Der Klang des Herzens - Jojo Moyes - E-Book
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Der Klang des Herzens E-Book

Jojo Moyes

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Beschreibung

Eine wunderbare Wiederentdeckung von Bestsellerautorin Jojo Moyes - über den Mut zum Leben und die Macht der Liebe. Die Konzertgeigerin Isabel Delancey hat ihr erfülltes Leben immer für selbstverständlich genommen. Doch als ihr Mann plötzlich stirbt und sie mit einem Schuldenberg zurücklässt, sind sie und ihre beiden Kinder gezwungen, ihr komfortables Haus in London zu verkaufen und aufs Land zu ziehen. Das Anwesen, das Isabel überraschend von einem Großonkel geerbt hat, ist eine Ruine und schnell sind auch ihre letzten Ersparnisse aufgebraucht. In ihrer Verzweiflung nimmt Isabel gern die Hilfe ihres Nachbarn Matt an, ohne zu ahnen, dass dieser seine ganz eigenen Interessen verfolgt. Während um sie herum alles zusammenzubrechen droht, muss Isabel lernen, dem Klang ihres Herzens wieder zu vertrauen. Denn man kann sich gegen das Glück entscheiden. Oder dafür. Jojo Moyes schreibt so emotional, so berührend wie kaum eine andere Autorin. Jeder ihrer bisherigen Romane war ein Nr. 1-Bestseller.

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Seitenzahl: 593

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Jojo Moyes

Der Klang des Herzens

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Gertrud Wittich

 

Über dieses Buch

Über den Mut zum Leben und die Macht der Liebe

 

Die Konzertgeigerin Isabel Delancey hat ihr erfülltes Leben immer für selbstverständlich genommen. Doch als ihr Mann plötzlich stirbt und sie mit einem Schuldenberg zurücklässt, sind sie und ihre beiden Kinder gezwungen, ihr komfortables Haus in London zu verkaufen und aufs Land zu ziehen. Das Anwesen, das Isabel überraschend von einem Großonkel geerbt hat, ist eine Ruine und schnell sind auch ihre letzten Ersparnisse aufgebraucht. In ihrer Verzweiflung nimmt Isabel gern die Hilfe ihres Nachbarn Matt an, ohne zu ahnen, dass dieser seine ganz eigenen Interessen verfolgt. Während um sie herum alles zusammenzubrechen droht, muss Isabel lernen, dem Klang ihres Herzens wieder zu vertrauen. Denn man kann sich gegen das Glück entscheiden. Oder dafür.

Vita

Jojo Moyes, geboren 1969, hat Journalistik studiert und für die «Sunday Morning Post» in Hongkong und den «Independent» in London gearbeitet. Der Roman «Ein ganzes halbes Jahr» machte sie international zur Bestsellerautorin. Zahlreiche weitere Nr.-1-Bestseller folgten. Jojo Moyes lebt mit ihrer Familie auf dem Land in Essex.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel «Night Music» bei Hodder & Stoughton, an Hachette Livre company, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Night Music» Copyright © 2008 by Jojo Moyes

Überarbeitete Neuausgabe

 

Die deutsche Erstausgabe erschien 2010 im Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Dort liegen auch die Rechte an der deutschen Übersetzung von Gertrud Wittich.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Daniela Terrazzini/The Artworks

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-51061-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Charles

Und alle, die schon mal darüber nachgedacht haben, Handwerker ins Haus zu holen

Es ist ein Drache, der uns alle verschlingt:

diese obszönen, schuppigen Häuser,

diese unersättliche Gier nach mehr und immer mehr,

dieser Zwang zu besitzen,

um nicht selbst besessen zu werden.

D.H. Lawrence

Prolog

Wir haben uns eigentlich nie richtig heimisch gefühlt im Spanischen Haus.

Theoretisch hat es uns gehört, es war unser Eigentum, aber keiner, der uns – und das Haus – kannte, wäre auf den Gedanken gekommen, dass wir auch nur die geringste Kontrolle über das gehabt hätten, was sich dort abspielte.

Wir hatten nie das Gefühl, dass es uns gehört, egal was auf dem Papier stand. Es war zu voll, von Anfang an. Zu viele haben ihre Träume auf dieses Haus projiziert, haben die alten Mauern mit ihrer Missgunst und ihrem Neid durchtränkt. Die Geschichte des Hauses war nie unsere Geschichte. Es gab nichts, das uns daran band – nicht einmal unsere Träume.

Als ich klein war, dachte ich, ein Haus sei einfach ein Haus. Ein Ort zum Spielen, wo man isst, sich streitet und schläft, vier Wände, in denen man sein Leben lebt. Ich habe nie viel darüber nachgedacht.

Erst viel später habe ich erkannt, dass ein Haus viel, viel mehr sein kann – die Verkörperung aller Wünsche, ein Abbild dessen, wie man sich selbst sieht und wie man gern gesehen würde. Es kann Menschen dazu verleiten, sich beschämend, ja würdelos zu verhalten. Ich habe gelernt, dass ein Haus – ein Haufen Backsteine, Mörtel, Holz, vielleicht mit einem Stück Land dazu – zur Besessenheit werden kann.

Wenn ich von zu Hause ausziehe, werde ich zur Miete wohnen.

Kapitel 1

Laura McCarthy zog die Hintertür zu, trat vorsichtig über den schlafenden Hund, der zufrieden auf den Kies sabberte, und durchquerte mit forschen Schritten den Garten. Das Tablett auf einem Arm balancierend, öffnete sie das Gartentürchen, schlüpfte geschickt hindurch und ging in das Wäldchen. Sie erreichte die Senke, durch die der kleine Bach floss, der um diese Jahreszeit aber – es war Spätsommer – fast kein Wasser mehr führte.

Mit zwei langen Schritten überquerte sie den Graben, über den ihr Mann Matt letztes Jahr Bretter gelegt hatte. Bald würde das regnerische Wetter einsetzen und die Bretter schlüpfrig und gefährlich machen. Letztes Jahr wäre sie mehrmals beinahe ausgerutscht, und einmal war ihr das Tablett entglitten und ins Wasser gefallen – ein Fest für die Bachbewohner. Sie erreichte die andere Seite, die feuchte Erde blieb zäh an ihren Schuhsohlen kleben, und sie trat aus dem Wäldchen auf die Lichtung hinaus, die von der Abendsonne in ein weiches, pollenglitzerndes Licht getaucht wurde. Als sie die Abdeckhaube auf dem Teller zurechtrückte, entwich ein fruchtiger Duft nach Tomaten. Sie beschleunigte ihre Schritte.

Das alte Haus war nicht immer so verfallen gewesen, hatte so grimmig, fast abweisend gewirkt. Matts Vater hatte ihm Geschichten von Jagdgesellschaften erzählt, von lauen Sommerabenden mit Musik unter weißen Markisen. Von eleganten Paaren, die auf der niedrigen Gartenmauer saßen und Punsch tranken. Matt konnte sich noch an eine Zeit erinnern, in der prächtige Pferde in den Ställen gehalten wurden, manche davon ausschließlich für Wochenendbesucher. Am Ufer des Sees gab es ein Bootshaus für jene, die gerne ruderten. Früher hatte er ihr diese Geschichten oft erzählt, vielleicht auch, um seine im Vergleich zu ihr ziemlich bescheidene Herkunft wettzumachen; gleichsam als Vorgeschmack auf ihre gemeinsame Zukunft, die dem Leben, das sie aufgegeben hatte, ebenbürtig sein würde.

Sie liebte diese Geschichten und wusste ganz genau, wie das Haus aussehen würde, wenn man ihr freie Hand ließe. Es gab kein Zimmer, das sie nicht in ihrer Phantasie bereits eingerichtet hatte: Vorhänge, Teppiche, Möbel.

Vor der Seitentür blieb sie stehen und tastete intuitiv in ihrer Hosentasche nach dem Schlüssel. Früher war das Haus immer abgesperrt gewesen, doch das war schon lange nicht mehr nötig. Jeder in der Gegend wusste, dass es dort nichts mehr zu holen gab. Das Haus verfiel, schien in sich zusammenzusinken, der Anstrich blätterte ab wie Schuppen. Im Erdgeschoss waren mehrere Fensterscheiben zerbrochen und mit Brettern vernagelt worden.

«Ich bin es, Mr. Pottisworth … Laura.»

Sie wartete, bis von oben ein zustimmendes Grunzen erklang. Es war ratsam, den Alten zu warnen, bevor man eintrat. Laura hatte es einmal vergessen, und da hatte er mit einer Schrotflinte auf sie geschossen – die Kugeln steckten noch immer im Türrahmen. Aber zum Glück war der Alte schon immer ein mieser Schütze gewesen, wie Matt damals bemerkt hatte.

«Ich bringe Ihnen Ihr Abendessen.»

Ein weiteres Grunzen, und Laura konnte es wagen, die knarrende Holztreppe zu erklimmen.

Sie war gut in Form und daher kaum außer Atem, als sie über die steilen Treppen den zweiten Stock erreicht hatte. Dennoch blieb sie eine Sekunde vor dem Schlafzimmer stehen. Ein resignierter Seufzer entfuhr ihr, bevor sie den Türknauf drehte.

Obwohl das Fenster halb offen stand, schlug ihr sogleich der säuerliche Gestank von altem, ungewaschenem Mann entgegen, vermischt mit dem staubigen Geruch schmutziger Polstermöbel, von Kampfer und altem Bohnerwachs. Neben dem Bett lehnte eine alte Flinte, und auf einem kleinen Tischchen stand der Fernseher, den sie ihm vor zwei Jahren gekauft hatten. Aber weder Alter noch Vernachlässigung konnten die einstige Eleganz dieses großen Raums verbergen, die Art, wie sich der blaue Himmel hinter dem hohen Erkerfenster abzeichnete. Dem Besucher wurde allerdings nie viel Zeit gelassen, die ästhetischen Qualitäten des Zimmers zu genießen.

«Sie sind spät dran», murrte die Gestalt in dem alten Mahagonibett.

«Nur ein bisschen», antwortete sie betont munter. Sie stellte das Tablett auf den Nachttisch und richtete sich auf. «Es ging nicht eher. Ich hatte meine Mutter am Telefon.»

«Was wollte sie denn? Konnten Sie ihr nicht sagen, dass ich hier liege und verhungere?»

Lauras Lächeln geriet kaum aus dem Gleichgewicht. «Ob Sie es glauben oder nicht, Mr. Pottisworth, es gibt noch andere Gesprächsthemen in meinem Leben als Sie und Ihr Befinden.»

«Matt, darauf wette ich. Was hat er jetzt schon wieder angestellt? Ihre Mutter hat Ihnen sicher Vorwürfe gemacht, weil er nicht gut genug für Sie ist, stimmt’s?»

Laura widmete sich dem Tablett. Dass ihre Haltung dabei ein wenig steifer war als zuvor, entging Mr. Pottisworth. «Ich bin seit achtzehn Jahren verheiratet», erklärte sie bestimmt, «da ist die Wahl meines Ehemannes wohl kaum das Topthema.»

Ein lautes Schnauben. «Was gibt es denn zu essen? Es ist sicher kalt geworden.»

«Hähnchenkasserolle mit Folienkartoffel. Und es ist keineswegs kalt geworden. Es war abgedeckt.»

«Ich wette, es ist kalt. Das Mittagessen war kalt.»

«Zum Mittagessen gab es Salat.»

Ein mit Altersflecken gesprenkelter und mit spärlichem grauem Haar bewachsener Schädel tauchte unter der Tagesdecke auf. Halb unter faltigen Lidern verborgene Augen richteten sich misstrauisch auf sie. «Müssen Sie so ’ne enge Hose anziehen? Wollen wohl zeigen, was Sie zu bieten haben, was?»

«Das ist eine Jeans. Die trägt man so.»

«Sie wollen mich aufheizen, das ist es! Sie wollen mir vor Lust die Sinne vernebeln, damit Sie mich auf heimtückisch-weibische Art töten können! Schwarze Witwen, so nennt man euch Frauenzimmer. Ich weiß Bescheid.»

Sie beachtete ihn nicht. «Ich habe Ihnen etwas braune Soße mitgebracht. Möchten Sie sie auf die Kartoffel haben oder lieber am Tellerrand?»

«Ich kann Ihre Tutteln sehen.»

«Oder möchten Sie lieber geriebenen Käse?»

«Durch Ihr Oberteil. Kann sie deutlich sehen, da, Ihre Tutteln. Wollen mich wohl verführen, was?»

«Mr. Pottisworth, wenn Sie nicht sofort damit aufhören, werde ich Ihnen in Zukunft kein Essen mehr bringen. Also hören Sie auf, meine … meine Tutteln anzustarren.»

«Dann sollten Sie eben nicht so ein durchsichtiges Teil anziehen. Zu meiner Zeit hat eine anständige Frau noch ein Unterhemd angehabt. Ein gutes Unterhemd aus Baumwolle.» Er schob sich etwas höher, und seine krummen Finger zuckten bei der Erinnerung. «Man konnte sie trotzdem ganz gut abgriffeln.»

Laura McCarthy zählte bis zehn. Mit dem Rücken zum Bett warf sie einen verstohlenen Blick auf ihr T-Shirt. War der Stoff wirklich durchscheinend? Letzte Woche hatte er sich noch bei ihr darüber beschwert, wie schlecht es um seine Augen stand.

«Sie haben mir Ihren Jungen mit meinem Mittagessen geschickt. Kriegt kaum den Mund auf.»

Der alte Mann begann zu essen. Es hörte sich an, als würde man ein verstopftes Rohr reinigen.

«Teenager sind nun mal so, Mr. Pottisworth. Sie reden nicht viel.»

«Unhöflich nenn ich das. Sie sollten ihm das sagen.»

«Sicher.» Sie ging im Zimmer umher und sammelte Gläser und Tassen ein, die sie auf das leere Tablett stellte.

«Es ist hier tagsüber so einsam. Ich hatte seit dem Mittagessen nur Byron zu Besuch. Und der will immer nur über Hecken und Hasen und so ein Zeug reden.»

«Ich habe Ihnen doch schon gesagt, Sie könnten jemanden vom Sozialdienst kommen lassen. Die würden hier ein bisschen Ordnung machen. Und Sie hätten Unterhaltung. Jeden Tag, wenn Sie wollen.»

«Sozialdienst!» Er schnitt eine Grimasse. Über sein Kinn rann ein dünnes Rinnsal Soße. «Fehlt mir grade noch, dass die ihre Nasen in meine Angelegenheiten stecken.»

«Wie Sie wollen.»

«Sie haben ja keine Ahnung, wie schwer es ist, wenn man ganz allein ist …»

Lauras Gedanken schweiften ab. Diese Litanei kannte sie auswendig: Keiner verstand, wie schwer es war, wenn man keinen Menschen auf der Welt mehr hatte, wenn man gebrechlich und bettlägerig und auf die Hilfe von Fremden angewiesen war … Sie hatte viele Varianten dieses Klagelieds gehört.

«… ein armer alter Mann wie ich, hab nur noch Sie und Matt. Niemanden, dem ich mein Hab und Gut vererben könnte … Sie haben ja keine Ahnung, wie weh es tut, so allein zu sein», beendete er seine Litanei in fast weinerlichem Ton.

Laura ließ sich erweichen. «Sie sind nicht allein, das hab ich Ihnen doch schon gesagt. Nicht, solange Sie uns als Nachbarn haben.»

«Ich werde Ihnen meine Dankbarkeit schon zeigen, wenn ich nicht mehr bin. Das wissen Sie doch, oder? Diese Möbel da, in der Scheune, die gehören dann Ihnen.»

«So sollten Sie nicht reden, Mr. Pottisworth.»

«Und das ist nicht alles, dazu steh ich! Ich weiß, was Sie all die Jahre für mich getan haben …» Er warf einen Seitenblick aufs Tablett. «Ist das mein Milchreis?»

«Nein, das ist ein Apfelcrumble, aber der ist sehr gut.»

Der alte Mann legte Messer und Gabel beiseite. «Aber es ist doch Dienstag!»

«Ich habe Ihnen nun mal Apfelcrumble gemacht. Der Milchreis ist mir leider ausgegangen, und ich hatte keine Zeit, zum Supermarkt zu fahren.»

«Ich mag keinen Apfelcrumble.»

«Natürlich mögen Sie den.»

«Ich wette, Sie haben die Äpfel aus meinem Garten geklaut.»

Laura holte tief Luft.

«Ich wette, Sie sind nicht halb so nett, wie Sie tun. Ich wette, wenn Sie was wirklich wollen, würden Sie auch dafür lügen.»

«Die Äpfel sind aus dem Supermarkt», stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

«Sie haben doch grade gesagt, dass Sie keine Zeit hatten, zum Supermarkt zu fahren.»

«Ich hab sie vor drei Tagen gekauft.»

«Dann kapier ich nicht, wieso Sie nicht auch gleich eine Packung Milchreis kaufen konnten. Was sagt Ihr Mann dazu? Ich wette, Sie müssen ihn auf andere Weise bei Laune halten …» Er grinste anzüglich, fletschte unter feuchten Lippen die Zähne, dann machte er sich wieder laut schlürfend über die Kasserolle her.

 

Als er nach Hause kam, war Laura mit dem Abwasch fertig und stand am Bügelbrett. Wutentbrannt bügelte sie auf seine Hemden ein. Der Dampf stieg in dicken Schwaden auf.

Er bemerkte ihre hochroten Wangen, die angespannten Kiefermuskeln.

«Alles in Ordnung, Schatz?» Matt McCarthy gab seiner Frau einen Kuss.

«Nein, es ist verdammt noch mal nichts in Ordnung! Mir reicht’s!»

Er zog seine Arbeitsjacke aus, deren Taschen sich beulten, weil er diverse Maßbänder und Werkzeuge darin aufbewahrte, und hängte sie über eine Stuhllehne. Er war von der Arbeit erledigt, und die Aussicht, Laura beschwichtigen zu müssen, passte ihm gar nicht.

«Mr. P. hat sich einen Blick auf ihre Dinger erlaubt», bemerkte Anthony feixend. Ihr Sohn saß vor dem Fernseher, hatte die Füße auf den Sofatisch gelegt.

«Was?», stieß Matt verärgert hervor. «Den werde ich mir sofort vorknöpfen und –»

Laura knallte das Bügeleisen aufs Abstellgitter. «Ach, setz dich hin! Du weißt doch, wie er ist. Außerdem, das ist es gar nicht. Was mich stört, ist, dass er mich wie ein Dienstmädchen behandelt. Tagaus, tagein renne ich hin und her, um ihm seine Wünsche zu erfüllen. Aber jetzt reicht’s mir endgültig.»

Als sie merkte, dass der Alte nicht aufhören wollte, seinem Milchreis nachzumaulen, war sie nach Hause gegangen und hatte ihm Fertigmilchreis gemacht.

Er hatte anschließend den Finger in die Schüssel getaucht und gemeckert: «Schon wieder ganz kalt!»

«Das kann nicht sein. Ich habe ihn erst vor zehn Minuten heiß gemacht.»

«Aber jetzt ist er kalt.»

«Mr. Pottisworth! Ich muss über den Bach und durchs Wäldchen, da kann das Essen schon mal ein bisschen abkühlen.»

Seine Mundwinkel hatten sich mürrisch gesenkt. «Jetzt mag ich ihn nicht mehr. Mir ist der Appetit vergangen.»

Sein Blick war zu ihr rübergehuscht, und vielleicht hatte er das Zucken unter ihrem Auge bemerkt. Sie fragte sich gerade, ob es wohl möglich wäre, einen Menschen mit einem Essenstablett und einem Löffel zu töten.

«Stellen Sie es dahin. Vielleicht esse ich es ja später.» Er hatte seine Streichholzärmchen verschränkt. «Wenn mich die Verzweiflung packt.»

«Mum sagt, sie will beim Sozialdienst anrufen», sagte Anthony jetzt. «Sollen die sich um ihn kümmern.»

Matt hatte es sich gerade auf dem Sofa gemütlich machen wollen, doch nun fuhr er auf. «Sei nicht blöd. Die würden ihn doch bloß in ein Heim stecken.»

«Na und», erwiderte Laura, «dann muss sich wenigstens mal jemand anders um ihn kümmern. Und ihn auf nicht vorhandene Druckstellen untersuchen. Seine Bettwäsche waschen und ihm zweimal am Tag eine warme Mahlzeit bringen! Gern!»

Matts Müdigkeit war verflogen. Er sprang auf. «Er hat doch kein Geld, Laura! Die werden ihn zwingen, eine Hypothek auf sein Haus aufzunehmen, um fürs Pflegeheim zu bezahlen! Denk doch mal nach!»

Sie schaute ihn an. Sie war eine hübsche Frau Ende dreißig, schlank und sportlich, doch nun war ihr Gesicht rot und trotzig, wie bei einem aufsässigen Kind. «Das ist mir egal. Ich hab genug, Matt.»

Mit zwei langen Schritten war er bei ihr und nahm sie in die Arme. «Komm, Schatz, er macht es doch nicht mehr lange.»

«Neun Jahre, Matt», seufzte sie an seiner Brust. «Seit neun Jahren stehe ich auf Abruf. Als wir eingezogen sind, hast du gesagt, er lebt höchstens noch ein Jahr.»

«Denk doch an das herrliche Grundstück, den großen Garten, die Stallungen … Denk an das Esszimmer und daran, wie schön du es einrichten wolltest. Denk an uns, eine glückliche Familie, wie wir Arm in Arm vorm Haus stehen …» Er schwieg, um das Bild, das er gezeichnet hatte, wirken zu lassen. «Schau, der alte Trottel schafft es kaum mehr aus dem Bett. Wirst sehen, das dauert nicht mehr lange. Und wen hat er denn schon, außer uns?» Er gab ihr einen Kuss aufs Haar. «Das mit dem Kredit geht klar, und Sven hat sogar schon die Pläne für uns gezeichnet. Ich kann sie dir nachher zeigen, wenn du willst.»

«Da hörst du es, Mum. So gesehen, was macht es schon, wenn er dir ab und zu auf die Tutteln glotzt?» Anthony grinste. Seine Mutter schlug mit einem frisch gebügelten T-Shirt nach ihm und erwischte ihn am Ohr. Er zuckte jaulend zurück.

«Hab Geduld, Liebes», sagte Matt mit eindringlicher, schmeichelnder Stimme. «Komm, Schatz, nur noch ein bisschen länger, hm?» Er spürte, wie ihr Körper weich wurde, und da wusste er, dass er sie hatte.

Er drückte ihre Hüften, erlaubte seinen Fingern die Andeutung auf eine spätere, intimere Art von Entschädigung. Sie erwiderte seinen Druck. Da wünschte er, er hätte sich den kleinen Umweg zur Kellnerin vom Long Whistle heute ausnahmsweise mal verkniffen. Wird Zeit, dass du endlich abkratzt, du alter Trottel, beschwor er Pottisworth im Stillen. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalten kann.

 

Auf der anderen Seite des Wäldchens lag der Alte in seinem Bett und schaute sich glucksend eine Sitcom an. Als die Sendung zu Ende war, warf er einen Blick auf die Uhr und legte seine Zeitung beiseite.

In der Ferne bellte ein Fuchs, der wohl sein Revier verteidigte. Kein großer Unterschied zwischen Mensch und Tier, dachte der alte Mann. Dieser Fuchs, der Eindringlinge lautstark vertrieb und das Bein hob, um sein Revier zu markieren, war gar nicht so anders als Laura McCarthy mit ihren zwei warmen Mahlzeiten pro Tag und ihrem Getue um saubere Bettwäsche und was noch alles. Auch sie hob sozusagen bloß das Bein.

Er hatte Lust auf etwas Süßes. Mit einer Agilität, die seine Nachbarn erstaunt hätte, hüpfte er aus dem Bett und ging zu dem großen Schrank, in dem er seine kleinen Schätze versteckte. All die Sachen, die Byron ihm auf Anweisung aus dem Ort mitbrachte. Er öffnete die Tür und tastete hinter Büchern und Akten herum. Dann schloss er die Hand um etwas Längliches. Fühlte sich an wie ein KitKat. Voller Vorfreude auf den Geschmack schmelzender Schokolade nahm er es heraus. Fragte sich dabei, ob es sich wohl lohnte, seine Zähne noch mal reinzutun.

Aber zuerst schloss er sorgfältig wieder die Schranktür zu. Es war besser, seine Vorräte vor Laura McCarthy geheim zu halten. Bei ihr spielte er immer den Hilflosen. Frauen wie sie liebten das Gefühl, gebraucht zu werden. Grinsend erinnerte er sich, wie rot ihre Ohren geworden waren, als er die Bemerkung über ihre enge Jeans gemacht hatte. Sie ließ sich so leicht reizen. Und er reizte sie gern, es war das Highlight seines Tages. Morgen würde er vielleicht mit einer Bemerkung übers Reiten anfangen. Dass sie es nur wegen des Kribbelns tat … Damit traf er immer ins Schwarze.

Immer noch grinsend, machte er kehrt, um ins Bett zurückzugehen. Da hörte er die Titelmelodie einer seiner Lieblingssitcoms. Abgelenkt übersah er völlig die Schüssel mit Milchreis, die er auf dem Boden abgestellt hatte. Er trat mit der Ferse hinein und rutschte weg.

Zumindest reimte es sich der Leichenbeschauer später so zusammen. Der Knall, mit dem Pottisworths Hinterkopf auf das Parkett aufschlug, musste so laut gewesen sein, dass man ihn sicher noch zwei Stockwerke tiefer hätte hören können. Aber eben nicht bis zum Nachbarhaus, wie Matt McCarthy hinterher betonte. So tief im Wald, wo alle Geräusche erstarben, bekam niemand etwas mit. An solch einem Ort konnte so ziemlich alles passieren.

Kapitel 2

«Sag bitte.»

Theresa sah ihn böse an.

Matt verlagerte sein Gewicht. Ihre Wimperntusche war verschmiert, was ihr etwas Nuttiges verlieh. Andererseits, Theresa wirkte eigentlich immer etwas nuttig. Das war eins der Dinge, die ihm so an ihr gefielen. «Sag bitte.»

Sie machte die Augen zu, schien offensichtlich mit sich zu ringen. «Matt …»

«Sag bitte.» Er stützte sich auf die Ellbogen, hob seinen Körper an, sodass kein Teil von ihm sie mehr berührte, außer vielleicht seine Füße. «Komm schon», sagte er leise, «ich will, dass du bettelst.»

«Matt, ich –»

«Bitte.»

Theresa hob verzweifelt die Hüften, aber er wich zurück. «Sag es.»

«Ach, du …»

Er senkte den Kopf und fuhr mit den Lippen über ihren Hals, über ihr Schlüsselbein, hatte sich immer noch aufreizend über ihr abgestützt. Sie rang keuchend nach Luft. Wie leicht es doch war, sie heißzumachen. Und sie dort zu halten. Leichter als bei den meisten anderen. Ihre Augen fielen zu, sie begann zu stöhnen. Er schmeckte ihren Schweiß, einen kalten Film auf ihrer Haut. So war sie schon seit einer Dreiviertelstunde. «Matt …»

«Sag es», brummte er mit tiefer, verführerischer Stimme. Seine Lippen wanderten zu ihrem Ohr, er atmete den Geruch ihres Haars ein und auch die anderen, satteren Gerüche weiter unten. Wie einfach es doch wäre, sich jetzt gehen zu lassen, sich zu erlauben, seinen Bedürfnissen nachzugeben. Aber es bereitete ihm einen noch viel größeren Genuss, die Zügel weiter festzuhalten.

«Sag es.»

Theresas Lider hoben sich ein wenig. Sie gab sich geschlagen, er sah es in ihren Augen. Ihre Lippen öffneten sich. «Bitte», flüsterte sie. Alle Beherrschung aufgebend, packte sie ihn und stöhnte: «Ach bitte! Bitte. Bitte.»

Eine Dreiviertelstunde. Matt warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Dann stemmte er sich mit einer flüssigen Bewegung von ihr herunter und stieg aus dem Bett. «Menschenskind, schon so spät?» Er suchte den Boden nach seiner Jeans ab. «Sorry, Babe. Muss weg.»

Theresas Kopf zuckte hoch, und das Haar fiel ihr wild ins Gesicht. «Was? Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen!»

«Wo sind denn meine Stiefel? Ich hätte schwören können, sie lagen gerade noch da.»

Mit hochrotem Gesicht starrte sie ihn fassungslos an. «Matt! Du kannst mich doch nicht so hängenlassen!»

«Ah. Da sind sie ja.» Matt stieg in seine Arbeitsstiefel und gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Ich muss gehen. Es wäre unglaublich unhöflich von mir, zu spät zu kommen. Du hast ja keine Ahnung.»

«Zu spät? Zu spät wofür? Matt!»

Er hätte sich natürlich die zwei Minuten nehmen können. Aber manchmal war es schöner zu wissen, dass man etwas haben konnte, als es tatsächlich zu bekommen. Das war etwas, das nur die wenigsten Männer kapierten. Matt lief leichtfüßig die Treppe hinunter. Er grinste. Er konnte sie noch bis zur Haustür schimpfen hören.

 

Die Beerdigung von Samuel Frederick Pottisworth fand an einem so trüben, regnerischen Tag statt, dass die Leute, die sich in der kleinen Dorfkirche versammelten, schon glaubten, der Abend bräche herein. Samuel war der Letzte der Pottisworths gewesen. Aus diesem Grund – und vielleicht auch, weil er nicht gerade zu den beliebtesten Zeitgenossen gehört hatte – waren nur wenige Trauergäste gekommen. Die McCarthys, Pottisworths Hausarzt, jemand von der Versicherung und ein Rechtsanwalt hatten sich in großzügigen Abständen auf die erste Bank verteilt. Damit es nach mehr aussah, vielleicht.

Ein paar Reihen dahinter saß Byron Firth mit seinen Hunden. Er achtete nicht auf die giftigen Blicke der alten Weiber auf der anderen Seite des Gangs. Er hatte sich daran gewöhnt. Er wusste, dass dieses Getuschel unvermeidlich war, wann immer er es «wagte», im Dorf aufzutauchen. Er nahm es mit steinerner Miene hin. Außerdem hatte er im Moment andere Sorgen. Er hatte beim Weggehen seine Schwester mit ihrem neuen Freund telefonieren hören und konnte sich des unangenehmen Gefühls nicht erwehren, dass sie vorhatte, mit ihm zusammenzuziehen. Und Lily mitzunehmen. Aber allein konnte er sich die Miete für das Haus nicht leisten. Und es war unwahrscheinlich, dass er einen Untermieter finden würde, der nichts gegen ihn und seine Hunde einzuwenden hätte. Aber was noch wichtiger war: Er hatte keinen Job mehr, jetzt, da der alte Mann tot war. Im Moment wurde sein Lohn zwar noch aus dem Nachlass bezahlt, aber das konnte nicht ewig so weitergehen. Ohne viel Hoffnung hatte er die Stellenanzeigen in der Zeitung durchgeblättert, um zu sehen, ob es irgendwelche Gelegenheitsjobs gab.

Ein paar Leute waren einfach so gekommen. Mrs. Linnet zum Beispiel, die Putzfrau, ließ sich nie eine gute Beerdigung entgehen. Sie konnte sie regelrecht einstufen, nach Besucherzahl, den besten Hymnen, der Qualität des Schinkens und der Würstchen im Schlafrock. Bis zurück ins Jahr 1955. Sie hatte gleich noch zwei alte Damen mitgebracht, «Kundinnen» von ihr, wie sie meinte. Zum Vikar sagte sie, sie hätten Mr. Pottisworth zwar nicht persönlich gekannt, würden sich aber bestimmt über «ein wenig Abwechslung» freuen. Noch dazu, wo zu erwarten stand, dass es anschließend einen üppigen Leichenschmaus geben würde. Schließlich wusste Mrs. McCarthy, was sich gehörte. Leute wie sie wussten das immer.

In einer der hinteren Bänke hatten Asad und Henry die Köpfe über einem Gesangbuch zusammengesteckt.

«Schau sie dir an, sitzen fein rausgeputzt da vorne, als gehörten sie zur Familie», schimpfte Henry leise.

«Vielleicht hilft es ihnen ja über ihren Kummer hinweg», bemerkte Asad trocken. Er war hochgewachsen und schlank und musste einen Buckel machen, um dem Text im Gesangbuch folgen zu können. «Mrs. McCarthy sieht heute besonders hübsch aus. Ich glaube, dieser Mantel ist neu.»

Ein leuchtend roter Mantel im Military-Stil, der in der düsteren kleinen Kirche deutlich hervorstach.

«Wahrscheinlich rechnen sie jetzt mit Geld. Sie hat mir gestern erzählt, dass ihr Mann eine Anzahlung auf einen dieser protzigen Geländewagen mit Allradantrieb gemacht hat.»

«Ich finde, sie hat es auch verdient. Hat sich jahrelang für diesen schrecklichen Mann abgerackert. Ich hätte das nicht gekonnt.»

Asad schüttelte den Kopf. Seine schmalen Züge, die seine somalische Herkunft verrieten, ließen ihn elegant und ein wenig melancholisch wirken. Er brachte es fertig, unter fast allen Umständen würdevoll zu erscheinen, wie Henry fand. Sogar in seinem Thomas-die-kleine-Lokomotive-Schlafanzug.

«Welchen schrecklichen Mann meinst du in diesem Fall?», brummte Henry.

Die letzte Strophe des Liedes war zu Ende. Man hörte Kleidergeraschel und das dumpfe Geräusch von Gesangbüchern, die auf Holzbänke zurückgelegt wurden, während sich die Gemeinde für den letzten Teil der Messe wieder setzte.

«Samuel Pottisworth war», hob der Pfarrer an, «ein Mann, der … sich sein Leben lang treu blieb.» Er schien nach Worten zu ringen. «Er war einer der … eines der ältesten Mitglieder unserer Dorfgemeinschaft.»

«Die McCarthys waren schon lange scharf auf das Haus», sagte Henry leise. «Schau ihn dir an, wie er da neben ihr steht – als würde ihn das alles nicht betreffen.»

«Weißt du, dass er bis vor einer halben Stunde noch bei dieser Theresa aus dem Pub war? Ted Garner kam vorbei, weil er Weingummis brauchte, und hat mir erzählt, er hätte Matts Lieferwagen vor Theresas Haus stehen sehen.» Henry rümpfte die Nase.

«Vielleicht war ja was kaputt», bemerkte Asad optimistisch.

«Ja, sie lässt sich öfter mal einen Mann ins Haus kommen», sagte Henry und rückte seine Lesebrille zurecht. «Vielleicht war ihr Rohr verstopft.»

«Und man weiß ja, wie gut er im Durchspülen von Rohren ist …»

Die Männer brachen in Gekicher aus und mussten sich Mühe geben, wieder einigermaßen ernst zu werden. Der Vikar schaute mit hochgezogener Braue von seiner Laudatio auf und richtete einen müden Blick auf sie, als wolle er sagen: Macht es mir nicht noch schwerer.

Asad richtete sich auf. «Aber wir sind natürlich keine Tratschtanten.»

«Keineswegs. Genau das habe ich vorhin auch zu Mrs. Linnet gesagt, als sie vorbeikam, um Kopfschmerztabletten zu kaufen. Die zweite Packung in drei Tagen. Nein, wir sind doch keine Tratschtanten.»

 

Matt McCarthy hatte trotz des ernsten Anlasses Mühe, bekümmert dreinzuschauen. Er hätte laut lachen können. Singen. Heute Morgen hatte ihn einer der Dachdecker gleich zweimal gefragt, warum er so verdammt gute Laune habe.

«Sie haben wohl im Lotto gewonnen, was?», hatte er gesagt.

«So was in der Art», hatte Matt geantwortet und war zum fünfzehnten Mal verschwunden, die zusammengerollten Pläne unter dem Arm, um die Fassade des Hauses zu bewundern.

Es hätte gar nicht günstiger kommen können. Laura war, was den alten Bock anbelangte, am Ende ihrer Geduld gewesen. Er hatte es sich zwar nicht anmerken lassen, aber die Sache gestern hatte ihm Sorgen gemacht. Wenn Laura sich geweigert hätte, Pottisworth weiterhin das Essen zu bringen, dann wäre er erledigt gewesen. Tatsächlich war die Neuigkeit, die Laura ihm mit zitternder Stimme am Telefon mitgeteilt hatte, eine so großartige gewesen, dass er sofort alles stehen und liegen gelassen hatte, um rechtzeitig da zu sein, als der Arzt eintraf, um den Tod festzustellen. Laura hatte sich dankbar an ihn geklammert. Sie hatte geglaubt, er sei gekommen, um ihr beizustehen. Er wollte es zwar nicht zugeben, aber ein winziger Teil von ihm hatte befürchtet, dass der Alte vielleicht doch nicht tot war. Dass er, wenn Matt ihn nicht scharf im Auge behielt, aufspringen und «ein Scheibchen Braten» verlangen würde.

Die Totenmesse war zu Ende. Das kleine Grüppchen der Trauergäste versammelte sich vor der Kirche, über sich den dunkler werdenden, drückenden Himmel. Einige schauten sich gespannt um, wie es nun wohl weitergehen würde. Dass niemand vorhatte, den Sarg auch noch bis zum Grab zu begleiten, war offensichtlich.

«Ich finde es sehr nett von Ihnen und Mrs. McCarthy, dass Sie die Kosten für Mr. Pottisworths Beerdigung übernommen haben.» Mrs. Linnet legte eine federleichte Hand auf Matts Arm.

«Das war doch das Mindeste, was wir tun konnten. Mr. P. gehörte für uns schon fast zur Familie. Ich bin sicher, dass ihn vor allem meine Frau vermissen wird.»

«Nicht jeder würde heutzutage noch so viel Großzügigkeit von seinen Nachbarn erwarten», bemerkte Mrs. Linnet.

«Und wer kann schon sagen, aus welchen Motiven eine solche entspringt? Er ist wahrlich ein Glückspilz gewesen.»

Asad Suleyman war neben ihm aufgetaucht, einer der wenigen Dorfbewohner, neben denen sich Matt klein vorkam. Matt schaute ihn scharf an, aber Asads Miene war wie immer undurchdringlich.

«Na ja, Sie kennen Laura», antwortete er. «Sie weiß, was sich gehört. So ist sie nun mal erzogen worden.»

«Wir haben uns gerade gefragt … Mr. McCarthy … ob Sie des Toten vielleicht noch auf andere Weise gedenken wollen …» Mrs. Linnet schaute unter dem Rand ihres Filzhuts zu ihm auf. Hinter ihr standen zwei weitere alte Damen, die Handtaschen erwartungsvoll an die Brust gedrückt.

«Äh, anders? Ach ja, natürlich! Nein, Sie sind natürlich alle herzlich eingeladen, meine Damen. Wir müssen den alten Mr. P. doch gebührend feiern, stimmt’s?»

«Und Sie, Mr. Suleyman? Müssen Sie wieder zurück in den Laden?»

«Oh nein.» Henry Ross trat vor. «Mittwochs schließen wir immer früher. Sie hätten es nicht besser planen können, Mr. McCarthy. Wir würden uns freuen, ein bisschen mit Ihnen … äh … gedenken zu dürfen.»

«Wir sind sehr gern dabei», sagte Asad und lächelte ihn strahlend an.

Heute konnte nichts Matt den Tag verderben. «Na prima! Dann also alle Mann zu mir, damit wir auf den alten Knaben anstoßen können. Ich sage nur rasch noch dem Vikar Bescheid. Meine Damen, wenn Sie bei meinem Wagen warten wollen, dann nehme ich Sie gerne mit.»

 

Das Haus, das Matt McCarthy mit dem Geld seiner Frau gebaut – oder, besser gesagt, instand gesetzt – hatte, war früher einmal das Kutscherhaus gewesen. Es lag am Waldrand, ein Stückchen abseits der Stelle, an der der Weg zum Spanischen Haus abzweigte. Von außen entsprach es ganz dem neogeorgianischen Stil dieser Gegend, mit hohen, eleganten Fenstern und Feuersteinfassade. Innen jedoch war es moderner, mit Deckenspots, einem großen, offenen Wohnzimmer, Laminatböden und einem Billardzimmer, in dem Matt schon seit Jahren nicht mehr mit seinem Sohn Pool gespielt hatte.

Das Haus lag inmitten von offenem Land, durch ein Wäldchen vom Großen Haus abgeschirmt. Beide Häuser lagen nur zweieinhalb Kilometer vom Dorf Little Barton mit dem Pub, der Schule und dem Dorfladen entfernt. Aber die lange, gewundene Auffahrt zu dem Herrenhaus war fast vollständig zugewachsen, voller Schlaglöcher und hervortretender Wurzeln. Matt und seine Frau hatten sich jeder einen robusten Wagen mit Allradantrieb anschaffen müssen; bei jedem anderen Auto wäre es für den Unterboden gefährlich geworden. Gelegentlich kam Matt Besuchern das letzte, ganz besonders schlimme Stück mit dem Geländewagen entgegen, um sie abzuholen. Bereits zweimal hatten schicke, tiefergelegte Sportwagen auf dieser Strecke einen Auspuff verloren, und Matt war alles andere als dumm, wenn es um seine Geschäfte ging.

Mehrmals war er schwer versucht gewesen, die Löcher mit Schotter zu stopfen, doch jedes Mal hatte ihn seine Frau davon abgehalten. Sie befürchtete, damit das Schicksal herauszufordern. «Wenn das Haus einmal uns gehört, kannst du tun, was du willst», hatte sie gesagt, «aber warum willst du Geld für etwas ausgeben, zu dem ein anderer verpflichtet ist?»

Die Tische standen voller Weinflaschen – viel zu viele für die paar Leute. Aber Matt McCarthy wollte sich nicht lumpen lassen. Außerdem ließen sich mit ein wenig Alkohol leichter Beziehungen pflegen.

«Hast den alten Mann noch bis an die Grube begleitet, was?»

«Jemand musste doch sichergehen, dass er nicht wieder raushüpft.»

Er reichte Mike Todd, dem örtlichen Immobilienmakler, ein großes Glas Rotwein.

«Ist Derek schon da? Will sicher mit mir über den Hausverkauf reden, sobald das Testament offiziell ist. Ich sag dir eins: Das Grundstück mag noch so toll sein, aber man muss tiefe Taschen haben, um der alten Ruine wieder auf die Beine zu helfen. Als ich letztes Mal dort war … das war, wann? Vor vier Jahren? Es war damals schon im Arsch.»

«Ist seitdem nicht besser geworden.»

«Und dieser Fahrweg! Was steht an der Abzweigung? ‹Vorsicht Schlaglöcher!›? Also das trifft den Nagel auf den Kopf.»

Matt beugte sich zu ihm. «Wenn ich du wäre, Mike – ich würde mir mal nicht allzu große Hoffnungen machen.»

«Weißt du was, was ich nicht weiß?»

«Ich will es mal so ausdrücken: So wie es aussieht, wirst du eher dieses Haus hier auf den Markt bringen als das große.»

Mike nickte. «Hab ich mir schon gedacht. Na ja … deins werde ich leichter los. Da muss ich mir meine Courtage nicht ganz so sauer verdienen wie mit dem großen. Wusstest du übrigens, dass unsere Gegend neulich in einem der Sonntagsblätter als kommender Hot Spot auf dem Immobilienmarkt bezeichnet wurde?»

«Dann wirst du ja ziemlich beschäftigt sein. Du machst mir trotzdem einen guten Preis?»

«Mache ich doch immer, Matt. Da fällt mir ein … lass uns doch später kurz reden. Ich hab ein Angebot für die alte Scheune hinter der Kirche. Soll ein schicker Umbau werden. Ich hab der Dame gesagt, ich wüsste genau den richtigen Mann dafür. Ich denke, davon könnten wir beide profitieren.» Er nahm einen großen Schluck und schmatzte zufrieden. «Im Übrigen, wenn du wirklich diese Ruine wiederbeleben willst, brauchst du jeden Penny, Mann.»

 

Erstaunlich, überlegte Laura, wie viel mehr Leute zum Leichenschmaus erschienen waren als zum Gottesdienst. Draußen hatte es aufgeklart, und man meinte fast, den würzigen Duft des Waldes riechen zu können. Sie war zuvor noch mit dem Hund draußen gewesen und hatte den ersten Hauch von Herbst in der Septemberluft gerochen. Laura gab sich einen Ruck und konzentrierte sich wieder auf den Kuchen, den sie auf einer Platte angerichtet hatte, um ihn ins Wohnzimmer zu bringen. Es sah nicht danach aus, als ob ihre Gäste sich bald verabschieden würden. Wenn es so weiterging, würde sie bis in den Abend hinein die Gastgeberin spielen müssen. Das war das Problem auf dem Land: Die Leute lebten so abgeschieden, hatten so wenig Abwechslung, dass sie jede Gelegenheit, die sich bot, ergriffen und buchstäblich bis zum letzten Tropfen auskosteten. Wenn es noch lange dauerte, würde sie die Vettern bitten müssen, für Nachschub kurz den Dorfladen aufzumachen.

«Alles klar, meine Schöne?»

Matt schlang die Arme um ihre Taille. Er war schon die ganze Woche über aufmerksam, entspannt und gut gelaunt. Sie musste zugeben – wenn auch mit Gewissensbissen –, dass Mr. P.’s Tod ein Segen war.

«Hab mich gerade gefragt, wann wir sie wohl rauswerfen können», murmelte er.

«Wenigstens die alten Damen solltest du vielleicht bald heimfahren. Mrs. Linnet hatte schon drei Gin und wird immer alberner. Und Mrs. Bellamy liegt auf dem Mantelhaufen und schnarcht.»

«Als Nächstes werden sie sich an die Vettern ranmachen.»

Lächelnd legte sie einen Tortenheber zum Kuchen, dann drehte sie sich zu ihm um. Er sah noch genauso gut aus wie an dem Tag, an dem sie ihn kennengelernt hatte. Die kleinen Fältchen an seinen Augenwinkeln, seine wettergegerbte Haut, all das machte ihn nur noch attraktiver. Manchmal versetzte es ihr bei diesem Gedanken einen Stich. Aber nicht heute. Heute war sie ein wenig beschwipst und einfach nur froh darüber. «Jetzt wird sich alles ändern, oder?»

«Oh ja.» Er beugte sich zu ihr und küsste sie. Ihre Hände glitten um seine Taille, streichelten seinen Rücken, die kräftigen Muskeln, die er seiner körperlich anspruchsvollen Arbeit zu verdanken hatte. Sie erwiderte seinen Kuss, erfreute sich an dem beruhigenden Druck seiner Lippen, die ihr sagten, dass er ihr gehörte. Diese Momente waren es, die sie für alles entschädigten, die ihr das Gefühl gaben, dass sie ihn wiederhatte. Dass die Vergangenheit ein Ausnahmezustand gewesen war.

«Störe ich bei was?»

Matt hob den Kopf. «Also wenn du das noch immer nicht weißt, Anthony, dann hast du in Biologie nicht gut aufgepasst.»

Laura entschlüpfte den Armen ihres Mannes und nahm den Kuchen. «Dein Vater und ich haben über die Zukunft geredet. Wie viel besser jetzt alles werden wird.»

Manchmal, dachte Matt McCarthy und zupfte verstohlen seine Hose zurecht, da bin ich richtig zufrieden mit meiner Ehe. Er blickte ihr nach, zählte dabei im Geiste ihre Vorzüge auf: immer noch eine erstaunlich zierliche Taille, hübsche, schlanke Beine, eine anmutige Haltung. Er hätte es schlechter treffen können.

«Hast du heute gar nichts vor?», fragte er seinen Sohn. «Bist ja immer noch da.»

Erst jetzt fiel ihm auf, dass auf Anthonys Gesicht nicht das übliche Grinsen lag.

«Shane hat mich nach dem Fußballtraining heimgefahren.»

«Nett von ihm.»

«Dein Lieferwagen stand vor Theresa Dillons Haus.»

Matt zögerte. «Na und?»

«Und … ich bin doch nicht doof, Dad. Und Mum auch nicht, selbst wenn du so tust.»

Matts gute Laune verflog. In gezwungen leichtem Ton sagte er: «Weiß wirklich nicht, was du meinst.»

«Klar.»

«Willst du mir was vorwerfen?»

«Mum hast du gesagt, du wärst noch beim Großhändler gewesen.»

So ist das also, dachte Matt. In seinen Zorn mischte sich Stolz. Sein Sohn war kein Dummkopf. Und er scheute sich nicht, seinen Vater zur Rede zu stellen. Der Junge hatte Mumm.

«Jetzt hör mir mal zu, Inspector Columbo. Ich hab bei Theresa reingeschaut, weil bei ihr dringend ein Fenster ausgetauscht werden muss. Sie wollte, dass ich ihr ein Angebot mache. Nicht, dass es dich was anginge.»

Der Junge sagte nichts, starrte ihn aber auf eine Weise an, die verriet, dass er ihm kein Wort glaubte. Er hatte schon wieder diese lächerliche Wollmütze auf, tief in die Stirn gezogen.

«Und als sie anrief, dachte ich, zum Baustoffhandel kannst du auch morgen noch fahren», fügte er hinzu.

Anthony musterte seine Füße.

«Glaubst du denn wirklich, dass ich deiner Mutter so was antun würde? Nach allem, was sie für diese Familie getan hat – und für den alten Mann?» Es sah aus, als ob er ihn damit hätte. Matts Reaktion war rein instinktiv – nie was zugeben, nie was erklären – und hatte ihm schon unzählige Male aus der Klemme geholfen.

«Woher soll ich das wissen?»

«Nein, weißt du auch nicht. Also solltest du vielleicht besser erst mal den Verstand einschalten, bevor du das Maul aufmachst.» Jetzt. Jetzt hatte er ihn. «Du hängst zu viel im Dorf rum. Ich hab deiner Mutter immer gesagt, wir hätten dich irgendwo großziehen sollen, wo mehr los ist.» Er tippte sich an die Stirn. «Hier langweilen sich die Leute. Sie haben nichts Besseres zu tun, als irgendwelche Geschichten zu erfinden. Menschenskind – hör dich doch an! Du bist nicht besser als diese alten Klatschweiber da draußen.»

«Ich hab dich schon mal mit ihr gesehen, oder hast du das vergessen?», entgegnete Anthony zornig.

«Ich darf also nicht mal mehr mit einer Frau flirten, was? Mich nicht mit einem hübschen Mädel unterhalten? Soll ich mit gesenktem Kopf rumlaufen und auf meine Füße starren, bloß damit mich keine anspricht? Vielleicht sollte ich Mrs. Linnet bitten, mir eine Burka zu nähen.»

Anthony schüttelte den Kopf.

«Hör zu, Sohnemann, du bist sechzehn, da braucht es noch ein bisschen zum Erwachsenwerden. Aber falls du glaubst, deine Mutter hätte lieber so eine Art Pudel geheiratet, dann täuschst du dich. Und jetzt geh und such dir eine bessere Beschäftigung, als hier Miss Marple zu spielen. Und lass dir verdammt noch mal endlich die Haare schneiden.»

Matt schlug mit einem Knall die Küchentür hinter sich zu und ließ Anthony mit hängenden Schultern stehen.

 

Der Nachmittag ging in den Abend über, und dann senkte sich die Nacht wie eine samtene schwarze Decke über das Haus, die Wälder und Felder. Aber hinter den hell erleuchteten Fenstern der McCarthys dachten die Trauergäste noch immer nicht daran zu gehen. Tatsächlich dachten sie nicht einmal mehr daran zu trauern. Der Alkohol floss in Strömen und löste die Zungen. Mittlerweile war man bei den weniger respektvollen Geschichten über den alten Pottisworth angelangt. Von seinen langen Unterhosen war die Rede, die er sogar bis in den Sommer hinein getragen hatte und die schon ganz grau gewesen waren. Jemand erwähnte die anzüglichen Bemerkungen, die er zu der netten jungen Pflegekraft gemacht hatte.

Im Nachhinein wusste keiner mehr so genau, wer eigentlich auf die Idee gekommen war, die Party zum Großen Haus zu verlegen. Aber irgendwann ergoss sich die Gesellschaft kichernd und gackernd auf die Terrasse und schlug den Waldweg ein. Als Laura merkte, was los war, lief sie ein wenig verloren hinter ihrem Mann her.

Es war eine ungewöhnlich warme, fast schwüle Nacht. Huschend und raschelnd brachten sich die Tiere der Nacht vor den wackelnden Strahlen zahlreicher Taschenlampen in Sicherheit. Die alten Ladys quiekten vor Schreck und vor Vergnügen, während sie sich tastend ihren Weg durch den dunklen Wald suchten.

«Nicht mal meine Frau hat er mit seinen schmutzigen Bemerkungen verschont», sagte Matt. «Dieser alte Lüstling. Vorsicht auf den Brettern, Mädels.»

«Matt», sagte Laura, die gerade an ihm vorbeiging, «bitte!»

«Ach, nun komm schon, Schatz. Es stimmt doch! Oder willst du behaupten, dass er ein Engel war?» Er zwinkerte Mike Todd zu, der sein Weinglas hochhielt, um ja keinen Tropfen zu verschütten. «Wir wissen doch alle, wie er war, oder, Mike?»

«Trotzdem. Es ist nicht anständig.»

«So über die Toten zu reden? Aber ich sage doch nur die Wahrheit. Stimmt’s nicht, Leute? Und ich meine es ja nicht böse.»

«Trotzdem …»

Vom Mond beschienen, der sich im stillen See spiegelte, ragte vor ihnen das Haus auf. Im bläulichen Schein wirkte das alte Gemäuer beinahe ätherisch, weniger gedrungen als am Tage. Feiner Nebel stieg vom Boden auf, und man hatte den Eindruck, als würde das Haus schweben. Den roten Backsteinmauern des Ostflügels schloss sich der Anbau aus einer späteren Zeit an, mit seinen schlanken gotischen Spitzbogenfenstern und der für diese Region typischeren Feuerstein-Fassade. Über dem riesigen Erkerfenster des großen Schlafzimmers ragten in zwei ungleichmäßigen Reihen Zinnen auf. Ein zwar beeindruckendes, insgesamt aber unschönes, fast widerborstiges Haus, seinem vorherigen Eigentümer nicht unähnlich. Aber es hatte Potenzial. Laura musste ein Schaudern unterdrücken. Das Große Haus. Das Haus, das sie neu erschaffen, in dem sie den Rest ihres Lebens verbringen würde. Das Haus, das ihren Eltern und allen anderen ein für alle Mal beweisen würde, dass es kein Fehler gewesen war, Matt zu heiraten.

«Schaut es euch an», erklang Matts Stimme. «Er hätte es einfach verfallen lassen.»

«Ich erinnere mich an die Zeit, als seine Eltern noch dort wohnten», sagte Mrs. Linnet, die sich an Asads Arm klammerte. «Da war es noch wunderschön. Und so gepflegt. Da und dort drüben standen Pfaue aus Stein, und auf dem See gab es Boote. Und dort am Ufer blühten herrliche Rosen. Die dufteten noch richtig, nicht so wie die, die man heute so bekommt.»

«Das muss großartig gewesen sein», bemerkte Asad.

«Es kann wieder schön werden. In den richtigen Händen.»

«Das wär nichts für mich, so weit ab und mitten im Wald.»

Laura schaute ihren Mann an, der ein wenig abseits der Gruppe stand und gedankenverloren zum Haus aufblickte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Frieden, als wäre eine jahrelange Anspannung von ihm abgefallen. Ob sie selbst wohl einen ähnlichen Eindruck machte? Aber nein, wahrscheinlich nicht.

«Ach, Matt», sagte Derek Wendell, der Notar, leise, «könnte ich Sie vielleicht kurz sprechen?»

«Hab ich euch eigentlich schon mal erzählt, wie er dieses Feld verkaufen wollte, das hinter der alten Scheune?» Mike Todd war neben Matt aufgetaucht, seine Stimme dröhnte durch die Nacht. «Hat ein gutes Angebot dafür bekommen, sogar mehr, als er verlangen wollte. Alles ging glatt, bis er beim Notar mit dem Käufer zusammentraf.» Er machte eine dramatische Pause. «Ein De-sas-ter.»

«Erzähl weiter, Mike», sagte Laura und musste kichern. Sie hatte zu viel getrunken, was ungewöhnlich für sie war. Normalerweise hielt sie sich bewusst zurück. Es gab nichts Unangenehmeres, als mit einem Brummschädel aufzuwachen.

«Als er merkte, dass der gute Mann Franzose war – das heißt, seine Eltern waren Franzosen, aber er lebte schon seit zwanzig Jahren in England –, war die Sache für ihn gelaufen. ‹Ich verkauf mein gutes Land doch nicht an einen verdammten Kollaborateur! Kein Frog kriegt meinen Stammsitz in seine schmierigen Pratzen …› Die Ironie dabei war, dass kein Pottisworth je im Krieg gedient hat. Sind alle entweder als untauglich ausgemustert worden oder haben sich gedrückt.»

«Ich glaube, er hat überhaupt nie an jemandem ein gutes Haar gelassen», sagte Matt, den Blick noch immer zum Haus hinaufgerichtet.

«Aber an Mrs. McCarthy doch bestimmt. Wo sie doch so viel für ihn getan hat …»

«Pah! Nicht mal an Laura. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste», sagte Matt.

Er setzte sich auf eine niedrige Mauer. Unweit davon führten flache Stufen zu dem hinunter, was früher einmal die Auffahrt gewesen war. Matts Haltung war entspannt, selbstbewusst, die Haltung eines Eigentümers, der sich fürs Familienalbum ablichten lässt.

«Matt.» Derek Wendell stand jetzt dicht neben ihm. «Wirklich, ich muss mit Ihnen reden.»

Laura bemerkte seine Miene noch vor Matt. Selbst in ihrem beschwipsten Zustand erkannte sie etwas darin, das sie schlagartig nüchtern werden ließ.

«Es geht ums Testament, oder? Kann das nicht warten?» Matt schlug ihm kameradschaftlich auf den Rücken. «Sie sind wohl immer im Dienst, was, Derek?»

«Ich war seit dreißig Jahren nicht mehr hier», verkündete Mrs. Linnet von weiter hinten. «Das letzte Mal auf der Beerdigung des alten Mr. Pottisworth. Zwei Rappen haben den Sarg gezogen. Ich wollte einen streicheln, und er hat mich gebissen.» Sie streckte ihre Hand aus und musterte sie mit schmalen Augen. «Schaut, da ist noch die Narbe.»

Jetzt redeten alle durcheinander, jeder wollte seine eigene Anekdote erzählen.

«Ich erinnere mich noch gut an diese Beerdigung», sagte Matt. «Mein Vater und ich, wir standen am Tor. Er wollte nicht reingehen, stand einfach nur da und ließ den Leichenzug an sich vorbeifahren. Ich weiß noch, dass er weinte. Zehn Jahre war es her, dass sie ihn rausgeschmissen hatten, und er weinte trotzdem um den Alten.»

Laura schwieg und beobachtete alles. Derek war offensichtlich bemüht, Matts Aufmerksamkeit zu erlangen. Sein Blick huschte kurz zu ihr hin, und da wusste sie auf einmal, was er ihrem Mann beizubringen versuchte. Ihre Welt zerfiel in Einzelteile. Sie blinzelte heftig, versuchte, sich einzureden, dass es am schwachen Licht lag und an ihrem alkoholisierten Zustand. Doch dann beugte sich Derek zu Matt hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Matts Züge verhärteten sich. «Was? Was?», brach es aus ihm hervor. In der lauen, duftenden Abendluft stehend, wusste sie auf einmal, dass der Vikar recht hatte.

Der alte Mann war sich tatsächlich bis zuletzt treu geblieben. Selbst über den Tod hinaus.

Kapitel 3

Es ist schwer, Geige zu spielen, wenn man weint. Die Tränen sammeln sich aufgrund der Kopfneigung zunächst in der Vertiefung zwischen Tränenkanal und Nasenwurzel, dann rinnen sie übers Gesicht oder, noch schlimmer, tropfen auf die Geige, wo sie natürlich sofort weggewischt werden müssen, bevor sie das kostbare Holz beschädigen.

Isabel unterbrach sich kurz und holte ein Taschentuch hervor, mit dem sie die winzigen Tröpfchen abwischte, bevor sie die Geige wieder anlegte. Weinen und Spielen. Das eine sollte vom anderen tunlichst getrennt werden. Aber nur wenn sie spielte, konnte sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen, nur wenn sie spielte, musste sie keine tapfere Miene aufsetzen, musste nicht Mutter oder Schwiegertochter sein, kompetenter Haushaltsvorstand oder, Gott bewahre, «tapfere junge Witwe».

«Mum.» Kitty rief schon eine Weile nach ihr. Sie hatte die Stimme ihrer Tochter ausgeblendet, hatte sich nicht die letzten Takte von Mahlers Fünfter verderben lassen wollen, war noch nicht bereit, sich wieder der Realität zu stellen. Aber Kittys Stimme klang jetzt gereizt und ungehalten. «Mum!»

Sie nahm die Geige aus ihrer Halsbeuge und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Dann rief sie mit betont munterer Stimme nach unten: «Was ist?»

«Mr. Cartwright ist da.»

Cartwright … Cartwright … Sie legte ihr Instrument in den Geigenkasten. Der Name sagte ihr nichts, aber vielleicht kannte sie ihn trotzdem. Als Laurent noch lebte, hatte sie sich nie so viele Namen merken müssen.

«Ich komme», rief sie und stieg die Treppe vom Dachboden hinunter.

Cartwright. Mr. Cartwright. Das klang nach etwas Geschäftlichem. Kein Nachbar. Keiner von Laurents Freunden, von denen noch immer gelegentlich welche auftauchten und ihrem Entsetzen Ausdruck verliehen, weil sie es gerade erst erfahren hatten. Sie saßen dann auf dem Sofa und wollten getröstet werden, als wäre Isabel jetzt irgendwie für die Gefühle der anderen verantwortlich.

Keiner von ihren Freunden. Zu den meisten hatte sie seit ihrem Ausscheiden aus dem Orchester den Kontakt verloren.

Cartwright. Sie schaute ins Wohnzimmer. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr der Mann im dunkelgrauen Anzug vage bekannt vorkam. Er war auf der Beerdigung gewesen. Sie versuchte, sich zu sammeln, warf einen Blick zur Küche, wo Kitty gerade Tee aufsetzte. «Kann Mary das denn nicht machen?»

«Heute ist ihr freier Nachmittag, habe ich dir doch schon gesagt.»

«Ach so.» Sie vergaß in letzter Zeit öfter etwas. Ihre Tochter ging voran und brachte Mr. Cartwright den Tee. Dieser kämpfte sich mühsam aus dem modisch niedrigen Sofa und bot Isabel seine Hand, bevor er wieder Platz nahm. Mit seiner etwas steifen Art und den blitzblanken Schuhen wirkte er in dem unordentlichen Wohnzimmer irgendwie fehl am Platz. Sie versuchte, den Raum mit seinen Augen, den Augen des Besuchers, zu betrachten: Auf den Tischen häuften sich Bücher und Zeitschriften. Auf einer Sofalehne hatte jemand eine Halloweenmaske liegen gelassen, auf der anderen lag ein Haufen Wäsche. Isabel sah, dass einer ihrer Slips daraus hervorschaute und zwischen den Kissen zu verschwinden drohte. Thierry saß versunken vor dem Fernseher.

«Mrs. Delancey, ich hoffe, ich komme nicht ungelegen …»

«Ach nein.» Sie winkte gespielt beiläufig ab. «Wie nett, Sie zu sehen. Ich war nur … gerade oben.»

Kitty setzte sich mit untergeschlagenen Beinen in den roten Damastsessel, dessen Überzug schon so zerschlissen war, dass an manchen Stellen das graue Futter hervorkam. Isabel sah, wie sie es verstohlen wieder hineinzustopfen versuchte.

«Mr. Cartwright will mit uns über Geld reden», verkündete sie. «Hier ist auch eine Tasse Tee für dich, Mum.»

«Ach ja. Danke, Schätzchen.»

War er Steuerberater? Finanzberater? Anwalt? Um diese Leute hatte sich immer Laurent gekümmert.

«Soll ich vielleicht etwas unterschreiben?»

Mr. Cartwright beugte sich vor, was nicht leicht war, da ihm auf dem niedrigen Sofa die Knie fast unterm Kinn standen. «Das ist es nicht. Nun ja … es wäre vielleicht ratsam, wenn wir dieses Gespräch … ähm … unter vier Augen führen könnten.» Er warf einen bezeichnenden Blick auf Thierry, dann auf Kitty.

Thierry schaltete zornig den Fernseher ab.

«Du kannst in Marys Zimmer weiterschauen, mein Schatz. Sie hat bestimmt nichts dagegen.»

«Da ist die Fernbedienung kaputt», sagte Kitty.

«Na, dann vielleicht …»

Aber Thierry war bereits aus dem Zimmer gestapft.

«Ich bleib lieber hier», verkündete Kitty ruhig. «Manchmal ist es besser, wenn zwei Paar Ohren zuhören.»

«Meine Tochter ist … sehr verständig für ihr Alter.»

Mr. Cartwright sah nicht so aus, als ob es ihm recht wäre, musste sich aber wohl oder übel damit abfinden.

«Ich versuche schon seit Wochen, Sie zu erreichen», begann er. «Es ist äußerst wichtig, dass Sie sich endlich ein umfassendes Bild von Ihrer finanziellen Lage machen, Mrs. Delancey, jetzt, nachdem sich … ähm … der Staub ein wenig gelegt hat.»

Er errötete. Dann nahm er seinen Aktenkoffer auf den Schoß und klappte ihn mit der Miene eines Menschen auf, der sich schon den ganzen Tag auf diesen Moment gefreut hat. Er nahm einen Haufen Papiere heraus, die er fein säuberlich auf dem Sofatisch anordnete. Als er an den Stapel stieß, fuhr er erschrocken zusammen.

«Mum öffnet keine Post», erklärte Kitty gelassen. «Wir warten, bis der Stapel so hoch wird, dass er sie unter sich begräbt.»

«Natürlich werde ich die Post öffnen, Kitty. Ich … ich bin nur ein bisschen ins Hintertreffen geraten.» Isabel schenkte Mr. Cartwright ein verlegenes Lächeln.

«Das wird wohl der Grund sein, warum Sie noch nichts von uns gehört haben», fügte Kitty hinzu.

«Es … könnte ratsam sein, die Post durchzusehen», sagte Mr. Cartwright vorsichtig. «Es könnten Rechnungen dabei sein.»

«Ach, das geht schon in Ordnung», sagte Kitty. «Ich mache alles auf, was einen roten Rand hat, fülle die Überweisung aus und gebe sie Mum zum Unterschreiben.»

Er konnte seine Missbilligung nicht ganz verhehlen. Isabel war derartige Reaktionen mittlerweile gewöhnt. Sie sah sie auf den Gesichtern anderer Mütter, wenn sie erzählte, dass bei ihnen die Nanny das Kochen übernahm oder dass sie die Schulfreunde ihrer Kinder nicht mit Namen kannte. Und sie sah sie im Ausdruck derjenigen, die seit Laurents Tod zu Besuch gekommen waren und die Unordnung bemerkten, die jetzt im Hause herrschte. Selbst Mary, ihre Nanny, verzog gelegentlich das Gesicht, wenn Isabel wieder einmal im Bett liegen blieb und wie ein Schlosshund heulte, anstatt morgens die Kinder zur Schule zu fahren. In den ersten Wochen hatte Isabel geglaubt, den Verstand zu verlieren, in fast jedem männlichen Gesicht, das ihr auf der Straße begegnete, hatte sie Laurent gesehen. Sie war zornig gewesen auf Gott und die ganze Welt, weil man ihn ihr genommen hatte. Langsam ließ die Wut nach, aber der Schmerz wurde deswegen nicht erträglicher.

Mr. Cartwright nahm einen Stift zur Hand und klappte seinen Aktenkoffer zu. «Es ist leider nichts Gutes, was ich Ihnen zu sagen habe.»

Isabel hätte beinahe gelacht. Mein Mann ist tot, dachte sie. Mein Sohn steht noch immer unter Schock und weigert sich zu sprechen. Meine Tochter ist in den vergangenen neun Monaten um zwanzig Jahre gealtert und will nicht wahrhaben, dass überhaupt etwas passiert ist. Ich musste das Einzige aufgeben, das ich je geliebt habe, das Einzige, was ich mir geschworen hatte, nie aufzugeben. Und du glaubst, du kannst mir schlechte Neuigkeiten bringen?

«Jetzt, nachdem ein wenig Zeit vergangen und die … äh … rechtliche Seite geklärt ist, habe ich mir Laurents Finanzen mal genauer angeschaut, und es scheint, als wäre er … nicht ganz so liquide gewesen, wie es den Anschein hatte.»

«Liquide?»

«Ich fürchte, er hat weniger gut für Sie vorgesorgt, als Sie vielleicht erwartet hätten.»

Das ist doch nicht so schlimm, hätte sie am liebsten gesagt. Geld war mir noch nie wichtig. «Aber wir haben das Haus. Und seine Lebensversicherung. So schlimm kann es gar nicht sein.»

Mr. Cartwright nahm ein Blatt zur Hand. «Hier ist eine Aufstellung all dessen, was Ihr Mann zum Zeitpunkt seines … Dahinscheidens besaß und …»

«Er ist gestorben», unterbrach sie ihn. «Ich hasse diese beschönigenden Phrasen. Er ist gestorben. Mein Mann ist tot.» Sie fing Kittys vorwurfsvollen Blick auf. Aber es stimmte. Besser, man nannte die Dinge beim Namen.

Mr. Cartwright schwieg einen Moment, und Isabel schluckte mühsam den Kloß in ihrem Hals herunter.

«Es tut mir leid», sagte sie verlegen, «aber Zahlen sind für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Könnten Sie es mir vielleicht in einfachen Worten erklären?»

«Einfach ausgedrückt, Mrs. Delancey, hat Ihr Mann mehrere Hypotheken auf das Haus aufgenommen, um Ihren gewohnten Lebensstil aufrechtzuerhalten. Er verließ sich darauf, dass der Wert des Hauses steigen würde, was auch irgendwann so sein mag, und dann wäre Ihre Situation nicht mehr ganz so schlimm. Das Problem ist jedoch, dass er diese zusätzlichen Belastungen nicht durch eine gleichzeitige Erhöhung seiner Lebensversicherung abgesichert hat. Im Gegenteil. Er hat sogar einige Policen aufgelöst.»

«Er … sagte, der neue Job würde viel Geld einbringen. Ich habe nicht ganz verstanden, was er meinte … Um ehrlich zu sein, mir war nie so recht klar, was er eigentlich beruflich gemacht hat.» Sie lächelte entschuldigend. «Irgendwas mit … äh … Zukunftsmärkten?»

Er schaute sie an, als müsse das doch jedes Kind verstehen.

«Ich … könnten Sie mir erklären, was genau das für uns bedeutet?»

«Das Haus ist hoch belastet. Und die monatlichen Ausschüttungen aus der Lebensversicherung decken nicht einmal die Hälfte davon, will heißen, es häuft sich da ein Schuldenberg auf, den Sie, fürchte ich, nicht mehr abtragen können. Bis jetzt reichte das Geld auf Ihren gemeinsamen Konten noch, aber ich fürchte, dass mittlerweile kaum mehr etwas da ist. Natürlich werden Sie einen Teil der Rente Ihres Mannes erhalten, aber was die Hypothekenschulden betrifft, werden Sie einen anderen Weg finden müssen, wenn Sie Ihr Haus behalten wollen.»

Es hörte sich an wie das hässliche Krächzen einer Krähe. Laut. Aufdringlich. Sie schaltete irgendwann einfach ab, verstand nur noch Bahnhof. Versicherung. Ausschüttungen. Hypothekenschulden. Finanzielle Dinge. Entscheidungen. All das, wovon sie nichts verstand. Sie bekam allmählich Kopfschmerzen.

Sie holte tief Luft. «Was kann ich also tun, Mr. Cartwright?»

«Tun?»

«Seine Investitionen? Seine Ersparnisse? Es muss doch etwas da sein, womit ich die Hypotheken abzahlen kann.»

«Ich muss Ihnen leider mitteilen, Mrs. Delancey, dass Ihr Mann in den letzten Monaten vor seinem Tod sehr hohe Ausgaben hatte. Er hat mehrere Konten so gut wie leer gemacht. Und was davon noch übrig ist und was Sie aus den verbleibenden Versicherungspolicen bekommen, müssen Sie zur Bezahlung Ihrer Kreditkartenschulden verwenden. Und … ähm … für die aufgelaufenen Alimentenzahlungen an die erste Frau Ihres Mannes. Als Ehefrau müssen Sie natürlich keine Erbschaftssteuer bezahlen. Ich würde Ihnen aber dennoch dringend anraten, Ihre laufenden Ausgaben auf ein absolutes Minimum zu beschränken.»

«Wofür hat er denn so viel ausgegeben?», wollte Kitty wissen.

«Ich fürchte, da müssen Sie sich die Kreditkartenauszüge ansehen.»

Was haben wir in den letzten Monaten zusammen eigentlich gemacht?, versuchte sich Isabel zu erinnern. Aber es war wie mit den Wochen, die unmittelbar auf seinen Tod folgten: ein vager Erinnerungsbrei. Auch an ihre gemeinsamen Jahre mit Laurent konnte sie sich nur noch bruchstückhaft erinnern. Wir haben ein schönes Leben gehabt, dachte sie sehnsüchtig. Ausgedehnte Urlaube in Südfrankreich, mehrmals pro Woche in Restaurants essen. Ihr war nie eingefallen zu fragen, woher das Geld dafür kam.

«Und die Schulgebühren? Die Nanny?», fragte Kitty.

Isabel hatte fast vergessen, dass ihre Tochter noch da war.

«Ja, es wäre ratsam, darauf zu verzichten», sagte Mr. Cartwright zu Kitty, beinahe erleichtert darüber, dass hier endlich jemand seine Sprache zu sprechen schien.

«Sie wollen sagen, wir werden das Haus verlieren, oder?»

«Wenn ich recht verstehe, hat deine … haben Sie, Mrs. Delancey, kein … ähm … regelmäßiges Einkommen mehr. Sie würden besser zurechtkommen, wenn Sie in eine preiswertere Gegend umziehen würden.»

«Wir sollen hier ausziehen?», fragte Isabel fassungslos. «Aber das ist Laurents Haus! Hier sind unsere Kinder aufgewachsen. Wir können doch nicht ausziehen!»

Kitty hatte diesen energischen Gesichtsausdruck wie früher als kleines Mädchen, wenn sie sich weh getan hatte, aber nicht weinen wollte.

«Kitty, Schätzchen, geh nach oben. Mach dir keine Sorgen. Ich kriege das schon hin.»

Kitty zögerte nur kurz und verschwand dann in verdächtig steifer Haltung. Mr. Cartwright schaute ihr betreten nach, als wäre es seine Schuld, dass sie jetzt litt.

Isabel wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte. «Es muss doch was geben, das wir tun können», drängte sie. «Sie kennen sich mit Geld aus. Ich kann doch die Kinder nicht so einfach entwurzeln. Hier, in diesem Haus, ist die Erinnerung an ihren Vater noch lebendig. Sie haben ihn geliebt. Wahrscheinlich haben sie ihn öfter gesehen als mich. Ich habe ja immer so viel gearbeitet. Ich kann ihnen das nicht antun, Mr. Cartwright.»

Er war rot angelaufen und starrte verlegen auf seine Papiere.

«Sind Sie sicher, dass er nicht vielleicht Besitz in Frankreich hatte?», erkundigte sie sich.

«Nur Schulden, leider. Wie es scheint, hat er schon vor gut einem Jahr die Zahlungen an seine Exfrau eingestellt.»

Ihr fiel ein, wie Laurent sich gelegentlich über die Alimente an seine erste Frau beschwert hatte. Wir hatten keine Kinder, hatte er gebrummt, ich begreife einfach nicht, wieso diese Frau es nicht schafft, für sich selbst zu sorgen.