Der kleine Bruder - Susanne Svanberg - E-Book

Der kleine Bruder E-Book

Susanne Svanberg

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Was ist denn mit dir los?« Kopfschüttelnd blieb der große dunkelhaarige Junge vor einem Mädchen stehen, das sich tief übers Schulheft beugte. Man sah sofort, dass zwischen den beiden ein Altersunterschied von mehr als fünf Jahren bestand. Nick, der künftige Erbe von Sophienlust, besuchte schon die Oberstufe des Gymnasiums, während Elke Brecht vor wenigen Tagen zehn Jahre alt geworden war. Mit fast väterlichem Wohlwollen wiederholte Nick, der sich sehr gut mit Kindern verstand, seine Frage. Doch Elke gab keine Antwort. Dicke Tränen tropften auf ihr Heft, verwischten die Zahlen, die darin standen. Nick ging um den Tisch herum, setzte sich dicht neben Elke. Da diese sich seit einem halben Jahr in Sophienlust aufhielt, fühlte er sich verantwortlich für sie, genau wie für die anderen Kinder, die hier eine neue Heimat gefunden hatten. »Was ist? Bekommst du ein schlechtes Zeugnis?« Als Schüler wusste Nick nur zu gut, dass wenige Tage vor den großen Ferien die meisten Buben und Mädchen Kummer mit ihren Noten hatten. »Musst du vielleicht die Klasse wiederholen?« Heftig schüttelte das Mädchen den Kopf mit dem dichten braunen Haar. Verweinte grüne Augen schauten Nick traurig an. »Es ist nicht wegen der Schule«, schluchzte das Kind. »Um was geht es dann?« Nick überlegte angestrengt. Eigentlich hatte sich Elke rasch und gut im Kinderheim Sophienlust eingelebt. Sie hatte in Angelika eine besondere Freundin gefunden und gab sich sonst so fröhlich und vergnügt wie die anderen Mädchen auch. »Hast du Streit mit jemandem?« Wie seine Mutti war auch Nick stolz darauf, dass sich die Kinder in Sophienlust wohlfühlten. Wieder

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Seitenzahl: 153

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Sophienlust ab 211 – 250–

Der kleine Bruder

Bricht Christophs Familie auseinander?

Susanne Svanberg

»Was ist denn mit dir los?« Kopfschüttelnd blieb der große dunkelhaarige Junge vor einem Mädchen stehen, das sich tief übers Schulheft beugte.

Man sah sofort, dass zwischen den beiden ein Altersunterschied von mehr als fünf Jahren bestand. Nick, der künftige Erbe von Sophienlust, besuchte schon die Oberstufe des Gymnasiums, während Elke Brecht vor wenigen Tagen zehn Jahre alt geworden war.

Mit fast väterlichem Wohlwollen wiederholte Nick, der sich sehr gut mit Kindern verstand, seine Frage. Doch Elke gab keine Antwort. Dicke Tränen tropften auf ihr Heft, verwischten die Zahlen, die darin standen.

Nick ging um den Tisch herum, setzte sich dicht neben Elke. Da diese sich seit einem halben Jahr in Sophienlust aufhielt, fühlte er sich verantwortlich für sie, genau wie für die anderen Kinder, die hier eine neue Heimat gefunden hatten.

»Was ist? Bekommst du ein schlechtes Zeugnis?« Als Schüler wusste Nick nur zu gut, dass wenige Tage vor den großen Ferien die meisten Buben und Mädchen Kummer mit ihren Noten hatten. »Musst du vielleicht die Klasse wiederholen?«

Heftig schüttelte das Mädchen den Kopf mit dem dichten braunen Haar. Verweinte grüne Augen schauten Nick traurig an. »Es ist nicht wegen der Schule«, schluchzte das Kind.

»Um was geht es dann?« Nick überlegte angestrengt. Eigentlich hatte sich Elke rasch und gut im Kinderheim Sophienlust eingelebt. Sie hatte in Angelika eine besondere Freundin gefunden und gab sich sonst so fröhlich und vergnügt wie die anderen Mädchen auch. »Hast du Streit mit jemandem?« Wie seine Mutti war auch Nick stolz darauf, dass sich die Kinder in Sophienlust wohlfühlten.

Wieder schüttelte die Kleine traurig den Kopf. »Es ist … wegen meiner Eltern«, schnupfte sie traurig. Wahrscheinlich hätte sie ihren Kummer nicht einmal Angelika anvertraut, aber Nick war so etwas wie ein großer Bruder für sie. Sie hatte nicht nur Vertrauen zu ihm, sondern wusste auch, dass er ihr nach Kräften helfen würde. Sich für jüngere Kinder einzusetzen, war für Nick eine Selbstverständlichkeit.

»Was ist mit deinen Eltern?« Liebevoll legte der große Junge seinen Arm um die zuckenden Schultern des kleinen Mädchen.

»Sie können in den Ferien nicht kommen. Und ich habe mich doch schon so gefreut.« Elke weinte nun noch lauter.

»Und warum?« Nick wusste, dass Elkes Eltern in einem großen Hotel auf der Insel Teneriffa arbeiteten. Sie wollten dort Erfahrungen sammeln, um später selbst ein Hotel übernehmen zu können.

»Weil dort gestreikt wird, schreibt meine Mutti. Aller Urlaub ist gestrichen worden. Jetzt können wir uns erst im Winter sehen.« Mit nicht ganz sauberen Händen wischte Elke die Tränen von ihren Wangen. Es gab schmutzige Streifen, was richtig komisch aussah.

Trotzdem lachte Nick nicht. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, wie er selbst reagiert hätte, wenn er getrennt von seinen Eltern hätte leben müssen. Zu sehr hing er an ihnen. Besonders an Denise, seiner hübschen Mama. Aber auch seinen Stiefvater liebte er sehr.

»Es tut mir leid, dass du die Ferien hier verbringen musst, Elke. Aber so schlecht wird es nicht werden. Mutti hat mir verraten, dass wir …« Nick tuschelte etwas in Elkes Ohr.

Pünktchen, die am Fenstertisch ihre Aufgaben für die Schule machte, schaute finster herüber. Sie mochte es nicht, wenn Nick so vertraulich mit anderen Mädchen tat. Obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, regte sich jedes Mal Eifersucht in ihr. Denn heimlich schwärmte sie für Nick und träumte manchmal davon, dass er ihr einen Kuss gäbe.

Auch die übrigen Kinder waren inzwischen aufmerksam geworden.

»Ich möchte nur wissen, was die beiden für Geheimnisse haben«, maulte Vicky und gab ihrer Schwester Angelika einen unsanften Stoß in die Seite.

»He, wir wollen auch wissen, um was es geht«, rief Fabian.

Henrik, das Nesthäkchen der Familie Schoenecker, lief zu Nick. »Erzähle uns, was los ist«, forderte er den Halbbruder auf. Er beneidete den Älteren, weil dieser gewöhnlich mehr wusste als alle anderen.

Nick musterte die beiden Buben gelassen.

»Ihr hättet es ohnehin gleich erfahren. Wir werden in diesem Sommer richtig Urlaub machen.«

Wie elektrisiert sprangen nun auch die übrigen Kinder auf und rannten zu der kleinen Gruppe. Im Halbkreis umstanden sie den Tisch, an dem Elke eigentlich ihre Schulaufgaben machen sollte.

»Ein Kinderheim kann doch nicht in Urlaub fahren«, dämpfte Irmela, das älteste Mädchen unter den Kindern, den Optimismus.

»Ein normales Kinderheim vielleicht nicht. Aber wir fahren für eine Woche an den Bodensee. Wenn du es nicht glaubst, kannst du Frau Rennert fragen.«

»Spitze!«, keuchte Fabian überrascht.

Er hatte bei einem Zugunglück seine Eltern verloren und in Sophienlust eine neue Heimat gefunden.

»Klasse«, jubelte Vicky und hüpfte vor Freude auf und ab.

»Mensch, das ist einfach umwerfend«, machte Pünktchen ihrer Überraschung Luft. Auch sie war nach dem Tod ihrer Eltern nach Sophienlust gekommen und hier wieder fröhlich geworden. Schon viele Jahre war das her.

»Ihr dürft allerdings nicht erwarten, dass wir im Luxushotel wohnen«, erklärte Nick schmunzelnd. »Es ist nur ein einfaches Wochenendhaus, das Mutti für diese Zeit gemietet hat. Aber es hat Platz für alle, und es liegt direkt am See.«

»Das ist doch viel besser als ein Hotel«, erklärte Angelika temperamentvoll. »Da brauchen wir nicht immer in feinen Kleidern herumzulaufen und dürfen auch einmal laut sein.«

»Und wir dürfen alle mit?«, erkundigte sich die kleine Heidi, die sich wieder einmal in den Aufenthaltsraum geschmuggelt hatte, obwohl sie dort nichts zu suchen hatte, wenn die Großen ihre Aufgabe machten. Ein bisschen ängstlich schaute sie auf Nick.

»Alle«, versicherte der Junge mit den intelligenten dunklen Augen.

Jetzt brach ein Sturm der Begeisterung los, dem sich auch Elke nicht verschließen konnte. Ihr Kummer, dass sie ihre Eltern in den Ferien nicht sehen durfte, war nur noch halb so groß. Sie trocknete ihre Tränen und beobachtete staunend die Kameraden, die nun alle durcheinanderredeten.

»Ich nehme meine Taucherflossen mit«, erklärte Henrik lautstark.

»Und ich die Brille«, schrie Fabian dazwischen.

Pünktchen verdrehte träumerisch die Augen. »An den Bodensee wollte ich schon immer. Unsere Lehrerin hat erzählt, wie schön es dort ist.«

»Kommt Tante Isi auch mit?«, wollte Heidi wissen. Als jüngstes Kind von Sophienlust war sie noch sehr liebebedürftig und hing sehr an Denise von Schoenecker, die Kinder über alles liebte.

»Wir nehmen sogar Schwester Regine und Magda mit. Na, was sagt ihr jetzt?« Nick war stolz darauf, dass es seine Mutti ihm überlassen hatte, die Buben und Mädchen zu informieren.

»Kann Magda dort auch Schokoladenkuchen backen, genau wie hier?«, wollte Fabian wissen, der neuerdings einen beachtlichen Appetit entwickelte.

»Ich glaube schon. Mutti sagt, das Haus hat alle Einrichtungen, die man braucht.«

Henrik ließ ein wahres Indianer-Freudengeheul hören, und die anderen stimmten mit ein.

»Was geht hier vor?« Unerwartet stand Frau Rennert in der weit offenen Tür. Die Heimleiterin war keine strenge, sondern eher eine mütterlich-gütige Frau.

Trotzdem hatten die Kinder Respekt vor ihr. Auch die größeren gehorchten widerspruchslos.

»Tante Ma, wir haben …, wir wollen …« Ein bisschen schuldbewusst senkte Vicky den Kopf. Auch die übrigen Buben und Mädchen waren plötzlich still.

»Ich meine, wenige Tage vor den Zeugnissen solltet ihr alle besonders sorgfältig lernen. Wenn ihr damit fertig seid, könnt ihr nach Herzenslust schwatzen.«

Rasch verzogen sich die Kinder an ihre Plätze. Auch Nick machte keine Ausnahme. »Es war meine Schuld«, gestand er Frau Rennert.

»Schon gut.« Die Heimleiterin, die von allen ›Tante Ma‹ gerufen wurde, lächelte schon wieder. »Heidi kommt mit mir«, bestimmte sie freundlich.

Nur zu gern kam die Kleine der Aufforderung nach. Von Frau Rennert ins Büro mitgenommen zu werden, bedeutete eine ganz besondere Auszeichnung.

»Kommst du auch mit an den Bodensee, Tante Ma?«, erkundigte sich Heidi und verriet damit den Grund für die Unruhe im Aufenthaltsraum.

*

Ein grauer Dunstschleier lag noch über dem See. Aber über den bewaldeten Hügeln der gegenüberliegenden Seite leuchtete schon die Sonne, tauchte mit ihren Strahlen die wunderschöne Landschaft in ein goldenes Licht.

Claudia Winter hatte den Frühstückstisch auf der Terrasse ihres schmucken Reihenhauses gedeckt. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick und das Gefühl, auch an gewöhnlichen Werks­tagen im Urlaub zu sein.

Sündhaft teuer war das Haus gewesen, das Stefan Winter vor vier Jahren für seine Familie erstanden hatte. Doch es hatte sich gelohnt. Sie wohnten hier einmalig schön. Der freie Blick auf den Bodensee bis hinüber zur Schweizer Grenze war unverbaubar, das Seeufer war nur zwei Minuten entfernt.

Stefan Winter erschien mit mürrischem Gesicht, in der einen Hand die Aktentasche, in der anderen die Zeitung. Er war seit vielen Jahren als Vertreter tätig, verdiente gut, aber er war selten zu Hause. Oft kam er nur an den Wochenenden nach Hause.

Stefan besuchte im Auftrag einer pharmazeutischen Fabrik Ärzte und Krankenhäuser. Das erforderte nicht nur umfangreiche Sachkenntnisse und gute Umgangsformen, sondern auch eine gepflegte Erscheinung. So kam es, dass er stets tadellos und immer nach der neuesten Mode gekleidet war. Er sah unwahrscheinlich gut aus, auch dann, wenn er ein so unfreundliches Gesicht machte wie jetzt.

Groß, breitschultrig und sportlich schlank war sein Körper. Dichtes braunes, etwas widerspenstiges Haar ließ ihn jünger erscheinen, als er mit seinen fünfundvierzig Jahren war. Selbstverständlich sorgte er dafür, dass er in Form blieb. Er besuchte regelmäßig Gymnastikabende, ging zum Schwimmen, in die Sauna, zur Massage und spielte Tennis.

Seine Frau Claudia, drei Jahre jünger als er, war ebenfalls sehr sportlich. Sie schwamm und segelte gern. Die Seenähe gab ihr die beste Gelegenheit dazu. Obwohl sie drei Kinder und eine Menge Hausarbeit hatte, war sie noch immer mädchenhaft schlank und zierlich. Ihr hellblondes Haar fiel glatt bis zur Schulter.

Eben brachte Claudia die Kanne mit dem aromatisch duftenden Kaffee und das Körbchen mit den frischen Brötchen. Ihr Mann hatte inzwischen auf einem der Gartenstühle Platz genommen, die Aktentasche neben sich gestellt und die Zeitung ausgebreitet. Interessiert vertiefte er sich in den Anzeigenteil.

Claudia füllte die Tassen, strich die Brötchen. »Fährst du von hier aus gleich nach Stuttgart?«, erkundigte sie sich freundlich.

»Hm«, brummte er hinter der hochgehaltenen Zeitung.

»Wann kommst du zurück?« Etwas schüchtern kam diese Frage, denn Claudia wusste genau, dass ihr Mann nicht gern über seine Pläne sprach. Dennoch versuchte sie es immer wieder, weil sie an seiner Arbeit, an seinem Leben teilnehmen wollte.

»Weiß ich noch nicht. Ich habe am Dienstag in Freiburg zu tun. Uni-Klinik.«

»Aber da könntest du doch heute Abend zurückkommen und morgen von hier aus …« Claudia schwieg erschrocken, denn ihr Mann riss ruckartig die Zeitung hinunter und schaute sie aus dunklen Augen vorwurfsvoll an.

»Das kann ich eben nicht, und ich will es auch nicht«, erklärte Stefan ungehalten. »Was soll überhaupt dieses ewige Gefrage nach meiner Reiseroute? Du wirst schon sehen, wann ich wieder hier bin.«

»Ich mag es eben, wenn du hier bist«, entschuldigte sich die junge Frau. »Erst wenn alle beisammen sind, bin ich richtig zufrieden.« Etwas wehmütig dachte sie dabei an die Zeit, da die Kinder noch klein gewesen waren. Damals hatte es Stefan stets so eingerichtet, dass er abends zu Hause gewesen war. Seit mehr als zwei Jahren aber kam er nur noch am Wochenende. Die Ehe drohte daran zu zerbrechen.

»Ich weiß, dass es dir nicht passt, dass ich durch meine Tätigkeit mehr Selbstständigkeit habe als andere Männer. Dabei hast du mit den Kindern bestimmt genügend Unterhaltung. Du könntest beispielsweise dafür sorgen, dass Ulrich weniger trinkt und sich mehr seinen Studien widmet, und du könntest einmal ein ernstes Wort mit deiner Tochter reden. Sie flirtet ständig mit diesem jungen Italiener und ist in diesem Jahr nur mit knapper Not versetzt worden. Im nächsten Jahr wird sie durchs Abi rasseln.« Vorwurfsvoll hatte Stefans Stimme geklungen.

Claudia seufzte leise. Sie konnte sich an den barschen Ton, in dem Stefan seit einiger Zeit mit ihr sprach, einfach nicht gewöhnen. Sie liebte ihn doch, liebte ihn trotz der einundzwanzig Ehejahre und dem zermürbenden Alltag. Aber ihn schien das nicht zu interessieren.

»Wir sind eine Familie, und es ist nicht gut, wenn nur ich den Kindern ihre Fehler vorhalte.«

»Um was alles soll ich mich noch kümmern?«, schnaubte Stefan aufgebracht. »Habe ich nicht genug damit zu tun, das Geld für unseren bestimmt nicht billigen Lebensunterhalt zu verdienen? Da kannst doch du wenigstens für den Haushalt sorgen und die Kinder erziehen.«

»Das tue ich ja. Aber es ist nicht einfach. Glaube es mir.« Claudias schöne Stimme klang traurig. Sanft war der Blick ihrer großen grauen Augen. Sie wollte Stefan das Wochenende immer so schön und harmonisch wie möglich gestalten. Trotzdem bekamen sie fast jedes Mal Streit.

»Du verwöhnst die Kinder zu sehr, das ist ein großer Fehler. Aus Christoph machst du ein Müttersöhnchen, aus Birgit eine eitle Ziege und aus Ulrich einen Säufer, der es nie zu etwas bringen wird.« Absichtlich war er in der letzten Zeit bemüht, seiner Frau jeden kleinen Fehler nachzuweisen. Ohne sich selbst Rechenschaft darüber abzulegen, suchte er nach einer Rechtfertigung dafür, dass er nur noch so selten nach Hause kam.

»Mein Gott, wie kannst du nur so etwas sagen«, empörte sich Claudia. Sie legte das Brötchen, das sie gerade in der Hand hielt, auf den Teller zurück. Der Appetit war ihr vergangen. »Junge Menschen sind wohl nie so perfekt, wie Eltern sie sich wünschen. Sie probieren dies und probieren das, bevor sie den richtigen Weg finden. Vor allen Dingen müssen sie eigene Erfahrungen sammeln. Das ist wichtig, und man darf sie deshalb nicht gleich verurteilen. Birgit und Ulrich werden bestimmt noch vernünftig, auch wenn es im Moment nicht so aussieht.«

»Ja, nimm sie nur in Schutz, deine Musterkinder«, schimpfte Stefan böse. »Schließlich bin ich es, der diese ganzen Dummheiten finanziert. Aber nicht mehr lange, das sage ich dir. Birgit und Ulrich sind volljährig. Wenn sie kein Interesse an ihrer Ausbildung haben, dann sollen sie damit aufhören und Geld verdienen. Das würde ihnen wahrhaftig nicht schaden.«

»Wie wäre es denn, wenn du selbst einmal ein ernstes Wort mit ihnen reden würdest?«

»Wann denn, zum Donnerwetter? Wenn ich Samstags nach Hause komme, sind die Herrschaften im Club oder sonst wo. Sonntags will ich meine Ruhe haben und Montag früh, wie jetzt, sind sie in der Schule.«

»Früher hattest du keinen so schnellen Wagen und bist doch jeden Abend nach Hause gekommen«, meinte Claudia traurig.

»Soll das ein Vorwurf sein?«, erkundigte sich ihr Mann barsch.

»Nein, natürlich nicht. Aber manchmal fühle ich mich doch sehr einsam hier draußen.«

»Auch das noch«, stöhnte Stefan in gespielter Verzweiflung. »Du weißt gar nicht, was für ein schönes Leben du hast, und du beklagst dich auch noch. So etwas hat man gern.«

Jetzt konnte sich Claudia nicht länger beherrschen. Das was sie seit Wochen beschäftigte, brach plötzlich aus ihr hervor. Die Worte drängten sich ihr nur so auf die Lippen. »Du weißt doch so gut wie ich, dass es zwischen uns nicht mehr stimmt. Das hat mit den Kindern gar nichts zu tun, das geht nur uns beide etwas an. Wochentags hast du keine Zeit für mich, und Sonntags willst du deine Ruhe haben. Ich darf dich nicht einmal ansprechen. Dabei gibt es so vieles, was mich beschäftigt. Du entschuldigst deine Ablehnung mir gegenüber mit Arbeitsüberlastung. Aber das allein kann es nicht sein. Du brauchst heute bei deinen Kunden viel weniger Besuche zu machen als noch vor einigen Jahren. Was ist los, Stefan? Warum bist du nicht ehrlich zu mir?« Claudia zitterte bei diesen Worten, denn sie ahnte, was sie erfahren würde. Sie hatte ihrem Mann noch nie nachspioniert, und dennoch wusste sie ganz genau, dass er sie betrog.

»Na schön, wenn du es unbedingt wissen möchtest …« Arrogant hob Stefan Winter den Kopf. »Wir sind schließlich vernünftige Erwachsene, führen eine moderne Ehe, haben nie versucht, uns gegenseitig festzuketten. Ich habe eine kleine Freundin in Stuttgart.«

Claudia hatte es erwartet. Trotzdem war ihr, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen, als stürze sie in ein unendlich tiefes Loch. Sie biss sich auf die Lippen. Fester und immer fester. Der Schmerz tat ihr gut.

»Nun schau mich nicht so entgeistert an. Es bleibt ja alles beim Alten. Ich sorge für dich und die Kinder, erscheine pünktlich am Wochenende. Was wollt ihr mehr?« Gleichgültig zuckte Stefan die breiten Schultern.

»Du magst mich nicht mehr«, stellte Claudia erschüttert fest. Ihr Gesicht war so weiß wie die Wand, vor der sie saß.

»Du wirst doch nicht theatralisch werden? Hast du nicht alles, was du brauchst? Ein modern eingerichtetes Haus, in dem es an nichts fehlt, einen hübschen Garten, schöne Kleider …«

»Ich spreche nicht von materiellen Dingen«, unterbrach Claudia ihren Mann traurig. »Ich denke an Gefühle.«

Stefan verdrehte in gespieltem Entsetzen die Augen. »Du meine Güte, du bist doch kein kleines Mädchen mehr. Du weißt doch genau, dass ein Mann nach einundzwanzig Jahren Ehe einmal eine kleine Abwechslung braucht. So ernst ist die ganze Geschichte auch nicht. Ich denke weder an eine Scheidung noch an Trennung.«

Claudia atmete tief durch. Ihr war schlecht, erbärmlich schlecht. »Du hältst es also für ganz normal, nebenbei eine Freundin zu haben. Ich begreife dich nicht, Stefan. Früher hast du über diese Dinge ganz anders gedacht. Da waren wir immer einer Meinung.«

»Ich bin eben ständig unterwegs, komme mit vielen Leuten zusammen, höre und sehe mehr als du in deinen vier Wänden. Es dürfte doch klar sein, dass dies auf die Dauer etwas abfärbt. Ich bin nicht der Spießbürger geblieben, den du in mir sehen möchtest. Und ich bin sogar stolz darauf.« Stefan sah, dass seine Frau erschrocken zusammenzuckte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Einen Augenblick lang war er versucht, aufzustehen, sie tröstend in die Arme zu nehmen. Doch dann, das wusste er ganz genau, hätte er ihr versprechen müssen, sich von der Sprechstundenhilfe Vera zu trennen. Und das wollte er nicht.

»Überhaupt«, meinte Stefan großzügig, »müsstest du froh sein, dass ich offen und ehrlich zu dir bin. Ich habe dich noch nie belogen, und ich halte es für besser, wenn man sich auch in solchen Dingen ausspricht. Ich hasse Heimlichkeiten.« Rasch stand er auf, ergriff seine Aktentasche. »Ich muss gehen. Ich habe für elf Uhr meinen Besuch im Marienhospital angekündigt.«

Claudia wollte ebenfalls aufstehen, um mit Stefan zur Haustür zu gehen, doch sie war wie gelähmt. Sie war nicht einmal fähig, den Kopf zu heben. Dabei sehnte sie sich danach, die Arme um den Hals ihres Mannes zu legen, sich fest an ihn zu schmiegen und ihn liebevoll zu bitten, zurückzukommen, die andere zu vergessen. Doch sie hatte nicht die Kraft dazu. Sie konnte nicht einmal sprechen.

*