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«Slow down!» Die Stimme war plötzlich da. Ich wusste nicht, woher sie kam. Sie schien in meinem Kopf zu sitzen, doch es war anders als Denken. Ich hörte die Stimme, und sie sprach Englisch. Nach langem Hin und Her - «Spinne ich jetzt oder bilde ich mir das alles nur ein?» - beginnt Lisa einen Dialog mit der Stimme in ihrem Kopf, die sich als "Der Kleine Guru" vorstellt. Er sei immer für sie da, sagt er und stupst Lisa sanft, aber beharrlich an, ihr Leben in einem neuen Licht zu sehen. Wie von Zauberhand gesteuert beginnt sich in der Folge Lisas Alltag zu verändern. Sie trifft unterwartet Jack wieder, ihre einst grosse Liebe. Dann wird ihr von einem Unbekannten ein geheimnisvolles Manuskript zugespielt, in dem von Zeitenwende die Rede ist, von einem Bewusstseinswandel der Menschen, der jetzt stattfände und so ziemlich alles aufrüttle oder niederreisse, was nicht mehr passe in die Neue Zeit. Und genau so fühlt sich Lisa: Als ob sie der Kleine Guru in eine neue Zeit und ein neues Leben führen würde.
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Seitenzahl: 291
Veröffentlichungsjahr: 2016
Copyright © 2016 Eveline Blum
Umschlagbild: Henri Rousseau (1844 –1910),
‹Die schlafende Zigeunerin› (Ausschnitt)
Gestaltung Umschlag und Innenteil: Hans Peter Wermuth
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN Taschenbuch: 978-3-7345-6112-2
ISBN Hardcover: 978-3-7345-6113-9
ISBN e-Book: 978-3-7345-6114-6
Das Werk, einschliesslich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte biografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
SLOW DOWN! Die Stimme war plötzlich da. Ich wusste nicht, woher sie kam. Sie schien in meinem Kopf zu sitzen, doch es war anders als Denken. Ich hörte die Stimme, und sie sprach Englisch.
Der Stuhl war es nicht. Den benutzte ich schon seit Jahren zum Meditieren. Ein einfacher Holzstuhl mit niedriger Lehne, auf dem ich gut gerade sitzen konnte. Ein Kissen auf der Sitzfläche. Nein, der Stuhl hatte sich nicht verändert. Er stand wie immer in meinem düsteren aber grossen Schlafzimmer vor einem kleinen Tisch mit Kristallen und einem Teelicht, zur kahlen Wand gerichtet, links davon das Bett, noch weiter links das Fenster. Heute sass ich dennoch anders. Wie anders konnte ich nicht sagen. Vielleicht war etwas im Raum, was neu war. Oder – wohl eher – in meinem Innern.
Es war nicht das erste Mal, dass ich beim Sitzen etwas völlig Neues erfuhr, obwohl sich das Setting nicht verändert hatte. Eigentlich war es jeden Tag anders. Genau. Es war nichts Besonderes, was ich gerade wahrnahm.
Der Meditationsplatz war ein wichtiger Ort in meiner Wohnung. Auf dem Stuhl in dieser Ecke wurde nur meditiert, Tag für Tag. Sobald ich mich hinsetzte, betrat ich einen heiligen Raum, eine Sphäre der Stille, die sich durch das tägliche Stillsein am selben Ort aufgebaut hatte. Dieser Raum gehörte mir allein. Die Sphäre der Stille war an keinen Ort gebunden, sie hatte sich nur vorübergehend in diesem Schlafzimmer etabliert. Wenn ich hier ausziehen oder meine tägliche Meditationspraxis aufgeben würde, müsste sie sich auflösen.
Ich war nur eine von sechs Mietern, dennoch sprach ich die ganze Zeit von «meinem Haus». Vielleicht rührte dies daher, dass die anderen Mieter, mit Ausnahme meines Nachbarn, nicht hier wohnten, sondern ihr Geschäft oder Büro im Haus hatten. Der Eingang zum Treppenhaus lag leicht zurückversetzt von der Strasse, zwischen Lebensmittelladen und Frisör. Wer das Haus nicht kannte, ging davon aus, dass hier niemand wohnte.
Die grosse Tafel beim Eingang wies auf die verschiedenen Büros hin, welche die Räume vom Erdgeschoss bis zum dritten Stock besetzt hielten. Mein Name stand nicht auf der Tafel, obwohl ich mein Büro auch hier hatte.
Im vierten Stock wohnte Leo, ein etwas in die Jahre gekommener Junggeselle, und im fünften ich. Ich hatte nicht nur drei grosse Zimmer für mich, sondern auch die riesige Dachterrasse, die ausser mir niemand nutzte. Wenn ich dort oben war, fühlte ich mich wie in einer Grossstadt. Der Blick über die Dächer von Bern war berauschend. Ich liebte das urbane Gefühl, das er in mir weckte, doch ich hätte niemals in einer richtigen Grossstadt leben wollen. Bern war gemütlich und unaufgeregt, fast wie eine grosse Mutter.
Es war erstaunlich still in meiner Wohnung, obwohl das Haus im Zentrum der Stadt lag, nur fünf Minuten vom Bahnhof entfernt. Die Geräusche von der Strasse waren im fünften Stock kaum zu hören. Manchmal hörte ich Leo, wenn er die Musik aufdrehte oder Gäste hatte. Doch das störte mich nicht, im Gegenteil.
Die Räume waren hoch, die Wände im Wohnzimmer mit Stuck verziert, und die Böden – mit Ausnahme der Klinkerböden in Küche und Bad – aus altem knarrendem Parkett. Eine Altbauwohnung wie aus dem Bilderbuch, anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut. Der lange Flur gab mir jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, das Gefühl, ich würde in eine völlig neue Welt eintreten, und das tat ich auch: mein Zuhause war eine eigene Welt. Hier galten andere Gesetze als da draussen.
«Es ist eine Wohnung mit Augen nach innen», sagte ich, wenn mich Freunde fragten, wie ich wohne. Die Fenster waren gross genug, um die ganze Welt einzuladen, es war in allen Räumen ausser im Schlafzimmer hell, doch wenn ich hinausschaute, sah ich vor allem Himmel. Es gab nichts da draussen, was meinen Blick auf sich zog, nur hie und da eine Krähe, die sich auf den Fenstersims setzte oder vom Nachbardach herüber krächzte.
Eine Freundin, die hie und da bei mir übernachtete, hatte sehr gut erfasst, was die Magie dieser Wohnung ausmachte. Sie erzählte mir nach ihrer ersten Nacht hier beim Frühstück, sie hätte geträumt, sie sei in Ägypten, und beim Erwachen sei dieses Gefühl immer noch da gewesen, als ob dieser Ort etwas von der Energie der Pyramiden in sich hätte. Sie war Psychologin und hatte sich auf Träume spezialisiert. «Das ist ein Ort, der zum Reisen in andere Dimensionen einlädt», meinte sie. «Aber pass auf, das kann auch gefährlich werden. Vergiss nie, dass es da draussen auch noch eine Welt gibt!»
Mir blieb der Mund offen. «Bingo!», dachte ich, sagte aber nichts. Genau das passierte mir regelmässig, seit ich hier wohnte: Ich legte mich im Schlafzimmer aufs Bett und tauchte ab in andere Welten, ohne es zu wollen oder zu suchen. Ich hatte mich schon dabei ertappt, dass ich plötzlich keine Lust mehr verspürte, die Wohnung zu verlassen, weil ich mir sagte, die Welt da draussen sei nicht so wichtig wie das, was ich auf meinen inneren Reisen erlebte.
Ich fühlte mich geborgen in dieser Wohnung. Reinkommen, Tasche abstellen, den Gang nach hinten gehen in die Küche, Tee aufsetzen auf dem alten Gasherd, mich mit dem Teeglas in der Hand an den runden Holztisch setzen – und die Welt war in Ordnung. Vom Küchentisch aus schaute ich in den Himmel, über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg.
Was mir auch gefiel, war der Geruch dieser Wohnung. Es roch immer exotisch, auch wenn ich die Räume nach längerer Abwesenheit betrat, als ob jemand vor langer Zeit ein indisches Räucherstäbchen abgebrannt hätte. Diesen Duft im Hintergrund mochte ich. Düfte waren wichtig. Ich konnte Menschen ebenso wie Orte entweder riechen oder nicht.
Vielleicht war die Wohnung auch deshalb etwas Besonderes für mich, weil sie der Ort war, der mich nach der Trennung von Karl aufgenommen hatte. Sie schien sich mir anzubieten damals, als ob die Zeit dafür reif wäre. Inzwischen wohnte ich seit etwas mehr als drei Jahren hier. Es war eine richtige Single-Wohnung daraus geworden: Büro, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, alles für eine Person eingerichtet. Wenn ich Besuch hatte, wurde improvisiert.
DIE MEISTEN LEUTE HIELTEN MICH FÜR JÜNGER ALS ICH WAR.
Das mochte an der Art liegen, wie ich mich bewegte.
«Sie bewegt sich beinahe schwerelos, als ob sie ein federndes Polster unter ihren Füssen hätte, dessen Feder etwas zu stark gespannt ist», hatte ein Journalist über mich geschrieben, der mich für eine Zeitschrift porträtierte.
«Ihre Arme vollführen dazu eine ausladende Bewegung, die zwar geführt, aber weitaus lockerer ist als das energische Armschwingen beim Walking. Wo immer sie geht, scheint sie sich einem Tanz hinzugeben, einer bedeutungsvollen Choreografie folgend, die keinen Namen hat, weil sie in einer namenlosen Dimension entworfen wird. So wirkt Lisa, als ob sie nicht ganz hier wäre. Oder vielleicht hier, aber gleichzeitig mit etwas Wichtigerem beschäftigt, etwas, was diesem Hier eine besondere Bedeutung gibt.
Ihr Schritt ist resolut, sie scheint stets in Eile zu sein, vielleicht um diesem bedeutungsvollen Anderen näher zu kommen. Wo immer Lisa hinkommt, weckt sie, ohne dies zu beabsichtigen, Aufmerksamkeit und eine unausgesprochene Erwartung auf ein besonderes Ereignis oder eine wichtige Mitteilung. Sie scheint jede Situation mit einem einzigen Blick zu erfassen, nimmt den Raum mit ihrer Präsenz ein, als ob er ihr gehören würde.»
Ich fühlte mich geschmeichelt von dieser Beschreibung. Obwohl sie überhaupt nicht dem entsprach, wie ich mich fühlte. Vielleicht wirkte ich tatsächlich so.
Ich war immer noch schlank und wog nur wenig über fünfzig Kilo. Als «klein, aber oho», hatte mich mein erster Freund einst bezeichnet – ich war vierzehn und konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihm dies als Kompliment durchgehen lassen sollte. Irgendwann beschloss ich, mich mit meinen 1.62 zufrieden zu geben. Hohe Absätze waren nicht mein Ding. Ich war zu gerne unterwegs, am liebsten zu Fuss.
Sicher war ich keine klassische Schönheit. Das Kinn zu spitz, die Lippen zu schmal. Nicht blond und zu gescheit, um Männern zu gefallen. Mein braunes Haar, das ich schulterlang trug, mit Stirnfransen, die das eher schmale Gesicht etwas breiter erscheinen liessen, war bereits von grauen Strähnen durchzogen. Ich würde meine Haare nicht färben, das fand ich blöd, und blöd wollte ich ganz sicher nicht sein. Nicht blöd, nicht dumm, nicht schön. Wobei Letzteres ein bisschen gelogen war, aber es half mir, mir zu sagen, dass ich gar nicht schön sein wollte, sondern lieber gescheit. Obwohl – manchmal fand ich mich sogar schön, wenn ich in den Spiegel schaute.
Heute jedoch sah ich mit Entsetzen einer vom Leben gezeichneten Frau ins Gesicht. Kummerfalten um den Mund herum, tief eingegraben in der Verlängerung der heruntergezogenen Mundwinkel. Entschlossen setzte ich ein Lächeln auf. Schon besser! Vielleicht sollte ich etwas Make-up auftragen, um die sogenannte Couperose, eine rötliche Verfärbung der Hautpartie um die Backenknochen herum, zum Verschwinden zu bringen. Widerwillig strich ich mir die beige Paste ins Gesicht. «Nein! Das bin nicht ich. Weg damit! Wer bin ich denn?», fragte ich mich. Ich wusste es nicht, wusste es immer weniger.
Die Augen waren okay. Mal blau, mal grün, mal grau, je nach Stimmung und Kleiderfarbe, mit kleinen gelben Punkten in der Iris, wie Sterne. Meine Augen würden oft gleichzeitig so viele Geschichten erzählen, dass es schwierig sei, alles zu verstehen, meinte meine Freundin (die Psychologin). Sie könnten in Sekundenbruchteilen ihren Ausdruck ändern. Ich sei wohl eine alte Seele. Auch Mimik und Gestik seien ständig dabei, das Gesagte zu illustrieren oder ihm eine zusätzliche Dimension zu verleihen. Es könne anstrengend sein, doch es würde nie langweilig mit mir. Ich fasste das als Kompliment auf. Ja, ich erzählte gerne. Dabei waren auch meine feingliedrigen Hände – geschrumpelt und gefurcht wie die Hände einer Hundertjährigen – immer in Bewegung. Worte und Gesten schienen nur so aus mir heraussprudeln. Ich stand unter Druck.
Bekannt war ich für zwei Dinge: Für meine spitze Zunge und für extravagante Kleider, die ich meist selbst gestylt hatte. Nicht dass ich sie selber nähte. Ich hatte ein Händchen dafür, billige Kleider von der Stange mit kleinen Änderungen zu versehen und daraus schicke Einzelstücke zu machen. In den letzten Jahren war mir die Lust daran, mich auffallend zu kleiden, allerdings vergangen. Ich hatte sogar angefangen Jeans zu tragen, bis vor kurzem ein No-Go. Jeans mit dunkelblauem Shirt – weit weg von meinen Lieblingsfarben rot, orange und rosa.
«Wann hat das begonnen mit dieser Tarnkleidung?», fragte ich mich, während ich immer noch vor dem Spiegel im Badezimmer stand. Es war wieder mal Zeit, Bilanz zu ziehen. Heute wurde ich 45. Ich strich meine Haare zurück und betrachtete die Haarspitzen, dann die Hände mit den markant hervortretenden Adern auf dem Handrücken, die Lebenslinie auf der Innenseite der linken Hand.
«Was sagt diese Lebenslinie», fragte ich mich, «werde ich meinem Lebensplan gerecht oder schramme ich voll daran vorbei?» Dann hob ich den Blick und schaute wieder in den Spiegel. War da vielleicht ein Gesicht hinter dem Gesicht, das ich täglich wahrnahm? Ein Wesen, das meine Frage beantworten könnte? Ich liess meinen Blick weit und weich werden, als ob ich halb nach innen schauen würde.
Plötzlich geschah etwas, während ich mir in die Augen schaute, nur schaute, ohne innerlich einen Kommentar abzugeben, ohne etwas zu fixieren. Ich konnte mich in diese Augen fallen lassen, ich fiel! Und fühlte mich so sehr zuhause wie noch nie zuvor, nur eine halbe Sekunde lang. Im nächsten Moment war ich wieder zurück. Die Augen strahlend blau.
EIGENTLICH HÄTTE ICH EIN JUNGE WERDEN SOLLEN.
Doch ich konnte nur ein Mädchen sein. Und das war der erste Fehler. Zudem kam ich zu früh, wie mir meine Mutter später erzählte. Doppelt zu früh, wenn ich das recht verstanden habe. Einmal, weil da noch gar kein Kind geplant war und einmal, weil ich schon nach acht Monaten Schwangerschaft zur Welt kam.
Kinder dürfen keine Fehler machen, lernte ich bald, und wenn sie es trotzdem tun, sind sie schuld. Sobald ich denken konnte, erkannte ich, dass ich mir etwas einfallen lassen musste, um meine Schuld wiedergutzumachen.
Die Schule war ein geeigneter Ort, um zu beweisen, dass ich vielleicht doch nicht so schlecht war, wie ich glaubte. Dort konnte ich gute Noten machen und wurde dafür gelobt. Am liebsten wäre ich ewig in der Rechenstunde geblieben, wo ich die Antworten oft am schnellsten wusste. Schreiben gefiel mir auch gut, mit Tinte und ganz sorgfältig, sodass es ein schönes Heft gab, alles auf der vorgegebenen Linie und nicht über den Rand hinaus.
Ich war froh, wenn ich wusste, wie ich ein gutes Mädchen sein konnte, und in der Schule war das definitiv einfacher als zuhause. Das Gefühl, meine Eltern würden sich gar nicht für mich interessieren, bohrte sich seit meiner frühesten Kindheit wie ein brennendes Schwert wieder und wieder in meine Brust. «Etwas stimmt nicht mit mir», dachte ich, «sonst würden sie mich mehr beachten.» Und dann strengte ich mich noch mehr an.
Irgendwie war ich immer noch dieses kleine Mädchen. Voller Angst, etwas falsch zu machen. Stets auf die anderen schauen, auf deren Bedürfnisse. Obwohl ich das gegen aussen nicht zeigte und nach meinem Auszug aus dem Elternhaus während Jahren aufgetreten war wie eine Rebellin, der es vollkommen egal war, was andere von ihr dachten. Die innere Überzeugung war geblieben: Eine Lebensberechtigung habe ich nur, wenn ich in die Lücke passe, die mir mein Umfeld anbietet.
Um festzustellen, wo und wann eine solche Lücke bestand, wo ich wie sein könnte oder sollte, hatte ich eine hohe Sensitivität entwickelt. Ich nahm Signale und Befindlichkeiten von Menschen wahr, noch lange bevor sie etwas sagten, und auch wenn sie etwas anderes sagten als sie fühlten, merkte ich das sofort. Aus diesem Wachsein gegen aussen entstand manchmal eine Reizüberflutung und ich musste mich, in panischer Angst, ausgelöscht zu werden, sofort aus der Gegenwart anderer Menschen zurückziehen. Dann wollte ich nur noch allein sein und von niemandem etwas wissen, während ich mir gleichzeitig nichts mehr wünschte, als mich in eine bedingungslos liebevolle Umarmung fallenzulassen.
Ich war meinen Weg trotz aller inneren Unsicherheit ziemlich zackig gegangen. Schon als junge Frau wusste ich genau, was ich in diesem Leben erreichen wollte. Das Bild, das ich dabei vor mir hatte, war dasjenige einer Frau mit einem hoch oben gebundenen Rossschwanz, einer unbändigen Energie und einem flachen Bauch. Ich hatte diese Frau gesehen, als ich noch ein Teenager war, und mir war bei deren Anblick sofort klar geworden, dass sie nur deshalb so einen flachen Bauch hatte, weil sie nichts zurückhielt, sondern alles von sich reinlegte in ihr Leben, das sie genau so führte, wie sie es wollte. «So will ich werden», schwor ich mir damals.
Inzwischen war ich dreissig Jahre älter, hatte einen leicht rundlichen Bauch, der mir Verdauungsprobleme machte, und war unzufrieden. Dies, obwohl ich meine volle Kraft dafür eingesetzt hatte, mein eigenes Leben zu finden und zu leben. So hatte ich einen Traumberuf nach dem nächsten ergriffen, war Bühnentänzerin, Yogalehrerin und Journalistin geworden, stets erfolgreich und die meiste Zeit unglücklich. Da war ein Schmerz in mir, den ich einfach nicht los wurde. Das tiefe innere Gefühl, nicht okay zu sein.
Auch in Liebesbeziehungen hatte ich mehrmals Glück und fühlte mich dennoch unglücklich. Mein erster Partner, den ich noch während der Tanzausbildung kennenlernte, trug mich auf Händen. Wir verstanden uns hervorragend und es sah alles danach aus, dass wir demnächst heiraten würden. Dann träumte ich eines Nachts, ich sei in Ketten gefangen. Am nächsten Tag erklärte ich meinem Geliebten, wir müssten uns trennen. Wir weinten beide, doch ich liess mich nicht von meinem Entschluss abbringen. Kurz nach der Trennung wurde mir klar, dass der Traum von den Ketten nichts mit Fred zu tun gehabt hatte.
Nach mehreren Jahren als Single traf ich Jack. Eine Amour fou, die mich vollkommen vom Sockel haute. Berauschend und beängstigend. Doch einen Monat nach unserer ersten Begegnung verliess er die Stadt, um – wie er sagte: «vorerst mal» – in Berlin zu leben, und wir verloren uns aus den Augen. Ich wusste schon am ersten Abend, als wir uns an der Bar des Jazz-Festivals trafen, dass Jack niemals irgendwo sesshaft werden würde, schon gar nicht in einer Liebesbeziehung. Vielleicht war es das, was mich so zu ihm hinzog: die vollkommene Fokussierung auf den Moment, die sich in unserem Gespräch sofort einstellte. Mit ihm gab es keine Zukunft, keine Vergangenheit, keine Zeit.
Ein Jahr später schien sich das Blatt zu wenden. Karl trat in mein Leben und ich war überglücklich. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich so geliebt, wie ich mir das immer gewünscht hatte. Karl gab mir das Gefühl, geborgen und in Ordnung zu sein. Und genau das war eine Falle für mich. Ich nistete mich in dieser Beziehung ein und begann zu schrumpfen, lange Zeit ohne mir dessen bewusst zu sein.
Im siebten Jahr unserer Beziehung fiel mir auf, dass ich auch die kleinsten Dinge erst entschied, nachdem ich Karls Meinung dazu eingeholt hatte. Ich zwang mich, genauer hinzuschauen und war entsetzt über das Ausmass meiner Abhängigkeit. Sogar mein Wünschen und Wollen schien mir erst okay, wenn er es abgesegnet hatte. Ohne ihn war ich niemand mehr, jedenfalls kam es mir so vor. Nach aussen sah das nicht so aus, weil mich Karl bei meinen künstlerischen Projekten unterstützte, mit denen ich auch unter eigenem Namen in Erscheinung trat.
Die meisten Menschen nahmen mich als stark und eigenständig wahr. Doch das war nur eine Pose. Ich fühlte mich dabei wie ein aufgeblasenes Ding aus Plastik. Ohne Karls Unterstützung würde ich zusammensacken wie eine leere Hülle. Ich geriet in Panik ob dieser Erkenntnis und verdrängte sie. Doch sie tauchte wieder auf. Schien immun gegen alle Argumente. «Jetzt sei nicht so anspruchsvoll. Es gibt keine perfekte Beziehung. Sei dankbar für das, was du hast.»
Widerwillig begann ich nach einer Lösung zu suchen. Wie konnte ich die Beziehung erhalten und mich gleichzeitig aus dieser Abhängigkeit befreien? Der Versuch, ein halbes Jahr ins Ausland zu gehen, um dort ohne Karl zu leben und zu arbeiten, scheiterte kläglich. Kaum hatte ich mich dazu entschieden, holte mich der alte Schmerz wieder ein. Ich geriet in eine depressive Krise, die mich während Monaten vollkommen lahmlegte. Die Krankheit hatte mich so fest im Griff, dass auch Karls Liebe nicht mehr zu mir durchdrang. Ich registrierte es glasklar wie alle anderen Dinge, die plötzlich nicht mehr funktionierten, während Karl ohnmächtig daneben stand. «Es ist nicht deine Schuld, dass du krank bist, du kommst da wieder raus», wiederholte er unablässig. Ich glaubte ihm nicht – und verfluchte mich: «Verräterin!» Am Ende trennten wir uns, in Liebe. Das war vor dreieinhalb Jahren.
Wo ist mein Platz in der Welt? Wie kann ich ‹richtig› leben? Wie werde ich ein besserer Mensch? Die Fragen waren immer noch da. Ich hatte die Depression und die Trennung von Karl überwunden, doch die Überzeugung, ich sei nicht gut genug und müsse deshalb an mir arbeiten, trieb mich weiter an wie ein heulender Turbo, der in wechselnden Tonlagen in mir dröhnte, obwohl ich seine Argumente intellektuell längstens widerlegt hatte. «Nun reicht es! Ich lasse nicht mehr zu, dass dieser Schmerz mein Leben beherrscht», sagte ich mir beinahe jeden verdammten Tag.
Was mir trotz allem so etwas wie Halt gab, war das Gefühl, mit einer anderen Welt verbunden zu sein, mit etwas, was hinter der Welt wirkte oder einfach da war. Kürzlich hatte ich in einer Meditation die Eingebung, der Schmerz sei mein Lehrer. Das hat mich ziemlich umgehauen.
GLEICH WÜRDE ICH AUFSTEHEN.Yoga, Tee trinken, etwas essen, Lehr-CDs hören, Theorie repetieren, den Text von K. redigieren, einkaufen, etwas essen, noch einmal CDs hören, Wohnung putzen muss warten, der Text von K. muss heute fertig werden, unbedingt, die Übungen gestern nicht gemacht, heute unbedingt, ich bin so müde, nur noch zehn Minuten, dann stehe ich auf, warum bin ich so müde?
Come down!
Mit einem Ruck setzte ich mich auf und starrte in die Luft.
Come down! Die Stimme wiederholte sich. Sie sprach lautlos in meinem Kopf, ruhig und ohne Unterton, weder mahnend noch tadelnd, eher wie eine nüchterne Feststellung.
Ich plumpste zurück auf den Rücken. «Wenn du mit mir reden willst, dann bitte in meiner Sprache», gab ich leicht genervt zur Antwort.
Gut. Kein Problem, antwortete die Stimme.
Ich erschrak. Damit hatte ich nicht gerechnet. Stöhnend setzte ich mich wieder auf, hievte das Kopfkissen über den Kopf und liess es den Rücken hinunter gleiten. Dann lehnte ich mich zurück an die Wand. Das Kissen war weich und kühl. Die Glieder taten mir weh.
«Come down! – was meinst du damit?», fragte ich.
Du weisst es, aber du willst es nicht wissen.
«Nun ist aber mal gut! Was erlaubst du dir eigentlich? Sprichst mit mir wie Superman, der alles weiss, sogar was sich in mir drin abspielt, und hast dich noch gar nicht richtig vorgestellt.»
Du willst wissen, wer ich bin?
«Natürlich will ich das wissen.»
Dann sprich einfach mit mir, immer wieder, so wirst du es herausfinden.
«Und warum sagst du mir nicht einfach hier und jetzt, wer du bist?»
Weil du das im Moment nicht akzeptieren könntest.
«Ich soll also weiter mit dir sprechen, mit einem Unbekannten, der in meinem Kopf spricht und seine Identität nicht preisgeben will, weil ich sie angeblich nicht akzeptieren könnte? Wie soll ich denn das akzeptieren?»
Es ist ein Angebot, keine Pflicht.
Ich seufzte. «Nicht das schon wieder», dachte ich. «Ein Angebot, das ich annehmen muss, obwohl es keine Pflicht ist.» «Also gut», presste ich schliesslich hervor. «Dann sag mir, was ich tun kann, um – wie Du das nennst – auf den Boden zu kommen.»
Du solltest aufhören, diese Tonbänder zu hören.
«Die Meditationen?»
Ja.
«Aber die gehören zur Ausbildung, die ich eben abgeschlossen habe. Es ist wichtig, dass ich mich weiter damit befasse. Sonst kommt das, was ich gelernt habe, nicht zur Wirkung.»
Das soll auch nicht zur Wirkung kommen. Je früher du damit aufhörst, desto besser.
«Jetzt mach mal einen Punkt, Unbekannter! Ich habe drei Jahre und ein halbes Vermögen in diese Ausbildung investiert.»
Das ist so, ich weiss.
«Und du willst mir jetzt weismachen, ich soll das alles wegschmeissen?»
Genau! Ich hätte es nicht gewagt, so präzis zu werden.
«Das ist unmöglich! Ich habe alles auf eine Karte gesetzt. Die Ausbildung sollte mich zu einem neuen Beruf führen, zu einem Leben, das endlich Spass macht und funktioniert.»
Ich weiss.
«Und du findest trotzdem, ich sollte alles wegschmeissen?»
Das wäre ein grosser, weiser Schritt auf dem Weg zu dir selbst.
Nun kamen mir die Tränen. Etwas an den Worten dieser Stimme fühlte sich wahr an, so wahr, dass es weh tat. «Der Weg zu dir selbst», echote es in mir.
Auf einen Schlag wurde mir bewusst, wie weit weg von mir ich war. Ich wollte es nicht spüren. Wollte nicht wissen, wie es dazu gekommen war. Doch ich hatte es schon erkannt: die Ausbildung der letzten drei Jahre. Jeden Tag stundenlang die Lehr-CDs mit geführten Meditationen anhören. Keine Zeit mehr für Kochen, Freunde, Ausflüge, Sonne, Wald oder Kino. Lauter Dinge, die ich früher geliebt hatte. Genauso wie meine Freunde einer nach dem anderen aus meinem Leben verschwunden waren, war ich mir selbst abhanden gekommen.
Ich atmete tief durch, putzte mir die Nase und stand auf. Die Stimme im Kopf war verstummt. Bei einer Tasse Tee beschloss ich, heute einen Pausentag zu machen. Keine CDs hören, keine Übungen, einfach nur normales Leben. Arbeiten, einkaufen, essen, vielleicht gegen Abend spazieren gehen.
DAS JAHR BEGANN VOLLKOMMEN STILL.Ich hatte mich eine halbe Stunde vor Mitternacht zum Meditieren hingesetzt und sass bis viertel nach Zwölf auf meinem Stuhl vor der Kerze, die ein sanft schimmerndes Licht erzeugte. Ich hörte die Kirchenglocken den Jahresausklang begleiten, dann war es einen kurzen Moment lang still.
«Das ist der Übergang», dachte ich unvermittelt, und wie ein Feuerwerk öffnete sich in mir ein neuer Raum, erfüllt von einem lautlosen Jubel. Ich spürte, dass dies nicht nur der Übergang vom alten Jahr ins neue war, sondern auch von meinem alten Leben in etwas Neues, noch Unbekanntes.
Draussen setzten die Geräusche wieder ein. Raketen wurden abgefeuert, es knallte mehrmals von der Strasse herauf und auf den Dächern und Balkonen der Umgebung begrüssten Menschen das Jahr mit einem lauten Jubelschrei.
Ich fühlte mich gut auf meinem Stuhl. Keine Sehnsucht, auch unter Leuten zu sein. Ich war gerne allein, nicht nur jetzt, aber jetzt ganz besonders. Die Schwelle, die ich überschritt, liess sich nicht benennen und – wie mir in diesem Moment klar wurde – nur in der Stille überqueren. Es kam mir vor, als ob ich durch mein Stillsein in diesem entscheidenden Moment ein Versprechen abgeben würde.
Heiter legte ich mich um halb eins ins Bett, doch an Schlaf war nicht zu denken. Bei meinem Nachbarn ging jetzt erst die Party zum Jahreswechsel los. Ich hörte, wie sich Leute gegenseitig zuprosteten und zu singen begannen, When the Saints Go Marching In, All My Loving I Will-Send to You, und ich freute mich mit den Menschen, die im Raum direkt unter mir feierten. Es störte mich nicht, dass ich nicht schlafen konnte, ich feierte auf meine Weise mit.
Seit dem Gespräch mit der unbekannten Stimme im Kopf waren drei Monate vergangen. Ich hatte mich nicht an den Rat der Stimme gehalten, regelmässig mit ihr zu sprechen. Es war zu viel los gewesen und ich hatte sie beinahe vergessen.
Während ich wach im Bett lag, erinnerte ich mich plötzlich wieder daran. Vielleicht hatte die Stimme recht gehabt. Jedenfalls war es ihr gelungen, einiges zu bewegen. Ich hatte – erst einmal versuchsweise – aufgehört mit den täglichen Übungen und geführten Meditationen. Das war anfangs eine grosse Umstellung. Plötzlich hatte ich freie Zeit, die ich vorwiegend für lange Spaziergänge nutzte. Wie sehr ich das vermisst hatte! Draussen sein, mich von der Wärme der Sonne berühren lassen, ihr Licht aufnehmen, frische Luft atmen.
War das alles gewesen mit dieser Stimme? Ich hatte sie die letzten Monate nicht mehr wahrgenommen. Nein! Das konnte nicht sein. Ein heisser Strahl durchfuhr mich. Die Stimme war da gewesen, mehrmals! Slow down! Die zwei englischen Worte waren mir in den letzten Wochen mehrmals durch den Kopf gegangen, und zwar immer dann, wenn ich überhaupt keine Zeit hatte, mich mit sowas wie einer Stimme im Kopf zu befassen. Slow down!, immer wieder: Slow down! Ich hatte die Worte gehört,ihnen aber keine besondere Bedeutung beigemessen. Nun erinnerte ich mich mit einem jäh aufflammenden schlechten Gewissen: Damit hatte es angefangen, vor einem knappen halben Jahr. Slow down!
Die Gäste meines Nachbarn verabschiedeten sich. Ich hörte sie im Treppenhaus und schaute auf die Uhr. Vier Uhr morgens. Ich liess mich zurück aufs Kissen sinken und erinnerte mich an den Moment des Übergangs, an die Stille. Ein Lächeln trat auf mein Gesicht. Kurz darauf schlief ich ein.
Am nächsten Morgen erwachte ich voller Elan. Gleich nach dem Frühstück begann ich mit Aufräumen und kam so richtig in Fahrt. Das Mittagessen nahm ich stehend zu mir – ich wollte so viel aufs Mal erledigen – und setzte die Arbeit mit noch vollem Mund wieder fort.
Slow down!
Plötzlich war die Stimme wieder da und die Welt schien abrupt still zu stehen. Eine unsichtbare Energie erfasste mich und liess mich mitten in der Bewegung innehalten. Ich blinzelte, um mich zu vergewissern, dass ich nicht dabei war, einen Schwächeanfall zu erleiden. Meine Sicht war klar und ich stand aufrecht. Der Körper war wie in Watte gepackt – nicht unangenehm. Ich gab mir einen Ruck und fragte:
«Ist da jemand?»
Im selben Moment klingelte mein Mobiltelefon.
«Unbekannter Teilnehmer» hiess es auf dem Display. Ich nahm ab und sagte: «Hallo?»
«Marco?», fragte eine Frauenstimme.
«Nein», sagte ich.
«Sorry, wrong number», gab die unbekannte Frauenstimme zur Antwort.
Ich legte auf und fragte noch einmal, diesmal etwas lauter: «Ist da jemand?»
Nun blieb alles still. Ich meinte, ein leises Geräusch vernommen zu haben. Als ich ihm nachging, war es so still wie in einer Kirche, in der gerade niemand hustet oder sich räuspert.
Ich atmete tief durch und nahm die Arbeit wieder auf. Einiges auf meiner To-Do-Liste war bereits abgearbeitet. Die Pflanzen gegossen, der Müll für die Abfuhr bereit gestellt, die Reste der Weihnachtsfeier weggeräumt. Nun musste ich nur noch Rechnungen bezahlen und Mails beantworten.
Die Frage, was da eben los war, ob das dieselbe Stimme war, mit der ich vor drei Monaten gesprochen hatte, schob ich zur Seite. Als ich alles erledigt hatte, war es bereits fünf Uhr nachmittags. Ich liess mich in den Lesesessel fallen und griff zum Buch auf der Ablage.
Beim nächsten Blick auf die Uhr war es halb acht. Ich wärmte mir die Essensreste vom Vortag, einen Eintopf mit Linsen und Gemüse, setzte mich kurz an den Küchentisch, ass und tappte zurück ins Wohnzimmer, um den Roman zu Ende zu lesen. Auf den letzten Seiten spürte ich, wie mir die Augen zufielen. Ich hielt durch bis zum Schluss, schälte mich mit halb geschlossenen Augen aus den Kleidern und ging zu Bett.
In der folgenden Nacht erschien mir die Stimme im Traum. Nicht als Figur, die ich sehen konnte, nur akustisch und irgendwie energetisch, wie ein feiner Hauch, der meinen Körper einhüllte.
Ich bin dein Kleiner Guru, sagte die Stimme, und ich bin nun immer bei dir.
Die Stimme war in dieser Traumwelt so real, dass ich mich keine Sekunde lang fragte, ob ich mir sie nur einbildete. Es fiel mir auch nicht ein zu fragen, wer dieser Kleine Guru war, woher er käme, ob er auch Englisch spreche und was er von mir wolle. Die Fragen fielen mir erst am anderen Morgen ein, als ich mir den Traum aufschrieb.
In den folgenden Tagen wartete ich insgeheim darauf, dass sich die Stimme wieder melden würde. Doch es schien alles so zu sein wie früher. Keine Stimme. Keine besonderen Wahrnehmungen. Ich begann mich zu fragen, ob ich mir nicht doch alles nur eingebildet hatte. Mehrmals versuchte ich, den Kleinen Guru innerlich zu rufen, erhielt jedoch keine Antwort. Am Ende beschloss ich, mich auf das zu konzentrieren, was mich berührt und aufgewühlt hatte.
«Es spielt keine Rolle, woher diese Stimme kommt, wenn mich das, was sie sagt, berührt, will ich es ernst nehmen», schrieb ich in mein Tagebuch.
Der Weg zu mir selbst – was könnte das heissen? Ich hatte keine Ahnung.
Beim Ausmisten eine Woche später kam mir die Einladung zur Vernissage einer ehemaligen Arbeitskollegin in die Hand. Ich hatte sie eben auf dem Stapel mit Altpapier entsorgt, als in meinem Kopf wie eine Leuchtschrift das Datum des Anlasses aufschien. «Das ist ja heute Abend!», dachte ich und fischte die Karte wieder aus dem Stapel heraus. «Vielleicht werde ich da hingehen.»
SLOW DOWN!
«Jetzt nicht, ich habe jetzt keine Zeit für kleine Gurus.»
Der Befehl schien zu wirken. Die Stimme war weg, noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte. Ich war voll auf Speed. Hetzte von einem Zimmer ins andere und fragte mich zum ersten Mal seit ich hier wohnte, wie mein Zuhause wohl auf andere wirkte. Es sollte einen guten Eindruck machen, unbedingt, doch ich konnte mir kein Urteil bilden. Die Gedanken überschlugen sich.
«Die Bilder sind nicht professionell, die Möbel nicht aufeinander abgestimmt, so viele Einzelstücke – passen die überhaupt zusammen? Na ja, so schlecht sieht das auch wieder nicht aus; wie wird es auf Jack wirken? Vielleicht kommt er ja gar nicht. Will ich ihn überhaupt einladen?»
Wir hatten uns vor zwei Tagen zufällig wieder getroffen an der Vernissage meiner Bekannten. Die Galerie war mehr als voll, die Leute standen dicht an dicht und ich war schon dabei, mich davonzuschleichen, als ich eine bekannte Stimme hörte:
«Lisa? Bist du das?»
Ich drehte den Kopf und erkannte ihn sofort. Unsere Blicke verschmolzen. Er kam auf mich zu wie in Zeitlupe, mein Körper stand in Flammen, noch bevor wir uns umarmten. Sachte nur, tastend, hielt er mich fest, viel zu kurz, dann schob er mich auf Armlänge von sich weg.
«Lisa!, ich glaub es einfach nicht.»
Ich grinste und kam mir nackt vor, wusste nicht, was sagen. Wortlos nahm er mich bei der Hand und zog mich hinaus. Der Raum schien zu dampfen, als wir ihn verliessen. Draussen sog ich wie eine Ertrinkende frische Luft in die Lungen. Tränen in den Augen, immer noch kein Wort, das passen würde. Leer schlucken. Lächeln. Eine Welle, noch eine Welle, die den Körper durchpflügt, hoch konzentrierte Weichmacher in jeder Zelle, in den Zellzwischenräumen, im Gehirn, ich setzte mich. Die Mauer noch nass vom gestrigen Regen, wieder aufspringen, meinen Blick immer noch in seinem.
«Gehen wir was trinken?», stiess ich endlich hervor.
«Ja, gute Idee.»
An der Bar reden über irgendetwas. Unsere Blicke sagen mehr, verschmelzen bei jeder Gelegenheit. Ihr Durst zwingt uns zu trinken.
Beim Abschied umarmten wir uns lange, endlich, während mir Schauer um Schauer den Rücken hinauf lief. Dennoch war ich froh, dass Jack nicht fragte, ob er mich nach Hause begleiten dürfe. Ich hätte das nicht gewollt. Aber wenn er gefragt hätte?
Meine Wohnung kam mir plötzlich fremd vor. Die Bilder an den Wänden, alles eigene Produktionen, schienen mir mit einem Mal nicht mehr so toll. Ich war keine bildende Künstlerin, die Drucke waren einfach so entstanden, beim Spielen mit einem billigen Grafikprogramm. Und sie hatten mir bis zum heutigen Tag gut gefallen. Doch jetzt fürchtete ich, mich damit zu blamieren.
«Sie alle abzuhängen ist auch keine Lösung», beschloss ich, entweder war Jack an mir interessiert oder eben nicht. Und wenn nicht, würde ich wenigstens nicht darunter zu leiden haben, dass er demnächst wieder weg ging. Nur noch drei Wochen sei er hier, hatte er gesagt. Dann werde er in die USA fliegen. Seine Galeristin habe dort mehrere Ausstellungen für ihn organisiert. Wie lange er wegbleiben wollte, konnte er nicht sagen. «Ich lasse mich treiben», sagte er und schaute mich mit diesem Schalk im Gesicht an, der mich bereits bei unserer ersten Begegnung umgehauen hatte.
«Die Geschichte wiederholt sich», dachte ich. «Will ich das? Ist das nicht Grund genug, Jack sofort wieder zu vergessen?»
Irgendwie beneidete ich ihn um seine Fähigkeit, das Leben leicht zu nehmen und als Künstler zu leben, ohne grossen Ehrgeiz. Offenbar erfolgreich. Da könnte ich mir echt eine Scheibe davon abschneiden.
«Tut es mir gut, mit ihm zusammen zu sein?
Ja, es fühlt sich gut an.
Nein, es fühlt sich beschissen an.
Eine Durchgangsbekanntschaft!»
War ich das? Was empfand er wohl für mich? Was empfand ich für ihn?
Mein Körper gab klare Signale. Und der Kopf? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Aufräumen war auf jeden Fall gut. Etwas anderes hätte ich jetzt nicht machen können.
Slow down!