9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Annie Darlings Reihe um einen kleinen Londoner Buchladen erzählt charmant, witzig und einfach total romantisch von Posy und ihren Freundinnen, die nicht nur ihre Leidenschaft für Jane Austen verbindet, sondern auch die Suche nach der großen Liebe.
Posy Morland hatte es immer schwer im Leben. Als sie einen kleinen, heruntergekommenen Buchladen in Bloomsbury erbt, scheint sich ihr Glück endlich zu wenden. Sie plant, den Laden neu zu eröffnen und dort nur Liebesromane mit Happy Ends zu verkaufen. Denn traurige Geschichten gibt es im wahren Leben ja genug. Doch Sebastian, der Enkel der verstorbenen Besitzerin, hat andere Pläne für den Laden und legt Posy Steine in den Weg, wo er nur kann. Dummerweise ist Sebastian auch schrecklich attraktiv – und der unverschämteste Kerl in ganz London. Findet zumindest Posy. Und rächt sich auf ihre Weise: Sie schreibt selbst einen Roman namens »Der Wüstling, der mein Herz stahl« – mit Sebastian als Held zum Verlieben ...
»Der kleine Laden in Bloomsbury« ist der Beginn einer Reihe um die wunderbare kleine Buchhandlung und zuvor unter dem Titel »Der kleine Laden der einsamen Herzen« erschienen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2018
ANNIE DARLING
Der
kleine Laden
in
Bloomsbury
ROMAN
Aus dem Englischen von Andrea Brandl
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel»The Little Bookshop of Lonely Hearts« bei HarperCollins, London.Die deutschsprachige Ausgabe war zuvor unter dem Titel»Der kleine Laden der einsamen Herzen« im Penguin Verlag lieferbar.1. Auflage 2018
Copyright © 2016 by Annie Darling
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017
by Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: FAVORITBUERO, München
Umschlagmotiv: FAVORITBUERO, München/Ficus777, Shutterstock.com/olgach, Shutterstock.com
Redaktion: Lisa Wolf
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23024-1V002www.penguinverlag.de
Aus der London Gazette
NACHRUFLavinia Thorndyke1. April 1930 – 14. Februar 2015
Lavinia Thorndyke, Buchhändlerin, Mentorin und unermüdliche Kämpferin im Dienste der Literatur, verstarb vor wenigen Tagen im Alter von 84 Jahren.
Lavinia Rosamund Melisande Thorndyke hatte am 1. April 1930 als jüngste Tochter von Sebastian Marjoribanks, dem dritten Lord Drysdale, und seiner Gattin Agatha, Tochter von Viscount und Viscountness Cavanagh, das Licht der Welt erblickt.
Bereits 1937 fiel Lavinias ältester Bruder Percy im Kampf für die Loyalisten in Spanien, ihre Zwillingsbrüder Edgar und Tom verloren innerhalb von nur einer Woche bei der Luftschlacht um England ihr Leben. Lord Drysale verstarb 1947 und vererbte Titel und den Familiensitz in North Yorkshire an einen Cousin.
Lavinia und ihre Mutter ließen sich daraufhin in Bloomsbury nieder, in unmittelbarer Nähe der Buchhandlung Bookends, die Agatha 1912 anlässlich ihres einundzwanzigsten Geburtstags von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte, in der Hoffnung, dass sie sie von ihrer Arbeit bei der Suffragetten-Bewegung abbringen würde.
In ihrer Kolumne in The Bookseller schrieb Lavinia 1963: »Die vielen Bücher spendeten mir und meiner Mutter großen Trost. In Ermangelung einer eigenen Familie war es eine Freude, von den Bennets aus Stolz und Vorurteil, den Pockets aus Große Erwartungen und von Betty und ihren Schwestern gewissermaßen adoptiert zu werden. Unsere Lieblingsbücher gaben uns alles, wonach wir suchten.«
Lavinia besuchte die Camden School of Girls und machte ihren Abschluss in Philosophie an der Oxford University, wo sie Peregrine Thorndyke, den dritten und jüngsten Sohn des Dukes und der Duchess von Maltby, kennenlernte.
Die beiden heirateten am 12. Mai 1952 in der St. Paul’s Church in Covent Garden und ließen sich in der Wohnung über dem Bookends nieder. 1963, nach dem Tod von Lavinias Mutter Agatha, zogen die Thorndykes in ihr Haus am Bloomsbury Square, an dessen Küchentisch so mancher junge aufstrebende Autor verköstigt und mit guten Ratschlägen versorgt wurde.
1982 wurde Lavinia für ihre Verdienste in der Buchhandelsbranche mit dem Order of the British Empire ausgezeichnet.
Peregrine erlag 2010 dem kurzen, aber schweren Kampf gegen den Krebs.
Lavinia fuhr fast täglich mit dem Fahrrad zu Bookends – jeder in Bloomsbury kannte sie so. Vor einer Woche, wenige Tage nach einem Zusammenstoß mit einem anderen Radfahrer, von dem Lavinia lediglich ein paar Schrammen und blaue Flecke davontrug, starb sie völlig überraschend in ihrem Haus am Bloomsbury Square.
Sie hinterlässt ihre einzige Tochter, Mariana, Contessa di Reggio d’Este, und ihren Enkelsohn, Sebastian Castillo Thorndyke, IT-Experte.
1
Lavinia Thorndykes Trauerfeier wurde in den Räumen eines Privatclubs literarisch interessierter Damen in der Endell Street abgehalten, dem sie über ein halbes Jahrhundert angehört hatte.
Die Trauergäste hatten sich in dem holzvertäfelten Salon im zweiten Stock eingefunden, von dem aus sich ein großartiger Blick auf die geschäftigen Straßen von Covent Garden bot. Obwohl sie direkt von der Beerdigung kamen, trugen die Damen bunte Sommerkleider, die Herren weiße Anzüge mit cremefarbenen Hemden; einer hatte sich sogar in ein leuchtend gelbes Sakko geworfen, als wollte er der Tristesse des grauen Februartages trotzen.
Sie folgten damit Lavinias eigenen Anweisungen, die eindeutig gewesen waren: »Absolut kein Schwarz, nur bunte Farben.« Möglicherweise war dies der Grund, weshalb die Atmosphäre dieser Feier nicht an eine Beerdigung, sondern vielmehr an eine Gartenparty erinnerte, und zwar an eine höchst ausgelassene.
Posy Morlands Kleid hatte dieselbe blassrosa Farbe wie Lavinias Lieblingsrosen. Posy hatte das Kleid aus der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks gezogen, wo es fast zehn Jahre lang gehangen hatte; verborgen hinter einem Leopardenkunstpelzmantel, den sie seit ihrer Studienzeit nicht mehr getragen hatte. Da sie seitdem zahllose Pizza- und Kuchenstücke verdrückt und mit literweise Wein hinuntergespült hatte, war es kein Wunder, dass das Kleid an den Brüsten und Hüften etwas spannte. Doch Lavinia hätte sich Posy in genau solch einem Kleid gewünscht, und so zupfte und zog sie an dem knallengen rosafarbenen Baumwollstoff herum, während sie an ihrem Champagner nippte – der Champagner, ein weiterer von Lavinias ausdrücklichen Wünschen für die Trauerfeier.
Der Champagner floss, die Lautstärke der Unterhaltungen war beinahe ohrenbetäubend. »Jeder Idiot kann den Sommernachtstraum inszenieren, aber um jeden einzelnen Darsteller dafür in eine Toga zu hüllen, muss man ordentlich Mumm in den Knochen haben, so viel steht fest«, hörte Posy Morland jemanden in affektiertem Tonfall sagen. Nina, die neben Posy saß, brach daraufhin in heftiges Gekicher aus, versuchte das jedoch eilig mit einem Hüsteln zu kaschieren.
»Keine Sorge, ich glaube, wir dürfen ein wenig Spaß haben«, beruhigte Posy sie und sah zu den beiden Männern in der Ecke, die sich vor Lachen förmlich ausschütteten – einer schlug sich vor Vergnügen sogar auf die Schenkel. »Lavinia hat doch immer gesagt, die besten Trauerfeiern sind die, die in einer wilden Party enden.«
Nina seufzte. Ihr kariertes Kleid war farblich mit ihrer Haarfarbe abgestimmt – aktuell ein leuchtendes Blau. »O Gott, sie wird mir so fehlen.«
»Ohne Lavinia wird die Buchhandlung nie mehr dieselbe sein«, erklärte Verity, die auf der anderen Seite saß. Sie hatte sich für ein graues Kleid entschieden mit dem Argument, grau sei nicht schwarz, außerdem hätte sie weder den Teint noch das Gemüt für bunte Farben. »Ich denke immer noch, sie müsste jeden Moment zur Tür hereinkommen und von irgendeinem Buch schwärmen, das sie die halbe Nacht nicht aus der Hand legen konnte.«
»Und ihr ›Oh, jetzt ist Champagner-Zeit‹ für den Freitagnachmittag«, warf Tom ein. »Ich habe es nie über mich gebracht, ihr zu sagen, dass ich eigentlich keinen Champagner mag.«
Die drei Frauen und Tom, die Belegschaft von Bookends, stießen miteinander an, und jeder Einzelne schien seine Lieblingserinnerung an Lavinia hervorzukramen:
Ihre leicht atemlose Mädchenstimme, die immer etwas geklungen hatte, als käme Lavinia gerade erst aus den 1930er-Jahren.
Ihre Begeisterung, die sie immer wieder für neue Bücher und Menschen aufbringen konnte, obwohl sie ständig gelesen und Gott und die Welt gekannt hatte.
Die Rosen in derselben blassrosa Farbe wie Posys Kleid, die sie immer montag- und donnerstagmorgens gekauft und liebevoll in der angeschlagenen Glasvase arrangiert hatte, die sie in den Sechzigern bei Woolworth erstanden hatte.
Dass sie alle ständig »Darling« genannt und sich dieses Kosewort bei ihr so liebevoll, tadelnd und zugleich neckend hatte anhören können.
Oh Lavinia. Die wunderbare, hinreißende Lavinia mit all ihren zauberhaften Besonderheiten. Nachdem Posys Eltern vor sieben Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte Lavinia ihr nicht nur einen Job gegeben, sondern sie und ihren kleinen Bruder auch in der Wohnung über der Buchhandlung wohnen lassen. Lavinias plötzlicher Tod erfüllte Posy mit großer Traurigkeit, einer Traurigkeit, die bis ins Mark zu dringen schien und ihr das Herz so unendlich schwer werden ließ.
Aber das war nicht das Einzige: Posy machte sich große Sorgen. Eine nagende Angst hatte Besitz von ihr ergriffen, die in regelmäßigen Abständen aufflackerte. Wie sollte es nun, da Lavinia nicht mehr da war, mit dem Bookends weitergehen? Dass ein neuer Besitzer Posy und Sam die Wohnung über dem Laden mietfrei überließ, war höchst unwahrscheinlich, um nicht zu sagen völlig ausgeschlossen. Kein Mensch, der auch nur ein wenig Geschäftssinn besaß, würde sich auf so etwas einlassen.
Und von Posys magerem Gehalt als Buchhändlerin konnten sie sich bestenfalls einen Hasenstall in irgendeinem Vorort leisten, weit, weit weg von Bloomsbury. Sam würde auf eine andere Schule gehen müssen, oder sie müssten London ganz verlassen und ins walisische Merthyr Dyfan zurückkehren, wo Posy aufgewachsen war. Sie müssten sich dort im Reihenhäuschen ihrer Großeltern einquartieren, und Posy würde versuchen, einen Job in einer Buchhandlung zu ergattern, falls nicht alle dort schon längst dichtgemacht hatten.
Deshalb hatte sie allen Grund, traurig zu sein; traurig und verzweifelt und am Boden zerstört vor Kummer, aber auch halb verrückt vor Sorge. Am Morgen hatte sie nicht einmal eine Scheibe Toast herunterbekommen, sich dann aber geschämt, weil sie an einem Tag wie diesem doch eigentlich nur krank vor Kummer sein sollte – und nicht krank vor Angst um ihre eigene Zukunft.
»Hast du eine Ahnung, was jetzt aus dem Laden werden soll?«, fragte Verity zögernd. Erst jetzt merkte Posy, dass sie beide tief in ihre trübseligen Gedanken versunken gewesen waren und eine ganze Zeit lang geschwiegen hatten.
Posy schüttelte den Kopf. »Nein, aber bestimmt werden wir bald klarer sehen.« Sie bemühte sich um ein ermutigendes Lächeln, das sich jedoch eher wie eine verzweifelte Grimasse anfühlte.
Verity schien es ähnlich zu gehen wie ihr. »Ich war über ein Jahr arbeitslos, bevor Lavinia mir einen Job gegeben hat, und das auch nur, weil Verity Love der schönste Name sei, den sie je gehört hätte.« Verity beugte sich näher zu Posy. »Ich bin nicht sonderlich geschickt im Umgang mit anderen, und Vorstellungsgespräche sind überhaupt nicht mein Ding.«
»Ich hatte nie eines«, sagte Posy – fünfundzwanzig ihrer achtundzwanzig Lebensjahre hatte Posy im Bookends verbracht; ihr Vater hatte hier als Geschäftsführer gearbeitet, ihre Mutter die angeschlossene Teestube geführt. Beim Einsortieren der Bücher hatte Posy das Alphabet gelernt und Rechnen, indem sie den Kunden ihr Wechselgeld überreichen durfte. »Ich habe noch nicht mal einen schriftlichen Lebenslauf, und wenn ich einen hätte, würde er locker auf eine Seite passen.«
»Lavinia hat sich meinen nicht mal angesehen, was wahrscheinlich auch gut so war, weil ich die letzten drei Male gefeuert wurde.« Nina kam zu ihnen und streckte die Arme nach vorne. »Sie hat nur gefragt, ob sie sich meine Tattoos mal ansehen dürfte, und das war’s.«
Über Ninas einen Arm zog sich eine Kletterrose mit Blüten und Dornen, über der ein Zitat aus Emily Brontës Sturmhöhe stand: Woraus auch immer unsere Seelen gemachtsein mögen, seine und meine sind gleich.
Auf dem anderen Arm, quasi als Gegenpol, prangte ein Auszug aus der Teegesellschaft des verrückten Hutmachers aus Alice im Wunderland.
Die drei Frauen wandten sich Tom zu, in der Erwartung, dass er ihnen die ungewöhnlichen Umstände verriet, unter denen es ihn zu Bookends verschlagen hatte. »Ich studiere Literaturwissenschaften«, sagte er. »Ich könnte als Lehrer oder an der Uni arbeiten, aber das will ich nicht. Ich will lieber bei Bookends arbeiten. Dort gibt es montags Kuchen!«
»Wir können jeden Tag Kuchen essen«, warf Posy ein. »Im Augenblick weiß keiner, wie es weitergehen soll, deshalb schlage ich vor, wir machen einfach weiter wie bisher, bis … na ja, bis … Lasst uns den Tag heute nutzen, um daran zu denken, wie gern wir Lavinia hatten und …«
»Da seid ihr ja alle, Lavinias verrückte Bücherbande!«, ertönte eine tiefe, angenehme Stimme, die durchaus attraktiv gewesen wäre, hätte nicht ständig dieser sarkastische, höhnische Unterton darin mitgeschwungen.
Posy sah auf und blickte in Sebastian Thorndykes Gesicht, das ebenfalls als durchaus attraktiv bezeichnet werden könnte, würde nicht ständig dieses überhebliche Grinsen um seine Mundwinkel spielen. Für einen Moment vergaß sie, dass sie hier war, um Lavinia zu ehren. »Sebastian«, platzte es aus ihr heraus, »bekannt und berüchtigt als unverschämtester Kerl Londons.«
»Weder bekannt noch berüchtigt«, gab Sebastian auf seine typisch blasierte, selbstzufriedene Art zurück, die er sich bereits im Alter von zehn Jahren angeeignet hatte und die Posy regelmäßig dazu brachte, dass sie die Fäuste ballte. »Da es sowohl in der Daily Mail als auch im Guardian stand, muss es wohl stimmen.« Sein Blick schweifte über Posy und blieb an ihren Brüsten hängen, die – das musste man fairerweise zugeben – die Belastbarkeit der Knöpfe an ihrem Kleid auf eine harte Probe stellten. Eine unbedachte Bewegung, und der Stoff würde einfach platzen und den Blick auf ihren lächerlichen Blümchen-BH von Marks & Spencer freigeben – grundsätzlich ein indiskutables Malheur, ganz besonders aber auf einer Trauerfeier; vor allen Dingen vor Sebastian, der glücklicherweise den Blick von ihrem Dekolleté löste und durch den Raum schweifen ließ, vermutlich auf der Suche nach jemandem, den er noch nicht in den Genuss einer seiner Kränkungen hatte kommen lassen.
Bei Lavinias einzigem Enkel konnte man nie ganz sicher sein, was gerade in ihm vorging. Posy hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt, als sie mit drei Jahren Bookends das erste Mal betreten und den hochmütigen Achtjährigen mit dem hinreißenden Lächeln und den Augen in der Farbe von Bitterschokolade gesehen hatte. Und daran hatte sich zunächst auch nichts geändert – sie war Sebastian wie ein treues, liebeskrankes Hündchen durch den Laden nachgelaufen, bis sie zehn gewesen war und er sie in die stockdunkle Kohlenkammer unter dem Laden eingesperrt hatte, wo es vor Spinnen, Ratten und sonstigem ekligen Ungeziefer nur so wimmelte.
Er hatte eiskalt abgestritten, etwas über Posys Verbleib zu wissen, bis ihre Mutter völlig außer sich vor Angst die Polizei rufen wollte.
Im Lauf der Jahre hatte Posy ihr Kohlenkeller-Trauma zwar überwunden – weigerte sich allerdings bis zum heutigen Tag, auch nur den Kopf durch die Luke zu stecken –, doch seitdem war Sebastian ihr erklärter Erzfeind. Die ganzen Jahre als mürrischer Teenager hindurch, gefolgt von den Zeiten in den Zwanzigern, als er ein kleines Vermögen mit der Entwicklung grässlicher Websites verdient hatte, und auch heute noch, mit über dreißig, wenn pausenlos sein Foto in irgendeiner Zeitung abgedruckt war, meistens mit irgendeinem hübschen blonden Model oder Starlet am Arm.
Den absoluten Höhepunkt seiner traurigen Berühmtheit hatte er im Zuge seines ersten und letzten Fernsehauftritts bei der BBC erreicht, als er einem rotgesichtigen Parlamentarier, der sich von den Einwanderern bis hin zu den Steuern für Umweltprojekte über alles und jeden aufregte, ohne mit der Wimper zu zucken geraten hatte, er bräuchte dringend mal eine heiße Nummer und einen anständigen Cheeseburger. Danach hatte eine Zuschauerin aus dem Publikum über die lausigen Gehälter von staatlichen Lehrern schwadroniert, woraufhin Sebastian die Augen verdreht und gestöhnt hatte: »Du lieber Gott, ist das öde. Das hält ja kein Mensch nüchtern aus. Kann ich jetzt endlich gehen?«
Seit dieser Zeit galt er in den Medien nur noch als »der unverschämteste Kerl Londons«, eine Bezeichnung, die er seitdem auch nur zu gern erfüllte – nicht, dass er irgendeine Form von Ermutigung nötig gehabt hätte, um sich wie ein unausstehliches Ekel aufzuführen. Posys Einschätzung nach nahm das Beleidigungsgen mindestens 75 Prozent seiner DNA in Anspruch.
Sebastian zu hassen war das reinste Kinderspiel, gleichzeitig fiel es ihr schwer, sich von seiner Schönheit nicht in den Bann ziehen zu lassen. Wenn sein Gesicht nicht gerade zu einem höhnischen Grinsen verzogen war, hatte er immer noch dasselbe hinreißende Lächeln wie als Kind und verzauberte einen mit den tiefbraunen Augen seines spanischen Vaters (seine Mutter Mariana hatte schon immer eine Schwäche für südländische Männer gehabt) und den dichten dunklen Locken, in denen Frauen am liebsten die Finger vergraben wollten.
Sebastian war groß, schlank und langgliedrig (eins neunzig laut Tatler, der ihn trotz aller gegenteiligen Beweise zu einem der begehrtesten Junggesellen des Landes gekürt hatte) und trug am liebsten maßgeschneiderte Anzüge, die sich so eng an seinen Körper schmiegten, dass es schon an Obszönität grenzte.
Lavinias Anweisungen zum Trotz trug er heute einen dunkelblauen Anzug und ein gepunktetes rotes Hemd dazu, farblich abgestimmt auf sein Einstecktuch.
»Hör auf, mich anzustarren, Morland. Du sabberst ja schon«, sagte er, woraufhin Posys Wangen dieselbe Farbe annahmen wie sein Hemd und sie eilig den Mund zuklappte.
Nur um ihn sofort wieder zu öffnen. »Nein, das tue ich nicht! Niemals! Vergiss es!«
Doch ihr Protest prallte an seiner aalglatten Fassade ab. Fieberhaft durchforstete sie ihr Gehirn nach einer passenden Erwiderung – bestimmt fiel ihr gleich etwas ein, womit sie ihm so richtig die Luft herauslassen konnte –, als Nina sie mit dem Ellbogen anstieß. »Sei doch nicht so, Posy«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Immerhin kommen wir gerade vom Begräbnis seiner Großmutter.«
Auch wieder wahr. Und Lavinia war schon seit jeher die Schwachstelle in seiner ansonsten so undurchdringlichen Rüstung gewesen. »Los, Granny, ich lade dich auf eine Runde Cocktails ein«, hatte er verkündet, wann immer er in den Laden gerauscht kam – warum auf normale Weise einen Raum betreten, wenn man auch den großen Auftritt haben konnte? »Wie wär’s mit einem Martini? Lass uns gleich einen ganzen Eimer davon trinken, ein Glas ist zu wenig.«
Trotz seiner zahlreichen Unzulänglichkeiten hatte Lavinia Sebastian heiß und innig geliebt. »Man muss das verstehen«, hatte sie stets gesagt, wenn Posy wieder einmal über seinen letzten Fauxpas in der Zeitung gelesen hatte – eine Affäre mit einer verheirateten Frau oder über seine HookUpp, die seelenlose Dating-App, die ihn zum mehrfachen Millionär gemacht hatte. »Mariana hat den armen Jungen einfach zu sehr verwöhnt. Von Anfang an.«
Beim Trauergottesdienst hatte Sebastian eine Trauerrede auf Lavinia gehalten, mit der er sämtliche Gäste begeistert hatte. Während der Großteil der Frauen und auch ein paar Männer die Hälse gereckt hatten, um einen Blick auf ihn zu werfen, hatte er ein so lebhaftes, farbenfrohes Bild von Lavinia gezeichnet, als stünde sie direkt neben ihm. Seine Laudatio hatte er mit einem Zitat aus Pu der Bär enden lassen, ein Buch, das sie ihm zahllose Male vorgelesen hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war.
»Welch ein Glück, etwas zu haben, das den Abschied so schwer macht«, hatte Sebastian rezitiert, und nur jemand, der Sebastian so gut kannte wie Posy, fiel diese winzige Sekunde auf, in der seine Stimme plötzlich schrecklich brüchig klang. Zum allerersten Mal während der gesamten Rede hatte er auf seine Notizen geblickt. Doch als er aufgesehen hatte, lag dieses strahlende, unbekümmerte Lächeln wieder auf seinem Gesicht und der Moment war vorbei.
Erst da war Posy bewusst geworden, dass auch er trauerte, mindestens ebenso sehr wie sie selbst.
»Es tut mir leid«, sagte sie jetzt. »Wir alle bedauern deinen Verlust sehr, Sebastian. Ich weiß, wie sehr sie dir fehlen wird.«
»Danke, das ist sehr nett von dir.« Wieder drohte seine Stimme zu versagen, doch in Sekundenbruchteilen hatte er sich bereits wieder gefangen. »Wir alle bedauern deinen Verlust. Gott, was für eine klischeebehaftete Gefühlsregung. Eigentlich ist der Spruch doch völlig bedeutungslos. Wie ich diese Worthülsen hasse.«
»So etwas sagt man doch nur, weil einem manchmal nichts Passendes einfällt, um jemandem …«
»Jetzt kommt wieder mal die große Aufrichtigkeitsnummer, Posy. Wie öde. Ich finde es tausend Mal spannender, wenn du zickig bist«, unterbrach Sebastian. Verity, die mit nichts zurechtkam, was auch nur ansatzweise nach Auseinandersetzung roch, tauchte hinter ihrer Serviette ab, Nina stieß ein weiteres Zischen aus, und Tom sah Posy an, als würde er nur darauf warten, dass Posy, berühmt für ihre messerscharfe Schlagfertigkeit, ihm eins überbriet – doch in diesem Fall musste er etwas länger auf eine Erwiderung warten.
»Unverschämt. Absolut unverschämt«, sagte Posy schließlich. »Ich hätte angenommen, dass du an einem Tag wie diesem ausnahmsweise darauf verzichtest, dich wie das Ekel zu benehmen, das du sonst jeden Tag bist. Du solltest dich schämen.«
»Ja, genau, schämen sollte ich mich. Und ich hätte angenommen, dass du dir an einem Tag wie diesem ausnahmsweise die Haare bürstest.« Sebastian besaß sogar die Frechheit, eine Strähne zu packen und anzuheben, bevor Posy empört seine Hand wegschlug.
Posy hätte alles für eine glatte, seidige Mähne oder eine füllige Lockenpracht gegeben. Die Realität sah leider anders aus – braunes Haar mit einem leichten Stich ins Rötliche. Bei bestimmtem Licht konnte man die Farbe noch als Kastanienbraun durchgehen lassen. Viel schlimmer war jedoch, dass ihr Haar die Eigenart hatte, sich ständig zu verknoten. Wenn sie es bürstete, verwandelte es sich in einen explodierten Handfeger, versuchte sie hingegen, ihm mit dem Kamm zu Leibe zu rücken, musste sie Strähne für Strähne vorgehen – eine schmerzhafte und überaus zeitraubende Tortur. Also nahm sie es meistens zusammen und fixierte es mit allem, was sie gerade in die Finger bekam; normalerweise Bleistifte, aber heute hatte sie sich Mühe gegeben und Haarspangen in unterschiedlichen Farben verwendet. Eigentlich hatte sie gehofft, es würde ihrem Styling einen nachlässigen und bohemienhaften Chic verleihen, aber offenbar traf weder das eine noch das andere zu. »Mein Haar lässt sich nun mal nicht mit der Bürste bändigen«, gab sie trotzig zurück.
»Das stimmt allerdings«, bestätigte Sebastian. »Dein Haar ist eher etwas, worin Vögel gerne nisten würden. So, und jetzt steh auf und komm mit.«
Sein Tonfall war so autoritär, dass Posy reflexartig aus ihrem Sessel aufspringen wollte, ehe ihr bewusst wurde, dass es eigentlich keinerlei Veranlassung dazu gab. Sie saß gut hier, außerdem hatte sie bereits zwei Gläser Champagner auf nüchternen Magen getrunken, weshalb sich ihre Beine wie Pudding anfühlten.
»Ich bleibe hier sitzen, wenn es dir … hey, was soll das?«
Sebastian hatte die Hände in ihre Achselhöhlen geschoben und versuchte, sie aus dem Sessel zu heben, doch da sie deutlich kräftiger und schwerer war als die Mädchen, mit denen er sich sonst so umgab, gelang es ihm nicht auf Anhieb. Er zog und zerrte an ihr herum, bis passierte, was passieren musste: Zwei der Knöpfe an ihrem Kleid sprangen ab, und Posys BH war für jedermann sichtbar, der zufällig gerade in ihre Richtung blickte.
Was rein zufällig so einige taten, schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass sich jemand während einer Trauerfeier entblößte.
»Lass mich sofort los!«, herrschte Posy ihn an, während Verity ihr eilig eine Serviette ins Kleid schob, um ihre Blöße zu bedecken. Die beiden Knöpfe waren mit der Schnellkraft von Projektilen quer durch den Raum geschossen. »Sieh dir bloß an, was du angerichtet hast!«
Sie blickte wütend zu Sebastian, der unverhohlen grinsend auf ihren Ausschnitt starrte. »Wärst du aufgestanden, als ich dich gebeten habe …«
»Aber du hast mich nicht gebeten, sondern mir die Anweisung erteilt. Du hast nicht einmal bitte gesagt.«
»Das Kleid war ohnehin zu eng. Es wundert mich nicht, dass die Knöpfe nach der Mühsal gestreikt haben.«
Posy schloss die Augen. »Hau ab. Ich ertrage dich einfach nicht. Zumindest heute nicht.«
Ihre Worte zeigten nicht die geringste Wirkung, denn er packte ihren Arm und begann erneut zu ziehen. »Spiel hier nicht das Weichei. Der Anwalt will dich sprechen. Los, komm.«
Das Bedürfnis, Sebastian an die Gurgel zu gehen, war schlagartig verschwunden, während sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend bemerkbar machte. Plötzlich war sie froh, dass sie bisher keinen Bissen runtergebracht hatte.
»Jetzt gleich?«
Sebastian warf den Kopf in den Nacken und stöhnte laut auf. »Ja. Großer Gott. In der Zeit, die du brauchst, um aus diesem Sessel aufzustehen, wurden schon Kriege gewonnen.«
»Aber du hast nicht gesagt, weshalb ich aufstehen soll, sondern nur an mir herumgezerrt.«
»Dann sage ich es eben jetzt. Ehrlich, Morland, allmählich verliere ich die Geduld.«
Posy schloss die Augen, um die verängstigten Gesichter der anderen Bookends-Angestellten nicht sehen zu müssen. »Wieso will er mich ausgerechnet jetzt sprechen? Auf Lavinias Beerdigung? Kann das nicht warten?«
»Offensichtlich nicht.« Nun schloss Sebastian die Augen und massierte sich die Wurzel seiner elegant geschnittenen Aristokratennase. »Wenn du dich nicht gleich in Bewegung setzt, werfe ich dich über die Schulter und trage dich, obwohl ich auf den Bruch, den ich mir dabei hole, gut und gern verzichten kann.«
Posy sprang auf. »So viel wiege ich dann auch wieder nicht. Danke, Nina«, sagte sie, als Nina ihr eine Sicherheitsnadel reichte, die sie aus den Tiefen ihrer Tasche zutage gefördert hatte.
Sebastian, der wieder einmal seine Finger nicht bei sich behalten konnte, hielt ihren Ellbogen fest, während sie versuchte, die auseinanderklaffenden Teile ihres Kleids zu befestigen. Als sie fertig war, packte er sie fester und zerrte sie aus dem Raum.
Sie gingen – gut, Sebastian schlenderte, während Posy neben ihm herrennen musste, um Schritt zu halten – einen langen Korridor entlang, der mit den Porträts der ehrenwerten verstorbenen weiblichen Mitglieder des Clubs gesäumt war.
Eine mit »Privat« gekennzeichnete Tür wurde geöffnet, eine zierliche Gestalt erschien, zögerte kurz und warf dann die Arme um Posy.
»Oh, Posy, ist das nicht grauenvoll?«
Es war Mariana, Sebastians Mutter und Lavinias einzige Tochter.
Trotz Lavinias ausdrücklichem Wunsch war sie ganz in Schwarz gekleidet, inklusive einem bildschönen Spitzen-schleier, der auf den ersten Blick etwas übertrieben wirkte, doch zu Mariana, die immer schon gerne etwas melodramatisch gewesen war, passte er.
Posy schlang die Arme um Mariana, die sich an sie klammerte, als wäre sie ein Rettungsring auf der Titanic. »Ja, es ist wirklich grauenvoll«, bestätigte Posy seufzend. »Ich hatte in der Kirche keine Gelegenheit, mit dir zu sprechen, aber ich bedauere deinen Verlust wirklich von ganzem Herzen.«
Mariana sah im Gegensatz zu ihrem Sohn offenbar keine Veranlassung, Posys oft zitierte Phrase mit einer sarkastischen Bemerkung zu quittieren; stattdessen umklammerte sie Posys Hände, während ihr eine Träne langsam über die babyglatte Wange kullerte. Mariana hatte viel in ihre Schönheit investiert, doch selbst die professionellsten Faltencremes und eine ordentliche Portion Botox vermochten ihre welkende Schönheit nicht zu kaschieren. Sie erinnerte Posy an eine Pfingstrose, die in voller Pracht gestanden hatte, deren riesige Blüte sich nun jedoch allmählich und auf anmutige Weise neigte und zusehends an Frische und Strahlkraft verlor.
»Was soll ich nur ohne Mami machen?«, fragte Mariana betrübt. »Wir haben jeden Tag telefoniert, und sie hat mir immer Bescheid gesagt, wenn wieder mal ein Lottojackpot nicht geknackt wurde, sodass ich den Butler bitten konnte, mir einen Schein zu kaufen.«
»Ich werde dich einfach künftig anrufen«, versprach Posy, während Sebastian die Arme vor der Brust verschränkte und sich mit einem affektierten Seufzer gegen den Türrahmen lehnte, als hätte er Angst, ebenfalls zum Jackpot-Warndienst verdonnert zu werden.
Viele hielten Mariana für oberflächlich. Sie verströmte eine Aura subtiler Hilflosigkeit, die ihr immerhin zu vier Ehemännern verholfen hatte, einer reicher und gesellschaftlich besser gestellt als der nächste, dabei war sie eigentlich eine Seele von Mensch. Und sie war fast noch fürsorglicher als ihre Mutter: Während Lavinia sich stets geweigert hatte, sich mit Idioten auseinanderzusetzen, war Mariana so weichherzig, dass sie mit jedem Mitleid hatte.
Nach dem Tod von Posys Eltern hatten Lavinia und ihr Ehemann Peregrine sich als wahre Felsen in der Brandung entpuppt, Mariana jedoch war eigens aus Monaco hergeflogen und hatte Posy und Sam zu einer Shoppingtour in die Regent Street geschleppt. Posy, damals immer noch wie betäubt von der Tatsache, dass sie mit einundzwanzig ohne Vorwarnung Waise und Vormund ihres am Boden zerstörten achtjährigen Bruders geworden war, hatte sich unverhofft bei Jaeger wiedergefunden, wo Mariana ihr ein Kleid und einen Mantel für die Beerdigung gekauft hatte. Wie ein Roboter hatte Posy alles anprobiert, was man ihr reichte. Nach einer Weile war Mariana in die Umkleidekabine gekommen, hatte die Hände um ihr Gesicht gelegt und gesagt: »Ich weiß, dass du mich für eine alberne, eitle Gans hältst, aber die Beerdigung wird hart für dich werden, wahrscheinlich sogar der härteste Tag deines ganzen Lebens, Schatz. Ein schönes Kleid und ein gut geschnittener Mantel sind wie eine Rüstung, die dich schützt. Außerdem sind es zwei Dinge weniger auf der Liste, um die du dir Gedanken machen musst, wo du gerade die Last der ganzen Welt auf deinen armen jungen Schultern trägst.«
Danach war Mariana mit ihnen zu Hamleys Toy Shop gefahren und hatte Sam eine riesige Eisenbahn gekauft, die zusammengebaut praktisch den gesamten Fußboden des Wohnzimmers und eines guten Teils der Diele einnahm.
Seitdem schickte Mariana Posy alle paar Monate eine Auswahl der schönsten Designerkleidung und Sam einen Karton voller Spielsachen. Allerdings schien sie zu glauben, die Größe XS sei perfekt für Posy, obwohl sie mindestens Größe M brauchte, und Sam war in ihrem Kopf die letzten sieben Jahre lang ein achtjähriger Knirps geblieben.
Aus all diesen Gründen wollte Posy nun alles dafür tun, um Mariana an diesem schlimmsten Tag in ihrem Leben ebenfalls zur Seite zu stehen. Sie drückte ihre Hände. »Ehrlich, wenn ich irgendetwas für dich tun kann, völlig egal, was, lass es mich wissen. Ich sage das nicht nur, weil Menschen in dieser Situation so etwas nun mal sagen, sondern ich meine es auch so.«
»Oh Posy, mir kann niemand helfen«, erwiderte Mariana bekümmert. Posy durchforstete ihr Gehirn nach einer anderen tröstlichen Formel, spürte jedoch bereits, wie sich ein dicker Kloß in ihrer Kehle bildete und ihre Augen brannten, als würde auch sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Also starrte sie nur schweigend auf die Sicherheitsnadel, die ihr Kleid zusammenhielt, bis Mariana sich von ihr löste. »Ich muss allein mit meinen Gedanken sein.«
Sebastian und Posy sahen zu, wie Mariana den Korridor hinunterschwebte und verschwand. »Nach drei Minuten allein mit ihren Gedanken stirbt sie vor Langeweile«, bemerkte Sebastian. »Maximal fünf.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Posy, obwohl auch sie Zweifel an Marianas Durchhaltevermögen hatte. Eine Frau mit so vielen Ehemännern war nicht fürs Alleinsein geschaffen. »Also, auf zum Anwalt?«
»Hier drinnen.« Sebastian öffnete die Tür und versetzte Posy einen kräftigen Schubs, als hätte er Angst, sie könne es sich anders überlegen und wieder verschwinden. Reizvoll war der Gedanke jedenfalls. Doch die Hitze seiner Finger schien sich förmlich durch den Stoff ihres Kleids zu fressen, sodass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als mit einem Schritt nach vorn seiner Berührung zu entkommen.
In dem kleinen Salon war auf die ansonsten allgegenwärtige Holzvertäfelung zugunsten von Chintz-Stoffen verzichtet worden – Vorhänge, Kissen- und Sofabezüge, überall nur Chintz. Während Posy unsicher herumstand, setzte Sebastian sich auf einen Stuhl und schlug die Beine übereinander. Seine Socken hatten denselben Rotton wie Hemd und Einstecktuch, und sogar die Schnürsenkel seiner auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe waren rot.
Posy fragte sich, ob Sebastian wohl zu jedem Hemd passende Schnürsenkel besaß und ob er selbst jeden Morgen fünf Minuten darauf verwendete, sie einzufädeln, oder ob er einen Lakaien dafür einspannte …
»Erde an Morland! Sag jetzt nicht, dass du erst mal allein mit deinen Gedanken sein musst.«
Sie blinzelte erschrocken. »Was? Nein! Deine Schuhe.«
»Was?«, echote er genervt. »Vielleicht möchtest du gern Mr. Powell Guten Tag sagen … aber mich als unhöflichen Klotz bezeichnen.«
Posy riss den Blick von Sebastian los und richtete ihn auf den Mann mittleren Alters im grauen Anzug und einer Lesebrille, der am anderen Ende des Raums saß und zur Begrüßung flüchtig die Hand hob.
»Jeremy Powell, Anwalt der verstorbenen Mrs. Thorndyke«, stellte er sich vor und blickte auf die Unterlagen auf seinem Schoß. »Sie sind Miss Morland?«
»Posy. Hallo.« Sie holte tief Luft. »Geht es um den Laden? Wir fragen uns alle schon … aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde. Wird er verkauft?«
Sie und Sam hatten so viel verloren – ihre Eltern, Peregrine, dann Lavinia und nun auch noch Bookends, das nicht nur eine Buchhandlung war, sondern ihr Zuhause.
»Setz dich hin, Morland, und hör auf zu faseln«, befahl Sebastian barsch und deutete auf das Sofa. »Keiner mag Quasselstrippen.«
Mit einem vernichtenden Blick auf Sebastian trat Posy um das Sofa herum und setzte sich in den Sessel gegenüber von Mr. Powell. Sebastian nahm eine Champagnerflasche aus dem Eiskübel neben ihm, löste die Banderole und die Agraffe und zog mit der Versiertheit des Fachmanns den Korken heraus, der mit einem leisen, aber nachdrücklichen Ploppen aus dem Hals schnellte. Posy hatte die hauchzarten Gläser auf dem Tisch gar nicht bemerkt. Sebastian nahm eines davon, goss einen Schluck ein und reichte es Posy.
»Ich sollte lieber nichts mehr trinken«, sagte sie. Und wenn, dann wäre im Fall von schlechten Nachrichten ein Brandy sicher besser, fügte sie im Stillen hinzu. Oder eine Tasse Tee mit viel Zucker.
»Anweisung von Lavinia.« Posy spürte ihre Entschlossenheit dahinschmelzen. Unter seinem eindringlichen Blick, in dem sich seine feste Überzeugung spiegelte, dass sie die kluge Anweisung sicher nicht in den Wind schreiben würde, konnte sie kaum bestehen. Sie wandte sich ab, und obwohl sie eigentlich nur vorsichtig an dem Glas hatte nippen wollen, ertappte sie sich dabei, dass sie es nicht gerade anmutig in einem Zug hinunterkippte.
»Mr. Powell, wenn Sie vielleicht anfangen möchten …«, sagte Sebastian mit einem blasierten Lächeln, während Posy alle Mühe hatte, keinen lauten Rülpser auszustoßen.
Posy befürchtete das Schlimmste und hoffte, dass es bald vorüber war. »Bitte räumen Sie die Wohnung so schnell wie möglich, und sehen Sie zu, dass Ihnen beim Rausgehen die Tür nicht in den Hintern knallt«, würde Mr. Powell bestimmt gleich sagen, wenn auch vielleicht etwas höflicher. Stattdessen beugte er sich vor und reichte Posy einen Umschlag.
Cremefarbenes Briefpapier von Smythson’s. Lavinia hatte eine ganze Schachtel davon im Hinterzimmer des Ladens stehen. Posys Name stand in Lavinias schön geschwungener Handschrift in ihrer blauen Lieblingstinte darauf.
Plötzlich schienen Posys Hände ihr nicht länger gehorchen zu wollen. Sie zitterten so heftig, dass sie den Umschlag kaum aufbekam.
»Lass mich das machen, Morland!«
Wie durch ein Wunder schien die Funktionalität ihrer Hände wiederhergestellt zu sein, denn es gelang ihr mühelos, Sebastians Hand wegzuschlagen. Behutsam strich sie mit dem Finger über die Lasche und zog zwei Seiten desselben cremefarbenen Papiers, bedeckt mit Lavinias Handschrift, heraus.
Meine liebste Posy,
ich hoffe, die Beerdigung war nicht allzu trübselig, und am Champagner wurde nicht gespart. Ich fand ja schon immer, dass man Beerdigungen und Hochzeiten am besten leicht beschwipst hinter sich bringt.
Ich hoffe auch, du bist nicht allzu traurig. Ich hatte ein langes, erfülltes Leben, wie es immer so schön heißt, und trotz meines Alters bin ich zwar immer noch nicht überzeugt, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, doch falls es doch so sein sollte, bin ich jetzt von jenen Menschen umgeben, die ich so sehr vermisst habe – von meinen Eltern, meinen wunderbaren Brüdern, all den Freunden von früher und vor allen Dingen von meinem geliebten Perry.
Aber was soll nun aus dir und Sam werden, meine liebe Posy? Bestimmt hat mein Tod, mein Ableben, mein Dahinscheiden (egal, welches Wort ich dafür wähle, es ist und bleibt absolut unvorstellbar, dass ich diese alte sterbliche Hülle verlassen haben soll) schlimme Erinnerungen an deine Eltern heraufbeschworen. Aber irgendwann wird dir einfallen, was Perry und ich an jenem Abend zu dir gesagt haben, nachdem der Polizist gegangen war: Dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Dass Bookends genauso ein Teil von dir ist wie für uns und dass du dort immer ein Zuhause haben wirst.
Posy, mein Liebling, dieses Versprechen gilt nach wie vor. Bookends gehört dir. Mit allem Drum und Dran, auch der Ausgabe von Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus, die wir seit fünfzehn Jahren nicht verkaufen konnten.
Ich weiß, dass der Laden in letzter Zeit nicht sonderlich gut lief. Seit Perrys Tod habe ich mich so hartnäckig gegen jede Form von Veränderung gesträubt, doch ich bin davon überzeugt, dass es dir gelingen wird, das Ruder herumzureißen. Sorge dafür, dass der Laden wieder genauso gut läuft wie damals, als deine Eltern ihn betrieben haben. Ich bin sicher, du hast eine Menge Ideen, um der alten Bruchbude neues Leben einzuhauchen. Mit dir als Leiterin wird ein neues Kapitel von Bookends geschrieben, und ich weiß, dass ich es in keine besseren Hände geben könnte als in deine.
Denn du, meine Liebe, weißt am allerbesten, welche Magie eine Buchhandlung besitzen kann und dass schließlich jeder ein Fünkchen Magie im Leben braucht.
Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, dass Bookends in der Familie bleiben wird, denn genau als das habe ich dich und Sam immer betrachtet. Außerdem bist du der einzige Mensch, bei dem ich sicher sein kann, dass du es in der alten Tradition fortführen und für die künftige Lesergeneration bewahren wirst. Ich verlasse mich auf dich, Posy, also lass mich nicht im Stich! Es ist mir sehr wichtig – sozusagen mein letzter Wunsch auf dem Sterbebett –, dass Bookends weiterlebt, auch wenn ich selbst nicht mehr bin. Solltest du allerdings das Gefühl haben, dass du dich nicht damit belasten willst, oder – ich sage es nur sehr ungern – der Laden innerhalb von zwei Jahren keinen Gewinn abwirft, geht der Besitz auf Sebastian über. Ich will um jeden Preis verhindern, dass du etwas auf dich nimmst, dem du dich nicht gewachsen fühlst, meine liebe Posy, aber ich weiß, dass es nicht dazu kommen wird.
Scheue dich nicht, Sebastian um Hilfe zu bitten. Ich bin sicher, du wirst ihn in Zukunft häufiger sehen, da er den Rest von Rochester Mews erbt und ihr dadurch Nachbarn und – hoffentlich – auch Freunde werdet. Es wird Zeit, den Zwist wegen der Kohlenkeller-Affäre zu begraben. Es stimmt, dass Sebastian manchmal ein bisschen aufsässig und gemein ist, aber in Wahrheit ist er kein schlechter Kerl. Was aber keineswegs heißt, dass du dich von ihm einwickeln lassen sollst. Im Gegenteil. Die eine oder andere Abreibung wird ihm sicher nicht schaden.
Adieu, mein Kind. Sei tapfer, stark und erfolgreich. Und denk immer daran, auf deinen Instinkt zu hören, dann kommst du schon nicht vom rechten Weg ab.
In Liebe,
Lavinia
2
Im nördlichen Zipfel von Bloomsbury übersahen viele, die von Holborn die Theobalds Road in Richtung der Gray’s Inn Road hinuntergingen, die schmale, kopfsteingepflasterte Rochester Street zu ihrer Rechten. Jene, die sie bemerkten und sich zu einer kleinen Erkundungstour entschlossen, führte sie unweigerlich zu einem kleinen, aber feinen Delikatessengeschäft mit herrlichen Käselaiben, Würsten und allerlei anderen Köstlichkeiten, die liebevoll in Gläser gefüllt im Schaufenster ausgestellt waren.
Vielleicht stöberten manche auch in einer der Boutiquen mit den bunten Kleidern und kuschligen Stricksachen für den Winter. Anschließend kamen sie dann bei der Fleischerei vorbei, dem Friseursalon, dem Schreibwarengeschäft, weiter bis zum Midnight Bell, dem Pub an der Ecke gegenüber der Fish-and-Chips-Bude und einem altmodischen Süßwarenladen, in dem es so traditionelle Köstlichkeiten wie Zitronen- und Kräuterdrops, Anisbonbons, Hustenpastillen, Fruchtgummis und alle möglichen Sorten Lakritze gab, die in gestreiften Papiertüten verkauft wurden.
Ganz am Ende des charmanten Gässchens befand sich ein kleiner Platz mit einem Flair wie aus einem Dickens-Roman: Rochester Mews.
Der Platz war weder hübsch noch malerisch, sondern bestand aus verwitterten, kreisförmig aufgestellten Holzbänken zwischen Blumentöpfen voller Unkraut. Selbst die Bäume wirkten, als hätten sie schon bessere Zeiten gesehen. Auf der einen Seite befanden sich fünf leere Ladengeschäfte, deren ausgeblichene Schilder und abgeblätterte Fassaden daran erinnerten, dass einst ein Blumengeschäft, ein Kurzwarenhandel, ein Tee- und Kaffeeladen, ein Briefmarkenhändler und eine Apotheke darin untergebracht gewesen waren. Auf der anderen Seite befand sich ein größerer Laden mit altmodischen Bogenfenstern und einer verblichenen schwarz-weiß gestreiften Markise – Bookends.
Die Sonne ging bereits unter, als an diesem Februartag ein roter Sportwagen in die Gasse einbog und vor dem Laden hielt. Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann in einem dunklen Anzug und einem Hemd im selben Rotton wie der Wagen stieg aus, der sich bitter darüber beschwerte, dass das Kopfsteinpflaster den Stoßdämpfern seines alten Triumph gehörig zusetzte.
Er trat um die Motorhaube herum zur Beifahrerseite und öffnete die Tür. »Komm schon, Morland, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Ich habe dich nach Hause gefahren, das war meine gute Tat für heute. Könntest du jetzt also bitte deinen Hintern aus meinem Wagen schaffen?«
Eine junge Frau in einem rosafarbenen Kleid kletterte aus dem Sportwagen und stand einen Moment lang leicht schwankend da, als müsste sie sich nach monatelanger Seereise erst daran gewöhnen, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. In der einen Hand hielt sie einen cremefarbenen Umschlag.
»Morland!« Der Mann schnippte mit den Fingern vor dem Gesicht der jungen Frau herum, die nun aus ihrer Trance zu erwachen schien.
»Unhöflich!«, rief sie. »Absolut unhöflich!«
»Was stehst du auch herum wie eine Kuh, wenn’s blitzt«, gab er zurück und lehnte sich gegen die Wand, während sie einen Schlüssel aus ihrer Handtasche kramte. »Ich komme aber nicht mit rein«, sagte er und deutete auf den sichtlich vernachlässigten Garten. »Was für eine Müllhalde. Ich fürchte, wir werden uns demnächst mal unterhalten müssen. Mit dir als Mieterin ist mit der Bude ja nicht viel anzufangen.«
Die junge Frau, die immer noch mit den Schlüsseln kämpfte, fuhr herum und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Aber ich bin doch keine Mieterin, oder? Ich dachte, es gehört mir. Na ja, zumindest für die nächsten zwei Jahre …«
»Nicht jetzt, Morland. Ich bin ein viel beschäftigter Mann.« Er war bereits auf halbem Weg zu seinem Wagen. »Bis dann.«
Sie sah zu, wie er mit knirschender Gangschaltung davonbrauste, schloss die Tür auf und trat hinein.
Posy hatte keinerlei Erinnerung daran, wie sie mit Sebastian den Club verlassen hatte, in seinen Wagen gestiegen war und den Gurt angelegt hatte – absolut keine. Es war, als wäre sie in dem Moment, als sie Lavinias Brief zusammengefaltet und wieder in den Umschlag gesteckt hatte, in ein schwarzes Loch gefallen, aus dem sie erst jetzt wieder auftauchte.
Als sie nun im dunklen Laden stand, den Blick über die vertrauten Regale und Bücherstapel schweifen ließ und den tröstlichen Duft nach Papier und Druckertinte einsog, hielt sie den Umschlag noch immer in der Hand. Sie war zu Hause, und mit einem Mal war die Welt wieder so, wie sie sein sollte; trotzdem stand sie reglos da, weil sie nicht sicher war, ob ihre Beine sie tragen würden, ganz zu schweigen davon, wohin.
In diesem Moment ertönte die Glocke über der Tür. Sie fuhr herum und sah Sam im Türrahmen stehen, die Schultasche lässig über eine Schulter geschwungen, sein Anorak geöffnet, obwohl es eiskalt draußen war und sie ihn jeden Morgen ermahnte, den Reißverschluss hochzuziehen.
»Du meine Güte, du hast mir einen Riesenschreck eingejagt«, rief sie. Inzwischen war es stockdunkel geworden. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie hier gestanden hatte. »Du kommst spät.«
»Heute ist Dienstag. Fußballtraining.« Sam schob sich an ihr vorbei. Posy bemerkte, dass er sich ein wenig ungelenk bewegte, was bedeutete, dass seine Schuhe wieder einmal zu klein waren, er es aber nicht zugeben wollte, weil sie erst im Januar ein neues Paar im Schlussverkauf für ihn erstanden hatte.
Letztes Jahr um diese Zeit war er so groß gewesen wie sie, inzwischen überragte er sie um gut zwanzig Zentimeter, und eines Tages würde er bestimmt so groß sein wie ihr Vater. Als er das Licht anmachte, fiel Posys Blick auf seine abgewetzten Socken, was bedeutete, dass seine Hose mittlerweile zu kurz war und er eine neue brauchen würde – für beides hatte sie in diesem Monat nichts zurückgelegt. Sie blickte auf Lavinias Brief, den sie noch immer nicht aus der Hand gelegt hatte.
»Geht es dir gut, Posy? War’s schlimm?« Stirnrunzelnd lehnte Sam sich gegen den Verkaufstresen. »Heulst du gleich? Soll ich schon mal die Schokolade holen?«
»Was? Nein. Ja. Ich meine, die Beerdigung war tatsächlich schrecklich. So traurig. Unendlich traurig.«
Sam linste unter seinem Pony hervor – er weigerte sich standhaft, ihn schneiden zu lassen, obwohl sie ihm regelmäßig damit drohte, nachts mit der Schere in sein Zimmer zu schleichen und mit den überlangen Strähnen kurzen Prozess zu machen. »Ich finde ja immer noch, ich hätte hingehen sollen. Immerhin war Lavinia auch meine Freundin.«
Posy reckte ihre Arme und Beine, die sich ganz steif anfühlten, trat zum Tresen und strich Sam das Haar aus dem Gesicht. Er hatte die gleichen blauen Augen wie sie – von ihrem Vater geerbt. Vergissmeinnichtblau, so hatte ihre Mum sie immer genannt.
»Ach, Sam, wenn du erst älter wirst, wirst du zu mehr Beerdigungen gehen müssen, als dir lieb ist. Du wirst es im Nullkommanichts satthaben. Außerdem gibt es in ein paar Monaten einen Gedenkgottesdienst, den du besuchen kannst, wenn keine Schule ist.«
»Aber dann sind wir vielleicht nicht mal mehr in London«, wandte Sam ein. Er wich zurück und das Haar fiel ihm wieder vor die Augen. »Weißt du schon, was mit dem Laden passieren soll? Ob wir noch bis Ostern hierbleiben dürfen, was meinst du? Was wird aus der Schule? Ich muss bald Bescheid wissen, dieses Schuljahr ist ziemlich wichtig für mich.«
Beim Klang seiner brüchigen Stimme musste Posy schlucken. »Niemand wird uns den Laden einfach wegnehmen«, sagte sie, doch es laut auszusprechen machte es nicht besser – es war immer noch absolut unglaublich. Abgesehen davon schien Sebastian Pläne mit dem Anwesen zu haben, in denen weder für Bookends noch für sie ein Platz vorgesehen war. »Lavinia hat mir den Laden hinterlassen. Er gehört jetzt mir und damit schätzungsweise auch die Wohnung oben.«
»Weshalb um alles in der Welt sollte sie dir den Laden hinterlassen?« Sam öffnete den Mund – vermutlich, um eine weitere Salve von Fragen abzufeuern, besann sich jedoch offenbar eines Besseren und klappte ihn wieder zu. »Ich meine, es ist ja echt nett von Lavinia, aber bisher durftest du ja ohne Aufsicht noch nicht mal die Tageseinnahmen zählen.«
Das stimmte – seit dem Tag, als plötzlich hundert Pfund in der Kasse gefehlt hatten. Allerdings hatte sich herausgestellt, dass das Geld gar nicht weg, sondern nur die Null auf der Tastatur verklebt gewesen war, weil Posy beim Kassieren ein Twix gegessen hatte. »Lavinia wollte sichergehen, dass für uns gesorgt ist, allerdings frage ich mich, ob das die beste Methode ist«, gestand Posy. »Oh Sam, ich bin völlig durch den Wind und kann im Moment keinen klaren Gedanken fassen. Hast du Hausaufgaben?«
»Du willst jetzt über Hausaufgaben reden? Jetzt?« Posy hätte schwören können, dass Sam die Augen verdrehte, auch wenn sie es hinter seinem Pony nicht erkennen konnte. »Was ist los mit dir?«
Was sollte sie darauf antworten? »In erster Linie habe ich Hunger. Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen. Sollen wir Sandwich mit Fischstäbchen zum Abendessen machen?« Fischstäbchen-Sandwich war ihr Standardessen, wenn es einem von ihnen nicht gut ging. In letzter Zeit kam es ziemlich häufig auf den Tisch.
»Und Chips. Und Bohnen in Tomatensauce dazu«, sagte Sam und folgte Posy durch das Hinterzimmer und die Treppe hinauf. »Also, in Englisch muss ich einen Rapsong im Stil eines Shakespeare-Sonetts schreiben. Kannst du mir helfen?«
Später, nachdem sie zu Abend gegessen hatten und Sams Englischhausaufgaben – mit Unterstützung von einem Glas Wein und einer zum Glück überschaubaren Anzahl zugeknallter Türen (vorwiegend von Posy) – zu Papier gebracht waren, ging sie nach unten in den Laden.
Sam sollte sich eigentlich fertig fürs Schlafengehen machen, doch aus seinem Zimmer drang das leise, blecherne Geräusch eines Computerspiels. Posy hatte jetzt nicht die Energie, sich mit ihm zu streiten – nicht nachdem sie mühsam versucht hatte, Jay Zs 99 Problems in einen jambischen Fünfheber umzuschreiben.
Sie schaltete die Regalbeleuchtung an, sodass der Laden in tiefe Schatten getaucht war, und wanderte ziellos umher. Regale säumten die Wände bis zur Decke, in der Mitte standen ein großer Auslagentisch und drei Sofas in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Durch bogenförmige Durchgänge gelangte man in mehrere durch Regale unterteilte Nebenräume. Immer wieder überkam Posy die Vermutung, dass die Regale sich über Nacht vermehrten. Manchmal, wenn sie im hintersten Winkel des Ladens nach etwas suchte, stieß sie auf ein Regal, bei dem sie hätte schwören können, dass sie es noch nie zuvor gesehen hatte.
Behutsam strich sie mit den Fingern über die Buchrücken, wie bei einer stummen Inventur. Der letzte Raum auf der rechten Seite war durch Glastüren abgetrennt. Hier hatte sich einst die Teestube befunden, die ihre Mutter betrieben hatte, doch inzwischen wurde sie als Lagerraum genutzt. Tische und Stühle waren an die Wand geschoben worden, das Porzellan und ein paar Tortenplatten, liebevoll in Wohltätigkeitsläden, Antikmärkten und Haushaltsauflösungen zusammengesammelt, lagen dort in Schachteln verpackt. Wenn Posy die Augen schloss, sah sie den Raum wieder vor sich, wie er einst gewesen war, hatte noch den Duft nach Kaffee und frisch gebackenem Kuchen in der Nase, sah ihre Mutter mit ihrem blonden Pferdeschwanz zwischen den Tischen herumwuseln, die Wangen gerötet, die grünen Augen strahlend, während sie Kaffee nachschenkte und leere Teller abräumte. Drüben im Laden rollte ihr Vater die Hemdsärmel hoch – er trug stets Hemd und Weste zu seinen Jeans. Meistens fand man ihn irgendwo auf einer Leiter, um ein Buch für einen wartenden Kunden herauszusuchen. »Wenn Ihnen das gefallen hat, werden Sie von diesem hier begeistert sein«, so sein Standardspruch. Lavinia hatte ihn stets als König des Verkaufsgesprächs bezeichnet. Inzwischen stand Posy in der Lyrikabteilung und hielt reflexartig Ausschau nach den drei Gedichtbänden ihres Vaters, die sie stets vorrätig hatten. »Wäre Ian Morland nicht so jäh aus unserer Mitte gerissen worden, wäre er ganz bestimmt einer der bedeutendsten Lyrik-Schriftsteller unseres Landes geworden«, hatte Lavinia in ihrem Nachruf auf Posys Vater geschrieben. Für ihre Mutter hatte niemand einen Nachruf verfasst, was jedoch nicht bedeutete, dass sie weniger schmerzlich vermisst wurde.
Als Posy sich umdrehte und zurückging, war es kein Laden, den sie durchquerte, sondern ihr Zuhause, in dem die Erinnerungen an ihre Eltern immer noch lebendig waren.
An einer der Wände im Hinterzimmer hingen zahlreiche Signaturen großer Autoren, die die Buchhandlung besucht hatten – von Nancy Mitford über Truman Capote bis hin zu Salman Rushdie und Enid Blyton. Ritzen im Türrahmen zeigten die Wachstumsfortschritte aller Bookends-Kinder, angefangen mit Lavinia und ihrer Tochter, bis hin zu Posy und Sam.
Draußen im Vorgarten hatten regelmäßig Sommerfeste und Weihnachtsfeiern stattgefunden. Posy erinnerte sich noch genau an die mit Lichterketten geschmückten Bäume bei Buchpräsentationen oder Lesungen im Freien. Einmal hatten sogar zwei Kunden ihren Hochzeitsempfang im Garten veranstaltet, die sich im Laden kennengelernt und beim Austausch über eine Ausgabe von Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins bis über beide Ohren ineinander verliebt hatten.
In der Ecke unterhalb der Regale befand sich eine winzige Kammer, in der ihr Vater ihr eine kleine Leseecke eingerichtet und in der sie es sich mit vier selbst genähten Kissen ihrer Mutter so richtig gemütlich gemacht hatte.
Im Bookends hatte Posy einige ihrer besten Freundinnen kennengelernt. Die Schwestern Pauline, Petrova und Posy Fossil (nach der sie benannt worden war) aus Ballettschuhe, dem Lieblingsbuch ihrer Mutter; außerdem Hanni und Nanni, Dolly, aber auch Scout Finch aus Wer die Nachtigallstört, die Bennet-Schwestern und natürlich Jane Eyre.
Und an einem Abend, der diesem nicht unähnlich gewesen war – nur tausend Mal schlimmer –, war sie ebenfalls durch den dunklen Laden gegangen, noch immer in ihrem schwarzen Kleid und dem Bild vor Augen, wie die beiden Särge ihrer Eltern in das Grab hinabgelassen worden waren. In dieser Nacht hatte sie in ihrem Bett gelegen, fest entschlossen, nicht in Tränen auszubrechen, weil sie nur zu gut wusste, dass sie ihr Leid hinausgeschrien hätte, aber Sam nicht wecken wollte. Damals hatte sie wahllos irgendein Buch aus dem Regal gezogen und sich in ihrer Leseecke verkrochen.
Es war ein Roman von Georgette Heyer gewesen, Die Jungfernfalle, über ein hübsches, lebensfrohes Mädchen namens Judith Tavener, das mit dem dubiosen, aufgeblasenen Julian St. John Audley, ihrem Vormund, aneinandergerät. Zusammen mit Judith stürzte sich Posy in das gesellschaftliche Leben Londons, erlebte die wildesten Abenteuer in Brighton, umgarnte Beau Brummel und den Prinzregenten und führte hitzige Wortgefechte mit dem arroganten Julian. Der Roman hatte Gefühle in Posy ausgelöst, von deren Existenz sie bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts geahnt hatte. Der Roman von Georgette Heyer reichte zwar nicht ganz an ihr Lieblingsbuch Stolz und Vorurteil heran, kam ihm aber ziemlich nahe.
Während der nächsten Wochen, in denen jeder überlebte Tag ein echter Erfolg war, las Posy jeden einzelnen von Georgette Heyers Regency-Romanen. Sie bettelte Lavinia an, noch weitere Titel zu bestellen, und als sie auch diese weggeschmökert hatte, durchforstete sie das Internet nach anderen Autorinnen, die als Heyers Nachfolgerinnen galten: Clare Darcy, Elizabeth Mansfield, Patricia Veryan, Vanessa Gray. Keine von ihnen konnte es mit Heyers beeindruckender Beobachtungsgabe, ihrem Wortwitz und ihrer Liebe zum Detail aufnehmen, dennoch standen auch bei ihnen flatterhafte junge Erbinnen und fiese Männer im Mittelpunkt, die sie zu dominieren versuchten, ehe die Liebe am Ende siegte.
Posy hatte Lavinia überredet, einen ganzen Raum der Buchhandlung ausschließlich mit diesen von ihr so heiß und innig geliebten Romanen zu bestücken. Und als sie schließlich sämtliche davon durchgeackert hatte, verschlang sie andere Bücher, in rauen Mengen: Lovestorys, in denen das Mädchen nicht nur den Mann bekam, den es sich sehnlichst wünschte, sondern alle Beteiligten das Happy End, das sie verdienten. Na ja, fast alle. Serienmörder und Menschen, die Tiere misshandelten oder betrunken Auto fuhren – besonders solche wie der Typ, der über den Mittelstreifen der M4 gebrettert und frontal in den Wagen ihrer Eltern geknallt war –, verdienten natürlich kein Happy End; alle anderen dagegen schon.
Es stellte sich heraus, dass viele der Frauen, die in den nahe gelegenen Geschäften und Büros arbeiteten und in der Mittagspause zu Bookends zum Stöbern kamen, ebenfalls eine Schwäche für gut gemachte Liebesromane hatten. Da sich keiner für trübselige Memoiren oder stocklangweilige Bände über Militärgeschichte interessierte, brachte Posy Lavinia dazu, ihr zwei weitere Räume zu überlassen.
Aber heutzutage kauften die Leute einfach nicht mehr genug Bücher, völlig egal, welchen Genres. Zumindest nicht bei Bookends. In ihrem Brief hatte Lavinia überzeugt gewirkt, dass Posy eine wasserdichte Strategie aus dem Hut zaubern würde, um potenzielle Käufer in den Laden zurückzulocken, doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie ihr das gelingen sollte.
Plötzlich ertrug Posy die übervollen Regale keine Sekunde länger. Der Laden war stets ihr Hafen der Freude gewesen, ihr Fixstern, ihre behagliche Decke aus Holz und Papier, doch nun schien sie der Raum gleichsam zu erdrücken. All die Verantwortung, die damit verbunden war – denn Verantwortung zu übernehmen gehörte nicht gerade zu Posys Stärken.
Sie löschte die Lichter, schloss die Tür zum Treppenhaus, die sonst immer offen stand, und ging langsam nach oben. Gerade als sie Sams Zimmertür aufreißen wollte, fiel ihr die Anklopf-Regel wieder ein, die sie eingeführt hatten, nachdem er sie eines Tages unter der Dusche dabei ertappt hatte, dass sie laut »Bohemian Rhapsody« in die Shampooflasche, ihr Mikro, schmetterte.
»Sam? Machst du gerade etwas Unanständiges?« Gütiger Gott, bitte mach, dass er es nicht tut, ich bin einfach noch nicht so weit, dachte sie. »Kann ich reinkommen?«
Ein bestätigendes Grummeln drang durch die Tür. Sie öffnete sie vorsichtig. Sam lag bäuchlings auf dem Bett und starrte in seinen Laptop. »Was gibt’s?«
Posy setzte sich auf die Bettkante und betrachtete seine knochigen Schultern. Selbst jetzt, obwohl er bereits seit fünfzehn Jahren ein fester Bestandteil ihres Lebens war (Wunder-Baby, hatten ihre Eltern Sam genannt, obwohl Posy mit ihren dreizehn bei der Vorstellung, was ihre Eltern getan hatten, um dieses Wunder-Baby zu erschaffen, vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre), überkam sie häufig noch der Drang, ihn zu knuddeln, bis er quiekte. Sie liebte ihren kleinen Bruder heiß und innig. Sie wollte ihm das Haar zerzausen, doch er wandte sich ab. »Finger weg! Hast du getrunken?«
»Nein!« Posy stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Ich muss mit dir reden.«
»Aber wir haben doch schon über Lavinia gesprochen, und ich habe dir gesagt, dass ich traurig bin und es echt beknackt finde und alles, aber, ganz ehrlich, Pose, ich habe keinen Bock mehr auf das Gefasel über Gefühle und all den Quatsch.« Er verzog das Gesicht. »Geht es nicht ohne?«
Posy stand das Gerede über Gefühle und Trauer ebenfalls bis oben, trotzdem war sie die große Schwester. Die Person, die ihm die Eltern ersetzen musste. Die Erwachsene, die Verantwortung übernehmen musste. »In Ordnung. Aber wenn du reden willst, können wir das gerne tun. Ich bin immer für dich da.«
»Klar, weiß ich doch.« Sam löste den Blick vom Bildschirm und lächelte dünn. »War’s das?«
»Na ja, eigentlich wollte ich noch über etwas anderes mit dir sprechen.« Das Arrangement galt für beide Seiten: Posy sollte mit Sam über alles reden können – außer über ihre Periode, ihr Gewicht, ihr nicht-existierendes Liebesleben (Sam hatte eine Liste mit allen Punkten zusammengestellt) –, aber das Ganze war heikler als vermutet. »Ich weiß ja, dass du nicht viel Zeit zum Nachdenken hattest, aber was hältst du davon, wenn ich den Laden übernehme? Ich könnte es schaffen, oder nicht? Immerhin liegt mir das Buchgeschäft im Blut. Wenn du mich mit dem Messer schneidest, kommen wahrscheinlich Wörter aus meinen Adern, und deshalb gibt es vermutlich keinen, der geeigneter für die Aufgabe wäre als ich, oder?« Posy ließ die Schultern sacken. »Andererseits würde es bedeuten, dass ich dann erwachsen und verantwortungsbewusst sein müsste.«
»Ich sag’s ja echt nicht gern, Pose, aber du bist achtundzwanzig und damit erwachsen.« Sam stützte sich auf die Ellbogen, sodass Posy seine skeptische Miene sehen konnte. Sie nahm sich vor, nicht Sam zu konsultieren, sollte sie jemals einen Leumundszeugen brauchen. »Und eigentlich bist du ja auch verantwortungsbewusst … auf deine Art. Ich meine, die letzten sieben Jahre warst du für mich verantwortlich, ich lebe noch und habe weder Rachitis noch sonst etwas bekommen.«
Das war nicht unbedingt das Lob, das Posy hören wollte. »Aber wie soll das mit dem Laden gehen? Ich habe zwei Jahre Zeit, um ihn zum Laufen zu bringen und dafür zu sorgen, dass er Profit abwirft.«
»Sogar weniger als zwei Jahre. Der Laden wirft doch keinerlei Gewinn ab, und es gibt ihn nur noch, weil Lavinia ein gewaltiges Vermögen hatte, das sie reinpumpen konnte.« Sam zuckte die Achseln. »Das hat Verity zu Tom gesagt, als er nach einer Gehaltserhöhung gefragt hat.«
Mit Sam gab es zwei massive Probleme: Erstens war er eigentlich viel zu klug, und zweitens schnappte er ständig Dinge auf, die er eigentlich nicht aufschnappen sollte, und machte sich Sorgen über Dinge, um die sich eigentlich nur Posy kümmern sollte.