Der kleine Kölner - Paul Schaffrath - E-Book

Der kleine Kölner E-Book

Paul Schaffrath

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  • Herausgeber: cmz
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Manchmal kann Wasser tödlich sein Ungewöhnliche Todesfälle beschäftigen die Kölner Kripo: Ein lebloser Polizeitaucher liegt am Ufer des Rheins. Tage später wird ein Toter in einer Schreber­gartenkolonie gefunden. Kriminalhaupt­kommissarin Britta Mangold ist mit der Aufklärung der Fälle befasst. Zusammen mit der pensionierten Ermittlerin Johanna Neumann, die ihren ersten Fall in den Siebzigern nie aufklären konnte, nähert sie sich dem Täter, unterstützt von der jungen Goldschmiedin Hannah, die dabei in Lebensgefahr gerät … Wieder gelingt Paul Schaffrath mit "Der kleine Kölner" ein spannender Kriminalroman, in dem er zum ersten Mal drei starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt des Geschehens stellt.

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Seitenzahl: 395

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Von Paul Schaffrath sind bereits folgende Krimis erschienen:

KHK Krüger

Bonner Fenstersturz

Bonner Testament

Der Nebel von Avignon

Der ferne Sommer

Hansen

Die Drei Könige

Foto: Lisa Strencken 2021

Winrich C.-W. Clasen, Jahrgang 1955, Studium der Romanistik, Evangelischen Theologie und Kunstgeschichte in Bonn; Verleger in Rheinbach. Seit 2011 schreibt er unter dem Pseudonym Paul Schaffrath Kriminalromane. Der kleine Kölner ist sein siebter Roman.

Paul Schaffrath

Der kleine Kölner

Kriminalroman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 by cmz-Verlag

An der Glasfachschule 48, 53359 Rheinbach

Tel. 02226-912626, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat & Schlussredaktion:

Clemens Wojaczek, Rheinbach

Satz

(Aldine 401 BT 11 auf 14,5 Punkt)

mit Adobe InDesign CS 5.5:

Winrich C.-W. Clasen, Rheinbach

Papier (90g Lux Creamy mit 1,8f. Vol.):

Arctic Paper S.A., Poznań / Polen

Umschlagfoto (shoe-light-white-stair-sunlight-floor-1809):

www.pxhere.com

Umschlaggestaltung:

Lina C. Schwerin, Hamburg

eBook-Erstellung:

Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN 978-3-87062-353-1 (Paperback)

ISBN 978-3-87062-359-3 (eBook)

001 • 20220528

www.cmz.de

www.paul-schaffrath.de

Auf alle harrt vergnüglichen Blicks Freund Hein

und dreht sein knarrendes Glücksrad um und um,

und jede Ziffer ist ein Treffer,

ist eines Sterblichen arme Seele.

Christian Morgenstern, Horaz-Travestien (II, 3)

Die Hauptpersonen

2019

Britta Mangold

Kriminalhauptkommissarin– wird ziemlich regelmäßig erpresst

Sören Jacobsen

Kriminalkommissar– weiß alles auswendig

Miguel García Álvarez

Kriminalkommissar– kann auch Kölsch

Hannah Wolf

Goldschmiedin– verkauft perfekten Schmuck

Konstantin Gruber

Staatsanwalt– liest lieber Zeitung

Sebastian Meister

Kriminalhauptkommissar– hat Herzklopfen

Manfred Mohr

Kriminalrat– delegiert fürs Leben gern

Klaus Schmitz

Tauchgruppenleiter– verträgt kein Chlorwasser

Manfred Küster

Feuerwehrmann– fährt langweilige Autos

Wolfgang Hallstatt

Archäologe– kommt der Erde zu nahe

Gernot Schauermann

Arzt– hadert mit seinem Familiennamen

Dieter Frings

Mitarbeiter beim Roten Kreuz– führt den Hund spazieren

Heinzdieter Gerlach

Immobilienmakler– schätzt seine Sekretärin

Jean Dubois

Bauunternehmer– liebt Hollywood-Filme

1975 / 1986

Johanna Neumann

Kriminalkommissarin– hat keine Angst vorm schwarzen Mann

William Wordsworth Jr.

Kriminalhauptkommissar– bleibt nach dem Krieg da

Konrad Kleinknecht

Schüler– ärgert andere Kinder

Karlheinz Gerlach

Student– vertraut unbekannten Autofahrern

Die Zeit

August 1975

März / April 1986

Juli 2019

Die Schauplätze

Köln (auch auf der Schääl Sick …) und Bad Rothenfelde

Inhalt

I – Montag

Juli 2019 – Köln-Deutz, Rheinpark

August 1975 – Köln-Zentrum, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Süd, Staatsanwaltschaft

August 1975 – Köln-Zentrum, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Deutz, KölnTriangle

Juli 2019 – Köln-Stammheim, Goldenes Fass

Juli 2019 – Köln-Deutz, KölnTriangle

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Nord, Belgisches Viertel

August 1975 – Bad Rothenfelde, Haus Klara

II – Dienstag

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Nord, Belgisches Viertel

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Mülheim, Genovevabad

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Nord, Belgisches Viertel

III – Mittwoch

Juli 2019 – Köln-Sülz, Kleingartenverein

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium / Köln-Lindenthal, Kleingartenverein

August 1975 – Bad Rothenfelde, Haus Klara

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Nord, Belgisches Viertel

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Mülheim, Genovevabad

Juli 2019 – Köln-Sülz, Kleingartenverein

Juli 2019 – Köln-Müngersdorf, Bauunternehmung Dubois

August 1975 – Bad Rothenfelde, Haus Klara

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Lindenthal, Universitätsklinik

Juli 2019 – Köln-Marienburg, Feuer- und Rettungswache 2

August 1975 – Köln-Zentrum, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Marienburg, Unter den Ulmen

Juli 2019 – Köln-Rodenkirchen, Hauptstraße

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Nord, Belgisches Viertel

IV – Donnerstag

Juli 2019 – Köln-Zentrum, Archäologische Zone

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Zentrum, Archäologische Zone

August 1975 – Bonn, Marktplatz

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Süd, Staatsanwaltschaft

August 1975 – Köln-Zentrum, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Zentrum, Archäologische Zone

Juli 2019 – Köln-Sülz, Kleingartenverein

März 1986 – Köln-Altstadt-Süd, Chlodwigplatz

Juli 2019 – Köln-Müngersdorf, Bauunternehmung Dubois

Juli 2019 – Köln-Deutz, KölnTriangle

März 1986 – Köln-Zentrum, Polizeipräsidium / Köln-Altstadt-Süd, Chlodwigplatz

Juli 2019 – Köln-Müngersdorf, Bauunternehmung Dubois

Juli 2019 – Köln-Altstadt, Hotel Alfred

Juli 2019 – Köln-Sülz, Kleingartenverein

April 1986 – Köln-Altstadt, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Zentrum, Ludwig im Museum

V – Freitag

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Deutz, KölnTriangle

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Müngersdorf, Bauunternehmung Dubois

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Kalk, Pizzeria Il Futuro / Polizeipräsidium

April 1986 – Köln-Altstadt, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Nord, Belgisches Viertel

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Altstadt-Nord, Belgisches Viertel

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Marienburg, Unter den Ulmen

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Juli 2019 – Köln-Marienburg, Unter den Ulmen

Juli 1975 – Bad Rothenfelde, Haus Klara

Juli 2019 – Köln-Marienburg, Unter den Ulmen

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Nord, Belgisches Viertel

Abbildungen

Nachbemerkungen

I – Montag

Juli 2019 – Köln-Deutz, Rheinpark

Vor seinem inneren Auge erschienen heute erneut die Leichen seines Lebens. Das erste Mal hatten sie sich kurz vor dem Aufwachen gemeldet, das zweite Mal gerade eben, in einer Art Wachtraum. Die Frau mit der geblümten Schürze war dabei, die drei Ruderer, die wider besseres Wissen auf dem Fluss unterwegs gewesen waren, bis eine Explosion sie zerfetzte, und die beiden Männer, der eine um die dreißig, der andere Mitte fünfzig, die ihr Leben nicht zu Ende hatten bringen dürfen. Er seufzte. Wurde er diese Erinnerungen je wieder los?

Gedankenverloren war er stehengeblieben. An seinem Knie fühlte er eine Hundeschnauze und schreckte auf. Das Tier warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu – jedenfalls erschien es ihm so – und trottete langsam weiter.

Dieter Frings war ein penibler Mensch, der einen regelmäßigen Tagesablauf liebte und Abweichungen davon verabscheute. Also befand er sich auch heute, wie jeden Morgen um acht Uhr dreißig, am Deutzer Rheinufer in der Nähe des Tanzbrunnens und führte seinen Hund aus. Das heißt, er versuchte es zumindest. Inzwischen musste er nämlich bis fast zum Rhein mit dem Auto fahren, weil der Hund, wie andere achtzigjährige Rentner auch, lieber zu Hause neben dem Kamin lag, statt durch die Gegend zu laufen.

Der Hund steuerte auf einen Haufen Gestrüpp zu, der sich gestern noch nicht hier befunden hatte.

Frings ging ihm nach, überholte ihn und umrundete dann das Ensemble von Treibgut, alten Ästen, an denen sich einige verdorrte Blätter zeigten, schmutzigen Kleidern und zu allem Überfluss einem Autoreifen, der alles zu beschweren schien. Sein betagter Hund, ein inzwischen grau gewordener Golden Retriever, schlich ihm nach. Grey Retriever entsprach mehr der Wirklichkeit, klang allerdings nicht so gut. Gestern war der kleine Sandstrand noch leer gewesen. Jetzt lag plötzlich dieser längliche, kleine Hügel da.

Der Retriever starrte ebenfalls auf das Durcheinander.

Irgendwie sah das zu gut aus, um auf natürliche Weise hier angeschwemmt worden zu sein. Frings betrachtete zweifelnd die Entfernung bis zum Wasser – gute acht Meter. Wahrscheinlich wäre die erste Hochwassermarke längst überspült, bis diese Installation mit dem Rheinwasser in Berührung kommen konnte.

Unter den Kleidern lugte ein länglicher Gegenstand hervor.

Frings trat näher. Dann konnte er einen Schreckenslaut doch nicht unterdrücken. In einem Ärmel mit Manschettenknopf steckte, halb im Sand verborgen, eine menschliche Hand.

Der Hund knurrte wieder; anscheinend hatte er die Reaktion seines Herrn bemerkt.

Dass das Tier keine größere Regung zeigte, wunderte Frings nicht; der Hund war einfach zu alt, um etwas anderes als sein Fressen aufregend zu finden. Der Mann versuchte, unter den Ästen den Umriss eines menschlichen Körpers auszumachen, aber es gelang ihm nicht. Schließlich ging er erneut auf die andere Seite. Tatsächlich. Unter dem Schwemmholz waren zwei braune Stiefel zu sehen. Fehlte noch der Rest. Und der Kopf. Aber den sollten lieber andere finden. Er war mit zu vielen Toten in Berührung gekommen.

»Komm, wir gehen!«, sagte er energisch zu dem Hund. Der jedoch ignorierte ihn und setzte sich auf die Hinterpfoten.

Wie um die Szenerie noch unheimlicher erscheinen zu lassen, hatte sich der Himmel inzwischen verdüstert. Wind war aufgekommen, und große schwarze Wolken jagten einander. Dann folgte ein Donnerschlag, der Frings und das Tier zusammenzucken ließ.

Ein zweiter, lauterer Donnerschlag übertönte alle anderen Geräusche. Für einen Moment war das Tuckern zweier Rheinschiffe nicht mehr zu hören, ebenso wenig die Sirene des Rettungswagens mit Blaulicht auf der Zoobrücke, und auch die Dezibelzahl des hochgezüchteten Motors eines Mofas, auf dem zwei Jugendliche saßen, war ins Hintertreffen geraten.

Als der Donner abgeklungen war, setzte der Regen ein.

Rään – et jitt Rään. En Sintflut jitt et, unfaßbar vill Rään. Der Refrain von Niedeckens eingekölschter Version von Dylans A hard rain’s a gonna fall kam Frings in den Sinn. Er blickte nach oben und zog den Reißverschluss seiner abgewetzten braunen Lederjacke bis unters Kinn zu.

Die Elemente tobten, als habe Zeus, der Göttervater, sie einzeln angewiesen, ihr gesamtes Können unter Beweis zu stellen. Der Sturm peitschte über das Wasser des Rheins; Wellen mit gelblichweißen Schaumkronen schlugen gegen ein Polizeischiff, das sich mit hoher Geschwindigkeit flussabwärts entfernte. Regelmäßig zuckte ein Blitz durch die fast pechschwarzen Wolken; die Luft war elektrisch aufgeladen und roch nach dem defekten Modelleisenbahntrafo aus Frings’ Kindheit.

Schon merkwürdig, dachte er, ein Geruch, und schon taucht eine komplette Erinnerung dazu im Kopf auf.

Die Zeitabstände zwischen Blitz und Donner verkürzten sich, und irgendwann war nicht mehr zu unterscheiden, ob es noch der Donner des vorherigen Blitzes oder schon der des nächsten war. Ein echtes Sommergewitter.

Unschlüssig betrachtete der Mann das Gestrüpp mit der Leiche – falls es sich nicht um Einzelteile verschiedener Personen handelte – und seinen abgebrühten Hund, der regungslos dem Unwetter trotzte. Vielleicht war der Retriever inzwischen aber auch nur völlig ertaubt. Und Nässe hatte ihm bei seinem dicken Fell noch nie etwas ausgemacht.

Schließlich hatte Frings von allem genug, von seinem schwerfälligen Hund, vom Wetter und vom möglichen Leichenfund. Er holte sein Handy aus der Lederjacke hervor und wählte mit nassen Fingern 110.

Um neun Uhr hatte sich der Strandabschnitt beim Leichenfundort am Rheinufer merklich gefüllt, und das trotz des schlechten Wetters. Die heftigen Niederschläge waren in einen gleichmäßigen Landregen übergangen, der dafür sorgte, dass auch die letzte trockene Stelle am Boden durchnässt wurde. Die beiden Mofafahrer waren zurückgekommen und betrachteten das Geschehen aus sicherer Entfernung. Auf dem Rhein verharrte ein neues Polizeiboot; ein Uniformierter mit Fernglas stand an Deck und referierte einem seiner Kollegen die Ereignisse an Land. Zwei Polizisten hatten den Gestrüpphaufen mit einem offiziellen Plastikband weiträumig abgesperrt; sie hatten allerdings länger suchen müssen, wo sie das Band befestigen konnten, bis sie schließlich mittels dreier, aus einer Seitenstraße herbeigeschaffter Mülltonnen eine Art gleichschenkeliges Dreieck umspannt hatten. Ein beleibter Polizist hielt eine Gruppe älterer Frauen davon ab, den Tatort zu betreten. »Bitte weitergehen; hier gibt es nichts zu sehen«, sagte er etwas tonlos ein ums andere Mal.

Frings vertrat sich die Beine und verfolgte die Ankunft der Spurensicherung, die von den herbeigerufenen Streifenpolizisten alarmiert worden war. Endlich gab es mal etwas Abwechslung während eines seiner Morgenspaziergänge. Sein Hund stand neben ihm und betrachtete sehnsuchtsvoll den Platz, den er hatte verlassen müssen.

Zwei Kriminaltechniker in weißen Overalls entluden den ebenfalls weißen Mercedes-Transporter, dessen Längsseiten mit den Folienbuchstaben Polizei und Kriminaltechnik beklebt waren. Rasch hatten sie ein großes Zelt über dem Gestrüpp errichtet, so dass sich das weitere Geschehen allen Blicken entzog.

Die älteren Frauen verabschiedeten sich daraufhin von dem dikken Polizisten und setzten ihren Weg in Richtung des Wellnesstempels Claudius-Therme fort. Mit ihren neonbunten Anoraks wirkten sie wie eine Horde Skifahrer auf dem falschen Terrain.

Die beiden Mofafahrer sahen zum letzten Mal auf die Szenerie, stiegen dann – trotz Anwesenheit von ausreichend Polizei, die sie daran hätte hindern können – wieder zu zweit auf ihr Gefährt und fuhren mit überhöhter Geschwindigkeit davon.

»Kein Problem«, sagte der eine der beiden Streifenpolizisten zum anderen, »ich habe das Kennzeichen.«

»Und was machst du damit?«

»Na ja, sie anzeigen natürlich.«

»Die sind zu zweit; du bist allein. Ich habe nichts gesehen. Wenn du nämlich etwas gesehen hättest, müsste ich wieder einen Bericht verfassen, und dabei habe ich meine drei Ordnungswidrigkeiten aus der letzten Woche noch nicht zu Papier gebracht.«

Sein Kollege, jünger und entschieden agiler, warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. »Dann eben nicht.«

Frings grinste.

Mit Schwung fuhr ein älterer roter Ford Fiesta den schmalen asphaltierten Weg zwischen Beach Club und Rheinterrassen entlang und parkte neben dem Wagen der Spurensicherung. Der Motor verstummte. Langsam öffnete sich die Fahrertür.

Frings sah zuerst die langen Beine. Sie steckten in schwarzen Strumpfhosen ohne Muster und gleichfarbenen Stiefeletten. Ihre Besitzerin stieg so aus, wie Damen in früheren Zeiten auszusteigen pflegten: indem sie sich nämlich um neunzig Grad nach links drehte und beide Füße, parallel zueinander, gleichzeitig auf den Boden setzte.

Es hatte aufgehört zu regnen, als ob der Wettergott der Vertreterin des schöneren Geschlechts für ihren Auftritt Platz machen wollte.

Der Blick des Mannes wanderte einen dunkelroten Rock hoch, der kurz über den Knien begann, strich über eine anthrazitfarbene Lederjacke, deren Reißverschluss geschlossen war, weiter nach oben und blieb schließlich an schwarzen, fast schulterlangen Locken hängen, die teilweise von einem um den Hals geschlungenen bordeauxroten Schal verdeckt wurden. Was für ein Weib!, dachte er.

»Danke«, sagte die Frau und kam auf ihn zu.

Frings wurde rot.

»Kriminalhauptkommissarin Britta Mangold«, sagte sie. »Guten Tag.«

»Äh, ja«, stotterte der Mann. »Stimmt. Ihnen auch.« Er hustete. »Guten Tag, meine ich.«

Selbst der Hund sah die Kommissarin nervös an.

»Sie sind Herr Frings, nicht wahr?«, fragte sie.

Wie immer bei großen Frauen fühlte Frings sich unsicher. Dabei war Mangold nicht besonders groß, vielleicht eins siebzig, eins fünfundsiebzig. Aber er war klein, was ihn seit seiner Jugend maßlos ärgerte, weil ihn die Natur hier sehr vernachlässigt hatte, wie er fand. Eins dreiundsechzigeinhalb war dem starken Geschlecht gegenüber einfach unfair.

»War ja nicht schwer zu erkennen«, sagte Mangold. »Das Tier und so.«

Der Hund legte den Kopf schief und sah sie aufmerksam an.

Anscheinend war der Retriever doch nicht so taub, wie Frings immer dachte. Oder er hörte nur auf Frauen, wie viele Männer auch.

»Hier aus der Gegend und auch hier geboren?«

Frings war stolz auf seinen kölschen Akzent, den er auf der Straße gelernt hatte und dem man immer anhören würde, dass er aus dem Umfeld der einfachen Leute stammte. Er sprach nicht das Kölsch der Banker und Politiker, das fast nur noch aus einem sch anstelle des korrekten ch bestand – wie ihm mal eine Freundin aus Flensburg erklärt hatte. Und aus dem rheinischen Singsang natürlich. Wenigstens wusste man dabei immer sofort, wie die Leute drauf waren. Beim monotonen Norddeutsch war er sich nie sicher, was sein Gegenüber außerhalb des Gesagten gerade meinte.

»Ehrenfeld«, sagte er.

Mangold nickte befriedigt. »Sie haben also die Leiche entdeckt?«

Frings nickte ebenfalls. »Das heißt, wir beide. Also ich und Herr Schmitt.« Er deutete auf seinen Hund.

Mangold unterdrückte ein Grinsen. Auf welche Ideen die Leute immer kamen.

»Es ist also eine Leiche?«

»Warum?«, fragte die Kommissarin.

»Na ja«, druckste Frings herum. »Es hätten doch auch Leichenteile sein können. Wenn ich die Entfernung zwischen der Hand auf der einen und den Füßen auf der anderen Seite des Haufens betrachte …«

»Der statistische Durchschnitt bei männlichen Körpergrößen liegt bei etwas über eins achtzig«, sagte Mangold von oben herab.

Jedenfalls kam es Frings so vor, und er fühlte sich noch ein bisschen kleiner.

»Ich kann Sie beruhigen. Die Kollegen sagten vorhin, als sie mich verständigten, es handele sich um eine vollständige Leiche. Kannten Sie sie?«

»Wen jetzt? Die Kollegen oder die Leiche?«

Jetzt wurde Mangold ein wenig rot. »Zu Lebzeiten, meine ich.«

»Da ich das Gesicht noch nicht gesehen habe …« Frings hatte wieder Oberwasser. Die Kommissarin fragte aber auch zu ungenau.

Mangold ignorierte die Bemerkung. »Können Sie mir erzählen, wie Sie sie gefunden haben?«

Gehorsam berichtete Frings und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass sich das Arrangement mit der Leiche gestern Morgen hier noch nicht befunden hatte. Schließlich schwieg er und betrachtete die Kommissarin genauer. Wie alt sie wohl sein mochte? Achtunddreißig? Siebenundvierzig? Irgendwo dazwischen wahrscheinlich. Ihr Hals wies noch keine Falten auf, jedenfalls keine, die sie älter machen würden, und ihre Hände waren bemerkenswert glatt, wie er feststellte, als sie sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht strich und hinter das Ohr schob.

»Fünfundvierzig«, sagte Mangold, die seinem Blick gefolgt war.

Furchtbar, dachte Frings. Gedankenlesen kann sie auch noch. Was kam als nächstes?

»War nicht schwer«, sagte sie. »Blicke auf Hals und Hände – das Dekolleté ist ja heute verschlossen –, und schon ist klar, was Sie denken beziehungsweise gedacht haben.«

Frings errötete erneut.

»Nicht nötig. Das Rotwerden, meine ich. Schmeichelt zwar meiner Beobachtungsgabe, muss aber nicht sein. Sie sind doch ein erwachsener Mann. So um die fünfundsechzig, nicht verheiratet, keine Kinder. Habe ich recht?«

Frings war verblüfft. »Stimmt. Siebenundsechzig. Vielen Dank. Aber woher wissen Sie das?«

»Das Übliche. Kein Ring an Ihrer rechten Hand, auch nicht zwei links, Ihrer und der Ehering der verstorbenen Frau nämlich. Kleidung, die ein wenig aus der Mode gekommen ist. Eine Tochter hätte Sie möglicherweise mal neu eingekleidet. Sie sind allein und haben einen Hund, den Sie auf Augenhöhe sehen und siezen.« Sie lächelte. Dann wurde sie wieder ernst. »Der Leichenfund scheint Sie ja nicht sonderlich zu erschüttern, oder?«

Frings sah betreten zu Boden. »Sieht man das so deutlich?«, fragte er und hob seinen Kopf wieder.

»Sie sind in meiner Zeit als aktive Kommissarin der bislang ruhigste Zeuge.« Mangold fixierte den kleineren Mann. »Oder Täter.«

»Na, hören Sie mal. Das ist eine Unverschämtheit.«

Aha, dachte Mangold, der Mann konnte also auch laut werden.

»Ich habe vor Jahrzehnten den Kriegsdienst verweigert und lange Jahre beim Roten Kreuz gearbeitet. Irgendwann hat man dann alles gesehen. Ich und jemanden umbringen? Nie im Leben!«

Mangold blieb ruhig. »Bleiben Sie immer so ruhig? In Gefahrsituationen?«

»Immer. Erst zu Hause bekomme ich weiche Knie und muss dann zu einem kleinen Weinbrand greifen.«

Er sagte tatsächlich Weinbrand, ein Wort aus dem letzten Jahrhundert, das Mangold schon lange nicht mehr gehört hatte. »Dann ist ja alles gut. Entschuldigen Sie die kleine Frage, aber wir Kripoleute leben von Reaktionen, den erwarteten und den überraschenden. Oft ist ein Fall dann schon gelöst.« Sie warf Frings einen undefinierbaren Blick zu.

Er nickte. »Schon klar. Wie geht es jetzt weiter?«

»Sie können erst einmal nach Hause gehen, kommen aber bitte heute Nachmittag ins Präsidium und geben Ihre Aussage zu Protokoll. Bis dahin wissen wir vielleicht schon, um wen es sich bei dem Toten handelt.«

Britta schlug die heruntergelassene Tür, mehr eine Art Vorhang, zur Seite. Das weiße Zelt von sechs mal sechs Metern roch neu, wobei das PVC für sie immer einen künstlichen Geruch verströmte. Drinnen erhellten Lampen den Tatort, so dass die Teile des Gestrüpps viel besser voneinander zu unterscheiden waren, als es unter freiem Himmel bei strömendem Regen möglich gewesen wäre.

»Habt ihr schon Fotos gemacht?«, fragte sie.

Einer der im Zelt tätigen drei Leute nickte. »Ihnen auch einen guten Tag, Frau Mangold. Haben wir. Aber wenn Sie auch noch wollen …« Er trat zur Seite.

Britta holte ihr Mobiltelefon heraus, ein älteres Samsung Galaxy S 4, und schoss einige Bilder. »Ihr könnt jetzt die Äste entfernen.«

»Müssen wir die einzeln messen, wiegen und katalogisieren?« Techniker Nummer zwei sah sie zweifelnd an.

»Nee, müsst ihr nicht. Aber ihr könntet sie nebeneinander legen, nach Größe sortieren und dann fotografieren.«

Der Techniker versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu verstehen. Da sie aber keine Miene verzog, nahm er an, dass die Antwort ernst gemeint war. Er nickte und begann mit dem Wegräumen der Äste.

Sein Kollege ergriff den Autoreifen, untersuchte ihn kurz und vermerkte etwas auf einem Protokollblatt, das auf einem Klemmbrett festgehalten wurde. »Voll abgefahren, die Reifen«, sagte er. Dann rollte er das Rad zur Seite. Er war ganz bei der Sache, so dass er Brittas Grinsen ob seiner Formulierung nicht mitbekam. Oder hatte die sich auf das exorbitante Muster der Felgen bezogen, die aus irgendeinem Grund nicht abmontiert worden waren?

Als nächstes waren die alten Kleider an der Reihe. Auf den ersten Blick stammten sie aus einem Sammelcontainer der AWO oder einer ähnlichen Organisation – ausrangierte Nachthemden, gemusterte Schlafanzüge, vergilbte Blusen und ein paar zerrissene Jeans.

Die Kommissarin bemitleidete die Kollegen, die versuchen mussten, die genaue Herkunft des Containerinhalts zu ermitteln, falls der oder die Tote eines unnatürlichen Todes gestorben war. Aber danach sah es eigentlich schon aus, denn wie sollte die Leiche sonst hierhin gelangt sein? Angeschwemmt worden war sie jedenfalls nicht; dafür wirkte das Ganze zu gewollt zufällig.

Schließlich war die Leiche freigeräumt. Britta betrachtete sie interessiert. Der Tote lag auf dem Bauch, auf dem rechten Arm, was erklärte, warum Frings nur eine Hand gesehen hatte. Er hatte ein weißes Hemd mit brauner Weste an und trug eine dazu passende Tuchhose. Der Manschettenknopf zeigte das Kölner Stadtwappen; die brauen Stiefel machten trotz Nässe und Dreck einen gepflegten Eindruck. Ein gestutzter, braun melierter Bart zierte Kinn und Wangen, soweit sie das in dieser Position erkennen konnte; das Haar war voll, wies aber zahlreiche graue Einsprengsel auf. Es glänzte, als ob es mit Pomade versehen worden war. Mittendrin war eine stumpfe Verletzung zu erkennen, bei der die Kommissarin nicht ausmachen konnte, ob sie vor oder nach dem Tod entstanden war. Der Rechtsmediziner würde es wissen.

Wie hieß der Film noch mal, in dem George Clooney solchen Wert auf Pomade gelegt hatte? Genau. O brother where art thou. Allerdings war Clooney da Sträfling, und dieser Mann hier sah aus, als ob er Mitglied der besseren Kölner Gesellschaft war. Er war wahrscheinlich ziemlich eitel gewesen. Wenn er jetzt auch noch Hosenträger anhatte … Mitte fünfzig, schätzte Britta. Von hinten.

»Ihr könnt ihn jetzt umdrehen«, sagte sie.

Behutsam bewegten zwei Kollegen den Leichnam und legten ihn auf den Rücken, so dass das Gesicht zu sehen war. Es war kaum aufgedunsen, wie das sonst bei Wasserleichen der Fall war. Eine etwa sechs Zentimeter lange Narbe verlief vom linken Ohr bis fast zum Mundwinkel. Der oberste Kragenknopf des weißen Hemdes war geschlossen; eine dezente grüne Krawatte wiederholte das Muster der Manschettenknöpfe.

Britta wurde blass. Mitte fünfzig stimmte. Sie kannte den Toten.

August 1975 – Köln-Zentrum, Polizeipräsidium

Die Parkplätze bei ihrer Arbeitsstelle waren an schon länger diensttuende Kollegen vergeben, so dass Johanna Neumann ihren R 4 wie immer in der Georgstraße parkte und die wenigen Schritte zum Polizeipräsidium am Waidmarkt hinüberging. Sie liebte den blassblauen Renault, den sie sich vor einem Jahr von ihrem ersten Gehalt gebraucht gekauft hatte. Vor allem die innovative Knüppelschaltung in der Mitte des Armaturenbretts hatte es ihr angetan: Bei ihrem Fahrzeug funktionierte sie so gut, dass es nur eines kleinen Schubses bedurfte, damit der Hebel vom zweiten Gang – herausgezogen – in den dritten, nunmehr hineingeschoben, rutschte. Der eigene R 4 war eine deutliche Verbesserung gegenüber dem alten Benz ihres Vaters, den sie leihweise ab und zu bekam.

Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn und versuchte, sie hinter dem linken Ohr zu verankern, was aber nur wenige Meter hielt. Die blonden Haare hatte sie wie üblich zu einem Pferdeschwanz gebunden. Jahrelang hatte sie mit der dichten, aber eben glatten Haarpracht gehadert und, seit sie fünfzehn war und sich im Spiegel durchaus als hübsch wahrzunehmen begonnen hatte, alles Mögliche ausprobiert: Kurzhaarfrisuren, Dauerwellen, halblang mit Pony, aber nichts hatte sie zufriedengestellt. Schließlich hatte sie aufgegeben und sich wichtigeren Dingen zugewandt, der Mode zum Beispiel. Sie war immer modisch gekleidet, wenn das auch in ihrem Beruf zusehends zugunsten von Jeans, Bluse und Lederjacke ins Hintertreffen geraten war.

Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick die dreizehn Stockwerke umfassende Fassade – wenn man das hohe Erdgeschoss nicht mitzählte – ihres Arbeitsplatzes hochwandern. Hübsch sah das Gebäude nicht aus, aber von welchem Hochhaus konnte man das schon behaupten? Wie wohl der Waidmarkt vor dem Krieg gewesen war, unzerstört, mit einheitlicher Bebauung? Wahrscheinlich postkartenidyllisch. Bestimmt war irgendein Kuppelbau dabei gewesen, der die anderen Häuser überragte. Heute war das Polizeipräsidium höher als die kleine Kirche von St. Georg gegenüber. Johanna mochte alte Stadtansichten, auf denen der Kirchturm das höchste Bauwerk darstellte; sie fand, dass damit eine gewisse Geborgenheit für die Bewohner rund um die Kirche verbunden war.

Immerhin lag das Gebäude zentrumsnah, und auch im Umland war man schnell – mit Martinshorn und Blaulicht sowieso. Es gab zwar immer mal Bestrebungen, das Gebäude zu vergrößern oder gar ein neues zu errichten, womöglich sogar auf der rechten Rheinseite, aber ein anständiger Kölner Polizist funktionierte am Besten links des Flusses.

Wer wohl im obersten Stockwerk saß?

Bis heute hatte das keiner ihrer über dreihundert Kollegen sagen können. Jürgen Hosse, ihrer aller Chef, war sicher zu beschäftigt, die Vorgänge um den Tod von Polizei-Hauptwachtmeister Walter Pauli aufzuklären, als dass er nur aus luftiger Höhe die Ermittlungen verfolgen wollte. Bestimmt saß er zum zigsten Mal beim Regierungspräsidenten und wiederholte seine Klagen über zu wenig Personal.

»Morgen«, sagte der am Eingang diensttuende Kollege und wandte sich wieder dem Kurier zu. Hastig blätterte er die Seite 1 mit dem Foto eines ziemlich unbekleideten Mädchens um.

Johanna grinste. Männer waren immer leicht zu durchschauen. Sie ging zum Fahrstuhl, überlegte es sich dann aber doch anders und nahm die Treppe in den siebten Stock. Ihre Schritte hallten auf dem langen Linoleumflur, an dem ihr Büro lag. Ganz zu Anfang hatte sie den Fehler gemacht, mit Pumps zum Dienst zu erscheinen, was einige Kollegen zu hämischen Bemerkungen veranlasst hatte. Inzwischen trug sie meist bequeme Laufschuhe, die keine Geräusche verursachten. Anpassung an die Wirklichkeit, hatte sie damals gedacht.

»Always on time!« Wordsworths sonore Stimme reichte mühelos bis ans Ende des Gangs.

Unwillkürlich warf Johanna einen Blick auf ihre Armbanduhr. Drei Minuten vor acht. Wie immer. Sie steckte den Kopf kurz ins Büro ihres Vorgesetzten. »Guten Morgen.«

Als sie weitergehen wollte, sagte Wordsworth nur kurz: »Einen Augenblick, bitte.« Sein amerikanischer Akzent klang fast noch genauso wie der von Mal Sondock im WDR. Der Texaner dort hatte es auch in dreißig Jahren in Deutschland nicht geschafft, während seiner Radiosendung mit aktueller Musik aus der Hitparade Hochdeutsch ohne Einfärbung zu sprechen.

Johanna trat zwar ganz ins Zimmer, blieb aber abwartend an der Tür stehen.

»Anything interesting?«

Anscheinend hatte Wordsworth beschlossen, seine Kollegin zweisprachig zu unterhalten.

»Nur der Fall des ermordeten Pfandleihers«, sagte Johanna. »Um es präzise zu formulieren: Wir tappen nach wie vor im Dunkeln.«

Ihr Chef grinste. Dann wurde er wieder ernst. »Setz dich.« Sinn und Zweck des deutschen Siezens und Duzens hatte er nie ganz nachvollziehen können. Also verwendete er beides nach Lust und Laune.

Johanna ließ sich zögernd auf einem der Besucherstühle dem Schreibtisch gegenüber nieder. Das Metallgestänge knarrte leise. Immer, wenn sie hatte Platz nehmen müssen, gab es hinterher einen Haufen Arbeit mehr.

Wie üblich war der Resopaltisch fast leer. Neben dem schwarzen Bakelit-Telefon harrte ein Stapel Akten in grünen Mappen der Durchsicht. Auf der ebenfalls grünen Schreibtischunterlage waren ein kleiner Stoß Schreibmaschinenpapier und mehrere Stifte parallel zu einander ausgerichtet. Eine rote Kugelkopf-Schreibmaschine von IBM machte das Sekretariatsambiente perfekt. Rechts standen eine Flasche Wasser und zwei Gläser. Aber Wordsworth bot ihr nichts an.

Er schob der jungen Kripobeamtin eine Akte hinüber. »Bitte durchlesen. Anschließend fahren Sie an den Tatort und versuchen, Licht ins dortige Dunkel zu bringen.«

Etwas ratlos studierte Johanna den handschriftlichen Vermerk auf der Aktenhülle. Konrad Kleinknecht †, darunter, etwas kleiner, Bad Rothenfelde.

»Was hat das mit Köln zu tun? Ein neuer Fall?«

»Nicht ganz. Kleinknecht ist im dortigen Kinderheim zu Tode gekommen. Der Rechtsmediziner wollte sich nicht festlegen, ob es ein natürlicher oder ein unnatürlicher Tod war.«

»Und was haben wir damit zu tun?«

»Das halbe Kinderheim war mit einer Kölner Schülergruppe gefüllt. Jetzt müssen wir den Eltern erklären, warum ein Schüler im Sarg zurückkommt.«

»Und das soll ich machen?«, fragte Johanna, die Besuche bei Angehörigen hasste. Noch tagelang gingen ihr die Gesichter derjenigen nach, die sie mit dem plötzlichen Tod eines geliebten Menschen hatte konfrontieren müssen.

»Nein, du versuchst herauszufinden, wie – und möglicherweise auch warum – der Junge umgekommen ist.«

»In Bad Rothenfelde?«, vergewisserte sich die junge Frau.

»Yep. Zweieinhalb Stunden mit deinem Renault, wenn du vorschriftsmäßig fährst. Was französischen Autos ja nicht unbedingt nachgesagt wird. Den Fahrern auch nicht.«

Renno klang fast wie das Fabrikat einer amerikanischen Limousine.

Johanna lächelte. »Gibt es auch ein Übernachtungsbudget?«

»Zwei Nächte. Du hast achtundvierzig Stunden, dann möchte ich ein Ergebnis haben.« Wordsworth strich sich mit der Hand durch sein militärisch kurzes Haar. Den GI-Schnitt hatte er seit 1945 beibehalten.

Ein gutaussehender Mann, dachte Johanna. Wenn ich etwas älter und er etwas jünger wäre … Ein Meter neunzig groß, breitschultrig, kerzengrade – jeder Zoll ein Soldat. Dass er schwarz war, hatte sie nur bei der allerersten Begegnung erschreckt.

Juli 2019 – Köln-Neustadt-Süd, Staatsanwaltschaft

Obwohl sie schon seit über zehn Jahren regelmäßig im Gebäude der Kölner Staatsanwaltschaft in der Nähe des Volksgartens zu tun hatte, bekam Britta jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn sie dorthin fuhr. Die Staatsanwaltschaft sorgte für die Aufrechterhaltung und das Funktionieren des Rechtsstaats; sie machte keinen Unterschied zwischen Rang, Alter oder Geschlecht derjenigen, die sie im Visier hatte, auch keinen zwischen möglichen Tätern und eventuellen Opfern; sie war de iure verpflichtet, Belastendes und Entlastendes in gleicher Weise zu sammeln. Manchmal hatte Britta jedoch den Eindruck, dass die Staatsanwälte jeden als schuldig betrachteten – gleichgültig, auf welcher Seite des Gesetzes sie standen.

Das Furchtbare war, dass das stimmte. Bei Brittas Aufnahme in den Polizeidienst war noch alles in Ordnung gewesen, aber vor einigen Jahren hatte sich etwas ereignet, wodurch sie sich veranlasst sah, das Gesetz großzügig auszulegen, sehr großzügig sogar. Aber jetzt wollte sie nicht weiter darüber nachdenken.

Sie holte tief Luft und stieg aus ihrem Auto, das sie auf dem Parkplatz der Justizbediensteten an der Rudolf-Amelunxen-Straße geparkt hatte.

Inzwischen kannte sie den Weg zum Büro des diensthabenden Staatsanwalts. Der Gebäudekomplex an der Straße Am Justizzentrum – von einigen seiner Bewohner boshaft als Am Justizirrtum betitelt – östlich der breiten Luxemburger Straße gehörte zu den Neubauten der Kölner Gerichtsbarkeit auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs Sülz und entsprach eher Brittas Vorstellungen von einem Finanzamt. Aus Sicht der siebziger Jahre und ohnehin der des Architekten war die Gesamtanlage bestimmt gelungen – unterschiedlich hohe Bürotürme wechselten sich mit flacheren Gebäuden ab, alle in rötlich-grauen Stein gekleidet, längst von hohen Bäumen umstanden. Aber Britta hatte keine Lust, jeden Morgen einer von über eintausendsiebenhundert Angestellten zu sein und ihr Leben immer am selben Ort zu verbringen. Na ja, ganz stimmte das ja nicht – Staatsanwälte waren durchaus in der Welt unterwegs, um sich die Schauplätze der von ihnen zu verfolgenden Taten anzusehen. Ins Gericht gelangten sie allerdings auf kurzem Wege: Amts- und Landgericht waren auf der gegenüberliegenden Seite des Justizzentrums untergebracht; Angeklagte wie Anwälte und Richter konnten mit der Straßenbahn vorfahren und am Eifelwall aussteigen.

Britta hob ein umgekipptes Fahrrad auf, das jemand links neben die Eingangstür gelehnt hatte, statt einen der Fahrradständer zu benutzen. Sie passierte die Eingangskontrolle und nickte dem diensthabenden Angestellten zu, der auf die Ausweiskontrolle bei ihr verzichtete, da sie sich seit Jahren kannten. Wie üblich schlug der in einem gelben Gehäuse untergebrachte Metalldetektor bei ihr an, und wie üblich winkte der Mann sie durch. Er kannte längst Teile der Geschichte, die zu einem Metallstück in Brittas linkem Bein geführt hatte. Ihr dadurch bedingtes Hinken war mit den Jahren fast verschwunden. Nur wenn sie sehr müde war, machte es sich stärker bemerkbar.

Sie benutzte den Fahrstuhl und ging dann bis zu einer Zimmertür, die mit Konstantin Gruber, Staatsanwalt beschriftet war.

Gruber ließ die Zeitung sinken. Er hatte keine Lust, sich mit einem der Fälle zu befassen, die, zwischen beigen Aktendeckeln untergebracht, links von der Tastatur seines Computers in unterschiedlich hohen Haufen lagerten und der Bearbeitung harrten. Morgen war auch noch ein Tag. Viel lieber beschäftigte er sich mit einem seiner beiden Hobbys. Entweder las er alle erreichbaren Buchkritiken – auf Papier in der Süddeutschen und in der Neuen Zürcher Zeitung – oder verfolgte die Berichterstattung über Ausstellungen der großen Galerien und Museen im In- und Ausland. Das Musée d’Orsay in Paris kündigte für den Spätherbst eine Ausstellung über »Renoir. Vater und Sohn« an, Pierre-Auguste Renoir, den großen Maler also, und seinen Sohn, Jean Renoir, den großen Filmregisseur. Paris im Herbst! An der Seine entlangwandern, ein Orgelkonzert in Notre-Dame hören, bei den Bouquinisten stöbern und in den Cafés sitzen, Kaffee schlürfen oder Rotwein trinken … Der Staatsanwalt verlor sich in Tagträumereien.

Es klopfte.

Abrupt wurde Gruber aus der kleinen Weltflucht gerissen. »Herein!« rief er.

Eine Frau steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Britta Mangold, Kriminalhauptkommissarin. Haben Sie einen Moment Zeit?« Sie trat in den Raum.

Gruber hörte nicht zu, weil er damit beschäftigt war, das Aussehen der Frau aufzunehmen. Eine tolle Frau!, dachte er. Zwei Farbtöne: rot und schwarz. Zwei geometrische Formen: Linien – die langen Beine, die Arme; Kurven – Locken, Busen, Po. Perfekte Formen für ein perfektes Bild. Sofort fiel ihm Helmut Newtons Schwarzweiß-Porträtfoto der Alien-Schauspielerin Sigourney Weaver von 1983 ein. Die Locken sahen zumindest gleich aus. Der Rest war auf dem Foto nicht zu sehen.

»Wenn Sie fertig sind«, sagte die Frau, »kann ich meine beiden Sätze gerne wiederholen.«

Der Staatsanwalt nahm seine Füße vom Schreibtisch, rückte die Krawatte über der grauen Anzugweste gerade und stand auf. Sein Sakko hing ordentlich auf einem Bügel an einem Wandhaken aus Messing hinter ihm. »Entschuldigen Sie, ich bin gerade mit einer höchst komplizierten Frage beschäftigt, die mich ganz fordert.« Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Sie meinen, welcher berühmte Maler eine Frau mit ähnlichem Aussehen wie dem meinen gemalt hat?«

Gruber zuckte zusammen. War das so offensichtlich gewesen? Eigentlich sagte man ihm eine so verschlossene Miene nach, dass die gegnerischen Anwälte bei Gericht nie wussten, worauf er in seinem jeweiligen Plädoyer gerade abzielte.

»Das war nicht schwer«, sagte die Frau. »Sie haben mich gemustert und dann, ohne dass Sie es wahrscheinlich bewusst getan haben, zum Ölgemälde an der Wand gesehen.« Sie deutete auf eine Reproduktion von Jean-Léon Gérômes »Phryne vor dem Areopag«, dessen ursprüngliche Farbkraft erstaunlich gut wiedergegeben war, wie der Staatsanwalt seinen Kollegen gegenüber zu betonen nicht müde wurde. Die Kopie im Maßstab 1:1 war allerdings auch nicht ganz preiswert gewesen.

»Noch einmal zum Mitschreiben«, sagte die Frau. »Britta Mangold, Kriminalhauptkommissarin.«

»Nehmen Sie doch Platz, bitte.« Gruber deutete auf die Sitzecke unter dem Gemälde.

Britta ging hinüber, setzte sich und ließ ihren Blick durch das ungewöhnliche Arbeitszimmer des Staatsanwalts streifen.

Natürlich war sie zuerst über die Gerichtsszene des Ölgemäldes aus der Zeit des Historismus gestolpert, die Darstellung einer nackten jungen Frau vor in blutrote Gewänder gekleideten alten Männern. Warum um alles in der Welt hatte der Staatsanwalt ausgerechnet dieses Werk als Blickfang in sein Dienstzimmer gehängt? Entsprach das seinem Bild von Frauen? Oder wollte er nur auf die Ohnmacht, die Bloßstellung des Angeklagten vor Gericht hinweisen? Vielleicht fand sie irgendwann Grubers Beweggründe heraus.

Im Gegensatz zu den nüchternen Büros anderer Staatsanwälte, mit denen sie bisher zusammengearbeitet hatte, sah dieses hier entschieden mehr wie ein gutbürgerliches Wohnzimmer aus. Es gab einen großen Orientteppich, der fast den gesamten Boden vor dem Schreibtisch bedeckte, und eine Sitzgruppe mit zwei Sesseln, einem Biedermeier-Sofa und einem kleinen Tisch, auf dem zwei Gläser und eine Karaffe standen. Letztere war mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt, deren Farbe verdächtig der von Whisky ähnelte. Nun, wenn man in den Räumen des Justizzentrums Köln seit über zehn Jahren ein generelles Rauchverbot einhalten musste – die Frage offener Fenster mal außer Acht lassend –, konnte man das zumindest mit dem Genuss hochprozentiger Genussmittel kompensieren, dachte sie.

Nur Gardinen fehlten; statt dessen waren die üblichen Lamellen-Jalousien zu sehen. Vor einer Wand standen Bücherschränke aus mahagonifarbenem Holz mit Glastüren, hinter denen ganze Reihen gebundener juristischer Wochenzeitungen mit goldfarbenem Rückentitel zu sehen waren. Und natürlich eine Lithographie von Honoré Daumier mit einer seiner Karikaturen aus dem Gericht.

»Eine Holzvertäfelung an den Wänden hätte den Eindruck eines Gelehrtenzimmers noch perfektioniert«, sagte sie.

Gruber sah sie erfreut an. »Finden Sie? Das habe ich leider nicht durchsetzen können. Aber wenn ich hier schon die Hälfte meines Lebens verbringen muss – die andere Hälfte verbringt man ja im Bett …«

Er zwinkerte ihr tatsächlich zu.

»… dann will ich mich auch wohlfühlen. Aber Sie sind bestimmt nicht gekommen, um über Arbeitsumgebungen zu sprechen, oder?«

Als Antwort holte Britta aus ihrer Handtasche einen Schreibblock hervor und schlug ein paar Seiten um. »Nein, ich wollte Sie über einen ungeklärten Todesfall informieren. Möglicherweise haben Sie den Toten ja auch gekannt. Klaus Schmitz, neunundfünfzig Jahre alt, Gruppenleiter bei den Kollegen der Polizeitaucher. Ich bin ihm mal bei einem Einsatz begegnet. Ein lebenslustiger Mensch. Freundlich zu jedermann.«

»Ist die Identität offiziell schon bestätigt?«

»Offiziell noch nicht. Aber ich habe ein exzellentes Personengedächtnis. Wen ich einmal gesehen habe, den vergesse ich nie wieder. Auch nicht die Umstände, unter denen ich ihn getroffen habe.«

»Wo denn? Mögen Sie es mir erzählen?«

Diese Vertraulichkeit, obwohl sie sich erst eine Viertelstunde kannten, passte ihr überhaupt nicht. Britta beschloss, die Kollegen nach dem Staatsanwalt zu fragen. »Klar doch«, sagte sie etwas burschikos. »Sommer 2017. Die Verabschiedung von Jürgen Mathies als Polizeipräsident, bevor unser aller momentan amtierender Chef kam. Schmitz und ich haben uns damals angeregt unterhalten.«

»Das Thema?« Staatsanwälte waren neugierig. Von Berufs wegen.

Britta überlegte. Jetzt schnell etwas sagen, wovon Gruber wahrscheinlich keine Ahnung hatte. »Über den Einfluss des Liverpooler Mersey Beats auf die kölschen Karnevalsbands.«

»Aha.«

Richtig geraten. Der Mann hatte nicht folgen können. Ihr zweiter Blick auf das Gemälde an der Wand sah fast absichtslos aus.

»Okay.« Der Staatsanwalt rieb sich die Hände. »Sie kennen ja das Prozedere. Stellen Sie sich Ihre Mordkommission zusammen, und legen Sie mal los. Sie müssen mich nicht über jeden einzelnen Ermittlungsfortschritt informieren und haben freie Hand. Dann habe ich nämlich die meinen für meine Verfahren auch frei.« Er zeigte auf die Stapel auf dem Schreibtisch.

Britta stand auf. »Vielen Dank. Ich halte Sie dann per E-Mail auf dem Laufenden.«

»Gegen einen Besuch von Ihnen ab und zu hätte ich aber auch nichts einzuwenden.«

Wenn er das Gemälde nicht an der Wand hängen und wenn er nicht so chauvinistische Andeutungen gemacht hätte, könnte man sein Lächeln fast als nett bezeichnen, dachte sie. »Wir sehen uns«, sagte sie nur kurz und verließ das Büro des Staatsanwalts.

Gruber sah ihr gedankenverloren nach. Dann wandte er sich wieder der unterbrochenen Zeitungslektüre zu.

Auf dem Gang schüttelte Britta Mangold nur den Kopf. Dass solche Männer immer noch frei herumliefen. Eigentlich, dachte sie, wurde der alte weiße Mann mit seinen Ansichten in der heutigen Zeit doch längst nicht mehr akzeptiert. Aber die Bürokratie begünstigte wohl verkrustete Strukturen. Meine Macht bleibt meine Macht und Ähnliches. Wie anders war damals doch Lars gewesen, dem sie das Metallteil in ihrem Bein zu verdanken hatte.

August 1975 – Köln-Zentrum, Polizeipräsidium

Johanna betrachtete etwas ratlos die schmale Akte, die sie gerade von Wordsworth erhalten hatte. Sie enthielt nur zwei Blätter. Eines führte den Namen des toten Schülers aus dem Kinderheim in Bad Rothenfelde samt Kölner Adresse auf. Auf dem anderen stand der knappe Autopsiebericht des Rechtsmediziners, der als Todesursache Sturz? Stumpfe Gewaltanwendung? vermerkt hatte. Sehr sattelfest schien er seinen Beruf nicht auszuüben. Oder ausüben zu wollen. Außerdem war als Fotokopie eine schmale Meldung aus der Wochenendausgabe der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 2. August beigefügt, die lakonisch die Polizeimeldung des Vortages referierte; sie sprach von einem »ungeklärten Todesfall in einem örtlichen Sommerschullandheim« und roch noch schwach nach Ammoniak. Alles unpräzise und ziemlich unergiebig.

Die junge Kommissarin seufzte und zog ein leeres Blatt Papier heran. Systematisches Vorgehen hatte bisher immer geholfen.

In ihrer präzisen, nach rechts geneigten Handschrift, die normale i-Punkte und nicht die merkwürdigen Kringel einiger ihrer Mitschülerinnen aufwies, schrieb sie rasch die immer gleichen Stichworte auf:

Name

Todeszeitpunkt

Todesart

Ort

Zeugen

Täter

Ermittler

Angehörige

Die vorhandenen Informationen notierte sie dahinter. Aus dem Regal holte sie die drei Jahre alte Reisekarte des ADAC, Deutschland und angrenzende Gebiete, und fuhr mit dem Finger die Strecke Köln—Bad Rothenfelde entlang. Mit zweieinhalb Stunden Fahrtzeit hatte ihr Chef wahrscheinlich recht. Wie das wohl wäre, wenn er mitführe?

Johanna schalt sich eine Närrin, stellte die einzige Pflanze von der Fensterbank zur Seite und öffnete das Bürofenster. Frische Luft vertrieb verbrauchte Gedanken.

Vielleicht sollte sie mit den Ermittlungen bei den Angehörigen des Jungen in Köln beginnen? Andererseits hatte Wordsworth ihr unmissverständlich gesagt, dass er in zwei Tagen Ergebnisse haben wollte. Also blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Fahrt zum Teutoburger Wald anzutreten. Ohne GI.

Der GI betrat unaufgefordert Johannas Büro.

Die Kripobeamtin zuckte zusammen.

»To think of the devil«, sagte er und grinste. »War nicht schwer. Hübsche junge weiße Frau bewundert schon länger alten schwarzen Mann und überlegt, ob sie ihn zu einem Ausflug überreden soll. Würde ich ja gerne machen, aber außer dem kleinen Fall im Kinderheim habe ich hier auch noch ein bisschen zu tun: Budgetstreitereien mit dem Chef, ein neuer Mord in Rodenkirchen, der dortige Pfarrer hat wohl Geld aus dem Klingelbeutel entnommen und damit teure Bücher aus Antiquariaten finanziert—«

»Und wer ist jetzt tot?«, fragte Johanna.

»In der Gemeinde der Finanzminister—«

»Kirchmeister.«

»Whatever.« Wordsworth sah leicht aus dem Konzept gebracht aus.

»Was wollten Sie eigentlich?« Konnten Schwarze auch rot werden? Johanna war sich nicht sicher. Wahrscheinlich nur blau.

»Well, ach so, ja.« Wordsworth angelte einen Zettel aus der Brusttasche. »Die Kollegen aus Bad Rothenfelde haben angerufen. Sie haben den Hausmeister verhaftet.«

Johanna sah auf die Uhr. »Dann mache ich mich mal auf den Weg. Ich rufe Sie von dort an. Und wenn ich wieder zurück bin, müssen Sie mir erzählen, wie aus einem amerikanischen Soldaten ein Kriminalhauptkommissar in Köln geworden ist.«

Wordsworth nickte. »Wird gemacht.«

Salutieren konnte er auch drei Jahrzehnte später immer noch.

Nachdenklich ging Johannas Chef in sein Büro zurück. Da hatte er sich etwas eingebrockt – was erzählte er ihr denn jetzt? Beziehungsweise: Was wollte er ihr erzählen? Die meisten Leichen, mit denen er es in seiner Karriere bei der Kölner Polizei zu tun bekommen hatte, waren, nun, ansehnlich gewesen, nicht zerfetzt, entstellt, unvollständig, wie es die Leichen der Gefallenen im Krieg und an seinem Ende gewesen waren.

William Wordsworth Jr. stammte aus Charlottesville in Virginia, etwa zwei Autostunden von Washington entfernt. Seine Vorfahren waren Sklaven gewesen. Ein Ur-Ur-Ur-Großvater war freigelassen worden und hatte sich, ermutigt von seinem früheren Besitzer, eine umfassende Bildung angeeignet. Sein Herz hatte er an eine bildhübsche Frau aus dem Nachbarort und die Gedichte der englischen Romantiker verloren. Wie von selbst war neben seinen Vornamen William der Nachname Wordsworth getreten und geblieben. Traditionell übernahmen alle erstgeborenen Söhne seiner Familie den kompletten Namen, wobei der jetzige Träger den Überblick verloren hatte, der wievielte Junior er war.

Als Patriot hatte sich Wordsworth zur Armee gemeldet und war nach einem Einsatz im Pazifik im April 1945, gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt, mit der Dritten Division des Siebten Amerikanischen Korps nach Köln gekommen. Bis 1947 sollte er dort bleiben und sich am Wiederaufbau beteiligen. Er freundete sich rasch mit der britischen Militärregierung an, nachdem sie die Amerikaner abgelöst hatte, und half bei der Organisation der westdeutschen Polizei mit, in der er einen kleinen Posten erhielt, den eines Liaison Officer für die Zusammenarbeit zwischen der Besatzungsmacht und den Deutschen. Allmählich rutschte er in den sich konstituierenden deutschen Beamtenapparat hinein und die Karriereleiter bei der Kripo hinauf.

Irgendwann war es für eine Rückkehr nach Amerika zu spät, und er blieb wie viele seiner Altersgenossen in Deutschland. Jetzt, mit Mitte fünfzig, fühlte er sich endlich hier zu Hause; nur selten fehlte ihm die Weite des amerikanischen Landes, aber der Rivanna River in Charlottesville konnte ohnehin nicht mit dem Rhein mithalten.

Wordsworth schüttelte den Kopf. Das alles half nicht weiter. Und es waren zu viele Einzelheiten. Wenn er Johanna Neumann in sein Leben ließ – so, wie sie ihn ansah, war das durchaus möglich –, musste er ihrem offenen Gesicht mit Ehrlichkeit begegnen. Und dazu zählte auch die Geschichte mit dem einen Schuss zuviel.

Juli 2019 – Köln-Kalk, Polizeipräsidium

Mit Schwung marschierte Britta Mangold in ihr Büro im Polizeipräsidium im Kölner Osten, auf der Schääl Sick. »Und du arbeitest wirklich da?«, hatte so mancher Bekannter gefragt, wenn sie von ihrem Beruf und ihrem Arbeitsplatz erzählte. Als ob der Ort überhaupt eine Rolle spielte. Ihr war es völlig egal, wo sie tätig war, solange sie Entscheidungen treffen konnte, ohne dass ihr jemand hineinredete.

Sie schob die Tür mit der linken Hand zu, während sie gleichzeitig mit der rechten den Reißverschluss der Lederjacke öffnete und sie über die Lehne des Drehstuhls vor dem Schreibtisch hängte. Als sie sich gerade setzen wollte, klopfte es. »Herein!«, rief sie und blieb vorsichtshalber stehen.

Die Tür öffnete sich langsam, und ein freundliches Gesicht, umrahmt von strähnigen blonden Haaren, erschien im Türrahmen.

»Ach, Sören, du bist’s«, sagte Britta. »Komm doch ganz ’rein.«

Ihr Mitarbeiter gehorchte und setzte sich. »Hast du jetzt Sören gesagt oder Søren?«, fragte er.

Britta lachte. Der Running Gag war aber auch zu gut, um auf ihn am Morgen zu verzichten. Sören Jacobsen behauptete tatsächlich, dass es einen Unterschied in der Aussprache zwischen beiden Schreibweisen seines Vornamens gab; allerdings könnten den nur die Bewohner von Südwest-Jütland hören, zu denen auch er gehörte – wie seine gesamte Familie schon seit Generationen. Und im übrigen würde sie, Britta Mangold, es nie schaffen, seinen Vornamen korrekt auszusprechen, so oft sie es auch versuchte.

Ihre schlechte Laune verflog immer, wenn sie es mit Sören zu tun hatte. Und das hatte sie erfreulicherweise täglich. Kriminalkommissar Sören Jacobsen war ihr engster Mitarbeiter.

»Hast du jetzt die Wasserleiche?« fragte er.

»Erlegt, auf dem Tisch, unterm Messer?«, fragte sie zurück und legte den Kopf schief. Der Einsatz von Buschtrommeln war nie hoch genug einzuschätzen; in der Regel wusste das Präsidium schon Bescheid, woran sie gerade arbeitete, bevor sie von einem Einsatzort zurückgekommen war.

Jacobsen grinste nur. In der Hand hielt er ein Blatt Papier. »Hier ist schon mal der Lebenslauf.«

Er besaß wahrscheinlich intuitive Fähigkeiten, dachte Britta; stets hatte er die benötigten Informationen zusammen, bevor sie überhaupt Zeit bekam, danach zu fragen.

»Seinen Namen habe ich von einem der Kriminaltechniker, der mit ihm mal zusammengearbeitet hatte«, sagte er zur Erklärung.

»Den hätte ich dir auch sagen können. Falls du gefragt hättest.« Britta überflog das Blatt.

Klaus Schmitz, 59 Jahre alt, Tauchgruppenleiter bei der Kölner Polizei. Geboren in Nippes, aufgewachsen in Ehrenfeld, Abitur in Kreuzberg. Sie stutzte. Das war doch Berlin, oder? Egal. Ausbildung an verschiedenen Stellen in Nordrhein-Westfalen, seit fünfundzwanzig Jahren in Köln tätig. So weit, so normal.

Aber Sörens Text ging weiter.

Mitglied im Karnevalsverein »Kölsche Funke rut-wieß vun 1823 e.V.« Handschriftlich hatte Sören in seiner peniblen Handschrift daneben vermerkt: »Ältestes Traditionscorps im Kölner Karneval.«

Mitglied in der »St. Sebastianus Schützenbruderschaft Köln-Stammheim e.V., gegründet vor 1594«. »Leicht unpräzise« stand in Sörens Schrift daneben.

Nicht verheiratet, keine (bekannten) Kinder.

Britta grinste. Der Kollege war manchmal übergenau. »Okay, ich nehme die Schützen, du den Karnevalsverein.«

Sören sah sie aufmüpfig an. »Wir haben Juli. Trotzdem sind die schon mit den Vorbereitungen auf ihre, wie heißt das noch? Session beschäftigt. Wenn die Kölner schon versuchen, Französisch zu sprechen …«

Britta lachte erneut. »Hast du mal versucht, saison auszusprechen, wenn du etwas getankt hast? Mit Nasal? Geht nicht. Und im Karneval, wo jeder dauernd dem Alkohol—«

»Das sind Vorurteile«, unterbrach sie Sören. »Hätte ich von dir nicht erwartet. Gerade bei Minderheiten nicht.«

»Wann haben die Karnevalshasser endlich die Oberhand?«, fragte Britta.

»Genau. Nach einer nicht repräsentativen Umfrage des WDR sind aber immer noch einundfünfzig Prozent für den Karneval. Das spricht dafür, dass wesentlich mehr Leute außerhalb des Sendebereichs des WDR eigentlich dagegen sind, vor allem gegen die ewigen Sendungen im Fernsehen.«