Der kleine Bruder - Sven Regener - E-Book

Der kleine Bruder E-Book

Sven Regener

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Beschreibung

Berlin-Kreuzberg, November 1980: Im Schatten der Mauer gedeiht ein Paralleluniversum voller Künstler, Hausbesetzer, Kneipenbesitzer, Kneipenbesucher, Hunde und Punks. Bier, Standpunkte, Reden, Verräterschweine - alles ist da. Nur eins fehlt: jemand, der alles mal richtig durchdenkt - Frank Lehmann aus Bremen. Nachdem seine WG dort vom Gesundheitsamt geschlossen wurde, das Zimmer bei seinen Eltern zum Fernseherreparieren benötigt wird und er nach kühnem Ausbruch aus dem Wehrdienst noch keinen Plan hat, fährt er erst mal nach Berlin - zu seinem großen Bruder Manni, der dort als Künstler lebt und eine große Nummer ist. Dachte er. Doch Manni ist weg. Weder sein Vermieter Erwin Kächele noch dessen Nichte Chrissie oder sein Mitbewohner Karl haben eine Ahnung, wo Manni steckt. Außerdem nennen sie ihn nicht Manni, sondern Freddie. Und haben sofort eine konkrete Idee davon, was Frank zu tun hat: Anstelle seines Bruders an einem kurzfristig anberaumten Krisenplenum teilnehmen.

Damit beginnt eine lange Nacht, in der Frank Lehmann lernt, dass in einer Welt, in der alle Künstler sein wollen, nichts notwendigerweise das ist, als das es erscheint, und in der er mehr über seinen Bruder erfährt, als er wissen will, aber nie das, wonach er fragt.

Und mit einer Nacht ist es nicht getan, denn wie sagt Karl, der Typ, den Frank auf Anhieb nicht mag und der sein bester Freund werden wird: "Das ist wie in der Geisterbahn. Jetzt sind alle eingestiegen, und der Bügel geht runter, und dann müssen das auch alle bis zu Ende mitmachen ..."

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Seitenzahl: 339

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1. PATTY HEARST

2. TUBASPIELEN

3. ZIVILBULLEN UNTER SICH

4. PLENUM

5. OUZO UMSONST (ARSCHART)

6. SCHOCK

7. ABRECHNUNG

8. JUNGE, KOMM BALD WIEDER

9. PUNKBEHÖRDE

10. LEHRLINGSVERARSCHUNG

11. PARTY

12. KUNG FU

13. ALMUT

14. JEDE MENGE SCHROTT

15. EXIT WOLLI

16. HAUT DER STADT

17. SCHWARZE VIBES

18. HAPPY HOUR

19. DER ARME FREDDIE

20. MOSAIK

Sven Regener

DER KLEINEBRUDER

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© Copyright 2008/2015 Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Umgestaltung: Manuela Städele

Titelillustration: © shutterstock/ Heiko Kueverling; © shutterstock/Carsten Medom Madsen

Lektorat: Esther Kormann und Wolfgang Hörner

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-0464-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1. PATTY HEARST

Irgendwann war es so dunkel, dass Wolli schwieg. Frank Lehmann bemerkte das erst gar nicht, weil er schon lange nicht mehr hinhörte, schon kurz hinter der Grenze bei Helmstedt hatte er die Ohren auf Durchzug gestellt und sich aufs Fahren konzentriert, vor allem darauf, die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h nicht zu überschreiten, denn das war ja schon Wollis Hauptthema zwischen Bremen und Hannover gewesen, dass die einen fertigmachen würden, wenn sie einen dabei erwischten, wie man ihre Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h ignorierte, das hatte, allein schon durch die Sturheit, mit der Wolli dieses Thema zwischen Achim und Allertal in einem unaufhörlichen Redefluss wieder und wieder zu Tode geritten hatte, irgendwann dann doch Eindruck auf Frank gemacht, nicht so sehr, dass er Wollis Erzählungen, die immer Erzählungen von Leuten wiedergaben, die Leute kannten, denen das Erzählte einst widerfahren war, und die zusammengefasst darauf hinausliefen, dass ein allzu sorgloser rechter Fuß sie direkt in den Gulag bringen würde, für wirklich bare Münze genommen hätte, aber er war immerhin so weit davon eingeschüchtert, dass er um seine Ersparnisse zu fürchten begann, jene paar Hundert Mark, die er von seinem Postsparbuch abgehoben hatte, um nach Berlin zu seinem Bruder zu fahren und ein neues Leben anzufangen, denn das war sein Plan.

Kein besonders ausgefeilter Plan, dachte er gerade, als Wolli aufhörte zu reden und sie gemeinsam schweigend in das sehr dunkle Dunkel der Transitstrecke durch die DDR starrten, hat ein paar Schönheitsfehler, der Plan, dachte er, aber dann fiel ihm auf, dass Wolli nicht mehr redete, und die Stille hatte, zusammen mit der sie umgebenden Finsternis, eine beruhigende, einlullende Wirkung, der er sich gerne hingab. Scheiß drauf, ob der Plan Schönheitsfehler hat, dachte er, Hauptsache, es ist mal Ruhe im Schiff, und dann sah er nur noch der Straße dabei zu, wie sie sich in das funzlige Licht seiner Scheinwerfer schob wie ein alter, harter Teppich. Leider hatte er keinen Vordermann mehr, dem er folgen konnte, der letzte war vor einer Viertelstunde abgebogen in das Land um sie herum, von dem man nichts sah oder hörte, und Wolli hatte sich danach noch eine Weile darüber ausgelassen, dass das ein Trabant gewesen sei und was das zu bedeuten habe und so weiter und so fort, aber wenigstens war dieser Trabant, wenn es denn einer gewesen war, nicht so schnell gewesen, dass Frank ihn hatte ziehen lassen müssen wie all die anderen Autos, die sie in der Zwischenzeit überholt hatten, der Trabant hatte genau die richtige, risikoarme, von Wolli dringend empfohlene Geschwindigkeit gehabt, und er hatte sie sicher durch die Finsternis geführt. Nun war er fort, aber dafür hielt Wolli mal die Klappe, und das war doch auch schon was, fand Frank.

Das ging etwa fünf Minuten so, draußen war alles dunkel und drinnen war es still, wenn man vom gleichmäßigen Röhren von Franks altem Kadett einmal absah. Das waren fünf spannende Minuten, denn Frank konnte direkt spüren, wie sich in Wolli der Druck aufbaute, etwas zu sagen, und wie er zugleich davor zurückschreckte, das Schweigen zu durchbrechen, wie dieses Schweigen also unter Wollis innerem Druck immer mehr anschwoll wie ein Ballon, den ein maßloses Kind manisch aufpustete und der jeden Moment platzen musste, sodass man die Augen zusammenkniff, das Gesicht verzog und in den Schultern verkrampfte in Erwartung des Knalls, so kam ihm, Frank, das jedenfalls vor während dieser fünf Minuten schweigender Fahrt durch die von keinerlei Licht in der Landschaft gemilderte Dunkelheit, die sie mit knapp hundert Sachen durchröhrten, das sind ganz schön neurotische Gedanken, dachte er, Kinder, Luftballons, schlimm, dachte er, aber was Wunder, wenn man seit Stunden durch Wollis Gelaber zermürbt wird, dachte er, so sehr zermürbt, dass man es sich zurückwünscht, wenn es aufhört, das kennt man sonst nur von Geiseln, die sich irgendwann mit ihren Geiselnehmern identifizieren, dachte er, Patty Hearst, Patty Hearst war so ein Fall gewesen, dachte Frank, er hatte viel darüber gelesen damals, vor Jahren, als das ein großes Ding gewesen war, ihn hatte das sehr fasziniert, dieser ganze Kidnapping-, Geisel- und Gehirnwäschekram, das hatte ihm gefallen, er war noch in der Schule gewesen damals, als Schüler steht man auf so was, dachte er, er hatte sich sogar ein bisschen in Patty Hearst verliebt damals, weil sie auf dem Bild von dem Banküberfall so sexy ausgesehen hatte, und deshalb sagte er nun, um Wolli nicht weiterhin diesen Qualen ausgesetzt zu wissen, von denen er, als Wollis Geisel, ihn im Patty- Hearstschen Sinne natürlich erlöst wissen wollte, einfach das Nächstbeste, was ihm einfiel:

»Patty Hearst!«

»Genau«, sagte Wolli. »Symbionese Liberation Army. Keine Ahnung, was die eigentlich wirklich wollten, da hat ja nun echt keiner durchgeblickt.«

»Ja, ich auch nicht«, sagte Frank. Man darf Wolli nicht unterschätzen, dachte er.

»Lehnin!«, rief Wolli und zeigte in die Dunkelheit, in der ein schmutziges, nicht reflektierendes Hinweisschild auftauchte, »Lehnin! Mit h! Die spinnen doch!«

Plötzlich waren sie nicht mehr allein auf der Straße. Von hinten kamen Autos, die sie nicht überholten, sondern sich damit begnügten, bis zu ihnen aufzuschließen und Frank im Rückspiegel zu blenden. Und auch vor ihnen tauchte bald eine größere Ansammlung von Autos auf, die wie auf eine Schnur gefädelt auf der rechten Spur dahinkrochen.

»Warum sind die jetzt plötzlich alle so langsam?«, fragte Frank.

»Da kommt jetzt gleich die Abfahrt«, sagte Wolli und rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her, »da kommt gleich die Abfahrt, bloß nicht überholen, da musst du aufpassen, so ein Schild mit ›Transit Westberlin‹, das darfst du auf keinen Fall verpassen.«

Wie um ihn zu bestätigen, fing die Schlange vor ihnen geschlossen an zu blinken, und dann tauchte auch schon das von Wolli angekündigte Schild auf, und sie bogen alle zusammen ab auf eine andere Autobahn.

»Jetzt sind wir gleich da, jetzt sind wir gleich da«, sagte Wolli.

»Aber es ist doch überhaupt nichts zu sehen«, sagte Frank.

»Das ist immer so«, sagte Wolli, »das hat nichts zu sagen. Aber das merkst du ja schon dadurch, wie voll das hier ist, dass wir gleich da sind!« Er starrte unruhig hinaus auf die Straße, mal aus dem Seitenfenster, mal durch die Frontscheibe. »Da kommt auch gleich noch mal ein Schild mit ›Transit Westberlin‹. Das dürfen wir auch auf keinen Fall verpassen!«

»Okay«, sagte Frank. Man kann kein neues Leben anfangen und einen wie Wolli dabeihaben, dachte er, während Wolli neben ihm immer mal wieder »Achtung, gleich!«, rief, nichts gegen Wolli, dachte Frank, er ist ein netter Kerl, aber man kann froh sein, wenn man ihn jetzt mal ein paar Wochen lang nicht sieht.

»Jetzt, jetzt!«, schrie Wolli wie von Sinnen. »Jetzt raus hier, raus hier, Transit!«

Frank nahm die Ausfahrt nach Westberlin. Oder was Wolli dafür hielt. Denn sie gelangten zwar auf eine andere Autobahn, aber von der Stadt war immer noch nichts zu sehen.

»Ich mein, Wolli, ich war ja noch nie in Berlin, aber das ist doch so eine große Stadt, warum sieht man denn davon nichts?«

»Das ist immer so«, sagte Wolli, »da kommt gleich erst mal der Grenzübergang.«

»Den sehe ich auch nicht«, sagte Frank.

»Der kommt aber«, beharrte Wolli. »Der muss ja kommen. Die können den ja nicht plötzlich abgebaut haben.«

Der ist ziemlich mit den Nerven fertig, dachte Frank, und er selbst, so viel war mal klar, war das mittlerweile auch. Neues Leben hin, neues Leben her, dachte er, es sollte nicht mit der Fahrt durch einen langen, dunklen Tunnel beginnen.

Oder vielleicht doch, dachte er, als in der Ferne die hell strahlende Grenzkontrollstelle auftauchte wie ein frisch gelandetes Raumschiff. Oder vielleicht gerade doch.

2. TUBASPIELEN

»Mann, bin ich froh, dass wir endlich da sind«, sagte Wolli, als sie heil und unverhaftet aus dem Grenzkontrollpunkt Dreilinden in den Westen rollten.

»Wieso da?«, sagte Frank. Die Autobahn war zwar neuerdings beleuchtet, aber sie fuhren durch dunkle Wälder. »Das sieht hier nicht gerade nach da sein aus, ich meine, das kann ja wohl nicht Berlin sein!«

»Das geht jetzt ganz schnell«, sagte Wolli, »das ist gleich vorbei mit dem Wald.«

»Bist du sicher?«

»Ja, logo«, sagte Wolli. »Ich kenn das hier ganz genau. Ich war schon oft hier.«

»Wie oft?«

»Oft, keine Ahnung, sogar früher mal mit dem KBW.«

»Warum das denn?«

»Wegen den Soldaten- und Reservistentagen. Da sind wir Kolonne gefahren. Das hat vielleicht gedauert …«

»Soldaten- und Reservistentage? Beim KBW?«

»Nee, eigentlich waren es die Musiktage der Soldaten- und Reservistenkomitees, die gehörten zum KBW, das war so mit Spielmannszug, ich war da im Spielmannszug.«

»Im Spielmannszug? Was hast du da denn gespielt?«

»Tuba!«

»Ach so …«

Sie schwiegen wieder eine Weile. Die Autobahnausfahrten waren nach Straßen benannt, Spanische Allee, Hüttenweg, das ließ immerhin vermuten, dass sie tatsächlich in der Stadt waren. Seltsame Stadt, dachte Frank, Hütten, Wege, Wälder, er hatte sich das irgendwie anders vorgestellt, irgendwie urbaner und so weiter. Aber da kam auch schon ein großer, beleuchteter Turm in Sicht, und Wolli sagte:

»Da! Der Funkturm!«

»Wir haben überhaupt keinen Stadtplan«, sagte Frank. »Und da kommt gleich ein Autobahndreieck, wo müssen wir denn da fahren?«

»Weiß ich jetzt auch nicht mehr, was steht denn da, da steht ja noch gar nichts, oder was?«

»Doch, da steht was.«

»Aber nichts von Kreuzberg oder so, das ist immer so, das steht da nicht.«

»Nein …« Frank starrte geduckt, mit eingezogenem Nacken auf die Schilder über der Autobahn. »Entweder Wedding und ICC, oder Kurfürstendamm und Wilmersdorf.«

»Scheiße, wie war das noch mal?!«, sagte Wolli.

»Was weiß ich«, rief Frank, »das teilt sich gleich, da muss man sich jetzt mal entscheiden.«

»Wedding auf keinen Fall, glaube ich nicht«, sagte Wolli, »nicht Wedding.«

»Also Kurfürstendamm oder was? Wilmersdorf? Das ist ja die einzige andere Möglichkeit. Ist ja ein Autobahndreieck, keine Autobahnkreuzung, dann gäbe es noch zwei andere Möglichkeiten. So gesehen …« – Frank verstummte, weil ihm peinlich war, was er da redete, so was kann man denken, ermahnte er sich, aber nicht sagen, man darf sich vor Wolli nicht so gehen lassen, dachte er, einer wie Wolli nutzt so was nur aus.

Vor ihnen erschien ein großes und, wie Frank fand, unglaublich hässliches Gebäude, das hell angestrahlt wurde, und es war eindeutig, dass es hier mit der Stadt langsam mal losging. Und ebenso eindeutig wurde von ihnen eine Entscheidung erwartet.

»Da vorne teilt sich das, Wolli, echt mal, was jetzt, Kurfürstendamm oder was?«

»Scheiße Kudamm, ist doch Scheiße, Kudamm.«

»Also Wedding?«

»Nee, Kudamm oder so, geht das dann rechts- oder linksrum?«

»Wie jetzt, rechts- oder linksrum? Kudamm geht links raus, ich meine, die ganz linke Spur, das siehst du doch.«

»Das hat nichts zu sagen, dann kann das immer noch hintenrum rechtsrum gehen.«

»Worum überhaupt rechtsrum?«

»Um die Stadt rechtsherum.«

»Stadt? Ha! Da seh ich aber noch nicht viel von, Stadt! Was denn für eine Stadt?! Guck dir die Scheiße doch mal an, und was denn nun, ich fahr jetzt Kudamm oder was?«

»Ja, fahr Kudamm, Scheiße!« Wolli raufte sich die Punkerhaare. »Kudamm ist doch Scheiße!«

»Kann ja sein«, sagte Frank. Er war jetzt auf der ganz linken Spur, und rechts von ihnen war der Strich durchgezogen, damit war die Sache entschieden, wenigstens das, dachte er. »Aber vielleicht sollte man doch lieber mal einen Stadtplan besorgen, hier geht’s raus, da ist ein Rasthof!«

Aber in dem Moment waren sie auch schon wieder an dem Rasthof vorbei. Was Wolli nicht daran hinderte, noch schnell »Scheißrasthof« zu sagen. Frank sagte dazu nichts. Wir dürfen uns jetzt nicht verzanken, dachte er, wir müssen wenigstens noch bis Kreuzberg durchhalten.

»Ist eh Quatsch mit Stadtplan«, machte er ein wenig gut Wetter. »Hauptsache, du kennst dich aus, Wolli. Und was nun?«

Sie waren auf einer anderen Autobahn gelandet und plötzlich waren sie auch mitten in der Stadt, hier fängt sie also an, dachte Frank, sie war vor allem links von ihnen, türmte sich als steinerne Masse neben der Autobahn auf, hier gibt es keine sanften Übergänge, dachte Frank, wenn die Stadt anfängt, dann fängt sie gleich richtig an, da wird nicht lange rumgedödelt, dachte er, und er fand das ganz in Ordnung so, es bringt ja nichts, wenn in solchen Sachen rumgedödelt wird, dachte er, so ist es genau richtig, positiv denken, dachte er, das ist das Einzige, was jetzt noch hilft.

»Scheiße«, sagte Wolli.

»Jetzt nicht immer nur Scheiße sagen«, sagte Frank. »Auch mal was Positives sagen! Immerhin sind wir praktisch schon da, ist doch scheißegal jetzt mal.«

»Wilmersdorf«, sagte Wolli sinnend, »Wilmersdorf … – Scheiße, fahr mal hier Kudamm raus, ist jetzt auch scheißegal, fahren wir eben über den Kudamm, immer noch besser als Wilmersdorf, da kenn ich mich überhaupt nicht aus!«

»Kudamm ist doch gut«, sagte Frank und fuhr von der Autobahn ab. »Was hast du denn überhaupt immer gegen den Kudamm? Den kennt man doch wenigstens, so vom Namen her.«

»Du vielleicht«, sagte Wolli in einem leicht gehässigen Tonfall. »Du warst ja auch noch nie hier! Kann ich mir vorstellen, dass du vom Namen her in Berlin bloß den Kudamm kennst.«

»Hm …«, ließ Frank sich nicht provozieren. »Soll ich lieber woanders fahren?«

»Nee, wir fahren jetzt einfach den Kudamm runter und dann immer geradeaus, das weiß ich noch, du musst den immer nur geradeaus fahren, dann kommt man direkt nach Kreuzberg. Das dauert aber.«

»Ja, dann sieht man gleich mal was von der Stadt«, sagte Frank, immer schön um das Positive bemüht. Und irgendwie gefiel ihm der Kudamm auch, denn das war ja wohl der Kudamm, den sie hier hinunterfuhren, alles war hell erleuchtet, das gefiel ihm schon mal gut, es muss nicht immer duster sein, dachte er, es reicht, wenn die Transitstrecke duster ist, dachte er, und je weiter sie kamen, desto seltsamer und glitzernder wurde die ganze Sache, die Laternen warfen sowieso ein komisches Licht, weich und wolkig war das, und es war ordentlich was los auf der Straße, das war mal klar.

»Das ist doch alles totale Touristenscheiße, der Kudamm«, sagte Wolli. »Das ist doch bloß was für Touristen!«

»Na ja«, wandte Frank ein, »wir gehören aber auch noch nicht so lange zu den Einheimischen!« Er lachte. Der war gut, fand er. Die Kulisse um sie herum – denn als Kulisse empfand er die ganze Sause hier, es sah alles so unwirklich aus, das muss am Licht liegen, dachte er –, diese Kulisse jedenfalls versetzte ihn in gute Laune, da gab es blinkende Leuchtreklamen, tanzende Buchstaben und sich drehende Schilder und dergleichen mehr, das ist ja alles totaler Emil-und-die-Detektive-Quatsch, dachte er erheitert, das gefiel ihm, es war wie in einem Film, und er hätte gerne etwas Musik dazu gehört, das hätte die Sache perfekt gemacht, aber leider hatte Wolli den Autokassettenrekorder schon kurz hinter dem Autobahndreieck Walsrode mit einer Bandsalat produzierenden Punkkassette für wahrscheinlich immer verstopft.

»Ich finde das stark hier«, sagte Frank, »echt mal, Wolli, das ist doch mal was anderes, guck dir mal den Mercedes-Stern da oben an, der dreht sich, ich glaub’s nicht, der dreht sich! Dass es so was noch gibt …!«

»Das ist das Scheißeuropacenter, ich glaub, ich muss kotzen, aber wenigstens sind wir gleich durch«, sagte Wolli, »Scheiß-Kudamm. Und da, guck dir das an, das KaDeWe auch noch, Scheiß-KaDeWe, so eine Scheiße. Gleich sind wir durch, ich glaube, das ist hier schon gar nicht mehr der Kudamm!«

»Was denn dann?«

»Was weiß ich denn, wie die Scheiße hier heißt, ich kenn mich hier nicht aus. Wittenbergplatz«, las Wolli irgendwo ab. »Wittenbergplatz. Scheiß-KaDeWe und so, das kennt man doch.«

»Ich kenn das nicht, ich war ja noch nie in Berlin«, sagte Frank. Und dann waren sie in einer anderen Gegend, die Straße war zwar noch immer groß und breit, aber dunkler jetzt, der ganze Glitzertand des Kudamms war mit einem Mal verschwunden, der Kudamm ist genauso ein Tunnel wie die Transitstrecke, dachte Frank, bloß umgekehrt.

»Wie geht’s denn jetzt weiter?«, fragte er.

»Einfach immer der Straße folgen, auch wenn’s um die Kurve geht.«

»Und du hast da mal Tuba gespielt? Im Spielmannszug?«

»Hm …« sagte Wolli nur und blickte dabei nach rechts aus dem Fenster.

»Und wann war das?«

»Früher, als ich im KJB war natürlich.«

»Nein, ich meine, wie du da mit denen in Berlin warst?«

»Anfang 79 oder so, in Kreuzberg, im Winter. Auf dem Mariannenplatz. Das war vielleicht arschkalt! Da hab ich dann in einer Kneipe um die Ecke die Leute kennengelernt, wo ich jetzt hingehe. Da fing das mit dem Punk an, da hab ich zum ersten Mal kapiert, was das für eine blöde Scheiße war mit den K-Gruppen, und eine Woche später bin ich raus aus dem KJB. Da hätte ich gleich nach Berlin gehen sollen. Oder sowieso gleich dableiben!«

»Und warum hast du das nicht gemacht?«

»Die Lehre, die wollte ich noch zu Ende machen, ich hatte gedacht, das sollte nicht alles umsonst gewesen sein.« Wolli zeigte nach vorne. »Jetzt immer der Straße folgen, hier um die Ecke, und da unten dann links. Jetzt bin ich Energieanlagenelektroniker, Scheiße!«

Frank ging darauf nicht ein. Das andere Thema fand er interessanter: »Und wieso Tuba?«

»Einer musste es ja machen. Und einer, der das Ding auch tragen konnte. Und Martin Klapp hatte schon die große Pauke, da blieb für mich nur noch die Tuba.«

»Und wo hattest du das gelernt, Tubaspielen?«

»Nirgendwo, das war ganz einfach, wenn man mal den Bogen raushatte, Hauptsache, es pupste immer was aus dem Ding raus, hört doch eh keiner, was das dann für ein Ton ist. Jedenfalls nicht im Spielmannszug des Soldaten- und Reservistenkomitees, das kann ich dir schwören. Wir kommen gleich im anderen Teil von Kreuzberg raus, das ist dann 61, wir müssen nach 36, wir hätten aufs Ufer fahren sollen.«

»Vielleicht sollten wir uns doch mal schnell irgendwo einen Stadtplan kaufen.«

»Wo willst du denn hier einen Stadtplan kaufen?«

»Tankstelle, die werden hier doch wohl irgendwo eine Tankstelle haben.«

Sie fuhren unter einer Reihe von Eisenbahnbrücken durch.

»Da ist eine«, sagte Frank und fuhr an einer Tankstelle vorbei.

»Brauchen wir nicht«, sagte Wolli. »Wir müssen nur mal irgendwo links abbiegen und dann rechts aufs Ufer.«

»Wissen deine Punkleute eigentlich, dass du Tuba spielen kannst?«

»Jetzt hör mal mit dem Tubascheiß auf, das ist ja schon ewig her, außerdem kann ich gar nicht Tuba spielen. Und bieg da jetzt mal links ab, dann kommen wir ans Ufer!«

»Wissen deine Leute denn, dass du kommst?«

»Nee, die wohnen in einem besetzten Haus, da haben die doch kein Telefon!«, sagte Wolli.

»Ich hab meinen Bruder auch nicht erreicht«, sagte Frank.

»Jetzt rechts!«, rief Wolli.

Sie fuhren an einem Kanal und einer Hochbahn entlang. An einem Hochhaus waren einige Glühbirnen über die ganze Breite und die halbe Höhe so angebracht, dass sie abwechselnd in Riesengröße die Wörter »Post« und »Giro« schrieben.

»Endlich«, sagte Wolli. Er drehte sich eine Zigarette. »Das wurde auch Zeit!« Sie standen an einer Ampel und Wolli zeigte auf ein großes, zurückgesetztes Gebäude. »Das ist die Amerika-Gedenkbibliothek«, sagte er.

»Du kennst dich hier echt aus, Wolli!«, staunte Frank. Er hatte Wolli noch nie so gesehen, so selbstbewusst und so sehr Herr der Lage wie jetzt. Wolli zündete die Zigarette an. Dann nickte er. »Stimmt. Soll ich dir auch eine drehen?«

»Ja«, sagte Frank, der seit seinem vorgetäuschten Selbstmordversuch in der Kaserne nicht mehr geraucht hatte. Sie standen noch immer vor der Ampel. Sie sprang einfach nicht um. Um sie herum begannen die Autofahrer zu hupen, und dann fuhren vor ihnen die Ersten bei Rot über die Ampel. Langsam ging es weiter.

»Und wenn du dich jetzt hier so gut auskennst, Wolli«, sagte Frank, »mal ehrlich …«

»Ja?«

Frank scheute sich, die Frage zu stellen, für ihn war Wolli eigentlich bisher nicht der Typ gewesen, den man so etwas fragte, deshalb fuhr er erst einmal in Ruhe über die rote Ampel und die dahinterliegende, verstopfte Kreuzung und nahm unterwegs auch noch die Zigarette von Wolli entgegen und steckte sie sich unangezündet zwischen die Lippen, bevor er die Frage stellte. »Hast du irgendeinen Tipp, was man hier beachten sollte? Ich meine: in Berlin und so. Gibt es irgendwas, worauf man achten sollte, wenn man hier wohnt?«

»Wie meinst du das denn jetzt?«

»Na ja, so wie ich ’s sage: Muss man irgendwas beachten, sollte man irgendwas wissen, wenn man hier wohnt? Ich meine, irgendwas, was man auf keinen Fall falsch machen sollte oder so?!«

Wolli dachte eine Weile nach.

»Nee«, sagte er schließlich überzeugt. »Das ist ja das Gute hier: Hier kann man nichts falsch machen. Hier ist alles scheißegal!«

»Muss man nichts wissen oder beachten oder so?«

»Nee«, sagte Wolli. »In Berlin wohnen ist wie Tubaspielen: Hauptsache, du pupst ordentlich rum!« Er lachte.

»Dann ist ja gut«, sagte Frank und kam sich blöd vor. Jetzt ist es schon so weit, dass man sich vor Wolli blöd vorkommt, das ist bizarr, dachte er. Hinter ihnen ertönte eine Sirene, aber die Autos krochen einfach in zwei langen Schlangen weiter.

»Aber lass die Finger von der Großen Pauke«, fügte Wolli hinzu. Dann lachte er schon wieder.

»Okay«, sagte Frank. »Das ist doch schon mal was!« Jetzt wird er auch noch geistreich, dachte er. Langsam wurde der Mann ihm unheimlich, irgendwas ging mit ihm vor, seit sie in der Stadt waren.

Wolli gab ihm Feuer, und Frank nahm einen Zug von seiner ersten Zigarette seit vielen Tagen.

Ihm wurde sofort schlecht davon, aber er ließ sich natürlich nichts anmerken.

3. ZIVILBULLEN UNTER SICH

»Das sieht ganz schön duster aus«, sagte Frank.

»Ja«, sagte Wolli, »normal, glaube ich.«

»Das sieht aber sehr duster aus«, sagte Frank.

»Ja klar«, sagte Wolli. »Ist doch klar, ich meine, das ist doch vorne alles verrammelt. Ich weiß auch gar nicht, wer da vorne drin wohnt, wusste ich mal, Künstler oder so, meine Leute sind im Hinterhaus.«

»Aber da ist kein einziges Fenster erleuchtet«, sagte Frank.

»Vielleicht ist da ja gar kein Fensterglas drin«, sagte Wolli. »Vielleicht mit Brettern zugemacht oder so was. Ist ja bald Winter.«

»Ach so«, sagte Frank. »Ich kann da überhaupt nichts erkennen!« Es war überhaupt alles sehr dunkel hier, nicht nur das besetzte Haus, vor dem sein Auto, vorsichtshalber mit Warnblinklicht, in der zweiten Reihe parkte, sondern überhaupt die ganze Straße, von der man fast nur die Straßenlaternen erkennen konnte. So geht’s natürlich auch, dachte Frank, dass man Straßenlaternen aufstellt, die nur dafür gut sind, sich selbst zu beleuchten. Er stellte die Warnblinkanlage wieder aus, die kam ihm hier irgendwie hysterisch vor.

»Ja«, sagte Wolli. »Man kommt auch nur durch den großen Eingang hintenrum, also über den Hof …« Er verstummte. Es schien nicht so wichtig zu sein. Oder gerade im Gegenteil, dachte Frank, wer weiß das schon. Und er fragte sich, wie lange Wolli wohl noch so in seinem Auto sitzen und kryptische Ansagen machen wollte. »Und bist du sicher, dass deine Kumpels da noch wohnen? Ich meine, wie lange warst du nicht mehr hier? Die räumen diese besetzten Häuser doch auch mal und so.«

»Nix«, sagte Wolli, »habe ich immer genau alles gelesen, wo die geräumt haben und so, und die Naunynstraße war nicht dabei.«

»Na ja, da geht’s ja dauernd hin und her, da übersieht man so was schon mal.«

»Nee«, sagte Wolli und starrte in die Dunkelheit. »Da ist alles in Ordnung. Da ist auch noch das Transparent dran.«

»Was steht da eigentlich drauf, das kann man jetzt ja gar nicht lesen, so dunkel wie das ist!«

»Das haben die Typen aus dem Vorderhaus aufgehängt, das ist so eine Künstlergruppe, das sind Arschlöcher.«

»Und was steht auf dem Transparent?«

»Irgendeine Kunstkacke!«

»Ach so!«

»Irgendwas mit Oktopus.«

»Gut«, sagte Frank ermunternd. »Wir sind jedenfalls da.«

»Ja.«

»Soll ich mit reinkommen?«, sagte Frank, um es Wolli leichter zu machen.

»Nee, lass mal«, sagte Wolli. »Ich meine, so wie du aussiehst …«

»Wie ich aussehe? Wie sehe ich denn aus?«

»Nur so, ich meine, du kannst ja nichts dafür, aber mit dem Haarschnitt …!« Wolli drehte sich wieder eine Zigarette. »Die denken ja am Ende noch, du bist ein Zivilbulle.«

»Danke, Wolli«, sagte Frank. Da fährt man ihn einmal um die halbe Welt und über zwei Grenzen, hört sich sein Gelaber an, und dann wird man auch noch beleidigt, dachte er. »Vielen Dank. Aber weißt du was, Wolli?«

»Was denn?«, fragte Wolli ungerührt.

»Wenn ich ein Zivilbulle wäre, dann würde ich nicht so aussehen wie ich. Ich meine, das wäre doch ziemlich bescheuert, wenn ein Zivilbulle Haare hätte wie einer, der gerade aus der Bundeswehr kommt, das wäre ja nun nicht gerade der Sinn des Zivilbulleseins, oder?«

»Keine Ahnung«, sagte Wolli.

»Wenn ich Zivilbulle wäre, würde ich mich wie ein Punk anziehen. So wie du, Wolli!«

»Wieso sagst du das?«

»Weil’s stimmt. Genauso würde ich ’s machen.«

»Hm …« Wolli war nicht beleidigt, er dachte nach. »Das war schon im KBW immer komisch, die Frage, wer da wohl die Spitzel waren …«

»Willst du da jetzt eigentlich reingehen, Wolli, oder lieber nicht? Ich meine, das ist ja alles ganz interessant, aber ich muss jetzt auch bald mal zu meinem Bruder, der weiß ja gar nicht, dass ich komme, das macht mich dann schon ein bisschen nervös.«

»Hat der auch kein Telefon?«

»Doch, aber da kam immer so ›vorübergehend nicht erreichbar‹.«

»Das ist schlecht, dann hat er nicht bezahlt.«

»Keine Ahnung, ist eine WG, wo er wohnt. Keine Ahnung, wer da nicht bezahlt hat. Muss ja nicht mein Bruder gewesen sein.«

»Ach so.«

Wolli steckte sich die Zigarette an und öffnete die Wagentür. Die Luft draußen war kalt und trocken und hatte einen scharfen, schwefligen Geruch. Wolli stieg aus, klappte die Lehne des Beifahrersitzes nach vorn und holte seine Tasche vom Rücksitz. Dann klappte er die Lehne wieder zurück und schaute noch einmal zu Frank in den Wagen hinein.

»Viel Glück, Frankie«, sagte er. »Und vielen Dank für alles!«

»Nichts zu danken«, sagte Frank. »Vielleicht sehen wir uns ja mal.«

»Ja«, sagte Wolli und warf die Tür zu.

Frank startete den Wagen, schaltete den Scheinwerfer ein und fuhr schnell weg, bevor Wolli es sich noch anders überlegen konnte.

4. PLENUM

»Ist Manfred da?«, fragte Frank, als der Kumpel seines Bruders, den er schon in Bremen kennengelernt hatte, an dessen Namen er sich aber nicht mehr erinnern konnte, die große Stahltür öffnete; es war der Typ, den Frank von Anfang an nicht gemocht hatte, weil er, daran erinnerte er sich noch ganz genau, ein arrogantes, eingebildetes Arschloch gewesen war, kein Wunder, dachte er, dass man von so einem den Namen vergisst.

»Mensch Erwin, das glaubst du nicht!«, rief der andere über die Schulter in die Fabriketage hinein, die zu finden Frank einige Mühe gekostet hatte, weil er nicht gewusst hatte, dass die Buchstaben HH auf dem Zettel, den Manni ihm einst gegeben hatte, für Hinterhaus standen. Der Einheimische, den Frank schließlich gefragt hatte, hatte so getan, als sei Frank ein totaler Idiot, und deshalb war Frank jetzt auch etwas gereizt, und das Letzte, was er gebrauchen konnte, war einer, der bei seinem Anblick »Mensch Erwin, das glaubst du nicht!«, rief.

»Mensch Erwin, das glaubst du nicht!«, rief der andere noch einmal.

»Nein, Erwin glaubt das nicht«, sagte Frank. »Aber ich will eigentlich zu Manfred.«

»Erwin«, rief der andere noch einmal ungerührt über die Schulter, »das ist ja voll der Hammer: Freddies Bruder ist hier!«

»Wieso der Hammer?«, konnte Frank sich nicht verkneifen zu fragen. »Was soll denn daran der Hammer sein?«

»Und er fragt nach Freddie!«, rief der andere.

»Ja, macht er«, sagte Frank, der keine Lust mehr hatte, freundlich oder zurückhaltend zu sein, denn das hatte er sich eigentlich fest vorgenommen, freundlich und zurückhaltend zu sein, bis er zu Manni vorgedrungen war, aber hier halfen keine freundlichen und zurückhaltenden, hier halfen nur klare Worte, fand er, und er sagte: »Lass mich mal rein, draußen ist es kalt.«

»Ja klar, komm rein«, sagte der andere unerwartet freundlich, geradezu herzlich, so als ob er sich wirklich freute, ihn zu sehen. »Komm rein, Mann. Aber Freddie ist nicht da.«

»Aha«, sagte Frank und trat ein. »Das ist schlecht.«

»Du bist doch, wie heißt du noch mal?«

»Frank. Ist doch nicht schwer zu merken, Frank!«

»Ja logo, Frank! Ich bin Karl.«

»Ich weiß«, sagte Frank, »wir haben uns ja in Bremen gesehen.«

»Genau! Schau dir das mal an, Erwin!«

Erwin war jetzt zu ihnen gestoßen. »Hallo«, sagte er. Er war klein und mager und hatte sehr lange, dünne Haare. Er kam Frank alt vor, viel älter als Karl oder er selbst, er war sicher schon dreißig oder älter. »Na so was!« Er lächelte Frank an, und Frank wunderte sich etwas, dass die hier alle so nett waren, und er nahm sich vor, auch mal wieder etwas netter zu sein.

»Wohnst du auch hier?«, fragte er, um gleich mal etwas freundliches Interesse zu zeigen.

»Auch hier, ha! Das ist meine Wohnung«, sagte Erwin, und er hatte einen schwäbischen Singsang in der Stimme, »wenn, dann wohnen ja wohl die anderen auch hier, Kerle!«

»Ach so«, sagte Frank.

»Und Freddie ist dein Bruder, ja? Na ja, Freddie wohnt auch hier. Und der da, der Vogel«, Erwin zeigte auf Karl, »der wohnt auch hier. Und der andere Vogel auch, aber der ist auch nicht da!«, fügte er etwas rätselhaft hinzu.

»Das darfst du Erwin nicht übel nehmen«, sagte Karl. »Wir haben gerade Plenum, da ist er immer hart drauf, da hat er immer Tabasco auf der Eichel.«

»Wo ist denn überhaupt …«, Frank zögerte etwas: Manfred zu sagen war schon schwer genug, war sein Bruder doch, so lange er denken konnte, Manni gewesen, aber Freddie, wie sie seinen Bruder hier nannten, war noch schwerer auszusprechen, mit dem Namen Freddie bekam er seinen Bruder nicht zusammen, zu Freddie fielen ihm nur Seemannslieder ein, und gar nicht mal gute, wie er fand, aber dann sagte er es doch, denn das bringt ja nichts, dachte er, wenn ihn die ganze Stadt hier Freddie nennt, dann braucht man gar nicht erst seine Energie daran zu verschwenden, dagegen anzustinken, dachte er, dann kann man es gleich selbst mal aussprechen, dann hat man’s hinter sich, dachte er und sagte: »… Freddie? Ist er für länger weg? Ich meine, ist er in Berlin oder ist er aus der Stadt raus oder was?«

»Keine Ahnung«, sagte Erwin.

»Scheiße«, sagte Frank. »Das ist jetzt aber echt scheiße!«

»Wieso denn?«, fragte Erwin.

»Erwin«, sagte Karl und streichelte Erwin über den Kopf. »Das ist doch sein Bruder. Der kommt aus Bremen. Jetzt ist er hier, um Freddie zu besuchen, und Freddie ist nicht da. Da hat er doch wohl ein Recht, mal Scheiße zu sagen.« Erwin schlug ihm die Hand weg. Karl lachte. »Aber wir haben Glück, Erwin. Oder, besser gesagt: Du hast Glück. Jetzt können wir das Plenum mit ihm machen, er ist ja blutsverwandt, sogar ersten Grades oder erste Linie oder wie das heißt, da kann er ja Freddie vertreten auf deinem Plenum.«

»Das ist nicht mein Plenum. Ein Plenum gehört niemandem. Außerdem habe ich von Plenum gar nichts gesagt, ich muss doch bloß mit euch was besprechen! Außerdem kann das kein Plenum sein, wenn zwei Leute fehlen.«

»Darum ja, Erwin, darum ja die Sache mit Frank hier, das ist Freddies Bruder, dann fehlt nur noch H.R., und der redet doch eh immer nur Scheiße, jetzt entspann dich doch mal.«

»Ich bin ja entspannt. Aber ich muss das mit euch besprechen!«

»Eben, Erwin, eben. Darum ist Frank jetzt ja da.«

»Ich weiß nicht«, sagte Erwin und sah Frank zweifelnd an. »Das geht schon irgendwie auch mal um was Persönliches, was ich jetzt mit euch besprechen wollte, ich meine, ich kenn den ja gar nicht, da kann man doch nicht einfach so … – außerdem: Weiß Freddie denn überhaupt, dass der da ist? Ich meine, wieso kommt der gerade zu Besuch, während Freddie nicht da ist? Und wieso weiß der das nicht mit Freddie?«

»Weiß was nicht mit Freddie?«, fragte Frank misstrauisch, ihm kam das irgendwie komisch vor, was dieser Erwin da redete.

»Dass der nicht da ist, Kerle, was denn sonst? Oder wo er ist!«

»Wo ist er denn?«

»Das musst du doch wissen, du behauptest doch, du wärst sein Bruder!«

»Das ist wirklich Freddies Bruder, ich kenn den aus Bremen, Erwin!«

»Wieso soll ich das wissen? Ich komme doch gerade aus Bremen!«, sagte Frank. Er war verwirrt, aber nicht böse. Irgendwie machte er sich jetzt und hier und mit den beiden Blödelfritzen, denn das waren sie in seinen Augen, keine großen Sorgen mehr, obwohl er doch eigentlich, darüber war er sich schon im Klaren, allen Grund dazu gehabt hätte: Bisher war er immer davon ausgegangen, dass Freddie in der Stadt war, und nur so weit war auch sein Plan gegangen, Freddie (jetzt denke ich schon Freddie, dachte Frank, das ging ja schnell!) zu treffen und ihm alles zu erzählen und dann mal weiterzusehen. Stattdessen steht man, dachte er, hier mit den zwei Pfeifen herum, nennt seinen Bruder Freddie, und keiner weiß, wo der ist, außerdem, dachte Frank, hat man keine Wohnung, kaum Geld, draußen ist’s kalt, und, dachte er dann auch noch kurz und soldatisch wirr, man hat noch nicht einmal sein Kochgeschirr und seine halbe Zeltplane dabei. Aber trotzdem war ihm seltsam leicht zumute, irgendwie beruhigte ihn der Quatsch, der hier geredet wurde, solange die beiden Unsinn reden, dachte er, ist alles halb so schlimm.

»Vielleicht sollte man mal Bier holen«, sagte Karl, »dann geht das gleich wie geschmiert mit dem Plenum.«

»Hör doch mal mit dem Plenumscheiß auf, Kerle, keiner hat was von Plenum gesagt«, sagte Erwin. »Außerdem kann ich jetzt kein Bier trinken, Helga kommt nachher.«

»Ich geh mal was holen. Kommst du mit?«, wandte sich Karl an Frank.

Frank nickte. »Warum nicht.« Er wollte jedenfalls nicht mit Erwin allein bleiben, Karl kannte er wenigstens schon ein bisschen, und auch wenn er ihn eigentlich nicht besonders leiden konnte, war das doch immer noch besser als gar nichts.

»Erwin, mach doch schon mal eine Tagesordnung«, sagte Karl und hob eine Jacke vom Boden auf. »Wir sind gleich wieder da, dann brauchen wir eine Tagesordnung.«

»Ah, leck mich«, sagte Erwin, und dann gingen sie.

Sie gingen die Treppe hinunter und über den Hof auf die Straße. Die Luft war kalt und roch nach Rauch. Anfangs schwiegen sie, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, aber das scheint nur so, dachte Frank, als sie auf die Straße traten, hier denkt überhaupt niemand irgendwas, dachte er, der nicht und ich nicht, wir tun nur so, weil es nichts zu sagen gibt. Und deshalb sagte er schließlich: »Ich wusste gar nicht, dass ihr beide zusammen wohnt. Ich meine jetzt Freddie und du. Ich hab gedacht, du bist nur so ’ne Art Hiwi von ihm oder so.«

»Hähä!«, lachte Karl meckernd und sah mit einer Grimasse zu ihm hinunter. Er war um einiges größer als Frank. »Der war gut!«

»Passiert das öfter, dass Freddie einfach so verschwindet?«

»Was heißt schon einfach so verschwindet?«, erwiderte Karl und blieb ohne ersichtlichen Grund stehen. »Mann, die Reichenberger Straße ist wirklich die Pissrinne von Kreuzberg«, sagte er, »echt mal, das ist die beschissenste Straße überhaupt, in der Gegend hier kann man eigentlich gar nicht wohnen!«

»Einfach so verschwindet heißt: einfach so verschwindet. Dass keiner weiß, wo einer ist«, beharrte Frank auf seiner Frage.

»Wieso verschwindet, was heißt verschwunden?!«, sagte Karl. »Ich weiß nicht, wie das bei euch Soldaten da läuft, aber das ist hier keine Kaserne, hier muss sich keiner an- und abmelden. Ich meine, wir haben ihn jetzt ein paar Tage nicht gesehen und wissen nicht, wo er gerade ist. Wieso muss er da gleich verschwunden sein?«

Karl ging weiter und betrat einen kleinen, vollgestellten Döner-Imbiss. Vollgestellt vor allem mit Sechserpacks Bier, wie Frank bemerkte. Sie waren überall, sie stapelten sich an allen Wänden, vor und hinter dem Tresen, im Schaufenster, sogar oben auf dem Glastresen standen aufgereiht die Sechserpacks, sodass der kleine Türke mit dem langen Dönermesser, mit dem er ihnen beim Eintreten grüßend zuwinkte, dahinter kaum zu sehen war.

Karl nahm einen Sechserpack der Firma Schultheiss – es waren ausschließlich Sechserpacks der Firma Schultheiss im Angebot – vom Tresen, schaute durch die so entstandene Lücke auf den Mann und sagte: »Wie viel?«

»Fünf«, sagte der Mann. »Wie immer.«

»Hast du mal fünf Mark?«, sagte Karl zu Frank.

Frank gab dem Mann fünf Mark, und sie gingen wieder hinaus auf die Straße.

»Reicht denn ein Sechserpack?«, fragte Frank.

»Na ja«, sagte Karl und grinste, »Helga kommt nachher, hast du ja gehört, da will Erwin keins. Sagt er. Bist du eigentlich für länger hier oder nur fürs Wochenende?«

»Ist heute nicht Mittwoch?«

»Ach so!«

Sie schwiegen eine Weile.

»Darfst du denn hier überhaupt her? Ich dachte, die Bundeswehr darf hier gar nicht rein, wegen den Alliierten oder Russen und so.«

»Ich bin nicht in Uniform«, sagte Frank. »Ich dürfte auch herkommen, wenn ich noch beim Bund wäre, aber nur in Zivil und nur mit dem Flugzeug.«

»Bist du hergeflogen? Ich kenn einen, der hat das auch mal gemacht, der hätte fast gekotzt, die fliegen ja die ganze Scheiß-DDR lang immer genau auf Wolkenhöhe, hat er gesagt, das war vielleicht ein Scheiß, das mach ich …«

»Nein, ich bin mit dem Auto gekommen«, unterbrach ihn Frank und fügte widerstrebend, weil er eigentlich zuerst seinem Bruder davon hatte erzählen wollen, hinzu: »Ich bin nicht mehr beim Bund. Die haben mich entlassen.«

»Echt? Wieso das denn?«

»Ich bin untauglich.«

»Wieso, du warst doch schon da, wir haben dich doch in der Uniform gesehen, neulich in Bremen!«

»Ja, ich war beim Bund, aber sie haben mich heute Morgen entlassen.«

»Wieso denn?«

»Weil sie jetzt erst gemerkt haben, dass ich untauglich bin.«

»Aha …«

Sie bogen wieder durch das große, offene Tor in den Hinterhof ein, in dem die Fabriketage lag.

»Verstehe ich nicht«, sagte Karl.

»So psychisch«, sagte Frank widerstrebend. »Hatte keinen Bock mehr. Hab mich rausgehauen.«

»Wie denn?«

»Selbstmordversuch.«

»Echt? Voll der Hammer. Womit denn? Siehst du deshalb im Gesicht so kaputt aus?«

»Ja, bin voll auf die Schnauze gefallen. Hab Mandrax genommen.«

»Mandrax? Wie geht das noch mal?«

»Wie, wie das geht?«

»Wie wirkt das?«

»Da fällt man stumpf um.«

»Das hab ich noch nie genommen«, sagte Karl.

Sie stiegen die Treppe hinauf, und Karl wechselte das Thema. »Wegen dem Plenum«, sagte er, »da musst du dir nichts bei denken, das macht Erwin dauernd und überall. Das darfst du nicht persönlich nehmen.«

»Wieso persönlich?«, sagte Frank.

»Ja eben nicht«, sagte Karl. »Ich weiß ja auch nicht, worum es diesmal geht, aber ich glaube, es ist besser, wenn du einfach den Kopf unten behältst und mich das machen lässt.«

»Was denn machen?«

»Keine Ahnung«, sagte Karl, »ich weiß ja nicht, worum es geht.«

»Schon klar«, sagte Frank, der überhaupt nicht verstand, wovon der andere redete. »Und du weißt wirklich nicht, wo Manni ist, ja? Ich meine, Freddie?!«

»Nee, wahrscheinlich ist der irgendwie in Westdeutschland, wo soll er denn sonst sein, in Neukölln?!«

»Und dann erzählt er euch gar nichts davon?«

»Nee, sag ich doch«, sagte Karl. »Hier muss sich keiner an- und abmelden, das ist hier keine Kaserne.«

Frank hätte Karl gerne gefragt, wie es angehen konnte, dass er, Karl, erst noch vor zwei Wochen oder so mit Manni als ein Herz und eine Seele in Bremen hatte auftauchen und sich als wer weiß was für ein enger Vertrauter von Manni hatte aufspielen können, nur um jetzt so zu tun, als ob sie sich so flüchtig kannten wie zwei Leute, die zufällig jeden Morgen mit demselben Bus fuhren. Das wäre gut, das mit dem Bus zu bringen, dachte Frank, das mit dem Bus ist nicht schlecht und vor allem, dachte er, während Karl an die Tür hämmerte, sogar selbst ausgedacht, aber er sagte nichts dergleichen, denn er fand es nicht opportun, direkt vor dem Plenum einen Streit mit Karl anzufangen, was immer das jetzt für ein Plenum war, er würde sich dort erklären müssen, denn auf jeden Fall wollte er hier eine Zeit lang wohnen, und Freddie, jetzt denke ich schon wieder Freddie, dachte er, war nicht da, da konnte er keine Feinde gebrauchen.

»Was soll denn das?«, sagte Erwin, als er die Tür öffnete.