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In Ludwig Ganghofers Mittelalterroman 'Der Klosterjäger' wird die Geschichte von Rudolf von Hohenburg erzählt, einem jungen Adligen, der als kaiserlicher Klosterjäger gegen die korrupten Machenschaften des Klosters St. Anna vorgeht. Ganghofer schafft es meisterhaft, die mittelalterliche Welt mit all ihren Intrigen und Konflikten zum Leben zu erwecken. Sein detailreicher Schreibstil und seine lebendigen Beschreibungen lassen den Leser in die Welt des 16. Jahrhunderts eintauchen. Der Roman wird oft als Höhepunkt von Ganghofers Schaffen angesehen und zeigt sein Talent für historische Erzählungen. Die historische Genauigkeit und die Spannung des Plots machen 'Der Klosterjäger' zu einem unvergesslichen Leseerlebnis.
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Seitenzahl: 501
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Books
Dem Angedenken meines heimgegangenen Kindes
Sie stieg hernieder auf die Erde, Wie von der Sonne fällt ein Strahl ... Und schwand hinweg von dieser Erde, Wie er verglüht im dunklen Tal.
Der Blume gleich im Frühlingshage, An Leib und Seele sonder Fehl, War sie die Freude meiner Tage, Mein Sorgentrost und mein Juwel.
Kein Wölklein, das sich nicht zerteilte Vor ihrem sonnigen Gesicht, Und wo sie ging und wo sie weilte, Da war die Wärme, war das Licht.
Sie lächelte: man mußte lieben. Ein Blick: und sie gewann ein Herz ... Und ach, was ist von ihr geblieben? Ein kleines Grab, ein großer Schmerz.
L.G.
Frühling im Bergwald! Er kennt die Blumen nicht, die der Lenz über die Wiesen des Tales streut, kennt nicht die linden Lüfte, die spielend durch blühende Hecken streichen, und nicht das liebliche Gezwitscher der heimgekehrten Schwalben, die unter gastlichem Dach ihre Nester bauen. Frühling im Bergwald! Das ist Brausen und Sausen, Toben und Donnern, Sturm und Tod. Über dem Bergwald liegt der Winter wie ein grauenhafter Riese, und der Frühling, der ihn scheuchen will, muß kommen als ein gewaltiger Held, muß töten und zerstören, bevor er bauen kann und neues Leben wecken aus eisigem Schlaf.
Hoch in den steilen Felsen krachen ohne Unterlaß die stürzenden Lawinen, über die Halden fährt der stürmende Föhn mit dumpfem Sausen, mit seinem heißen Atem schnaubt er über den schwindenden Schnee, im Walde packt er die alten mächtigen Fichten und rüttelt sie, daß sie erbeben in ihrem Mark. Und was sie tragen an morschem Gezweig, das bricht er ab von ihnen und führt es davon in jagendem Wirbel. Ein Rieseln und Gurgeln, immer und überall, auf jedem Hange bildet sich ein springender Bach, über alle Felsen plätschern die Wasser, zu denen der Schnee zerschmolzen, alle Wurzeln umspülen sie und sammeln sich zum tobenden Gießbach, der den Bergwald säubert von allem Unrat, jeden kranken, schwachen Baum zerschmettert und nur bestehen läßt, was stark ist und gesund. Die Felsklötze, die der Winterfrost von der Steinwand sprengte, kommen ins Wandern, wenn der Schnee zerrinnt; sie stürzen und sausen nieder durch den Bergwald in dröhnenden Sprüngen, mit Krachen und Schmettern, und wo sie im Sturz die Erde treffen, da pflügen sie den Grund, damit der überwinterte Same, den der Lenzwind ausweht, im Boden die frische Narbe fände.
In diesem Rauschen und Brausen, inmitten dieses Frühlingskampfes gegen den Winter, wandert ein einsamer Mensch.
Rüstigen Ganges, mit halblauter Stimme ein Lied singend, schreitet er über den vom Schnee schon halb entblößten Almenhang: eine schlanke, knochenfeste Gestalt; ein junges Antlitz mit blitzenden Augen und einem lachenden Mund, den der Flaum des blonden Bartes umkräuselt. In eisenbeschlagenen Bundschuhen stecken die nackten Füße; Strümpfe aus ungegerbtem Rehfell, die Haare nach innen gewendet, umschließen die Waden; aus der kurzen, verwitterten Lederhose ragen die nackten Knie hervor, die aus braunem Erz gegossen scheinen. Ein grobes Hemd und ein aus zottigem Loden geschnittenes Wams umhüllen den straffen Körper. Über dem krausen Blondhaar trägt er die pelzverbrämte Lederkappe mit der Adlerfeder, am Gürtel ein kurzes Weidmesser und den kleinen Bolzenköcher, hinter dem Rücken die plumpe Armbrust mit fingerdicker Sehne, und in den Händen führt er das lange ›Griesbeil‹: den mit scharfem Stachel und eisernem Haken versehenen Bergstock. Es ist Haymo, der Klosterjäger, der dem Propste Heinrich von Berchtesgaden die Hirsche, Gemsen und Steinböcke hütet.
Vor Wochen schon, da der Schnee noch tief lag und im Marsche kaum zu überwinden war, hatte Haymo die Jägerhütte bezogen, hoch über dem grünen Königssee, in einem weiten Felstal, dem die roten Marmorwände, die es rings umschließen, den Namen gaben: ›In der Röt‹.
Vom Morgen bis zum Abend, täglich, machte Haymo seinen Hegergang; das war für ihn eine harte Zeit; er durfte keine Stunde rasten, mußte die Augen offen halten den ganzen langen Tag. Der strenge Winter hat das Wild vertraut und zahm gemacht, und die Raubschützen haben leichte Arbeit; in großen Rudeln ziehen die Hirsche schon früh am Abend auf die offenen Almen und erst am späten Morgen wieder zu Holz; die Gemsen stehen tief im Bergwald, und sogar die scheuen Steinböcke trieb der Winter aus ihren unwegsamen Felsrevieren in die Nähe der verlassenen Almhütten. Da galt es, unermüdlich Wache zu halten, denn gerade dieses seltene, edelste Wild war von den Raubschützen am meisten bedroht.
Ein ›Stainpokh‹ ist wie eine wandelnde Apotheke; die gerippten Hörner, die Hornschalen der Läufe, das getrocknete Blut, das im Volksmund ›Schweißbluh‹ genannt wurde, und besonders die ›Herzkhreizl‹, jene kleinen knochenähnlichen Gebilde, die im Herzen des erlegten Tieres gefunden werden, alles an ihm ist wunderbare, heilsam wirkende Arznei, die von Herren und Bauern mit teurem Gelde bezahlt wird. Wohl standen schwere Strafen auf der Erlegung solch eines Wildes: Kerker und Peitsche, Verlust der rechten Hand, sogar der Tod – doch der hohe Gewinn verlockte zum Raub, und so kam es, daß Haymo schon in der ersten Woche seiner Hegezeit den Abgang zweier Steinböcke vermerken mußte. Als unwiderlegbare Zeugen des geschehenen Raubes hatte er im Schnee die Schweißfährten der erlegten Tiere und die Fußspuren des Räubers gefunden, die sich im tieferen, schneefreien Bergwald verloren. Als zu Ende der Woche ein Laufbube des Klosters dem Jäger frischen Mundvorrat gebracht hatte, schickte Haymo mit dem Buben diese schlimme Nachricht hinunter ins Tal, in banger Sorge, wie Propst Heinrich, der an seinem Weidgehege und besonders an dem edlen Steinwild eine ritterliche Freude hatte, diese Botschaft aufnehmen würde.
Und die ganze folgende Woche gönnte Haymo sich keine Ruhe mehr, in der Nacht kaum einen kurzen Schlaf, und es war ihm nicht zu verdenken, daß ein zornflammendes Wort von seinen Lippen fuhr, sooft er in seinem öden Bergrevier die Fährte eines menschlichen Fußes spürte. Nur eine Gesundheit, so eisern wie die seine, konnte diese aufreibenden Strapazen überdauern. Wenn er nach tagelangem Marsche heimkehrte in seine Blockhütte, lag ihm die bleierne Müdigkeit in allen Gliedern; er brauchte sich nur auf sein Lager zu werfen, und es fiel über seine jungen Augen ein traumloser, fester Schlaf, der ihn erquickte, obwohl er nur wenige Stunden währte.
Haymo hatte sich, um in diesem schweren Schlummer das erste Grau des Morgens nicht zu verschlafen, einen Wecker erfunden. Er band sich mit einer Lederschnur einen schweren Stein an den Arm und legte, wenn er sich auf die Wolfsdecke streckte, dieses Steinstück so lose auf die Holzkante seines Lagers, daß es bei der leisesten Erschütterung zu Boden fiel. Sooft dann Haymo im Schlummer sich bewegte, weckte ihn der fallende Stein. Lag in der Hütte, wenn er erwachte, noch die finstere Nacht, dann richtete Haymo den Wecker wieder und schlummerte weiter. Doch wenn er sah, daß draußen vor dem kleinen Fenster die Sterne zu erblassen begannen, sprang er auf, wusch sich am rinnenden Quell, dessen eiskaltes Wasser vor der Hütte gurgelte, nahm sein karges Frühmahl ein und wanderte hinaus in den vom Föhn durchschütterten Frühlingsmorgen.
Noch waren die Nächte kalt, und es währte immer eine Weile, bis Haymo das Frösteln aus seinen Gliedern brachte. Der rasche Gang auf beschwerlichem Wege machte sein Blut lebendig, frische Röte färbte wieder seine jungen Wangen, und seine Augen blitzten hell wie Wasser, in das die Sonne scheint.
Je wilder ihn die Frühlingsstürme umrauschten, desto freier und wohler wurde ihm zumut. Und wenn sich der Morgen, an dem er das zu Holze ziehende Wild nicht stören und scheuchen durfte, zum vollen Tage wandelte, sang der Jäger, um der in seinem Innern treibenden Lebenskraft einen Ausweg zu schaffen, mit hallender Stimme ein Lied in den Frühlingsbraus und der steigenden Sonne entgegen, die mit ihrem funkelnden Gold die schneebedeckten Kuppen der Berge überschmolz. Doch wenn die Sorge, die ihn seit Tagen bedrückte, wieder sein Herz beschlich, wurde er schweigsam, stieg lautlos empor von Höhe zu Höhe und schickte die spähenden Augen in die Runde.
Da hatte er nun wieder einen schweren Tag hinter sich. Auf dem Heimweg zur Hütte begann er die Ermüdung hart zu spüren; in diesem tobenden Sturm, in diesem Schnee und rinnenden Gewässer war es kein Marsch zu nennen, den er gemacht, vielmehr ein Kampf um jeden Schritt. Wohl dämmerte schon der Abend, aber solange noch ein Schimmer von Licht über den Halden schwebte, durfte er nicht an die Heimkehr in seine Hütte denken. Auf hoher Bergrippe wollte er den Anbruch der Nacht erwarten.
Als er die Höhe betrat, winkte ihm, scharf abgehoben vom rotglühenden Abendhimmel, ein mächtiges Kreuz entgegen; ein Dächlein war darübergespannt, in den Querhölzern staken die Nägel, aber das Bild des gekreuzigten Erlösers fehlte; die frommen Almbauern hatten es im Herbste vom Kreuz genommen, damit es nicht leiden möchte von der Unbill des Winters, von Schneedruck und Lawinen.
Haymo zog die Kappe und sprach ein Gebet. Dann ließ er sich zu Füßen des Kreuzes nieder, lehnte sich an den Stamm, verschlang die Hände hinter dem Nacken und blickte still umher mit müden Augen, die sich schon dem Schlummer entgegensehnten. In kurzen Stößen, bald sich dämpfend, bald wieder aufbrausend mit verstärkter Macht, sauste der Föhn über ihn weg.
Gegen die steilen Felswände zog sich ein mehr als hundertjähriger, von Stürmen und Lawinen stark gelichteter Lärchenwald empor, dem die Nähe des Kreuzes seinen Namen gegeben; er hieß der ›Kreuzwald‹. An manchem Morgen war Haymo schon zu diesem Wald hinaufgestiegen, um den ersten Balzruf des Auerhahns zu erlauschen. Aber der stolze, einsiedlerische Vogel, dieser gefiederte Liebessänger der Berge, mochte den Frühlingsmorgen noch zu frostig finden, um den Sang seiner heißen Liebe zu beginnen. Zur Linken der Kreuzhöhe breitete sich das weite Felstal, an dessen jenseitiger Grenze, von einzeln stehenden Fichten überschattet, die Blockhütte des Jägers stand und daneben das größere Balkenhaus, in welchem Herr Heinrich und der Klostervogt zu nächtigen pflegten, wenn sie pirschen kamen. Und diesem Tal zu Füßen dehnte sich der mächtige Bergwald, der das von Schnee schon völlig entblößte Almenland umschloß und sich niedersenkte in die Tiefe, in welcher der See gebettet lag.
Haymo konnte den See nicht gewahren, auch nicht das weite Klosterland im Tal. Die tiefer liegenden Bergrücken wehrten seinem Auge den Niederblick. Aber ringsumher in weiter Runde bot sich ihm ein Bild von wundervoller Schönheit. Übergossen von der roten Glut der sinkenden Sonne, ragten die gewaltigen Schneeberge empor über das dunkle Meer der Wälder: dem Jäger zur Linken die wilden Tauern, die beiden Riesenzacken des Wazmann und die Schrofen der Wazmann-Kinder, zur Rechten der stolze, unwegsame Göhl, und in der Ferne, von bläulichem Schattenduft umwoben, stiegen die scharfgezahnten Lattenwände und die plumpen Massen des Untersberges in den golddurchleuchteten Abendhimmel. Wenn auch der Föhn mit Brausen alle Lüfte füllte, so trübte doch kein Wölklein den frühlingsklaren Himmel; um die Zinnen der Berge flatterte keine Nebelflocke, und ohne Dunst und Schleier lag das tiefere Geländ.
Unter langen Atemzügen hob sich Haymos Brust; bei dem stillen Schauen, mitten in Sturm und Wehen, befiel es ihn wie träumender Halbschlummer. Dann jäh erwachte er und fuhr betroffen auf, beinahe berührt von abergläubischem Schreck.
Ein junges Mädchen stand vor ihm, mit großen, staunenden Augen.
Er hat den Hall ihres Schrittes nicht vernommen, hatte sie nicht emportauchen sehen über den Rand der Höhe. Sie stand vor ihm wie aus den Lüften getreten. In ihrem zarten Wuchs, mit dem blassen, fein geschnittenen Gesicht und mit den tiefen Rätselaugen, umflattert von den schwarzen Strähnen des gelösten Haars, und in dem dünnen roten Rock, den der Sturmwind peitschte, war sie einer jener Elfen zu vergleichen, die in den Tiefen der Berge hausen und zuweilen an das Licht der Erde steigen, um ein Menschenkind zu beglücken mit ihren Gaben.
Und sie trug auch ein Körbchen in der kleinen Hand. Was es wohl bergen mochte? Funkelndes Geschmeide, Perlen, edle Steine?
Haymo fühlte, wie ein leiser Schauer ihn durchrann. Nun aber mußte er lächeln. Denn des Mädchens plumpe Schuhe und die ärmlichen Lappen des Gewandes hatten wenig Elfenhaftes. Haymo erhob sich. »Dirn? Was willst du hier?«
Sie schwieg und betrachtete ihn noch immer mit einem halb scheuen, halb traulichen Blick.
»Dirn! Woher kommst du?«
»Von dort!« sagte sie mit einer leisen, weichen Stimme und deutete nach der steilen Schneehalde, die sich hoch über dem Wald gegen die starre Felswand emporzog.
»Von dort?« wiederholte Haymo und überflog mit ungläubigem Blick die zarte Gestalt des Mädchens. Dort oben war es ein mühsames und gefährliches Gehen. Ein falscher Tritt auf dem von Tauwasser und Föhnwind glattgewaschenen Schnee, und es ging bergab in sausender Fahrt. Wohin? Das blutige Bild, das Haymo auf diese stumme Frage vor seinen Augen auftauchen sah, weckte ein bedrückendes Gefühl in seiner Brust, und er sagte: »Dirn! Das war ein böser Weg. Sei froh, daß du heil zurück bist.«
Sie schüttelte den Kopf und lachte – ein hell klingendes Kinderlachen.
»Aber was hast du nur da droben gesucht?«
»Schneerosen,« sagte sie und lüftete den Deckel an ihrem Körbchen, das zur Hälfte angefüllt war mit jenen zarten, weißen Blüten, die so schön und auch so kalt sind wie ein Wintermorgen. Dann wieder blickte das Mädchen lächelnd zu dem Jäger auf. »Es war eine rechte Plag! Seit dem Morgen bin ich auf den Füßen und hab doch kaum so viele Blumen gefunden, daß sie reichen für ein kleines Kränzl. Wir sind schon spät im Jahr, die meisten Stöck haben schon verblüht.«
»Für wen gehören die Rosen?«
»Für das Grab unseres lieben Herrn. Übermorgen ist Karfreitag.«
Eine Weile schwiegen die beiden. Haymo blickte zu dem leeren Kreuz empor; dann wieder sah er in die Augen des Mädchens und fragte: »Wer bist du?«
»Ich bin die Gittli! und du?«
»Der Klosterjäger.«
»Der neue?«
»Ja! Und wo bist du zu Hause, Dirn?«
»Drunten im Klosterdorf.«
Haymo erschrak. »Aber Dirn! Wie willst du den Heimweg finden? Heut noch? Das ist ein Weg, den du nit wanderst in fünf Stunden. Und es wird eine finstere Nacht.«
»Ich weiß eine Sennhütt, von hier eine halbe Stund, dort will ich nächten.«
»Du wirst frieren. Die Nacht wird kalt.«
»Frieren?« lachte sie. »Das Heu macht warm!« Und da sie sich schon zum Gehen wenden wollte, nahm sie rasch ein paar Schneerosen aus dem Körbchen und schob sie zwischen die beiden eisernen Nägel, die im Fußbalken des Kreuzes staken. Einen stummen Gruß nickte sie dem Jäger noch zu, dann fing sie mit der Hand das flatternde Haar, wand es um den Hals und huschte davon. Ein paar Schritte nur, und sie war in die Senkung des Tales hinuntergetaucht.
Haymo stand und wartete; es währte lang; dann sah er sie weit drüben im Steintal zwischen den Büschen wieder zum Vorschein kommen; ihr Rotrock schimmerte noch hell aus dem sinkenden Dunkel. Nun blieb sie stehen und schaute zurück; so glaubte Haymo. Aber es dämmerte schon zu sehr, als daß er auf die weite Strecke ihr Tun noch hätte genau unterscheiden können. Jetzt war sie schon so klein wie ein roter Käfer in dunklem Buschwerk, und nun verschwand sie.
Noch immer spähte Haymo den Weg entlang, den sie gegangen. Dann atmete er tief, und sein Blick fiel auf die weißschimmernden Blüten am Kreuz.
Schneerose! Du echte Blume der Berge! Nicht minder schön und lieblich, als die rotglühende Almenrose des Sommers, und noch geheimnisvoller als der Sammetstern des Edelweiß. Schneerose! Wenn der Winter seinen weißen Mantel über alle Berge wirft, wenn alles Blühen erstirbt und alles Wachstum entschlummert, dann regt sich die keimende Kraft in den tief gesenkten Wurzeln dieser einzigen Pflanze, als wäre sie bestellt zur Hüterin des Lebens, damit es nicht ganz erlösche in der toten Zeit zwischen Herbst und Frühling. In frostiger Öde sprossen ihre Blätter, und zwischen Schnee und Eis entfalten sich ihre weißen Blüten. Und wandert zur Winterszeit der Tod durch die verschneiten Hochlandstäler, und berührt er ein unschuldig Kind mit seiner kalten Hand, dann klimmt die weinende Mutter empor zu den schimmernden Schneehalden und windet ihrem entschlafenen Liebling die weißen Rosen zum Kranz, als Sinnbild des ewigen Lebens.
Schneerose! Das ist Leben und Tod zugleich! Denn die Wurzeln dieser Pflanze bergen einen geheimnisvollen Saft, der kranke Herzen gesunden läßt und bleiche Wangen wieder färbt. Für jenen aber, der diese Arznei zu gierig genießt, wird sie zum tödlich wirkenden Gifte.
»Zwei Tröpflen machen rot, Zehn Tropfen machen tot!«
So sagt der Volksmund – und während das sinkende Dunkel den weißen Rosenschimmer am Kreuze zu verschleiern begann, murmelte Haymo diesen Spruch vor sich hin, als überkäme ihn die Ahnung, daß die Zeit nicht fern wäre, in der ihm ›zwei Tröpflen‹ nötig würden.
Über allen Bergen war der rote Schein erloschen; ein grauvioletter Duft ließ Himmel und Erde ineinanderschwimmen. Zu Haymos Häupten dunkelte schon die Nacht; nur fern im Westen zog sich über den Horizont noch ein grünlichgelber Lichtstreif, in den der gezackte Grat der Lattenwand sich schwarz hineinzeichnete.
Der Bergwald und die Gießbäche rauschten, dumpf sauste der Föhn, und unruhig fingen die erwachenden Sterne zu funkeln an.
Eine Stunde hatte Haymo in der Nacht zu wandern, um seine Hütte zu erreichen. Als er dem Blockhaus näher kam, gewahrte er staunend, daß durch die halboffene Tür der rötliche Schein eines Herdfeuers leuchtete. Wer war zu Gast gekommen? Er beschleunigte den Schritt und trat in das Blockhaus.
Ein kleiner Raum. Die Balkenmauern des Hauses waren auch die Wände der Stube; mit dürrem Moos waren die Ritzen zwischen den Balken verstopft. Neben der Tür durchbrach ein winziges Fenster die Blockwand. Der niedere, aus Felsbrocken rohgemauerte Feuerherd nahm fast den vierten Teil des Raumes ein; an der Wand neben dem Herde stand das plump gezimmerte Bett, angefüllt mit Heu, darüber eine Wolfsdecke, ein Kissen aus Rehfell und ein großes, rauhhaariges Stück Loden; rings um die freien Wände lief eine Balkenbank, und in der Ecke neben dem Fenster stand der klotzige Tisch. An der Wand noch ein kleiner Schrein zur Aufbewahrung des Mundvorrates, über dem Herd zwei gekreuzte Stangen zum Trocknen der durchnäßten Kleider, neben der Tür zwei Holzzapfen für die Armbrust und das Wehrgehäng, ein Brett mit mancherlei Geschirr, und in der Ecke über dem Tisch ein Kreuz, dessen welker Blumenschmuck ebenso gebräunt war wie alles Gebälk; denn der Rauch des Herdfeuers hatte immer ein langes Weilen in der Stube, bis er durch die Ritzen der Blockwand und des Daches seinen Weg ins Freie fand.
Vor dem Herd, auf dem ein knisterndes Feuer flackerte, stand, mit der dampfenden Pfanne beschäftigt, der Laufbube des Klosters, ein etwa fünfzehnjähriger Bursch, hager, mit einem verschmitzten stulpnasigen Gesicht, die braunen Haare kurz geschoren; er war mit einem rauhhaarigen Wams bekleidet, das in Schnitt und Länge fast einer Kutte glich.
Als Haymo unter die Tür trat, grüßte ihn der Bub mit einem Kopfnicken und einem blinzelnden Blick. Vom Heubett erhob sich eine rundliche Gestalt, ein Mönch in der weißen Brudertracht der Augustiner, das wohlgenährte Bäuchl umschlungen von breitem Ledergurt; die genagelten Bundschuhe, die schon am Feuer zum Trocknen standen, hatte er durch Strohpantoffeln ersetzt. Er trat auf Haymo zu, die Fäuste in die Hüften gestemmt; seine kleinen Augen zwinkerten, der Mund bewegte sich kauend, und über der knopfigen Nase und den kugeligen Backen lag eine Purpurglut, wie sie der Widerschein des Herdfeuers allein nicht erzeugen konnte.
»Willkommen, ehrwürdiger Pater!« grüßte Haymo und zog die Kappe.
Walti, der Laufbub, kicherte zu diesem Gruß; der Mönch aber lachte: »Also du bist der Haymo, unser neuer Jäger?«
»Ja!«
»Glaub ich nit! Du? Was? Du willst ein Jäger sein? Ui jei! Mit dir hat Herr Heinrich was Schönes aufgegabelt. Ein Jäger muß Augen haben! Verstehst du? Aber du hast Augen wie eine Blindmaus. Sonst tätst du mich nit für einen Pater halten.«
Und Walti, den fettglänzenden Eisenlöffel schwingend, schrie dem Jäger ins Ohr, als hätte er einen Tauben vor sich: »Das ist ja nur der Frater Severin, unser Gärtner!«
O Spott des Namens! Severinus, das heißt zu deutsch der ›Strenge‹, der ›Ernsthafte‹ – und dieses Gesicht dazu und dieses Bäuchl, das vor Lachen wackelte, daß Frater Severin sich auf die Holzbank niederlassen mußte, um Atem zu finden!
»So? So? Ihr seid ein Frater?« sagte Haymo, sein Wehrgehäng von den Hüften schnallend. »Nun, dann seid mir doppelt willkommen!« Lächelnd streckte er seine Rechte hin.
Severin faßte sie mit der einen Hand, während er die andere drohend erhob: »Du! Du! Wenn ich das dem Dekan verrate, daß dir ein Pater die halbe und ein Frater die doppelte Freud macht, dann setzt es was!« Er wollte weitersprechen; doch aus der Pfanne, die über dem Feuer hing, stieg plötzlich ein zischender Dampf. »Walti, du Rabenvieh!« rief der Bruder erschrocken und sprang zum Herd. »Richtig! Läßt der Kerl uns das Futter anbrennen, als wär's eine Seel, die der Teufel schmort! Her mit dem Löffel!« Er riß dem Buben den eisernen Zinken aus der Hand und begann die rauchende Speise mit einem Eifer durcheinander zu stoßen, daß ihm die Schweißtropfen über die dicken Backen rannen.
Haymo sah ihm eine Weile zu, dann nahm er die Armbrust von der Schulter und rieb mit einem Lederlappen die von der feuchten Luft erweichte Sehne so lang, bis sie warm und trocken wurde. Als er die Waffe über den Holznagel hängte, trug Frater Severin die dampfende Pfanne zum Tisch.
»So, ihr Knospen, her zum Futter!«
Sie reihten sich um den Tisch, dem das Herdfeuer genügend Helle gab, sprachen ein kurzes Gebet, und Frater Severins Schmunzelgesicht wurde ernst für eine Minute. Kaum aber hatte er das Amen von den Lippen, da war sein Löffel der erste in der Schüssel.
Einige Bissen hatten sie gegessen, da legte Severin den Löffel nieder und hielt den beiden anderen die Hände fest. »Halt! Wir haben das Beste vergessen. Walti! Her mit der Güte Gottes!«
Der Bub sprang auf und holte flink aus dem Zwerchsack eine bauchige Tonflasche. Bedächtig löste Frater Severin den Rindenpfropf und schob dem Jäger die Flasche hin. »Sollst den ersten Schluck haben. Klosterbier!« Er schnalzte mit der Zunge.
Haymo tat einen langen Zug. »Ja, Frater, da merkt man die Güte Gottes!«
Walti kicherte. Und Frater Severin lachte. »Hörst du, was er gesagt hat? Güte Gottes!« Er gab dem Buben einen Puff in die Seite und vertiefte sich in die Flasche. Dann wieder zu Haymo gewendet, lachte er: »Ich will dir's verraten! Weißt du, ich bin kein böser Mensch. Wenn ich in meinem Chorstuhl knie, dann schlag ich an meine Brust und spüre, daß ich ein armer Sünder bin. Aber in Garten, Keller und Küche, da redet man auch gern wieder von irdischen Dingen. Dem Pater Dekan gefällt das nit. Drum haben wir uns eine Sprach erfunden, weißt du: ein fester Brotlaib, der heißt bei uns ›eine gute Seel‹, solch ein Krug, das ist die ›Güte Gottes‹, und eine alte Flasche, das ist ›des Himmels höchste Gnad‹. Und weißt du, was die ›wahre Andacht‹ ist? Eine gebackene Forelle! Und das ›Labsal der Betrübten‹? Ein gesulzter Hecht! Ui jei! Du solltest den Pater Dekan sehen, wie zufrieden er lächelt, wenn er uns von so frommen Dingen reden hört. Wenn ich etwa sag: ›Heut wurde mir des Himmels höchste Gnade zuteil‹! Oder: ›Ach, wie bin ich erfüllt von wahrer Andacht‹!«
So plauderten sie weiter, ließen die Flasche kreisen und taten sich gütlich an ihrem bescheidenen Mahl. Als Walti den Tisch räumte, sagte Frater Severin zu Haymo: »Neugierig bist du aber gar nit. Fragst nit einmal, weshalb wir gekommen sind!«
»Ich freu mich, daß ihr da seid!«
»Du sollst morgen hinunter ins Kloster und deiner Christenpflicht genügen.«
»Das tät ich gern. Wer aber hütet, bis ich wieder komm, meine Gemsen und Steinböck?«
»Ich!«
»Ihr?« lachte Haymo.
»Ja, ich, was sagst du?« jammerte Frater Severin. »Herr Heinrich meint, der faule Winter hätt mir zu wohl angeschlagen. Nun soll ich mir ein paar gute Pfündlen aus der Kutt laufen. Das wird eine böse Sache!« In banger Sorge befühlte er den Umfang seines Gurtes. »Aber du, du kannst dich auch freuen, wenn du morgen hinunterkommst. Neulich, als der Walti mit deiner Botschaft kam, da gab es ein Donnerwetter, ui jei! Weißt du, Herr Heinrich ist ein frommer, guter Mann, aber wenn es sich um verlorene Seelen und Steinböck handelt, kann er schelten wie ein Türk! Weißt du, was er sagte? Er sagte: ›Zwei Böck in einer Woche? Wenn das so fortgeht, steck ich den Burschen unter die Klosterknechte und schick einen anderen, der wachsamere Augen hat und sich besser versteht auf die Hut des Gewildes‹. Ja, das sagte er.«
Haymo erblaßte. Das hatte ihn ins Herz getroffen. Er hing am Weidwerk und an den schönen freien Bergen wie ein Blatt am Baum, das welken und sterben muß, wenn es der Wind vom Aste reißt. Er brachte kein Wort hervor; nur die Fäuste stieß er auf den Tisch und biß die Lippen übereinander.
Als Frater Severin gewahrte, was er angerichtet hatte, streichelte er dem Jäger die zitternde Faust und sagte begütigend: »Nun, nun, so schlimm wird's nit gleich werden. Herrn Heinrich brauchst du nit fürchten. Komm du morgen nur hinunter, schau ihm frei ins Aug, und alles ist gut! Und wenn Herr Schluttemann, der Klostervogt, ein Hagelwetter losläßt, so nimm es nit ernst und schüttel den Pelz! Weißt du, der speit halt Feuer, weil ihm Frau Cäcilia gehörig einheizt. In seiner Vogtstub hängt ein Bild. Hast du es gesehen? Der heilige Georg, der den Drachen ersticht! Ich mein', da sollt eher ein Bildnis hängen: Der Drache, der den heiligen Georg ersticht, aber nit mit der Lanze, sondern mit einer Blutwurst!«
Er wollte weitersprechen. Aber vom Herde klang die Stimme des Buben: »Frater Severin!«
»He?«
»Wißt Ihr, wen ich heut gesehen hab in aller Gottesfrüh?«
»Wen?«
»Den Schwarzen! Drunten am See, unter einer Ficht hat er gesessen und hat an einem Netz geflickt, als wär er nit der Pater Fischmeister, sondern ein höriger Knecht. Und wie ich vorübergegangen, hat er Augen auf mich gemacht wie Feuer, richtig zum Fürchten! Das ist einer!«
»Das ist freilich einer!« wiederholte Frater Severin. Und um den Jäger von seinen trüben Gedanken loszureißen, fragte er: »Hast du ihn nie gesehen, drunten am See?«
Haymo schüttelte den Kopf.
»Heuer um die Weihnachtszeit haben sie uns den hergeschickt aus Passau. Warum? Ich weiß es nit! So was erfährt ja unsereiner nie. Er soll aus fürstlichem Geblüt sein. Aber da drinnen –« er pochte auf seine Brust, »da muß es finster ausschauen bei dem! Ganze Tage lang ist er im verschneiten Klostergarten auf und ab gewandert wie ein Gespenst. Und jetzt im Frühjahr, da haben sie ihn zum Pater Fischmeister gemacht und an den See geschickt. Drunten, weißt du, wo es heraufgeht über den Wildbach, in dem öden Winkel zwischen Felsen und See, da haust er in seiner Klause. Könnt es so gut haben in seiner Chorherrenstub! Und hockt da heraußen in der Wüstenei! Mutterseelenallein! Freilich, umsonst heißt er nit Pater Desertus, der ›Einsam‹! Meinst du, er duldet einen Knecht in seiner Näh? Draußen im Seedorf müssen sie sitzen und dürfen nur kommen, wenn er sie ruft mit seiner Glocke.«
Haymo hörte nur mit halbem Ohr. Als Frater Severin das merkte, rüttelte er den Jäger am Arm. »Aber so red doch ein Wort! Das ist langweilig, so stumm zu hocken wie ein Räupl im Kohl. Komm! Trink einen Schluck! Und dann erzähl! Wo bist du denn eigentlich her?«
»Aus Sankt Benedikt Buren.«
»Wo Herr Heinrich vor Wochen zu Gast war?«
»Ja. Er fand Gefallen an mir und nahm mich mit.«
»Da hat er recht gehabt. Ich hätt es auch so gemacht. Sind deine Eltern Klosterleut?«
Haymo senkte den Kopf. »Mein Vater war ein freier Mann, ein Falkner; bei einem bösen Wetter hat ihn der Blitz erschlagen, und meine Mutter ist darüber gestorben aus Gram.«
»Armer Teufel!« murmelte Frater Severin und wollte des Jägers Hand fassen.
Haymo erhob sich und verließ die Stube. Draußen umfing ihn die Nacht. Lange stand er an den Stamm einer Fichte gelehnt, die unter dem stoßenden Föhn erzitterte bis in die Wurzeln. Er blickte empor zu den Sternen. Aber er sah ihr Funkeln und Leuchten nicht; die Bilder der Vergangenheit, traurig und froh, zogen an seinen Augen vorüber: die stürmische Nacht, da man den Vater brachte als einen stillen Mann; der Morgen, an dem man die Mutter tot auf ihrem Lager fand; der schöne Abend, da ein Klosterknecht den zehnjährigen Buben zum Pater Wildmeister in das Jachental brachte; die erste Bergfahrt, der erste Schuß auf die Scheibe und der erste in das Herz eines jagdbaren Hirsches; und dann die schönen Jahre hoch oben im freien Revier der Berge mit ihren Jägersorgen und Jägerfreuden – bis zu diesem letzten Abend, an dem das Mädchen mit den Schneerosen so plötzlich vor seinen Augen stand, selbst einer Schneerose vergleichbar, schlank wie eine Elfe.
»Gittli?«
Sein Blick bohrte sich in die Nacht. Aber dort unten, wo der rauschende Bergwald den Almenhang und jene Hütte umschloß, in der das Mädchen Schutz für die Nacht gesucht, dort unten war Finsternis.
Schlief sie schon? Und fror sie nicht im Schlummer? Sennhütten sind nur gebaut für den warmen Sommer: handbreite Lücken klaffen in den roh gefügten Balkenwänden, und es fährt der Sturm hindurch, zudringlich und kalt. Da wäre der Schläferin ein wärmendes Fell, eine schützende Decke willkommen.
Haymo sprang in die Hütte. Das Feuer auf dem Herd war fast erloschen; nur eine dünne Flamme schlug noch aus den zerfallenden Kohlen. Im Herdwinkel hatte Walti sich auf die warmen Steine gestreckt, und im Heubett schnarchte Frater Severin auf dem Wolfsfell und hielt die Lodendecke bis übers Kinn gezogen. Was der gute Frater wohl sagen möchte, wenn Haymo ihn weckte und zu ihm spräche: »Gib das Fell her und die Decke, die kleine Gittli friert!«
Haymo, leis, um die beiden anderen nicht zu wecken, ließ sich auf den Herdrand nieder. Da sah er, daß der Laufbub die Augen noch offen hatte. »Walti!« sprach er ihn flüsternd an. »Gelt, du kennst alle Leut im Klosterdorf?«
»Ja!« gähnte der Bub.
»Kennst du eine junge Dirn mit Namen Gittli?«
»Wohl. Das ist die Müllerstochter am Seebach drunt, ein festes Weibsbild mit blonden Zöpfen, dick wie mein Arm.«
»Die mein' ich nit. Eine andere.«
»Halt! Ja! die Krämerdirn? Haymo, die hat Moos und kriegt ein Haus. Aber schielen tut sie und einen Buckel hat sie auch. Pfui Teufel!«
»Die mein' ich auch nit. Eine andere.«
»Eine andere? Gittli? Ich weiß keine mehr.«
»Besinn dich!«
»Wie soll sie denn ausschauen?«
Haymo neigte sich über den Herd; seine Augen leuchteten, und von seinen Wangen wiederstrahlte die Glut der Kohlen: »Schlank und fein wie ein junges Lärchenstämml, flink wie ein Reh, ein Gesicht, so weiß wie die Schneerosen, und Augen so schön und so tief wie der See.«
Walti glotzte den Jäger an und schüttelte den Kopf. »Nein, die kenn ich nit. So eine gibt's gar nit bei uns im Dorf. Die müßt man draußen in der Salzburg suchen oder im reichen Hall, in den Herrenhäusern.« Er ließ sich gähnend zurücksinken in den Winkel, richtete sich aber gleich wieder auf. »Halt! Eine fällt mir noch ein. Ja, die heißt auch Gittli. Aber das ist noch gar keine Dirn. Die ist mit mir in die Klosterschul gegangen. Ein kleberes Ding. Hat Augen wie ein Wildkatz und Haar, so schwarz wie des Teufels Großmutter. Die kannst du nit meinen.«
Haymo lächelte. »Nein, die mein' ich freilich nit! Wer ist denn ihr Vater?«
»Sie hat keinen. Bei ihrem Bruder haust sie. Das ist einer! Dem geh ich aus dem Weg. Neulich, wie die Glock zum Essen läutet, hab ich sein Kindl umgerannt. Da hat er mir die Ohren schier aus dem Kopf gerissen. Der Teufel, der ungute! Ist ein Auswärtiger. Vor zehn Jahren ist er zu uns gekommen, weiß nit, woher. Drunten im Salzhaus ist er Sudmann, und sein Haus ist ein Klosterlehen. Jaaa!« Laut gähnend drehte sich Walti auf die Seite.
Haymo saß gegen die Blockwand gelehnt, flocht die Hände um das aufgezogene Knie und träumte mit offenen Augen.
Auf dem Herd erlosch die Glut, Frater Severin schnarchte, und draußen stürmte der Föhn um das kleine Balkenhaus, daß es zitterte in allen Fugen.
Es war nach den schweren Mühen des Tages keine bequeme Rast, die Haymo auf dem Herdrand hielt. Dennoch schlief er fest. Nach stillen Stunden weckte ihn ein Windstoß, der gegen die Hütte fuhr, als wollte er sie wegtragen in die Lüfte. Auch Walti erwachte; sogar Frater Severin stellte das Schnarchen ein und warf sich auf die Seite.
Haymo verließ die Hütte, um sich an der Quelle zu waschen; der Stand der Sterne zeigte die zweite Morgenstunde. Als er zurückkehrte, hatte Walti ein Feuer entzündet. Frater Severin schnurrte schon wieder im Schlaf wie die Säge in einer dürren Zirbe.
Heute brauchte Haymo kein Frühmahl, denn er mußte nüchtern bleiben für den Tisch des Herrn. Er schnallte das Wehrgehäng um die Hüfte, warf die Armbrust hinter den Rücken und drückte die Kappe über das krause Gelock. Aus dem Schreine nahm er eine ältere Armbrust hervor und einen Bolzenköcher und reichte beides dem Buben, dessen Augen aufblitzten, als er nach der Waffe griff.
»Kannst du schießen?«
»Auf hundert Gäng treff ich wohl einen Baum!« sprudelte es über Waltis Lippen.
»Gut! Laß den Frater schlafen! Du aber geh, wann der Morgen graut, und übernimm die Hut!«
»Welchen Weg soll ich machen?«
»Hinüber zur Kreuzhöh, dann hinauf durch den Wald bis unter die Wänd und immer an den Wänden fort. Aber nimm dich in acht vor den Lahnen und spring nit talwärts, wenn du sie rollen hörst über dir, sondern drück dich an die Wand! Und wenn du einen Steinbock siehst oder ein Rudel Gemsen, dann scheuch mir das Wild nit! Hörst du? Und wenn dir einer begegnet, der nichts hier oben zu schaffen hat, dann zeig, daß du ein richtiger Bub bist, und ruf ihn an! Es ist Klostergut, das du hütest.«
Walti nickte nur; sein Gesicht brannte, und fester schlossen sich seine Hände um die Armbrust.
»Und nun behüt dich Gott! Und grüß mir den Frater Severin!«
Draußen lag noch die Nacht mit ihrem Sturm und ihren Sternen. Rüstigen Ganges folgte Haymo durch das rauhe Steinfeld dem talwärts führenden Jägersteig. Nach einer Stunde erreichte er den rauschenden Almenwald. Durch die Finsternis, die ihn zwischen den Bäumen umgab, wanderte er so sicher dahin, als wär es heller Tag. Manchmal hörte er flüchtendes Hochwild brechen.
Nun teilte sich der Weg; der eine Pfad führte über die bewaldeten Wände steil hinunter zum See, der andere quer durch den Wald, auf einem Umweg bei den Sennhütten vorüber und dann nach weiten Windungen beim Seedorf in das Klostertal.
Bei den Sennhütten vorüber? Haymo fühlte, wie es ihn zog und zog. Er hätte gerne gewußt, ob Gittli die stürmische Nacht auch fahrlos überstanden. Um sich loszureißen, mußte er des Zweckes denken, der ihn heute hinunterrief ins Kloster.
In doppelter Eile folgte er dem immer abschüssiger werdenden Pfad. Die Sterne erblaßten, immer lichter wurde der Himmel, und über den Spitzen der Berge erwachte das Frührot. Ein rosiger Schimmer erfüllte den weiten Felsenkessel, in dessen Tiefe der See mit weißen Wellen schwankte. Als Haymo das steile Ufer erreichte, wurde drüben über dem See, in der Bartholomäusklause, der Morgensegen geläutet. Er zog die Kappe und sprach ein Gebet. Dann stieß er den Einbaum, der zwischen wirrem Gestrüpp an das Ufer gezogen lag, in das Wasser, sprang mit raschem Satz in das schwankende Fahrzeug und griff zum Ruder. Wohl hatte der wehende Föhn zwischen den tief gesenkten Felswänden nur halbe Macht, Haymo mußte aber doch seine ganze Kraft zusammennehmen, um bei den häufigen Wirbelwinden, die ihn überfielen, den plumpen Kahn in gerader Fahrt zu halten.
Es war heller Tag geworden, als er nahe dem Seedorf in einer vor dem Sturme geschützten Bucht den Einbaum wieder ans Land zog. Zwischen den rauschenden Fichten stieg er den sanft geneigten Waldweg empor. Nun verhielt er betroffen den Schritt. Vor ihm auf einem moosigen Steine saß ein Mönch. Netzwerk und Angelschnüre lagen zu seinen Füßen; er hielt die Arme auf die Knie gestützt und das Antlitz in den Händen vergraben. Die weiße Kapuze war zurückgesunken und enthüllte ein edel geformtes Haupt mit kurzgeschorenem, tiefschwarzem Haar; dicht und lang quoll der schwarze Bart unter den Händen hervor bis auf die Brust.
In Haymo erwachte die Erinnerung. Dieser Mönch vor ihm, das war wohl der ›Schwarze‹, von welchem Walti geplaudert hatte, der neue ›Pater Fischmeister‹, den ›sie von Passau hergeschickt‹, und von welchem Frater Severin erzählt hatte, daß er ganze Tage lang stumm und einsam im beschneiten Klostergarten auf und nieder gewandert wäre ›wie ein Gespenst‹?
Einen Schritt trat Haymo näher, sein eisenbeschlagener Schuh streifte an eine Felsplatte, und da richtete der Mönch sich auf. Diese stolze, edle Gestalt hätte eher in den Harnisch gepaßt als in die Kutte; das Gesicht aber, das der schwarze Bart umrahmte, war bleich wie Schnee; Gram und Seelenpein hatten die Züge verschärft und tiefe Furchen in die weiße Stirn gegraben; um die schmalen Lippen zuckte der Schmerz, und die tiefliegenden Augen brannten wie Feuer – das waren Augen, die lange die Wohltat der Tränen nicht mehr kannten. Haymo fühlte sein Herz berührt vom Anblick dieses Priesters; er zog verwirrt die Kappe und stammelte: »Hochwürdiger Vater! Was fehlt Euch? Seid Ihr krank?«
Der Mönch wandte sich wortlos ab, hob die Fischnetze und Angelschnüre auf seinen Arm und wollte gehen.
Haymo vertrat ihm den Weg. »Ich bitt Euch, redet ein Wort zu mir! Vielleicht kann ich Euch was zulieb tun? Sagt mir, was bedrückt Euch?«
»Das Leben!« glitt es leise von den Lippen des Mönches, als hätte er dieses Wort für sich allein gesprochen, nicht aber als Antwort auf die herzliche Frage des Jägers. Dann neigte er das Haupt – es war ein Gruß und eine Abweisung zugleich – und ging zu dem Pfade hinüber, der von den Bergen herunterführte gegen das Seedorf.
Betroffen blickte Haymo ihm nach; nun hob er lauschend den Kopf; eine klingende Stimme tönte von einer höheren Stelle des Pfades durch den Wald. Haymo erkannte die Stimme, und heiß schoß ihm das Blut in die Wangen. Jetzt sah er auch zwischen den Bäumen schon das rote Röckl schimmern. Gittli war es. Und sie sang:
»Auf steiler Höh, Tief unterm Schnee, Da blüht ein Blüml grün und weiß. Es gräbt in Stein Die Wurzen ein Und streckt sein Köpfl aus dem Eis, Schneeweiß!
Die Winterszeit, Wenn's eist und schneit, Das ist sein Lenz auf weißer Hald. Doch bringt der Föhn Den Frühling schön, Dann siecht es hin und welket bald, Schneekalt!
Im Herzen tief Ein Blüml schlief, Gar lieblich und an Schönheit reich; Es blühte rot, Da kam der Tod Und trug's hinunter in sein Reich, Schneebleich!«
Wie Lerchengesang hob Gittlis Stimme sich über den wehenden Sturm und das dumpfe Rauschen des Waldes. Und als sie die letzte Strophe gesungen hatte, sah Haymo, wie Gittli auf dem schmalen Pfad erschrocken stehen blieb, den scheuen Blick auf den Pater Fischmeister gerichtet. Dieser stand vor ihr, mit erstarrtem Gesicht und mit Augen so voll Entsetzen, als wäre das Mädchen vor ihm nicht das lieblichste Bild des Lebens, sondern ein dem dunkelsten Schoß der Erde entstiegenes Gespenst. Die Knie drohten ihm zu brechen, Netze und Schnüre fielen von seinem Arm, taumelnd griff er nach einer Stütze, und von seinen zuckenden Lippen klang es mit heiserem Laut: »Wer bist du?«
»Ich bin die Gittli,« stammelte das Mädchen mit versagender Stimme.
»Wer ist dein Vater?«
»Mein Vater ist tot, und meine Mutter auch. Ich hause bei meinem Bruder, der heißt Wolfrat und ist Sudmann im Salzhaus des Klosters.«
Das hatte Gittli scheu hervorgestottert, wie ein Kind die Litanei in der Schule stammelt, wenn der Kaplan die Haselrute schwingt. Nun stand sie schweigend, das Körbchen mit den Schneerosen an ihren jungen Busen drückend, ein Bild, so hold, daß Haymo von diesem Anblick sein Herz zum springen schwellen fühlte. Es zuckte in seinen Fäusten, und es war ihm, als müßt' er auf den unheimlichen Wegelagerer losstürzen und ihm zuschreien: Was willst du von dem Kind? Laß das Kind in Ruh! Oder du hast es mit mir zu tun!
In wachsender Verstörtheit war der Blick des Mönches auf das Mädchen gerichtet. Röte und Blässe wechselten auf seinen Zügen, seine Augen waren wie zwei Flammen, heiß und verzehrend. »Wer gab dir dieses Gesicht?« so brach es fast wie ein Schrei von seinen Lippen; nun streckte er die Arme, als wollte er das Mädchen umschlingen – und da wich Gittli erbleichend vor ihm zurück; einen Augenblick stand sie ratlos, dann schwang sie sich mit einem herzhaften Sprung über den steilen Rand des Pfades auf den moosigen Waldboden und flog mit flatterndem Rock an Haymo vorüber, um zwischen den Bäumen zu verschwinden.
Wie man lange nach der dunklen Stelle des Himmels starrt, an der ein fallender Stern erloschen ist, so starrte Haymo in den Waldschatten, in dem die Gestalt des Mädchens sich verloren hatte. Langsam wandte er das Gesicht und blickte wieder zum Pfad hinauf. Dort oben stand noch immer der Mönch mit gestreckten Armen, als wollte er die Luft umschlingen, in der das Mädchen geatmet. Jetzt kam ein Zittern über ihn, seine Arme fielen, stöhnend sank er auf einen Stein und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Haymo wußte nicht, wie ihm geschah. Er hätte gern diesem Priester gezürnt, und dennoch fühlte er, wie das Mitleid sein Herz gefangen nahm. Eine Weile noch stand er wie gebannt; dann schlich er davon, und je weiter er sich entfernte, desto rascher wurde sein Schritt.
Vielleicht gelang es ihm noch, das Mädchen einzuholen? In seinem Geleit wäre Gittli sicher und hätte einen gefahrlosen Heimweg. Er begann zu laufen. Was war das? Diese zornige Stimme, die von der offenen Seelände durch die Lichtung der Bäume klang? War das nicht Gittlis Stimme? Ja! Und nun verstand er auch die Worte: »So laßt mich doch! Was wollt ihr von mir? Was hab ich euch denn getan? So laßt mich doch in Ruh!«
Haymo hatte den Waldsaum erreicht; draußen lag eine breite Wiese, halb überspült von dem weißen Sand, den der schäumende See über das Ufer warf; an Stangen hingen Fischnetze zum Trocknen aufgespannt; unter weitästigen, im Föhnwind rauschenden Ulmen, zu Füßen eines Hügels, standen die beiden Hütten der dem Kloster hörigen Fischerknechte. Zwei der struppigen, an Gesicht und Kleidung derb verwitterten Gesellen hatten inmitten der Wiese das Mädchen mit einem Stück Netz umfangen, und der eine lachte: »Hilft dir nichts! Wer so ein feines Fischl im Garn hat, der hält es fest.«
»Aber so laßt mich doch, laßt mich!« flehte Gittli und suchte sich dem Netz zu entwinden.
»Zappel nur!« lachte der andere. »Weißt du, was einen Ferch geschieht, wenn er ins Netz gegangen ist? Wir geben ihm eins auf den Schnabel!«
Gittli kreischte, und während sie mit dem einen Arm ihr Körbchen in die Höhe hielt, schlug sie mit dem anderen zornig um sich.
»Geh, hab keine Sorg!« tröstete der jüngere der beiden Knechte. »Wir machen's bei dir nit gar zu grob! Komm her, wirst sehen, es tut nit weh!« Er faßte mit derber Hand ihr Kinn und wollte sie küssen. Da flog er unsanft zur Seite. Haymo hatte ihn beim Kragen gepackt, und der Griff hatte ausgegeben. Ein Dutzend Schritte von der Stelle saß der Bursch im Gras und machte ein dummes Gesicht. Dem anderen versetzte Haymo mit dem Bergstock eins über die Hand, daß er das Netz gutwillig fallen ließ. Gittli, die sich so plötzlich befreit sah, warf dem Jäger einen dankbaren Blick zu, streifte hurtig das Netz von den Füßen und huschte kichernd davon.
Der ins Gras Gesetzte hatte sich inzwischen erhoben. Mit kirschrotem Gesicht kam er auf den Jäger zugestürmt.
Haymo machte eine Faust und hob sie ein wenig. »Komm nur!« sagte er lächelnd.
Da war der Zorn des Burschen verraucht. Und der andere, der noch immer seine Hand rieb, brummte: »So ein Wildling! Gleich zuhauen! Da schau, ganz blau sind alle Finger!« Und scheltend ging er dem Ufer zu und steckte die Hand ins kalte Wasser.
Lachend schulterte Haymo den Bergstock und folgte der Straße. Er wäre gern rascher gegangen; aber das wollte er den beiden Gesellen nicht zuliebe tun; die hätten ihm sonst wohl nachgerufen: »Schau, wie er sich tummelt, daß er davonkommt!« Als er um die Ecke lenkte und den Blicken der beiden entschwand, beschleunigte er seinen Gang; aber von Gittli war nichts mehr zu sehen und zu hören.
Auf schmaler, von den Rädern der Bauernkarren übel zerrissener Straße schritt Haymo durch das frühlingsblühende Tal. Wenn auch droben auf den Bergen der Lenz noch eine harte, zähe Schlacht gegen den Winter schlug, so hatte doch im Tal der Frühling sich schon häuslich eingerichtet. Auf den Wiesen lag es schon wie grüner Sammet, in dem sich die zahllos blühenden Primeln ausnahmen wie goldene Stickerei. Veilchenduft wehte aus den Hecken, in denen die kleinen Meisen zwitscherten. Aus den Zweigen der Fichten spitzten schon die jungen Triebe, und über den Buchen und Ahornbäumen lag's von den sprossenden Blättchen wie lichtgrüner Schimmer. Die wilde Kraft des Föhns, der droben auf den Bergen allen Grund der Felsen zittern machte und die donnernden Lawinen löste, war hier im Tal verwandelt in ein frisches Wehen, das in alle Büsche griff, in alle Wipfel der Bäume, als wollt' es ihnen sagen: Nur frisch, nur munter! Jetzt nach dem Winterschlaf kein Gähnen mehr! Jetzt heißt es wachsen, treiben, blühen, Früchte tragen und für Samen sorgen! Die schöne Zeit ist kurz. Und eh ihr euch's verseht, ist wieder der Winter da. Munter! Munter!
Jetzt stieg die Morgensonne hinter den Bergen empor, Wald und Feld überspinnend mit ihrem Gold. Ein Funkeln und Leuchten überall. Sogar der Schatten, den Haymo auf die Straße warf, war Schimmer und Farbe.
Blaue Rauchsäulen stiegen aus den hölzernen Bauernhäusern, die zerstreut lagen zwischen kleinen Gehölzen, zwischen Wiesen und brachen Feldern; in den umhegten Gärten weidete das Vieh mit läutenden Glocken, und in steinigem Bette rauschte die dem See entströmende Ache ihr eintöniges Lied.
Die Straße begann zu steigen; nun trat sie unter den Bäumen hervor, und Haymo sah zu oberst auf der sonnigen Höhe des Weges das Mädchen schreiten.
»Gittli! Gittli!« rief er mit hallender Stimme.
Sie hörte ihn, blieb stehen, wandte das Gesicht, schwang wie zum Gruß ihr Körbchen und lief davon, in der Senkung der Straße verschwindend.
Haymo seufzte zuerst, dann lachte er und wanderte weiter. Eine halbe Stunde noch, und er hatte das Klosterdorf erreicht. An beiden Ufern der Ache reihte sich Haus an Haus, und von der Höhe nieder winkte der schlanke Münsterturm und der mächtige, weit ausgedehnte Bau des Stiftes, mit hundert funkelnden Fenstern. Haymo überschritt auf hölzerner Brücke die Ache und gelangte zu einem riesigen Holzgebäude. Es war das Salzhaus, die Goldschmiede des Klosters, welche die Dukaten in so schöner Menge lieferte, daß in kaum zweihundert Jahren die arme Martinsklause zu Berchtesgaden das reichste Kloster weit und breit geworden war. Alle Fürsten zankten sich um die Hoheitsrechte über die reiche Propstei, und die Erzbischöfe von Salzburg machten scheele Augen.
In langer Reihe standen die Frachtwagen und Saumpferde aus aller Herren Länder vor dem Salzhaus, und ein Frater in geschürzter Kutte verzeichnete auf einem Täfelchen jeden Sack, der von den Knechten zum Verladen herbeigetragen wurde. Auf einem Seilzug, der über die Ache gespannt war, kamen die in Rollen laufenden Kufen mit dem Rohsalz knarrend hereingezogen. Dort drüben lag der Salzberg Tuval, in dessen Schachten das Steinsalz von den Klosterknappen gefördert wurde. Dann kam es in die Pochmühle, aus der Mühle in die Solwannen, und aus der gesättigten Sole wurde das reine Salz in mächtigen Pfannen wieder ausgekocht. Sogar in der Karwoche durften die Feuer nicht erlöschen. Wie fleißig der Sud betrieben wurde, das verriet der weiße Dampf, der in dichten Wolken aus allen Lucken des Daches, aus jedem Tor und allen Fenstern des Sudhauses qualmte.
Da drinnen in der brütenden Hitze mochte kein gutes Weilen sein; das meinte Haymo dem Sudmann anzusehen, der triefend von Schweiß aus einem der Tore trat, um frische Luft zu schöpfen; er war nur mit einer blauen Leinenhose bekleidet, Oberkörper und Arme waren nackt und von der Hitze gerötet wie ein Krebs, der aus dem siedenden Wasser auf die Tafel kommt. Eine schwere Gestalt, Muskeln und Arme wie aus Kupfer gegossen, ein Stiernacken, ein klobiger Schädel mit kurzgeschnittenem, rötlichbraunem Haar; der struppige Bart hatte die Wangen fast bis zu den Augen überwachsen; dadurch bekam das Gesicht einen finsteren Ausdruck, der durch den verdrossenen Blick der grauen Augen noch verschärft wurde.
»Wolfrat!« rief eine herrische Stimme im Innern des Salzhauses, und der Sudmann verschwand im Tor.
Wolfrat? – Dieser Mensch sollte Gittlis Bruder sein? Haymo schüttelte den Kopf; er stellte die beiden im Geiste nebeneinander. Das waren zwei Geschwister, von denen eins zum anderen paßte, wie der Eichbaum zur Heckenrose, wie der Bär zum Reh, oder – der Volksmund pflegt zu sagen: wie die Faust aufs Auge!
Als Haymo durch die Pforte des Klostergartens trat, scholl vom Kirchplatz herab ein lautes Knattern und Gepolter. Das waren die hölzernen ›Ratschen‹, die zur Messe riefen; während der Passionstage dürfen die Glocken nicht geläutet werden; ihre klingenden Seelen, so geht die Sage, ziehen nach Rom, um vom heiligen Vater gesegnet zu werden, und erst in der Osternacht kehren sie zurück in ihre ehernen Leiber, um schwebenden Schalles die Auferstehung des Erlösers zu verkünden.
Über Felsstufen und gewundene Wege stieg Haymo den Hang des Hügels empor, auf dessen Kuppe das Kloster stand; das ganze Gehänge, einst mit Felsklötzen besät und von wirrem Gestrüpp überwuchert, war in einen freundlichen Garten verwandelt, mit zahlreichen Blumenbeeten, Baumgruppen und säuberlich gehaltenen Pfaden. Wohl war der Garten um diese frühe Jahreszeit noch arm an Grün und Blüten. Aber was mußte das im Sommer für eine Pracht und Freude sein! Frater Severin, der Gärtner, verstand seine Kunst; das mußte auch der Neid bekennen.
Auf schwankendem Steg überschritt Haymo den tiefen Hirschgraben, in dem ein Rudel Hochwild friedlich äste. Die Tiere sahen elend und verkümmert aus; ein Hirsch, auf dessen Haupt schon das neue Geweih zu sprossen begann, war bis zum Rande des Grabens emporgestiegen und drückte die Stirn gegen das hölzerne Gitter; er sah durch die Lücken der Stäbe in der Ferne den freien Bergwald blauen; Haymo wandte sich ab, bewegt von Erbarmen; es dünkte ihn ein hartes Unrecht, solch ein edles Tier gefangen zu halten in traurigem Kerker, nur zu müßiger Augenweide.
Als der Jäger an der Klosterpforte den Hammer rührte, sagte ihm der Pförtner, daß Haymo nach der Messe in der Amtsstube des Klostervogtes sich einzufinden hätte; doch sollte er neben Dienst und Pflicht auch seines irdischen Leibes gedenken und den Umweg über die Küche nicht scheuen. »Freu dich, Junge, heut ist großer Fasttag!« flüsterte der Pförtner und schmunzelte.
Haymo gab die Armbrust und den Bergstock in Verwahrung und schritt über den weitern Klosterhof dem Münster zu, durch dessen offenes Tor der Weihrauch duftete und die brennenden Kerzen flimmerten. Stehend, die Kappe zwischen den verschlungenen Händen, hörte er die Messe. Im Beichtstuhl hatte er ein schweres Viertelstündchen; er besann und besann sich, aber es fiel ihm keine Sünde ein, die er begangen hätte. Das ganze Jahr hindurch mit sich allein auf den Bergen und im Wald, nichts anderes im Herzen als die stille Freude an der schönen Gotteswelt, nichts anderes im Sinn als die Jägersorgen, die der Morgen weckte und der Schlaf vergessen machte, wie soll man da zu einer Sünde kommen? Kein Gebet, kein Glaube macht die Menschen frömmer als die Einsamkeit des rauschenden Waldes, als die freie Himmelsnähe auf den Gipfeln der Berge. Aber sündigen muß doch der Mensch! Wozu wäre sonst die Beichte da? Haymo sann und sann. Der Pater im Beichtstuhl wurde ungeduldig. Und Haymo, dem der Angstschweiß auf die Stirne trat, stotterte. »Hochwürdiger Vater, ich bitt Euch, habt nur ein Weilchen Geduld, es wird mir gewiß noch eine Sünd einfallen!« Und richtig – der heiße Zorn, der ihm über die Lippen fuhr, sooft er droben in seinem Revier die verdächtige Spur eines Menschen fand – das war doch Sünde! Und der Wunsch, daß er Flügel haben möchte, um die entflohenen Raubschützen verfolgen und fassen zu können? Wieder eine Sünde! Denn dieser Wunsch war so viel wie ein versteckter Zweifel an der Weisheit Gottes, der die Menschen nun einmal ohne Flügel erschaffen hatte. Haymo atmete erleichtert auf; der Anfang war gemacht, und da ging es prächtig weiter, so daß er schließlich ein ganz gewichtiges Päckl Sünden zusammenbrachte. Der Pater lächelte, als er diesem schwer beladenen Beichtkind die Absolution erteilte; Haymo aber war völlig zerknirscht und hielt die kleine Buße, die er zu beten bekam, für unverdiente Milde. In tiefer Andacht genoß er den Leib des Herrn und verließ die Kirche.
Der Pförtner, der ihm das Tor des Stiftes öffnete, zwinkerte ihm freundlich zu und sagte: »Geh nur! In der Küch wissen sie schon, daß du kommst!«
Haymos eisenbeschlagene Schuhe klapperten auf den Steinfliesen des langen Korridors, den er zu durchschreiten hatte. Durch die hohen Bogenfenster fiel das goldene Sonnenlicht und machte die Farben der frommen Bildnisse leuchten, mit denen die weißen Wände geziert waren. Aus einer Türe hörte er summende Stimmen, dazu ein lautes Klappern und Klirren. Er öffnete und betrat die Klosterküche. Feuchte Hitze umfing ihn, und angenehme Düfte quollen ihm entgegen. Ein großmächtiger Raum mit sechs hohen und breiten Fenstern; die Wände schneeweiß getüncht, der Boden mit roten, spiegelblanken Marmorplatten belegt. Überall weißgescheuerte Tische, Kasten, Schreine und Truhen; alle Wände funkelten von kupfernen Pfannen und zinnernen Schüsseln; an den Fensterpfeilern hingen die aus Blech getriebenen Kuchenformen in Gestalt von Sternen, Herzen, Blumen und allerlei Getier. In der Mitte des Raumes stand der riesige Herd, dessen Inneres, nach den vielen Kupfertüren zu schließen, ein wahres Labyrinth von Feuerhöhlen und Bratröhren enthalten mußte; die Platte des Herdes war dicht bestellt mit dampfenden Pfannen und Kesseln, und über offenem Kohlenfeuer wurde an langem Spieß ein Seeferch gebraten, der wohl an die dreißig Pfund wiegen mochte.
Und welch ein emsiges Leben in diesem Dampf und Duft! Rings um den Herd und um die Zurichttische standen und gingen die Küchenbrüder, mit nackten Armen, mit blauen Schürzen über den Kutten, jeder betraut mit einem hochwichtigen Amt. Hier wurden Hechte, Forellen und Saiblinge gereinigt, dort walkte einer mit derben Fäusten an einer ellenlangen Teigstulle, hier wurden Zwiebeln geschnitten und Zitronenschalen gewürfelt, hier schlug einer mit langer Birkenrute einen ganzen See von Eiweiß zu schneeigem Schaum, dort wurde Mehl abgewogen und Gewürz sortiert, und zwischen den Brüdern tummelten sich die Laufbuben, Holz tragend, das Feuer schürend, die gebrauchten Kessel scheuernd und das zinnerne Geschirr spülend. Hohe Stöße von Tellern wurden durch einen Schalter hinausgeschoben, durch den man das weite Refektorium mit seinen blütenweiß gedeckten Tischen gewahrte. Und in diesem Klappern, Klirren, Zischen und Brodeln ein ununterbrochenes Rufen, Plaudern und Lachen. Und alle Gesichter rotbrennend vor Hitze.
Die Fäuste in die Hüften gestemmt, mit gebieterischer Ruhe, wie ein Feldherr, schritt Frater Friedrich, der Küchenmeister, auf und nieder, alles überblickend, alles überwachend. Breit lag ihm das Doppelkinn auf der Brust, die kleinen Augen versanken fast in den Fettpolstern der Backen, und bei seinem Umfang mochten fünfzehn Ellen Tuch nicht ausreichen für die Kutte. Ja, das Fasten! Das Fasten!
Als Haymo die Küche betrat, weckte sein Erscheinen einen lauten Aufruhr. »Der Jäger! Der Jäger!« rief es auf allen Seiten, die Brüder kamen auf ihn zu, die Laufbuben ließen fallen, was sie in den Händen hatten, und rannten ihm entgegen. Mit glotzender Neugier umstanden sie ihn; der eine griff nach Haymos Weidmesser, der andere streichelte die Armbrust, der dritte griff in den Köcher und prüfte die Schärfe einer Bolzenspitze am Finger. Und so viele Fragen gab es auf einmal, daß der Jäger sie in einer Stunde nicht hätte beantworten können. Haymo wurde verlegen, ihm war zumut wie der Wildtaube im Hühnersteig. Da kam der Frater Küchenmeister – herbeigegangen? – nein, herbeigerollt wie eine Tonne. »So? Bist du da? Hast du deine Seel gestärkt? Brav, mein Sohn, brav! Das ist Christenpflicht. Jetzt aber komm und stärke deinen Leib!« Er nahm den Jäger unter den Arm und führte ihn in eine kleine Stube, die neben der Küche lag und halb einer Mönchszelle, halb einer Speisekammer glich. Im Erker war säuberlich ein kleiner Tisch gedeckt, und neben dem Zinnteller stand eine Holzbitsche, bis zum Rande gefüllt mit schäumender ›Güte Gottes‹.
Die beiden setzten sich, und ein Laufbube trug auf; Schüssel um Schüssel kam, und Haymo machte immer größere Augen. Er hatte noch nie im Leben so herrenmäßig – nein, das will zu wenig sagen – so klosterwürdig getafelt! Der Frater Küchenmeister schien den schmucken Jäger ins Herz geschlossen zu haben; er hatte die Arme breit über den Tisch gelegt und schaute dem Schmausenden mit zufriedenem Lächeln zu.
Da gab es zuerst eine Erbsensuppe mit gerösteten Schnitten, dann kamen Pastetchen, mit Forellenbacken gefüllt; es folgte ein gesottener Hecht, der sich, wie der Frater scherzte, aus Freude darüber, daß er gar so schön blau geraten, in den eigenen Schwanz biß; er trug zwei grüne Rosmarinzweiglein in den Nasenlöchern und hatte absonderliche Augen: aus gelber Zitronenschale geschnitten und in der Mitte ein Pfefferkorn; und rings um den Rand des Tellers lag ein Kranz von Zwiebelscheiben, darin der geputzte Fisch so prächtig anzusehen war, daß Haymo erst nach langem Zureden das Herz hatte, diese Pracht zu zerstören. Dann folgten gedünstete Froschschenkel in köstlicher Tunke mit gebackenen Krapfen. Und nun kam ein richtiger Braten. Ein Braten am Fasttag? Haymo blickte verlegen auf den Frater. »Darf ich denn das essen?«
Der Küchenmeister tätschelte die Hand des Jägers. »Iß nur, Bub! Glaubst du denn, ich möcht deine frischgescheuerte Seel mit einer Sünd beflecken? Iß nur! Das ist Fastenspeis, wie Fisch und Frosch!«
Zögernd kostete Haymo; aber gleich wieder legte er die Gabel nieder und schob den Teller kopfschüttelnd von sich. »Nein, Herr, das ist Fleisch!«
»Freilich Fleisch,« lachte der Frater, »aber Fleisch von einem Biber!«
»Biber? Das ist doch ein Tier mit Haar und Füßen?«
»Frißt aber Fische! Verstehst du? Das ist Philosophie der Klosterküche: Biber, Otter und Wildente, ob Pelz oder Federn, was Fische frißt, wird wieder als Fisch gegessen. Und ganz mit Recht! Denn die Nahrung macht das Wachstum und bildet aus ihrem Stoff den Körper. Somit verzehrst du in diesem Braten kein richtig Fleisch, sondern ein Teilchen von jedem Hecht und Karpfen, von jeder Grundel und Schleie, die der Biber schmauste.«
»So?« lächelte Haymo. »Dann aber, Frater Küchenmeister, wundert mich eines.«
»Was, mein Junge?«
»Daß Ihr am Fasttag nit auch eine Hirschkeule auf die Tafel setzt.«
In Entsetzen klatschte der Frater die Hände zusammen. »Haymo! Du gottverlorener Mensch!«
»Warum? Die Hirsche äsen Gras und Kräuter. Also muß ihr Fleisch ein Gemüse sein, wie Kohl und Rüben. Und das ist doch Fastenspeis.«
Der Küchenmeister machte ein verdutztes Gesicht; dann schlug er lachend die Hand auf den Tisch. »Schade, schade, Haymo, daß du kein Klerikus geworden! In dir steckt ein Kirchenlicht. Und das soll nit umsonst geleuchtet haben! Im nächsten Kapitel mache ich den Vorschlag, daß man alles Wildbret als Fastenspeis erklären soll.« Nachdenklich schwieg er und schüttelte den Kopf. »Nein! Ich tu's doch lieber nit. Am Ende drehen sie den Spieß um und sagen: wie der Hirschbraten kein Gemüse ist, so ist der Biberschwanz kein Fisch, obgleich er Schuppen hat. Und Biberschwanz ess' ich für mein Leben gern. Gib her ein Bröckl!« Und aus dem ›Bröckl‹ wurde mit Kosten und Kosten der halbe Braten. »Gelt, du? Das rutscht wie Butter.«
»Ja, Frater, ein feiner Braten! Der kommt wohl von weither?«
»Von der Donau. Dort leben die Biber zu Hunderten in ihren Wasserdörfern. Von Straubing bis weithinunter gegen Wels hat der Passauer Bischof das Jagdrecht. Mit dem letzten Salzkarren hat er uns ein Dutzend geschickt, wickelfette Kerle!«
»Von Passau? Ist das von dorther, von wo der neue Pater Fischmeister gekommen ist?«
»Warum fragst du?«
Haymo wurde rot. »Ich mein' nur so. Ich hab ihn gesehen, heut früh am See.«
Des Fraters Augen leuchteten. »Den soll der liebe Gott unserem Kloster erhalten! So viel hat noch keiner vom See und Fisch verstanden, wie der! Hast du den Ferch draußen am Spieß gesehen? Den hat er mit eigener Hand gefangen. Ich laß aber auch nichts auf ihn kommen. Ich halt es mit ihm. Da mögen sie im Kloster reden, was sie wollen.«