmeckte so hervorragend, dass nichts übrig blieb. Danach kamen noch ein paar Flaschen Wein auf den Tisch, die alle ihren Garaus fanden. Selten drangen die Stimmen im Garten so laut zu mir hoch. Nicht nur Yvonne fing an zu singen. Alle stimmten mit ein. Gemeinsam intonierte die angeheiterte Gruppe sämtliche Schweizer Lieder, die sie kannte. Mehr oder weniger wohltönend. Das Gejohle und Gelächter dauerte bis weit in die Morgenstunden. Seit jenem Abend fühlten sich die Bewohner des Hauses als wirkliche Gemeinschaft und gute Nachbarn, die sich gegenseitig ihre Hilfe anboten, wenn jemand diese brauchte.

Gloria Blum verstand sich prächtig mit dem hübschen Kindermädchen. Sie empfand Yvonne als kleine Schwester. Gloria Blum wusste ihre Kinder bei ihr in guten Händen und konnte ihrem Beruf als Einkäuferin eines etablierten Modehauses nachgehen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.

Yvonne ging während der Woche zwei Nachmittage in die Sprachschule. Das war anfangs ein gewisses organisatorisches Problem. Bis Herr Fluri anbot: Die Kinder könnten bei ihm oder im Garten spielen. Er würde gut auf die beiden entzückenden Mädchen aufpassen. Die meiste Arbeit erledige er ohnehin daheim und konnte sie sich diese frei einteilen.

Nach dieser gemeinsamen Feier ritualisierten sich Besuche von Frau Blum in der Mansarde. Nachdem sie ihre Töchter ins Bett gebracht hatte, nahm sie das Babyfon und eine Flasche französischen Rotwein mit und klopfte damit an Yvonnes Tür. So konnte ich – zum ersten Mal – eine richtige Unterhaltung zwischen zwei Menschen mitbekommen. Yvonne hatte zwar den typischen französischen Akzent, aber nach einer Weile gewöhnte ich mich an ihre charmante Aussprache und verstand sie gut.

»Yvonne, was denkst du über das Angebot von Herrn Fluri? Kann ich ihm meine Kinder anvertrauen? Man hört immer wieder schreckliche Dinge. Ich will ihn auch nicht direkt abweisen. Ich mag ihn irgendwie.«

»Naturelement ma chère Gloria (natürlich meine liebe Gloria), das kann ich gut verstehen. Normalerweise wäre ich auch vorsichtig. Aber ich habe ihn beobachtet. Er ist in dich verliebt. Nur verfügt er nicht über das, wie wir Franzosen sagen: SAVOIR-VIVRE (zu Leben wissen). Es ist ein typischer Schweizer und es fällt ihm schwer, dir das zu zeigen. Er will dir beweisen, dass er ein guter Vater sein könnte. Findest du ihn als Mann attraktiv? Wenn ja, kannst du sein Angebot ruhig annehmen. Sollte er es schaffen, deine Mädchen allein zu beaufsichtigen, hättest du einen guten Fang getan. Ich werde Frau Stöckli bitten, ebenfalls aufzupassen. Du kannst ihm sagen: Falls es ihm zu viel wird, oder es ein Problem mit den Mädchen gibt, kann er bei Frau Stöckli läuten. Damit nimmst du ihm den Stress der Verantwortung und gleichzeitig registriert er die Kontrolle. Wie heißt Herr Fluri mit Vornamen?«

»Soviel ich weiß, heißt er Rudolf. Am Klingelschild steht nur R. Fluri. Wir haben uns zwar an jenem Abend alle geduzt, doch jetzt getraue ich mich nicht, ihn mit Rudolf oder Rudi anzusprechen. Er ist doch kein Kumpel-Typ. Vielleicht ist ihm das DU inzwischen peinlich. Übrigens, guter Gedanke Yvonne, ich meine die Idee mit Frau Stöckli. Du hast mit deinen jungen Jahren ein beeindruckendes Gefühl für Menschen. Sicher mache ich mir unnötige Sorgen. Ich werde also sein Angebot annehmen. Nach meiner Scheidung hatte ich jegliche Lust auf Männer verloren. Aber so langsam vermisse ich nachts einen Mann in meinem Bett. Du meinst, Rudolf hätte Interesse an mir?… Hm, ich muss sagen: Er gefällt mir auch. Besonders mag ich seine lustigen Grübchen, wenn er lacht.«

»Wir beide werden noch herausbekommen, warum Rudi ausgerechnet in diesem Haus wohnt. Es gibt sicher einen Grund dafür. Normal finde ich es nicht. Mal sehen, ob er eine Leiche im Keller hat. So sagt man doch?«

Yvonne fing an zu lachen und konnte sich kaum mehr beruhigen, vielleicht wegen des Rotweins. Gloria ließ sich von diesem Lachen anstecken und beide kicherten wie pubertierende Teenager, bis Frau Nagel – in der Wohnung nebenan – mit der Faust gegen die Wand schlug und Ruhe forderte. Wie in der Schule beim Abschreiben ertappt, liefen die beiden Rot an und prusteten in ihre Hände, das Lachen mühsam unterdrückend. Mit Küsschen auf beide Wangen verabschiedeten sich.

Gesagt! Getan! Gloria Blum nahm das Angebot ihres Nachbarn an. Die Betreuung der Kinder funktionierte hervorragend und selbst Frau Stöckli konnte nichts Unangemessenes in Rudolfs Aufsichtspflicht entdecken. Im Gegenteil! Wenn die Mutter ihre Kinder bei dem Babysitter abholte, hatten die überhaupt keine Lust mitzukommen. Sie wollten unbedingt bei Onkel Rudi bleiben. Er wäre so lustig und könne so schöne Geschichten erzählen.

In der Folge blieb es nicht aus, dass Gloria und Rudi gemeinsam ausgingen, während Yvonne die Mädchen hütete.

»Hast du heute Abend etwas vor Yvonne?«, vernahm ich Glorias Stimme im Treppenhaus sagen. »Non, pas diréctement (nicht direkt). Wollte nur ins Bett gehen und noch ein paar Vokabeln lernen.«

»Kann ich so gegen acht Uhr zu dir kommen, wenn die Kinder eingeschlafen sind? Es gibt Neuigkeiten, die ich mit dir besprechen will. Du bist doch meine Vertraute.

»Fantastique! Ich freue mich.«

Kurz nach acht Uhr klopfte Gloria Blum an meine Tür. Sie hielt ein Blech Zwiebelkuchen in den Händen, die in Kochhandschuhen steckten. Der strömte köstlichen Duft aus. Unter ihrem Arm klemmte eine Flasche neuer, süßer Wein.

»Komm schnell rein. Oh, das riecht ja ‚superbe‘. Da kann ich meine Kekse gleich wieder wegpacken.«

Yvonne hatte meinen Raum mit wenigen Mitteln verschönert. Zwei große Plakate von Paris schmückten die Wände. Fotos von ihren Eltern und ihrem Freund – der gerade seinen Militärdienst ableistete – standen dekorativ auf der Kommode. Bücher verschiedener Genres und bunte Accessoires verliehen meinem Interieur Gemütlichkeit. Die Vorhänge hat Yvonne selbst aus gelbem Leinen genäht. Gardinen gaben dem Fenster zusätzlich eine heimelige Note. Der Rollladen blieb immer hochgezogen, sogar in der Nacht.

An diesem Abend verteilte Yvonne überall Teekerzen in unterschiedlichen Behältnissen. So stimmungsvoll weiblich hatte ich mich bisher noch nie gefühlt. Ich erwartete eine spannende Unterhaltung, bei der ich lauschen durfte, und freute mich auf die kommenden Stunden.

»Komm, setz dich hier in den Sessel. Ich hole Teller, Servietten und zwei Weingläser. Brauchen wir ein Messer, oder hast du den Zwiebelkuchen schon zugeschnitten? Zum Öffnen der Flasche muss es wohl das Schweizer Alleskönner tun, das ich von dir geschenkt bekommen habe.«

»Stimmt! Den Öffner habe ich vergessen. Wir versuchen es mit dem Wundermesser, oder soll ich noch mal schnell runterlaufen?«

»Auf keinen Fall. Du könntest die Mädchen wecken. Das wollen wir unbedingt vermeiden. Wieder ertönte das vertraute Lachen.

Endlich war alles vorbereitet. Eine Unterlage – für das heiße Blech – auf den großen Couchtisch gestellt, die Flasche geöffnet, der Wein eingeschenkt. Yvonne nutzte das Bett als Sitzgelegenheit.