Der Knochensammler - Die Ernte - Fiona Cummins - E-Book
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Der Knochensammler - Die Ernte E-Book

Fiona Cummins

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Beschreibung

Er sammelt aus Leidenschaft. Knochen. Menschliche Knochen. Doch das Herzstück fehlt ihm noch in seiner Sammlung. Die Knochen von Jakey. Einem sechsjährigen Jungen, der am Münchmeyer-Syndrom leidet, einer seltenen Knochenkrankheit, die Jakeys Körper langsam verknöchern lässt ... Den Knochensammler vergisst so schnell niemand mehr: Wie ein Schatten gleitet er durch Londons Straßen und verfolgt einen teuflischen Plan. Fiona Cummins' »Der Knochensammler – Die Ernte« ist ein schauderhaft genialer Thriller mit Bestseller-Format – so nervenzerfetzend wie Mo Hayders »Der Vogelmann«, so abgründig und faszinierend wie »Die Chemie des Todes«.

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Ähnliche


Fiona Cummins

Der Knochensammler - Die Ernte

Thriller

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz

FISCHER E-Books

Inhalt

PrologFreitag1234567Samstag891011Sonntag12Montag13141516Dienstag17181920212223242526272829Mittwoch3031323334353637Donnerstag383940414243444546Freitag474849505152Samstag53545556575859606162Sonntag636465666768Montag69707172737475767778Dienstag798081828384858687888990919293949596979899100101Dank

Prolog

In stillen Winternächten, wenn der Mond sich trüb im River Quaggy spiegelt, rufen die Toten nach ihm.

Er neigt den Kopf und hört im Flüstern der Nacht das leise Schluchzen des Kindes.

Das Wimmern des Jungen lockt ihn quer durch die Stadt, aber er widersteht dem Drang, sofort aufzubrechen. Auch nach all den Jahren kann er sein Lebenswerk nicht betrachten, ohne dass ihn ein wohliger Schauer durchrieselt.

Jede Generation hat ihre eigene Sammlung. Sein Vater, der Vater seines Vaters und die Männer, die vor ihnen da waren.

Aber jetzt ist seine Zeit, ist es sein Privileg und seine Pflicht.

Er genießt es, wie der Mond durch die Jalousien ins Haus seines Vaters scheint, den Anblick der in sein Licht getauchten Gebeine.

Bänder und Streifen aus verknöchertem Gewebe. Stalagmiten und Stege. Verbogene Flächen, verhärtete Auswüchse. Und außen ein Schild mit einem eingravierten C.

Die Schatten im Haus werden länger. Er steht allein in der Diele und berauscht sich an der Herrlichkeit des Skeletts in seiner Vitrine: den faszinierenden Deformationen, dem in die Brusthöhle ragenden Stachel, den verkalkten Verzierungen entlang der Wirbelsäule.

Ein kleiner Junge in einem Gefängnis aus Knochen.

Jahrelang hat er nach diesem äußerst seltenen Stück gesucht, unter den Toten wie unter den Lebenden. Nie nachgelassen, nie die Hoffnung aufgegeben.

Und jetzt, nach all der Zeit, hat er wieder eines gefunden.

Freitag

1

15.21 Uhr

Wenn Erdman Frith Pizza statt Roastbeef genommen hätte, wäre sein Sohn vielleicht verschont geblieben.

Wenn Jakey Frith etwas durchschnittlicher gewesen wäre, wäre das Monster, das in der Dunkelheit lauerte, später nur eine Kindheitserinnerung gewesen, über die sie bei Familienfeiern gelacht hätten.

Wenn Clara Foyles Eltern sich etwas weniger auf sich selbst und dafür etwas mehr auf ihre fünfjährige Tochter konzentriert hätten, wäre es zu deren Verschwinden vielleicht gar nicht erst gekommen.

Und wenn Detective Sergeant Etta Fitzroy nicht dem nachgetrauert hätte, was hätte sein können, was sie hätte sein können, wären beide Kinder aus dem grellen Licht der Schlagzeilen in dunkelstes Unheil gestürzt.

Aber keiner von ihnen ahnte etwas von all dem an jenem nassen Novembernachmittag, nur Stunden, bevor ihre Leben kollidierten und in den Trümmern die Wahrheit zutage trat.

Vor allem Erdman Frith ahnte nichts, als er unschlüssig in der Abteilung mit den Kühlregalen stand. Gang drei für Pizza und ein langes Leben; Gang fünf, und er war womöglich bald ebenso tot wie das Lendenstück, das er in seinen Wagen legte.

Nein, Erdman Frith dachte nicht an den Tod. Er machte sich eher Sorgen darum, was Lilith sagen würde beim Anblick von … oh … oh … oh … rotem Fleisch.

Erdman sah sie vor sich, wie sie die Lippen zusammenpresste, bis sie so verkniffen waren wie der Hintern eines Huhns.

»Und was ist mit den gesättigten Fettsäuren, Erdman?«

»Fördert rotes Fleisch etwa nicht Darmkrebs, Erdman?«

»Und was ist mit Rinderwahn, Erdman? Sie behaupten zwar, den gibt’s nicht mehr, aber wer weiß schon, ob das stimmt?«

Erwartete sie ernsthaft, dass er darauf antwortete?

Früher hätte er sie geneckt, um die Sorgenfalten aus ihrem Gesicht zu vertreiben, hätte alberne Witzchen gerissen, bis sie beide gelacht hätten. Dann hätte sie sich an ihn geschmiegt, wäre ihm mit den Fingern durch die Haare gefahren, hätte seinen Duft eingesogen und ihre Ängste vergessen.

»Warum heißt es bei Frauen PMS, Lilith?«

»Keine Ahnung, Erdman, warum heißt es so?«

»Weil das Wort Rinderwahn schon vergeben ist.«

Voilà!

Aber heutzutage konnte er ihr nicht mal ein Lächeln entlocken.

Heutzutage ließ sie Jakey nicht aus den Augen, und ihre Ängste wurden nicht vergessen, sondern tausendfach vergrößert von einem grausamen Feind, der ihren Sohn – und jetzt auch ihre Ehe – in zarte, allzu zerbrechliche Papierschmetterlinge verwandelte.

Lilith und Erdman erzählten ihrem Sohn, er hätte ein kleines Problem mit seinen Knochen. Was eine ziemliche Untertreibung war, denn Jakeys »kleines Problem« würde ihn irgendwann umbringen.

Das Ärzteteam, das ihn auf die Welt holte, hatte es wegen der typischen Missbildung seiner großen Zehen sofort vermutet: Jakey litt an einer fortschreitenden Verknöcherung des Binde- und Stützgewebes, FOP – Fibrodysplasia Ossificans Progressiva. Fünfunddreißig Buchstaben. Mehr oder weniger einer für jedes Jahr, das Jakey voraussichtlich zu leben hatte. Das war die durchschnittliche Lebenserwartung. Jedes weitere Jahr wäre ein Bonus.

Eine der Schwestern in der Entbindungsstation hatte zufällig ein halbes Jahr zuvor in einem australischen Krankenhaus gearbeitet, in das ein Teenager mit merkwürdigem Knochenwachstum und zunehmender Bewegungseinschränkung eingeliefert worden war. Sie hatten dem jungen Mädchen schmerzstillende Medikamente in die Muskeln gespritzt, wie die Schwester ihnen erklärte, und das überschüssige Knochengewebe operativ entfernt, doch davon war alles nur noch eine Million Mal schlimmer geworden. Als die Diagnose schließlich feststand, war das Mädchen praktisch eine lebende Statue gewesen. Es konnte sich fast nicht mehr bewegen, nur sprechen. Sprechen war noch möglich. Die Schwester hatte ihnen das erzählt, als wäre es eine Art Segen.

Jetzt, sechs Jahre später, waren selbst die Spezialisten schockiert, dass Jakeys Leiden so schnell voranschritt. Dass seine Krankheitsschübe für jemanden seines Alters ungewöhnlich heftig waren. Dass die Erkrankung zwar durchaus einen typischen Verlauf nahm, Jakeys Arme aber viel früher in Mitleidenschaft gezogen worden waren als erwartet. Dass schon ein Sturz oder eine Prellung einen lebensbedrohlichen Schub auslösen konnte.

Sie sollten ihre Zeit mit Jakey genießen.

Erdmans Finger strichen über die kühle, feuchte Verpackung in seinem Einkaufswagen. Es war wohl besser, er legte sie zurück. Lilith würde ihn umbringen, und eigentlich wollte er nicht, dass sie sich aufregte. Er sehnte sich zurück nach der fröhlichen Unbeschwertheit ihrer Liebe, bevor sie zwischen Krankenhausterminen und medizinischen Behandlungen zerrieben worden war. Aber er war es leid, immer das zu tun, was sie ihm sagte.

Er hatte ja schließlich kein BSE oder Creutzfeldt-Jakob oder wie, zum Teufel, das hieß, und er ging schon auf die vierzig zu. Hätte dieser metaphorische Rinderscheiß es wirklich auf ihn, Erdman Frith, abgesehen, dann hätte er auf sein Leben – das auch so wahrlich beschissen genug war – längst einen dicken Haufen gesetzt. Und selbst wenn. Sollte er sich von einem gesunden Mann mittleren Alters langsam in einen Idioten mit Hirnerweichung verwandeln, würde er den Unterschied doch gar nicht mitbekommen. Sogar eine Kartoffel hatte mehr Spaß als er.

Scheiß drauf. Jakey liebte Roastbeef zum Abendessen, und der Junge musste zu Kräften kommen.

Hätte Erdman gewusst, dass er an diesem glamourösesten Ort von allen, im Tesco-Supermarkt an der Lewisham Road, das Schicksal seines Sohnes besiegelte, wären alle in der Familie Vegetarier geworden. Aber da er es nicht wusste, fuhr er nach Hause und dachte dabei selbstgefällig, dass derjenige, der einkauft, auch entscheiden kann, was auf den Tisch kommt.

2

15.23 Uhr

»Ene, mene, miste, es rappelt in der Kiste, ene, mene, muh, und raus bist du.«

Poppy Smith zeigte kichernd direkt auf sie und entblößte dabei ihre Zahnlücke, aber Clara Foyle lächelte nicht.

»Ich mache nicht mit«, sagte Clara und drehte den anderen Kindern, die Fangen spielen wollten, den Rücken zu.

Die Hände tief in den Taschen vergraben, marschierte sie auf die Tore am anderen Ende des Schulhofs zu. Er war jetzt fast leer, nur einige Versprengte warteten noch darauf, dass das spontan zustandegekommene Fußballspiel der älteren Jungs zu Ende ging. Poppy rief Clara noch etwas nach und klappte dabei die zusammengelegten Finger wie Krebsscheren auf und zu. Alle lachten, aber Clara tat so, als hörte sie sie nicht. Poppys Mutter, die auf Clara aufpassen sollte, unterhielt sich, von dem Mädchen abgewandt, mit einer anderen Mutter, weshalb sie nicht bemerkte, wie es davonspazierte. Und Poppy tuschelte zu angeregt mit den anderen, um es zu sehen.

Das war das erste Mal an diesem Tag, dass der Zufall ihm in die Hände spielte. Mrs Foyle, Claras Mutter, bezeichnete die anderen Mütter, die sich jeden Nachmittag vor den Schultoren versammelten, gern als Hyänen. Für Clara sahen sie aus wie Vögel mit ihren auf- und abschnellenden Köpfen, rosa geschminkten Lippen und hübschen Kleidern. Dass manche Vögel mit Vorliebe Knochen abpickten, an denen die Überreste des Lebens anderer hingen, wusste sie nicht.

Fünf Minuten vorher hatte Clara Poppys Mutter am Ärmel gezupft und ihr zugeflüstert, sie müsse zur Toilette, doch Mrs Smith hatte nicht reagiert. Sie redete einfach weiter und schlug mit den Armen wie mit Flügeln. Clara hatte die Beine zusammengepresst und war ein bisschen herumgehüpft, aber jetzt war ihre Strumpfhose feucht und scheuerte beim Gehen gegen die Oberschenkel.

»Nein, Mummy, ich mag Poppy aber nicht mehr«, hatte Clara am Morgen gejammert, als Mrs Foyle ihr erklärt hatte, wer sie abholen würde.

»Tut mir leid, Schatz, aber es geht nicht anders. Du wirst schon sehen, das wird bestimmt nett. Gina hat heute ihren freien Nachmittag, und ich hab einen Termin.«

Clara hatte geschmollt und geweint, aber es nützte nichts. Ihre Mutter ließ sich nicht erweichen. Perfekt frisierte Haare waren ihr wichtiger als das Atmen.

Der Wind ließ seine Muskeln spielen, indem er Blätter über den Schulhof jagte. Clara fror, sie hatte Kopfweh und wollte zu ihrer Mum. Sie klopfte auf ihren Rucksack, um zu kontrollieren, ob ihre Geldbörse noch da war. Eigentlich durften die Kinder kein Geld mit in die Schule nehmen, aber Clara hatte es nach dem Frühstück eingesteckt, als Gina nicht hinschaute. Ihr gefiel es, wie die Münzen klimperten.

Sie spürte erneut die beißende Kälte auf der Haut und musste an ihren Vater denken, daran, wie er sie manchmal in die Wangen zwickte, bis sie rot waren und weh taten.

Zitternd machte Clara sich am Reißverschluss ihrer Jacke zu schaffen. Ihre Grundschullehrerin Mrs Lewis sah sie durch das Fenster des Lehrerzimmers und winkte ihr zu. Sie hob schüchtern die Hand, um zurückzuwinken, und schulterte ihren Rucksack, der fast so groß war wie sie selbst.

Die Seitentore waren geöffnet. Mr Crofton, der Hausmeister, würde sie bei seiner Runde am späteren Nachmittag schließen, aber jetzt waren die schweren Metallgitterstäbe in ihrer Halterung fixiert; der Weg in die Freiheit stand offen.

Claras Herz schlug so laut wie ein Presslufthammer, als sie aus dem Schultor schlüpfte und draußen auf dem Bürgersteig stehen blieb. Ein kleiner Schauder, der mit dem Wind nichts zu tun hatte, rieselte durch sie hindurch. Schnell warf sie einen Blick zurück. Auf der anderen Seite des großen, betonierten Schulhofs spielte Poppy mit Sasha, während Poppys Mutter sich weiterhin heftig gestikulierend unterhielt. Noch drei Schritte, und Clara würde um die Ecke und außer Sichtweite sein.

Das kleine Mädchen grinste nervös.

Auf der anderen Straßenseite stieg ein Mann im schwarzen Nadelstreifenjackett aus einem Wagen, der seit zwei Wochen jeden Nachmittag an dieser Stelle stand, und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Da er größere Schritte machte als sie, hatte er Clara schon bald eingeholt, aber sie war zu sehr auf ihre Flucht konzentriert, um ihn zu bemerken.

Ein paar Straßen weiter wurde eine Frau, die aus einem Zeitungskiosk kam, auf das Mädchen aufmerksam, da es an einem Freitagnachmittag in der Dämmerung ganz allein nach Hause lief. Seltsam. Sie registrierte die Mütze von Claras Schuluniform, hielt nach einem Erwachsenen Ausschau und nahm vage Notiz von dem Mann im schwarzen Nadelstreifenjackett. Er schaute sie direkt an, und in diesem Moment des Blickkontakts fühlte sie sich an den alten Hund ihrer Familie erinnert. Der war in diesem Sommer gestorben, nachdem Maden ihn von innen zerfressen hatten – ein qualvoller, langwieriger Tod durch die Fliegenmadenfraßkrankheit. Als sie Buddy gefunden hatte, lebte er noch, stand aber unter Schock, und sein Blick war ganz leer gewesen. So leer wie der Blick dieses Mannes. Plötzlich befiel sie ein so heftiger Ekel, dass ihr beinahe ihre mit Kondenswasser beschlagene Milchflasche aus der Hand gerutscht und auf dem Gehsteig zerplatzt wäre. Der Mann schaute weg, und die Frau dachte gerade noch rechtzeitig daran, die Flasche fester zu umfassen.

Kurz darauf hatte sie sein Gesicht bereits wieder vergessen.

Der Mann betrat den Laden neben dem Zeitungskiosk. Dort war niemand bis auf den Inhaber, der auf Pandschabi telefonierte, den Hörer zwischen Kopf und Schulter klemmte und Zahlen auf einen Zettel kritzelte. Er rechnete gerade aus, was es kosten würde, eine Überwachungskamera zu installieren, und blickte nicht zu seinem Kunden hoch.

Die Bonbongläser lockten auch Clara in den Laden. Sie liebte Süßigkeiten, und hier gab es reihenweise knallbunte Lutscher, in Glanzpapier gewickelte Toffees, Colafläschchen, Schokorosinen und Zuckerstangen in allen möglichen Geschmacksrichtungen.

Eins-zwei-drei-vier-fünf verschiedene Farben, zählte Clara im Kopf ab. Fünf – genauso viele Farben, wie ich Jahre alt bin.

Ihr Magen knurrte. Das Mittagessen lag schon fast vier Stunden zurück, und sie hatte ihre Truthahnpastete in eine Serviette gewickelt und in den Müll geworfen, während Mrs Goddard Saffron Harvey dafür ausschimpfte, dass er seine Erbsen auf dem Fußboden des Speisesaals verteilt hatte.

Der Mann in dem schwarzen Jackett stand vor ihr. Weil Clara so klein war, konnte sie sein Gesicht nicht sehen, dafür aber einen Fleck von der Größe eines Fünf-Pence-Stücks, der sich über die feinen weißen Streifen an seiner Jackentasche erstreckte und aussah wie Rost. Clara wusste, was Rost war, weil ihr Vater darüber geklagt hatte, der Gärtner würde die Geräte verrosten lassen, und ihr die Harke gezeigt hatte. Allerdings war das hier kein Rost. Es war getrocknetes Blut. Aber über Blut wusste sie nichts. Noch nicht.

»Ein Viertelpfund von den Himbeertoffees, bitte«, sagte der Mann.

Als Clara den Laden wenig später mit einer Papiertüte voller Erdbeerbonbons in der einen Hand und dem Kleingeld in der anderen wieder verließ, wartete der Mann draußen. Er lehnte an einem Geländer.

»Was hast du dir geholt?«, fragte er freundlich und vergnügt, während er in seiner Papiertüte herumstöberte, ein Toffee herauspickte und es auspackte. Er warf sich das schokoladenumhüllte Bonbon in den Mund und grinste das Mädchen an.

»Mmmmh … köstlich … möchtest du eins?«

Er schüttelte die Tüte und hielt sie ihr hin. Clara wich einen Schritt zurück, wodurch ihr Rucksack gegen den Laternenmast prallte und sie ins Stolpern kam.

»Keine Angst, ich beiße nicht.«

Die Tüte wurde erneut geschüttelt. Clara beugte sich vor und war plötzlich ganz gebannt von dem glänzenden Bonbonpapier mit den rosafarbenen Spiralen. Sie streckte eine Hand aus, um sich zu bedienen, und die knochigen Finger des Mannes legten sich um ihr Handgelenk.

»Mummy hat gesagt, dass ich dich nach Hause bringen soll. Weil du Angst im Dunkeln hast. Okay?«

Mit einem schüchternen Nicken ließ sie sich die Straße hinunterführen, zu einem Grundstück mit baufälligen Garagen. Nebel senkte sich herab und verhüllte die parkenden Autos und den Gehsteig vor ihnen. Die Dämmerung würde um neun Minuten nach vier Uhr einsetzen, und es war bald zwanzig vor.

Sie drängte sich näher an den Mann. Er machte ihr Angst, aber noch mehr ängstigte sie das schwindende Tageslicht und das schnelle Verblassen der Farben. Er schaute sie an. Seine Augen waren wie schwarze Klumpen.

Die Straße war schmal und zu beiden Seiten von niedrigen Wohnblöcken gesäumt. Vor den Gebäuden gab es statt Gärten nur Betonstreifen, auf denen sich überquellende Mülltonnen aufreihten. Weiter oben waren auch Wohnungen, die im Dunkeln lagen, aber durch die Fenster im Erdgeschoss drang Licht, und Claras Blick wurde von den riesigen Fernsehbildschirmen in mehr als einem Wohnzimmer angezogen. Ihr Magen knurrte erneut, und sie ließ die linke Hand in ihre Tasche gleiten, um ein Bonbon herauszuholen. An ihrer Fingerspitze haftete ein Hauch rosaroter Zuckerstaub. Sie nuckelte heftig daran, und einen Augenblick lang vertrieb die Süße den bitteren Geschmack der Angst aus ihrem Mund.

Clara wohnte am Pagoda Drive in Blackheath, einer Enklave mit exklusiven Immobilien, und somit in einer völlig anderen Welt als dieser hier, wo die Rutsche nur auf einem kleinen Flecken Grün stand und mit Graffiti besprüht war. Clara hatte ihr eigenes, rosafarben gestrichenes Zimmer und eine passende Kleiderstange, die voller Disney-Prinzessinnenkleider hing. Ihr Lieblingsmärchen war Dornröschen.

Sie versuchte, dem Mann zu sagen, dass sie es sich anders überlegt hatte und lieber allein nach Hause laufen wollte, aber er hörte sie nicht. Er ging einfach weiter und hielt ihr Handgelenk umklammert. Als sie sich losmachen wollte, bohrten sich seine Fingernägel in den blassen Streifen nackter Haut, der aus dem Ärmel ihrer Jacke hervorschaute.

Am Ende der leeren Straße stand eine stillgelegte Fabrik mit kaputten Fensterscheiben und einem Zutritt-verboten-Schild. Davor parkte ein verbeulter grauer Ford-Lieferwagen ohne Fenster.

Der Mann wandte sich dem Mädchen zu, und diesmal zeigten sich keine freundlichen Fältchen um seine Augen. Während er Clara weiter festhielt, richtete er seine Schlüssel auf den Lieferwagen, der daraufhin einen Piepton von sich gab. Der Mann wies mit einer abrupten Kopfbewegung auf den Wagen.

»Steig ein«, befahl er schroff.

Clara wollte nicht in seinen Lieferwagen einsteigen. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich loszumachen, hatte ihm mit ihrer schmächtigen Gestalt aber nichts entgegenzusetzen. Als sie den Mund öffnete, um zu schreien, schob er seine Hand zwischen ihre Zähne. Sie biss fest zu. Er brüllte nicht, aber sein drohender Blick und sein fester Griff zeigten seinen Zorn.

Sie wehrte sich und strampelte mit den Beinen, wie sie es im Schwimmkurs gelernt hatte, doch vergebens. Der Mann fasste sie um die Taille und hob sie in den Wagen. Dann stieg er hinter ihr ein und schlug die Tür zu. Mrs Smith, Poppys Mutter, bemerkte Claras Verschwinden ungefähr sechs Minuten, nachdem das Mädchen den Schulhof verlassen hatte. Bis sie das Schulgelände nach ihr abgesucht und über Handy die Polizei gerufen hatte, war es dunkel geworden, und der Lieferwagen war weggefahren.

3

17.56 Uhr

Zwei Stunden und siebzehn Minuten nach Clara Foyles Entführung setzte Erdman sich zu seiner Familie an den Tisch. Lilith schnitt gerade Jakeys Möhren klein und schwieg verbissen. Jakey summte, in Gedanken woanders, leise vor sich hin.

Erdman fuhr sich mit den Fingern durchs Haar oder das, was noch davon übrig war. Es war stumpf und glanzlos wie die Farbe von Jakeys Spielzeugauto, das zwei Wochen im Kinderplanschbecken gelegen hatte und jetzt zu nichts mehr zu gebrauchen war.

Zu nichts zu gebrauchen sein.

Davon konnte Erdman ein Lied singen. Irgendwie wurde er nie das Gefühl los, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Denen seiner Mutter, denen von Lilith und den eigenen. Er hatte sich immer eingeredet, es sei ja noch reichlich Zeit für alles, aber nun, da sein Bauch dicker und sein Haar dünner wurde, war er sich des Umstands, dass er dem Ende eines Lebens höchstwahrscheinlich näher war als dem Anfang, schmerzlich bewusst.

Als Erdman seinen Sohn anschaute, schlug sein Herz seltsame Kapriolen. Jakey löste in ihm eine eigenartige Mischung aus Beschützerinstinkt und Erstaunen aus, die er auch nach Jahren noch nicht richtig kapierte. Jakey bewegte die Lippen, aber Erdman verstand nicht, was er summte.

Während er versuchte, in das Schweigen bei Tisch einzustimmen, schnitt Lilith ihrem Teller Grimassen. Dasselbe Gesicht hatte sie auch am Morgen im Bett gezogen, als er mit der Hand versehentlich ihren Oberschenkel gestreift hatte.

»Schneidest du das Fleisch jetzt mal auf, oder was hast du damit vor?« Der Hühnerhintern schrumpfte zusammen. »Also wirklich. Wo gibt’s denn am Freitagabend Roastbeef zum Essen?«

Die Worte, mit denen er Versöhnung hatte stiften wollen, zerrannen ihm auf der Zunge. Mit schwindendem Appetit starrte er auf das von einer feinen Fettmaserung durchzogene Rindfleisch, aus dem rosa Bratensaft lief, und schaltete das elektrische Messer ein. Sein leises Brummen erinnerte ihn an das Geräusch, das manchmal aus dem abgeschlossenen Bad drang, wenn Lilith verkündete, in die Wanne zu steigen, um, bitte, mal eine halbe Stunde ihre Ruhe zu haben. Er wünschte sich, er wäre in den Pub gegangen, statt früher nach Hause zu kommen.

Lilith starrte durch die regennassen Fenster in das verschwommene dunkle Rechteck ihres Gartens. Erdman hätte sie gern zurück in sein Leben gezogen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte.

Plötzlich erinnerte er sich an ein Mittagessen im Pub, wenige Monate, nachdem sie sich kennengelernt hatten.

Er selbst hatte sich in großen Gruppen nie so recht wohl gefühlt, doch Lilith bezauberte seine Freunde mit witzigen Geschichten aus der Schule, in der sie mal gearbeitet hatte. Beim Verlassen des Pubs hatte sie dann seine Hand genommen, und er wusste noch genau, mit welch absurdem Stolz ihn das erfüllt hatte.

Gott, er vermisste sie so.

Jakeys Gesang wurde lauter. So etwas machte er häufiger beim Essen. Erdman fragte sich, ob das seine Art war, das Geräusch der familiären Zerrüttung zu übertönen.

»Was ist das für ein Lied?«, fragte Lilith mit zusammengezogenen Brauen.

»Scheiße! Autsch! AHH!«

Ein scharfer Schmerz durchzuckte Erdmans Finger, als das Messer abrutschte und die gezackte Klinge durch seine Haut und tief in das Gewebe schnitt. Jakey verstummte und machte große Augen. Das Wasser in ihren Gläsern vibrierte. Erdmans leerer Teller war mit roten Flecken bespritzt und sah aus wie eine grausige Version des Jackson-Pollock-Bildes, das er letzten Monat in der Tate gesehen hatte.

Das Messer drehte sich wild im Kreis, bis Lilith es ausschaltete. Erdman taumelte gegen sie und spürte zum ersten Mal seit Monaten kurz ihre vollen Brüste.

Als der Schwindel nach einigen Sekunden wieder nachließ, schaute er auf seine Hand hinab. Lilith hatte eine Serviette darum gewickelt und ihn auf einen Stuhl geschoben, und er hätte schwören können, dass der Stoff weiß gewesen war, aber inzwischen hatte er ein kräftiges Scharlachrot angenommen.

»Hol Daddy ein Glas Wasser«, sagte Lilith. Der Junge rührte sich nicht. »Na los!«

Jakey humpelte mit dem Widerstreben eines Sechsjährigen, der den Ort der blutigen Handlung nicht verlassen will, in die Küche. Im Durchgang drehte er sich noch einmal zu seinem Vater um. Erdman rang sich ein Lächeln ab und winkte kurz. Mit der linken Hand natürlich.

Jetzt pochte es auch noch in dem Finger. Verdammt. Erdman legte die verletzte Hand auf seinen Oberschenkel, während Lilith eine Ecke des feuchten Tuchs anhob. Frisches Blut tropfte beharrlich darunter hervor und besprenkelte den hellen Laminatboden. Er konnte sich nicht überwinden, einen Blick auf die Schnittwunde zu werfen, den klaffenden Spalt in seiner Haut. Dass Lilith laut nach Luft schnappte, sagte ihm alles, was er wissen musste.

Draußen plärrte eine Autoalarmanlage los.

Nein, keine Alarmanlage.

Jakey.

Lilith ließ seine Hand los und sprintete in die Küche. Als Erdman aufstand, schienen die Wände zu schwanken. Sobald sie wieder zur Ruhe kamen, stolperte er hinter Lilith her. Bei dem Anblick, der sich ihm in der Küche bot, schlug ihm das Herz bis zum Hals .

Jakey lag ausgestreckt auf dem Boden, einen Arm hatte er unter sich begraben, der andere zeigte nach vorn. Sein Kopf war zur Seite gedreht. Ein Hocker war umgekippt. Quer über die Fliesen waren Glasscherben verteilt, und in der Nähe des Herds sammelte sich Wasser in einer Lache.

In Lilith’ gequälter Miene wechselten sich der Ausdruck von Angst und Schuldgefühlen ab. Jakey schnappte weinend nach Luft und versuchte, sich aufzusetzen.

»Schön langsam, Liebling, ganz vorsichtig«, sagte Lilith.

Erdman vergaß seinen eigenen Schmerz und hielt Jakey seine verletzte Hand hin.

»Wo tut’s weh, mein Großer?«

Doch Jakey streckte nicht die Arme nach seinem Vater aus wie sonst. Stattdessen sog er zitternd die Luft ein, zuckte zusammen und fing erneut an zu weinen. Erdmans und Lilith’ Blicke begegneten sich für den Bruchteil einer Sekunde.

»Mein Arm, Daddy«, sagte Jakey durch einen Sturzbach von Tränen. »Ich bin auf meinen Arm gefallen.«

Während Lilith ihrem Sohn aufhalf, nahm Erdman den Schaden in Augenschein. Jakeys bislang gesunder Arm, der, den er zum Essen, Trinken, Spielen und Schreiben benutzte, hing in einem merkwürdigen, unnatürlichen Winkel seitlich herab. Eine erste Schwellung war bereits erkennbar und erinnerte Erdman an eine dicke rosafarbene Wurst, die im Begriff stand zu platzen. Der andere Arm war gebeugt. Er war steif und unbeweglich und seit Jakeys drittem Lebensjahr in dieser Position erstarrt.

»Hast du dir sonst noch irgendwo weh getan, Jakey?«, fragte Erdman. »Hast du dir den Kopf angestoßen? Oder bist du auf die Knie gefallen? Was ist mit deinen Rippen? Du musst aufpassen, wenn du auf einen Hocker steigst, das haben wir dir doch schon hundertmal gesagt. Hast du die Haltestange benutzt? Warum hast du denn nicht die Wasserflasche aus dem Kühlschrank genommen?«

Die Unterlippe seines Sohnes bebte, und er schluchzte erneut los, laut und ungebärdig. An Lilith’ wütenden Blicken erkannte Erdman, dass er zu weit gegangen war. Jakey hatte den frisch verletzten Arm, der inzwischen merkwürdig violett angelaufen war und fleckig aussah, noch immer keinen Millimeter bewegt.

»Setz dich hin, Liebling«, sagte Lilith. »Ich hol dir was zu trinken. Und einen von den Keksen, die du so gern magst.«

Erdman spürte Lilith’ Atem heiß an seinem Ohr, als sie hinter ihm in den Schrank griff, um ein Glas herauszuholen, und ihm dabei etwas zuraunte. Einen Moment lang dachte er daran zurück, wie es sich angefühlt hatte, als sie ihn noch mit dem Mund berührt hatte, aber der Schmerz in seiner Hand und die Sorge um Jakey zogen ihn in die Gegenwart zurück.

»Hör zu, deine Hand muss genäht werden. Die Wunde sieht übel aus. Ziemlich tief. Ich möchte Jakey keine Angst einjagen, aber wir sollten ihn besser auch in die Notaufnahme bringen. Ich gebe ihm jetzt seine Tabletten, aber der Arm muss bestimmt geröntgt werden.« Nun bebten auch ihre Lippen. »Ich glaube, er ist gebrochen.«

Erdman stöhnte. Es tat ihm leid um das gute Essen, aber der Appetit war ihm ohnehin längst vergangen.

Jakey schluckte seine entzündungshemmenden Tabletten. Er hatte sich beruhigt, aber noch kullerten ihm die Tränen übers Gesicht. Erdman hob ihn mit seinem gesunden Arm auf seine Hüfte und achtete sorgsam darauf, ihn nicht zu unsanft anzufassen. Bereits nach wenigen Sekunden tat ihm sein Bizeps weh, doch er ignorierte den Schmerz und trug seinen Sohn nach draußen zum Auto. Die Sicherheitsbeleuchtung ging flackernd an, und Erdmans blutende Hand hinterließ eine Spur aus roten Tropfen in der Einfahrt. Jakey wand sich in seinem Arm, um sie besser sehen zu können.

»Musst du jetzt sterben?« Jakeys Gesicht sah vor dem winterlichen Nachthimmel wie ein bleicher Mond aus.

»Ach was, Großer«, sagte Erdman. Er schnallte Jakey in seinem Sitz an und küsste ihn auf den Kopf. »Daddys Hand wird mit ein paar Stichen genäht, dann ist sie wieder heil.« Er zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Und dich lassen wir auch gleich mal durchchecken. Damit wir sicher sind, dass dein Arm nichts abbekommen hat.«

Während Lilith sie zum Krankenhaus fuhr, fing Jakey erneut an zu singen. Er sang leise, aber weil Erdman neben ihm auf der Rückbank saß, konnte er die klare Stimme seines Sohnes über das Rauschen des Verkehrs hinweg hören.

Im Gegensatz zu Lilith kannte er das Lied, das Jakey sang, sehr gut sogar. Er kannte es, weil Carlton – Erdmans Bruder – es mit ihm zusammen gesungen hatte, als sie klein waren.

Aber Carlton war seit sechsunddreißig Jahren tot.

 

Im Royal Southern Hospital wurden Jakey und Lilith zur Kinder-Notaufnahme dirigiert, während Erdman eine Stunde lang warten musste, bis ein erschöpfter Assistenzarzt, den sein Namensschild als Dr. Hassan auswies, seine Wunde untersuchte.

»Sieht so aus, als hätten sie bis zum Knochen durchgeschnitten, aber ich glaube, die Sehne ist unverletzt.« Der Arzt zog seine Latexhandschuhe aus. »Das wird wahrscheinlich ein paar Tage weh tun, aber es ist gut, dass Sie hergekommen sind. Die Wunde heilt schneller, wenn wir sie nähen.«

Der Vorhang wurde raschelnd ein Stück aufgezogen, und Lilith schaute in die Kabine. Erdman sah, dass ihre Fingerknöchel ganz weiß waren von der Anstrengung, Jakey in seinem Krankenhausrollstuhl herumzuschieben.

Im Sommer stachen Jakeys Sommersprossen schon beim kleinsten Sonnenstrahl wie ein Malen-nach-Zahlen-Bild in seinem Gesicht hervor. An diesem Abend des 16. November war seine Haut jedoch farblos, so, als wäre das Netz aus Adern und Gefäßen mit Milch gefüllt.

»Entschuldigung«, hauchte Lilith in Richtung des Arztes. »Ich wollte meinen Mann nur schnell wissen lassen, was jetzt mit unserem Sohn passiert.« Sie wartete nicht ab, bis er ihr seine Zustimmung signalisierte, aber sie lächelte. »Sie glauben nicht, dass der Arm gebrochen ist, röntgen ihn aber zur Sicherheit noch.«

Die geballte Faust in Erdmans Magen öffnete sich.

»Ehrlich? Aber er sah so …« Ihm wurde bewusst, dass Jakey ihn anschaute. »Mensch, großartig!«

»Und ich hab Ihrem Mann gerade gesagt, dass wir die Wunde nähen müssen«, sagte Dr. Hassan.

Da war es wieder, das Wort. Erdman konzentrierte sich darauf, sein Mittagessen bei sich zu behalten, und ignorierte das Rauschen in seinen Ohren. Auf seiner Oberlippe sammelte sich Schweiß. Er schloss die Augen. Er wusste, dass er völlig fertig aussah.

»Er hat’s nicht so mit spitzen Nadeln«, sagte Lilith. »Und mit Blut. Bei Jakeys Geburt ist er in Ohnmacht gefallen. Sie mussten ihn im Rollstuhl rausfahren. Und er hat Stunden gebraucht, um sich wieder zu erholen.« Sie beugte sich vor und drückte Erdmans Knie, um ihren Worten den Stachel zu nehmen.

Dr. Hassan gluckste in sich hinein und klopfte Erdman auf den Rücken. »Das passiert selbst den Besten von uns, mein Lieber. Ich bin ohnmächtig geworden, als ich zum ersten Mal bei einer Sektion dabei war.«

»Was ist eine Sektion?«, fragte Jakey. Seine Augen leuchteten vor Neugier.

»Nun, junger Mann, eine Sektion ist …«

Lilith unterbrach den Arzt. »Das ist bloß so ein medizinisches Verfahren, Schatz. Jetzt lass uns zum Röntgen fahren, und danach besorgen wir dir was zu essen.«

4

18.01 Uhr

Auf Claras Mund war etwas gepresst worden, das sich rau anfühlte und bei jedem Ruckeln über ihr Kinngrübchen scheuerte. Ihre Handgelenke waren mit medizinischem Klebeband auf dem Rücken zusammengebunden. Die Fessel verlief kreuz und quer über ihre zarte Haut und schnitt zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger tief ein.

Der Lieferwagen raste über Bodenwellen hinweg und federte unsanft nach jeder von ihnen. Das schmerzende Kinn und die ganze Situation waren so unangenehm, dass sich Claras Magen zusammenzog. Eigentlich weinte sie schnell, aber jetzt liefen ausnahmsweise keine Tränen. Sie war in eine Art Schockstarre verfallen.

Der Mann hatte sie mit dem Rücken an eine Kiste gesetzt und zwischen zwei Teppichrollen eingeklemmt. Es stank hier hinten nach rohem Fleisch, das langsam zu faulen beginnt. Es war kalt und dunkel, und sie konnte nichts sehen.

Irgendetwas kroch über ihre Wange. Sie wollte schreien, aber der Mann hatte gesagt, er würde ihre Mutter umbringen, wenn sie schrie. Clara glaubte ihm. Er hatte es zwar mit einem Lächeln gesagt, bevor er die Wagentür zuschlug, aber sie wusste, dass es kein Scherz war.

Claras Magen knurrte wieder. In der Nachmittagspause hatte Poppy ihr erzählt, sie bekämen Würstchen mit Pommes zum Abendessen. So etwas gab es bei Claras Mutter nie. Der Wagen machte erneut einen Ruck. Ihre Gedanken flogen zurück zu ihrer Mutter: zu ihren rosa Fingernägeln, ihrem dicken schwarzen Eyeliner und ihrer Angewohnheit, sich die Brille auf der Nase hochzuschieben, wenn sie mit Clara schimpfte. Zu der gespielten Herzlichkeit, mit der sie ihre Wange an Claras drückte, dabei aber stets achtgab, dass ein Abstand zwischen ihren Körpern blieb. Für klebrige Gesichter und Hände hatte Mrs Foyle nichts übrig.

Der Lieferwagen hielt an und setzte schnell ein Stück zurück, dann wurde der Motor abgestellt. Er tickte, während er abkühlte. Clara zuckte zusammen, als sie ein lautes Knallen hörte, dann begriff sie, dass die Türen des Laderaums aufgeschoben wurden. Im Licht der nackten Glühbirne, die von der Decke hing, erkannte sie nicht viel mehr, als dass sie sich in einer Garage befand.

Die Garage gehörte zu einem Haus, das groß und schmal war wie der Mann, der sie mitgenommen hatte. Clara konnte es nicht sehen, aber es hatte kleine Fenster, deren Läden geschlossen waren, und eine Treppe mit einem Handlauf führte in einen Keller hinunter. Ein Weg aus gesprungenen schwarzen und weißen Fliesen, zwischen denen Unkraut spross, führte zur Haustür. Von deren Anstrich waren nur noch kleine blaue Farbinseln übrig, die die Form von Ländern hatten. Der verwitterten alten schmiedeeisernen Hausnummer 2 fehlte eine Schraube, weshalb die Zahl wie eine seitenverkehrte Cedille auf dem Kopf stand. Dicke Schneeregentropfen landeten platschend auf dem Bürgersteig. Inzwischen herrschte fast vollständige Dunkelheit.

Der Mann zog Clara an den Beinen aus dem Wagen. Als ihre Füße den Betonboden der Garage berührten, schien das Licht schwächer zu werden, dann explodierte die Glühbirne und ging ganz aus.

Die plötzliche Temperaturveränderung ließ Clara erzittern, und sie blinzelte in die Dunkelheit. Der Mann krallte seine Finger in ihre Schultern und lenkte sie unsanft zu einer Innentür.

Sie konzentrierte sich so angestrengt darauf, in der verwirrenden Dunkelheit nicht das Gleichgewicht zu verlieren, dass sie den Rand der Stufe nicht bemerkte und hinfiel. Dabei zerriss ihre Wollstrumpfhose, und sie schlug sich beide Knie auf.

Wenige Augenblicke später fand sie sich in der Diele des Hauses wieder. Als ihre Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten, sah sie, dass kein Teppich auf dem Boden lag. Auch nennenswerte Möbel gab es hier, abgesehen von dem Glaskasten auf dem Sekretär in der Ecke, keine. Dann erspähte sie noch einen Glaskasten. Und noch einen. Während sie noch zu verstehen versuchte, was sie da sah, trat der Mann aus dem Schatten heraus; er trocknete sich gerade die Hände ab. Anschließend löste er die Fessel um ihre Handgelenke und bot ihr ein Glas Milch an. Irgendein Instinkt sagte ihr, dass sie sie besser ablehnen sollte, aber sie hatte so einen Durst, dass sie das Glas trotzdem leer trank. Das verkniffene Gesicht des Mannes schien in sich selbst zu versinken, und zum zweiten Mal an diesem Tag verschwamm ihr alles vor den Augen.

5

19.52 Uhr

Amy Foyle saß vollkommen reglos auf dem Bett ihrer Tochter, während alle anderen um sie herum in Bewegung waren.

Zwei Polizeibeamte durchsuchten Claras Zimmer und öffneten dazu den Schrank, die Schubladen ihrer Kommode und sogar das hölzerne Schmuckkästchen, das sie zu ihrem vierten Geburtstag bekommen und selbst angemalt hatte. Einer nahm ihre Haarbürste und steckte sie in einen durchsichtigen Asservatenbeutel.

»Damit wir die DNA bestimmen können«, erklärte er. »Vielleicht brauche ich auch noch ihre Zahnbürste.«

Finger weg!, wollte sie schreien. Das gehört Ihnen nicht! 

Die Polizei war gerade in dem Moment eingetroffen, als sie sich mit schutzlos entblößtem Hals die Farbe aus den Haaren auswaschen ließ. Von den verzweifelten Nachrichten, die Poppy Smith’ Mutter auf ihrer Voicemail hinterließ, wusste sie nichts, weil ihr Handy tief in ihrer Hermès-Tasche vergraben war.

Sie hatten sie so, wie sie war, mitsamt Frisierumhang, aus dem Salon geführt, und erst als sie schon fast an ihrem Haus waren, fiel ihr auf, dass sie ihren Mantel vergessen und auch nicht bezahlt hatte.

Als Miles eine Stunde später, von Polizeibeamten flankiert, hereingekommen war, trug sie den Umhang immer noch. Die Officer waren im Berufsverkehr zu seiner Privatpraxis nahe der London Bridge gefahren, um ihn abzuholen. Er hatte den Klettverschluss geöffnet, und der Umhang war sanft wie Seide zu Boden geglitten. Diese Geste war ihr unpassend erschienen, so, als würde er sie entkleiden, um mit ihr ins Bett zu gehen.

»Wenn sie uns einen Streich spielt, setzt es aber was«, war das Erste gewesen, was er sagte. »Sie taucht schon wieder auf«, fügte er hinzu.

»Aber es ist dunkel!«, erwiderte sie. »Und dann die Straßen, der Teich im Park …« Sie schlug die Hand vor den Mund, damit ihr nicht noch mehr furchtbare Dinge über die Lippen kamen.

Er hatte ihr das Glas aus der anderen Hand genommen und seine Arme um sie gelegt, und sie hatte ihr Gesicht in den feuchten Stoff seines Anzugs gedrückt. Er roch nach Seife und Sicherheit.

»Was unternimmt die Polizei denn?« Er ließ sie los, hängte sein Jackett über die Rückenlehne des Stuhls und fuhr sich mit den Fingern durch sein silbergraues Haar.

Sie erzählte ihm die schrecklichen Details: Dass sie sie um eine Beschreibung von Clara gebeten hatten, um aktuelle Fotos und darum, ihnen die Farbe ihrer Jacke und Handschuhe zu nennen.

Dass sie von Tür zu Tür gingen, die Straßen in der Nähe ihrer Schule, den Blackheath Common und das ganze Gelände bis hinauf in den Greenwich Park absuchten; dass sie sich die Telefonnummern der Eltern von Claras Freundinnen hatten geben lassen und dass, weil Clara noch so klein und schutzlos war, ein landesweiter Alarm ausgelöst würde, wenn sie nicht innerhalb der nächsten Stunden gefunden werde.

Dass die meisten Kinder, die verschwanden, innerhalb von vierundzwanzig Stunden sicher nach Hause zurückkehrten.

Die meisten, aber nicht alle.

»Sie taucht schon wieder auf«, sagte Miles erneut mit ruhiger Stimme. »Wo ist Eleanor?«

»Bei deiner Mutter. Ich hielt es für besser, sie …«

»Ich möchte sie hier bei uns haben. Sie sollte bei ihrer Familie sein.«

Amy unterließ es lieber, ihn darauf hinzuweisen, dass seine Mutter Familie war. Sie beobachtete ihn, während er seine Aktentasche öffnete und seinen Laptop herausholte.

»Was hast du vor?«

»Ich muss nur eben diesen Bericht zu Ende schreiben.«

Amy nahm ihr Glas von dem Sekretär und ließ es durch ihre Finger gleiten. Als es auf dem Fliesenboden zersprang, streckte einer der Officer seinen Kopf durch die Tür.

Sie sah, wie sich ihre eigene Angst in Miles’ Gesicht spiegelte, und wusste, dass er den Computer nur einschaltete, um irgendwie mit der Situation klarzukommen, um irgendeine Form von Kontrolle zu behalten, aber sie konnte nicht anders. Die Panik wühlte sie zu sehr auf. Sie schleuderte Worte auf ihn wie Steine.

»Deine Tochter ist verschwunden! Findest du nicht, dass das wichtiger ist als ein verdammter Bericht?« Sie nahm sein Jackett und warf es nach ihm. »Solltest du nicht draußen sein und nach ihr suchen?«

Er schaute sie über den Rand seiner Brille hinweg an.

»Sei nicht hysterisch, Amy. Wir lassen die Polizei besser ungestört ihre Arbeit machen. Ich möchte hier sein, wenn sie nach Hause kommt.«

Sie konnte ihn nicht anschauen, denn sie teilte seinen Optimismus nicht. Er immer mit seinem verfluchten Optimismus. Und dieser gottverdammte ach-so-vernünftige Ton! Aber sie konnte nicht darüber hinwegsehen, dass an seinen Worten etwas Wahres dran war.

»Du hast recht.« Sie nahm seine Hand und drückte sie kurz. »Entschuldige. Ich hab einfach solche Angst.«

Er tätschelte ihren Arm. »Alles wird gut.«

Doch auch das glaubte sie ihm nicht.

Die Officer unterhielten sich ernst und mit gedämpften Stimmen. Sie standen in der Nähe des Familiencomputers und sprachen über pädophile Belästigung im Internet, Online-Rollenspiele und Soziale Netzwerke, obwohl Amy ihnen mehrfach erklärt hatte, dass Clara noch zu klein war, um irgendetwas davon zu nutzen. Sie beobachtete die Officer dabei, wie sie Miles beobachteten und seine Reaktionen zu beurteilen versuchten, und ging davon aus, dass sie auch sie beobachteten. Sie hörte, wie sie ihn um eine Liste der Patienten baten, die an diesem Nachmittag bei ihm gewesen waren. Um sein Alibi zu überprüfen. Dieser absonderliche Gedanke gab ihr das Gefühl, dass sie die Verbindung zu ihrem Leben verloren hatte. Dass das Muster, nach dem ihre Freitagabende abliefen – Wein, Dinner, Sex –, in einer Art neu beschrieben wurde, die sie unkenntlich und hässlich machte.

Einer der Officer – sie erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen, es waren einfach zu viele – kam in die Diele. Sein Gesichtsausdruck war neutral, undurchschaubar.

»Dr. Foyle, Mrs Foyle, ich möchte Sie bitten, im Wohnzimmer Platz zu nehmen.«

Amy stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Sie spürte einen Schmerz in der Brust, der sich anfühlte, als würde jemand mit einer Drahtbürste darüberfahren.

Haben sie sie gefunden?

Sie haben sie gefunden.

Wenn sie leben würde, hätte er es uns schon gesagt.

Also ist sie tot.

Tot.

Nein.

Bitte nicht.

Der Mann, der sie ins Zimmer gebeten hatte, stand am Kamin, sein Kollege am Fenster. Beide schluckten gleichzeitig, und ihre hüpfenden Adamsäpfel erinnerten Amy an Galgenstricke.

»Wir wollten Ihnen mitteilen, dass ein landesweiter Alarm ausgelöst wurde«, sagte der erste Officer. »Das ist eine noch recht neue, aber sehr effektive Methode, um alle Radio- und Fernsehsender im Land über Claras Verschwinden zu informieren. Wenn Clara von irgendjemandem gesehen wurde, werden wir es erfahren.«

»Gut«, sagte Miles.

»Interpol informiert die Grenzbeamten für den Fall, dass jemand versucht, mit Clara zusammen das Land zu verlassen, und eine Kollegin, die Erfahrung im Umgang mit Vermisstenfällen hat, ist auf dem Weg hierher.«

»Gut«, sagte Miles wieder.

»Sie haben vorhin gesagt, dass Sie mit dem Alarm noch warten, weil Sie erst ganz sicher sein müssen, dass es das Richtige ist, und dass Clara sich wahrscheinlich einfach nur verlaufen hat.« Amys Puls beschleunigte sich. »Darum wüsste ich gern, warum Sie es jetzt doch gemacht haben.«

Die Officer wechselten einen kurzen Blick, und Amy spürte den Atem der Angst in ihrem Nacken. Sie biss sich von innen auf die Wange. Der stechende Schmerz erinnerte sie daran, dass das hier wirklich wahr war.

»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber eine glaubwürdige Zeugin hat heute Nachmittag ein kleines Mädchen, auf das Claras Beschreibung passt, vor einem Süßwarenladen in Blackheath Village beobachtet.

Die Frau hat nicht viel gesehen, nur einen Hinterkopf, aber das Mädchen hat mit einem Mann gesprochen.« In die Miene des Officers schlich sich Mitleid ein. »Und sie ist an seiner Hand weggegangen.«

6

20.13 Uhr

Erdman saß, nach vorn gebeugt und den Kopf zwischen den Knien, im künstlichen Licht der scheußlichen Notaufnahme des Royal Southern und holte tief Luft. Ein Teenager mit einem Gipsbein kicherte. Erdman konnte es ihm nicht verübeln. Ein erwachsener Mann mit dem Kopf zwischen den Knien und einem Papp-Spucknapf in der Hand gab ja auch ein lächerliches Bild ab. Um es klar zu sagen: Er sah aus wie ein Volltrottel.

Lilith und Jakey waren in der Cafeteria und kauften überteuerte Sandwichs. Der Arm seines Sohns war nicht gebrochen. Das zu hören, verschaffte ihm spürbare Erleichterung, aber Erdman wusste, dass die nächsten Tage entscheidend waren. Er wappnete sich bereits dafür, dass es möglicherweise zu einem neuen Krankheitsschub kommen würde. Während Jakey mit schmerzverzerrtem Gesicht die entzündete Haut an seinem Arm traktierte, konnte er nichts anderes tun, als hilflos immer wieder die Schwellungen zu zählen, die der Entstehung überschüssigen Knochengewebes vorangingen. Er hoffte, dass die Medikamente ihre Wirkung taten, auch wenn sie dann andere Probleme nach sich zogen. Mit ansehen zu müssen, wie sein Sohn von geradezu manischer Unruhe in einen depressiven Dämmerzustand stürzte, brachte ihn jedes Mal fast um. Vor allem, da die Chancen, dass die Medikamente tatsächlich etwas bewirkten, nur bei fünfzig Prozent lagen.

Verdammt, wie lange denn noch? Dr. Hassan hatte versprochen, dass er nur kurz warten musste, und jetzt war er schon seit Stunden hier. Wenn so eine Schnittwunde zu lange unbehandelt blieb, schloss sich das Zeitfenster für Nähte zusammen mit der Wunde.

Er hob vorsichtig den Kopf. Das Wartezimmer schwankte, und er schloss die Augen. Er hatte den Geschmack von Erbrochenem auf der Zunge. Als er die Augen wieder öffnete, war die Welt mehr oder weniger stabil. Er hätte gern Wasser getrunken, wagte es jedoch nicht, sich nach seinem Plastikbecher zu bücken. Stattdessen vertrieb er sich die Zeit damit, die anderen geplagten Krankenhausbesucher zu beobachten.

Ein Mann mit einem zerknitterten Hemd und einem ebensolchen Gesicht drückte eine Tüte Tiefkühlmais auf sein rechtes Auge, während er mit dem anderen auf den Fernseher starrte, der an die Wand montiert war. Neben dem Fernseher hingen ausgebleichte Plakate, die Mütter von Neugeborenen zum Stillen und Raucher zum Aufhören anhielten. Eine junge Mutter, die nicht älter als zwanzig sein konnte, versuchte, ihr leise vor sich hin wimmerndes Baby zu beruhigen. Auch ihr Blick klebte an der Mattscheibe.

Erdman drehte den Kopf, vorsichtig darauf bedacht, zu schnelle Bewegungen zu vermeiden, um einige Zentimeter. Ich sehe bestimmt aus wie die verdammte Eule aus Kampf der Titanen, dachte er. Eigentlich sollte ich jetzt zu Hause vor der Glotze sitzen, statt in dieser Vorhölle zu schmoren, wo auch noch der Ton abgestellt ist.

Eine akkurat frisierte Blondine mit einem zu breiten Mund formte mit den Lippen Worte, die Erdman nicht hören konnte. Ihr Make-up hatte sich in die Falten um ihre Augen gesetzt und ließ sie alt aussehen, obwohl sie vermutlich das Gegenteil beabsichtigt hatte. Auf dem Fernsehbildschirm wurde das Foto eines kleinen Mädchens mit Zöpfen und Grübchen eingeblendet, gefolgt von Live-Aufnahmen mit Polizisten und einer Gruppe von Leuten, die Taschenlampen in der Hand hielten.

Erdman versuchte angestrengt zu verstehen, was die Nachrichtensprecherin sagte, aber der Fernseher war zu leise gestellt. Seine Augen flogen über die Schrift auf dem gelben News-Ticker, der unten durchs Bild lief.

Eilmeldung: Die fünfjährige Clara Foyle wird vermisst, seit sie heute Nachmittag allein ihren Schulhof verlassen hat. Freiwillige durchkämmen mit der Polizei den Greenwich Park und die umliegenden Grünflächen.

Ein anderes Bild wurde eingeblendet; es zeigte Clara Foyle kichernd mit einem anderen Mädchen, das ihre ältere Schwester sein konnte. Das von hinten auf Claras Haar fallende Sonnenlicht ließ ihre Sommersprossen blasser aussehen und legte sich wie ein Heiligenschein um ihren Kopf. Dann folgte weiteres Filmmaterial, diesmal von einem mit Polizeiabsperrband abgeriegelten Laden. Der Ticker lief weiter.

Clara Foyle wurde zuletzt gegen halb vier Uhr nachmittags vor einem Süßwarenladen in Blackheath im Südosten Londons gesehen. Sie trug eine gelbschwarze Schuluniform. Die Eltern beten dafür, dass sie bald gute Nachrichten bekommen.

Erdman rieb sich mit seiner gesunden Hand die Augen. Die Ärmsten. Wie er wohl damit klarkäme, wenn Lilith ihn eines Freitagnachmittags, kurz bevor er Feierabend machen und in den Pub gehen wollte, bei der Arbeit anrufen und ihm erzählen würde, Jakey sei verschwunden, einfach nicht von der Schule nach Hause gekommen? Er vertrieb den Gedanken schnell aus seinem Kopf, als könnte allein die Vorstellung es schon wahr werden lassen. Das Schlimmste wäre die Unsicherheit. Und das Warten. Das Warten darauf, dass es an der Tür klingelte. Tut uns leid, Sir. Wir haben eine Leiche gefunden. Wie konnte eine Ehe das überstehen? Kein Wunder, dass so viele Leben ruiniert wurden, wenn ein Kind verschwand oder starb. Oder sehr, sehr krank wurde. Erdman schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter.

»O Gott, wartest du immer noch?« Lilith tauchte auf, und Jakey trottete mit einem trocken aussehenden, dreieckigen Käsesandwich in der Hand hinterher.

»Ja, aber jetzt dauert’s bestimmt nicht mehr lange.«

Lilith ließ sich auf den Stuhl neben ihm fallen, während Jakey interessiert einige getrocknete Bluttropfen auf dem Fußboden in Augenschein nahm. »Wir haben es in der Kantine gesehen. Ich musste Jakey förmlich davon wegzerren. Er hat dauernd gefragt, ob sie jemand geklaut hat. Fürchterlich, oder? Ihre armen Eltern. Aber was, um alles in der Welt, hat sie denn auch allein da gemacht?«

Sie verfielen in Schweigen, während sie, trotz schlechten Gewissens, fasziniert die schön aufbereiteten Beiträge über eine Familie verfolgten, die genauso war wie ihre.

Nach ein paar Minuten berührte Lilith ihren Mann am Ellenbogen.

»Das mit Montagnachmittag hast du im Kopf, oder, Erd?«

»Äh …«

Lilith seufzte. »Du hast es vergessen.«

»Am Montag ist Väterbesuchstag. Das weißt du doch, Daddy! Alle aus meiner Klasse bringen ihre Väter mit. Miss Haines sagt, das wird lustig.«

Erdman konnte sich kaum etwas vorstellen, was weniger spaßig war. Aber das konnte er seinem Sohn nicht sagen.

»Ich werde da sein«, erklärte er.

Sie blieben noch lange dort sitzen. Zwei Sanitäter kamen mit einer Trage hereingestürmt, doch die Aufregung dauerte nur wenige Minuten, dann wurde ihr graugesichtiger Patient eilig weggebracht. Eine Anzeige an der Wand informierte Neuankömmlinge darüber, dass die durchschnittliche Wartezeit vier Stunden betrug. Der Abendhimmel war inzwischen tiefblau eingedunkelt. Hinter ihnen putzte eine Reinigungskraft in gelber Arbeitskleidung mit einem Wischmopp den Boden.

»Gott, was für eine schreckliche Montur«, murmelte Lilith.

Erdmans Magen rumorte. Der Gestank, der aus der vollgeschissenen Windel des Babys von dem Paar einige Reihen weiter herüberwehte, machte es auch nicht besser. Jakey hing, den Finger in der Nase, auf seinem Stuhl, Lilith’ Fuß wippte auf und ab, und die Nachrichten des Tickers liefen immer wieder von neuem durchs Bild – eine Familientragödie in Endlosschleife.

Erdman versuchte, nicht an die spitze Nadel zu denken, an den Faden, der durch seine Haut gezogen würde, oder daran, wie schummerig ihm jedes Mal wurde, wenn er nur eine Spritze bekam. Er fragte sich, ob das mit einer halbverdrängten Erinnerung zusammenhing.

Gott sei Dank waren Lilith und er informiert genug gewesen, um dafür zu sorgen, dass Jakey seine Kinderimpfungen oral verabreicht bekam. Er hatte schreckliche Geschichten darüber gehört, welche Auswirkungen Spritzen auf Patienten wie Jakey hatten. In Pennsylvania gab es zwar einige Ärzte, die bahnbrechende Fortschritte in der Erforschung dieser Krankheit erzielt hatten, aber ein Heilmittel gab es trotzdem noch nicht. Er atmete langsam aus und kämpfte gegen die Panik an, die ihn zu überwältigen drohte, wann immer er an Jakeys Zukunft dachte. Er schaute zu seinem Sohn, der gedankenverloren auf den Boden starrte.

»Mir ist langweilig«, jammerte Jakey.

»Geht mir genauso, mein Großer«, sagte Erdman. Er konnte sich wahrlich Besseres vorstellen, als seinen Freitagabend an diesem deprimierenden Ort zu verbringen.

Lilith scrollte durch einige Nachrichtenwebsites auf ihrem Handy und gähnte, ohne die Hand vor den Mund zu halten.

»Warum fährst du nicht schon mit Jakey vor?« Er hatte nicht gewusst, dass er das sagen würde, und bereute es, sobald es ausgesprochen war.

»Bist du sicher?« Lilith’ Frage war jedoch rein rhetorisch, denn sie war bereits aufgestanden, um sich den Mantel anzuziehen und Jakey in seine Jacke zu helfen.

»Ich nehme den Wagen, ja? Du kannst ja dann mit dem Bus nachkommen …«

Klar kann ich das. Ich liebe es bekanntlich, mit lauter Betrunkenen freitagabends Bus zu fahren.

»Ja, kein Problem.«

 

Während er zusah, wie Lilith mit Jakey durch die automatischen Schiebetüren des Krankenhauses in Richtung Parkplatz A, Sprühregen und Dunkelheit verschwand, hoffte er noch immer, sie würde bleiben.

Doch er konnte es ihr nicht verübeln, dass sie ging. Wegen der vielen Stunden, die sie mit Jakey bereits hier verbracht hatten. Die sie beide mit ihm hier verbracht hatten. Er hasste diesen Ort fast genauso sehr wie sie.

Die Minuten zogen sich qualvoll in die Länge.

»Erdman Frith«, rief eine völlig gerädert aussehende Schwester.

Endlich. Er folgte ihr ins Behandlungszimmer und rannte dabei ein Vorsicht, Rutschgefahr!-Schild um. Er hob die Hand und schaute die Reinigungskraft entschuldigend an, die ihm zunickte.

Ein Arzt mit einem Schnurrbart, dessen Enden nach unten hingen, untersuchte Erdmans Hand und ließ sie dann unvermittelt los. Er drehte seinem Patienten den Rücken zu, aber Erdman bekam den genervten Blickwechsel mit der Schwester trotzdem mit.

»Sagen Sie Kaleb, dass er mir nicht die Zeit stehlen soll, verdammt. Wir haben auch so schon genug zu tun.«

Die Schwester lächelte ihr müdes Lächeln. »Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten, Mr Frith, aber Dr. Levison findet nicht, dass Ihre Hand genäht werden muss. Ich lege Ihnen einen Verband an, denn die Wunde ist nicht so tief, wie wir zuerst dachten.«

Als er das Krankenhaus verließ, prasselte ihm der Regen ins Gesicht. Der Wind hatte aufgefrischt und kühlte seine nasse Haut. Was hätte er jetzt dafür gegeben, vor der Glotze sitzen und die Heizung voll aufdrehen zu können, um die Kälte zu vertreiben – die, die in seiner Ehe herrschte, oder jede andere.

Er warf einen Blick auf den Fahrplan. Wenn er richtig gelesen hatte, kam in zwanzig Minuten ein Bus, aber er war nicht sicher, ob das wirklich stimmte. Er versuchte noch immer, die kleingedruckten Angaben zu entziffern, als sich ein einstöckiger Bus näherte.

Erdman holte seine Oyster Card heraus, ließ sie auf den von Regentropfen gepunkteten Weg fallen, hob sie auf und zog sie durch den gelben Kartenleser. Er fand einen Fensterplatz und starrte, ohne wirklich etwas zu sehen, durch die beschlagene Scheibe.

Als die Rücklichter des Busses schließlich in der Nacht verschwanden, schloss Erdman kurz die Augen und fragte sich, wer es wohl bemerken würde, falls er nicht zu Hause ankam.

Aber er hätte seine Zeit nicht damit vergeuden sollen, sich leidzutun.

Sein Sohn war bereits in Gefahr.

Und Erdman blieben noch zehn Tage, um sein Leben zu retten.

7

21.31 Uhr

Lilith warf die restlichen Glasscherben in den Treteimer und richtete ihr Augenmerk auf das Wohnzimmer. Die Blutstropfen aus Erdmans Wunde waren zu pennygroßen rostfarbenen Flecken eingetrocknet, und sie schrubbte an dem polierten Holzboden herum, um sie wieder wegzukriegen.

Dann begutachtete sie ihr Werk. Gott, war sie müde. Aber sie musste noch die Überreste ihres ruinierten Abendessens beseitigen. Erdman war noch nicht vom Krankenhaus zurück, aber wenigstens lag Jakey im Bett. Er war so schwierig gewesen, seit sie zu Hause angekommen waren, übellaunig und in sich gekehrt, und auch wenn er sich für den Vorfall im Auto entschuldigt hatte, war sie erleichtert gewesen, als sie seine Tür zumachen und allein nach unten gehen konnte.

Lilith hatte keine Ahnung, was in ihren sonst so sanftmütigen Sohn gefahren war, doch was immer es war, es gefiel ihr nicht. Sie nahm sich vor, die blöde Rostlaube bald mal zur Inspektion zu bringen.

Zur Strafe für sein schlechtes Benehmen hatte sie sich geweigert, Jakey etwas vorzulesen. Nicht, dass ihn das groß zu stören schien. Momentan lasen sie eines von Erdmans alten Büchern, irgendwelche Gruselgeschichten, die er schon als Kind gehabt hatte. Auf dem Buchdeckel war ein großer, dürrer Mann mit einem grinsenden Schädel anstelle eines Kopfes abgebildet. Ein Knochenmann, der Jagd auf Kinder machte. Ihr lief es kalt den Rücken runter, wenn sie nur daran dachte. Aber seit Jakey das Buch in einer Kiste mit alten Sachen von Erdman gefunden hatte, wollte er jeden Abend daraus vorgelesen bekommen. Heute allerdings nicht. Heute hatte er es quer durchs Zimmer geworfen.

Seufzend kratzte sie die eingetrocknete Sauce und die kalten Kartoffeln auf einen Teller. Vielleicht lag es an seinen Medikamenten, oder er war einfach müde gewesen von der Anstrengung, fast den ganzen Abend im Krankenhaus zu verbringen. Vielleicht sollte sie nicht zu ungnädig mit ihm sein, aber Jakey war verdammt ungezogen gewesen. Dass es in Strömen geregnet hatte, als laut piepend die erste Warnmeldung am Armaturenbrett aufleuchtete, hatte es auch nicht besser gemacht.

Hinterer Anschnallgurt offen.

»Jakey«, hatte sie geschimpft, »spiel nicht mit dem Sicherheitsgurt. Schnall dich bitte sofort wieder an.«

»Ich hab mich nicht abgeschnallt.«

»Jakey.« Ihr Ton war eisig.

»Ich hab nichts gemacht.«

»Lüg mich nicht an.«

»Mach ich ja gar nicht«, hatte er fast geschrien. »Ich hab ihn nicht angefasst!«

Lilith wusste, dass er log. Diese Warnung leuchtete nur auf, wenn sich jemand auf dem Rücksitz abschnallte oder den Gurt erst gar nicht anlegte.

Sie schlug eine andere Taktik ein. »Schatz, wenn wir in dem ekligen Wetter einen Unfall bauen und du nicht angeschnallt bist, kannst du dich schlimm verletzen. Bitte schnall dich wieder an. Für Mummy.«

»Aber ich hab gar nichts gemacht«, beharrte er.

Lilith hatte mit der Hand aufs Lenkrad geschlagen, und das Auto war auf die Gegenfahrbahn geraten. Daraufhin hatte sie das Lenkrad vor lauter Panik zu heftig herumgerissen, was den Fahrer hinter ihr veranlasste zu hupen.

»Verdammt.«

»Ich hab mich nicht abgeschnallt«, sagte Jakey erneut, diesmal etwas leiser.

Sie ignorierte ihn. Ihre Augen suchten die dunklen Straßen nach einer Möglichkeit ab, kurz anzuhalten. Dann würde sie eben aussteigen und den Gurt selbst wieder richtig sichern. Aber in dem Regen war es schwierig, etwas zu erkennen, und jetzt zwangen die roten Bremslichter vor ihr sie zu bremsen.

Während sie in einer Fahrzeugschlange feststeckte, drehte sie sich halb nach hinten um. Jakeys bleiches, von den Scheinwerfern vorbeifahrender Autos angestrahltes Gesicht war ihr zugewandt. »Komm schon, Jakey. Ich möchte doch nur, dass dir nichts passiert.«

»Ich hab den Gurt nicht aufgemacht«, wiederholte er und brach in Tränen aus.

Sie überlegte, ob sie es ihm erklären sollte. Dass es dort hinten einen Sensor gab, der auf das Gewicht eines Mitfahrers reagierte und den Fahrer informierte, sobald der Sicherheitsgurt geöffnet wurde. Und dass nur er es gewesen sein konnte, weil außer ihm niemand hinten saß. Aber sie glaubte nicht, dass er es verstehen würde.

Ihr Blick flog zu Jakeys Gurtschloss.

Alles war an Ort und Stelle, der Gurt war eingerastet.

Aber trotzdem leuchtete die Meldung unverändert auf.

Hinterer Anschnallgurt offen.

Sie schaute nach, ob ihre Handtasche neben ihm auf der Rückbank lag. Der ganze Krempel, den sie mit sich herumtrug, wog sicher genug, um vom System als das Gewicht eines kleinen Menschen missdeutet zu werden, aber die Rückbank war leer.

Es handelte sich um nichts weiter als eine Störung in einem Wagen, der schon bessere Zeiten gesehen hatte.

Sie hatte sich gerade bei ihm entschuldigen und ihm erklären wollen, dass auch Erwachsene mal Fehler machten, als sie ihn in dem endlosen Prasseln des Regens etwas murmeln hörte.

»Hau ab!«, zischte er. »Geh weg und lass mich in Ruhe!«

»Du brauchst nicht zu glauben, ich würde dich nicht hören, nur weil du leise sprichst.«

»Mummy, ich …«

»Ich weiß, es war ein schwieriger, langer Tag, aber das ist kein Grund, so mit Mummy zu reden.« Lilith’ Finger trommelten auf die Gangschaltung ein.

»Aber ich …«

»Du gibst ja immer noch Widerworte! Wie wär’s, wenn du dich mal entschuldigst?«

»Nie hörst du mir zu!«, brach es aus ihm heraus. »Nie! Du bist die gemeinste Mummy der Welt. Ich will zu Daddy.«

Der Autos setzten sich wieder in Bewegung, und der Regen ließ nach. Sie konnte Jakeys Gesicht im Rückspiegel betrachten, und als sie sah, wie elend und verhärmt er wirkte, bedauerte sie ihren scharfen Ton und hatte sofort das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein.

»Hey«, sagte sie, »ich hab’s nicht so gemeint.«

Aber er antwortete nicht. Er schaute nur mit tränenverhangenem Blick in den Regen hinaus und sang dieses seltsame Liedchen.

Sie hatte die Sache auf sich beruhen lassen, aber zu Hause wollte er nur noch ins Bett. Und als sie hochkam, um ihn zuzudecken, hatte er ihr den Rücken zugedreht und sich geweigert, ihr einen Gutenachtkuss zu geben.

Jetzt, wo sie allein war, wurde ihr klar, wie recht er gehabt hatte. Sie hatte ihm weder richtig zugehört noch ihm eine Chance gegeben, sich zu erklären. Es gab Kinder, die zwanghaft logen, aber Jakey war bislang immer absolut ehrlich gewesen.

Es war nicht seine Schuld, dass sie nicht genug Geld hatten, um sich ein neues Auto kaufen zu können.

Lilith fand keine Ruhe. Auch nachdem sie fertig aufgeräumt hatte, lief sie noch rastlos im Haus herum und wartete auf Erdman.

Gott sei Dank war Jakeys Arm nichts passiert. Sie war sich so sicher gewesen, dass er gebrochen war, und hatte ihm sogar schon eine Extradosis Tabletten gegeben, damit die Entzündung zurückging. Aber die Ärzte hatten nach dem Röntgen nur eine starke Prellung diagnostiziert.

Sie dachte daran, wie geschwollen und unförmig sein Arm aussah, und schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel.

Nur eine Prellung, hatte der Arzt gesagt. Nur eine Prellung. Gebe Gott, dass es so bleibt.

Samstag

8

02.57 Uhr

Detective Sergeant Etta Fitzroy konnte am Zustand einer Haustür eine Menge über deren Besitzer ablesen.

Sie hatte schon Türen mit abblätternder Farbe gesehen, Türen, an denen die Klingel nicht mehr funktionierte, und eingetretene Türen. Ein Mann, der sich ungebetene Besucher vom Hals halten wollte, hatte seine Tür mal mit vier Schlössern verrammelt. Dieses Exemplar hier gehörte eigentlich zu ihrer Lieblingssorte: Sie war frisch lackiert, mit einem glänzenden silbernen Klopfer versehen und mit einer Blumenampel geschmückt, von der das Wasser vom letzten Regenguss tropfte.

Heute allerdings nichts. Heute Nacht hätte sie lieber nicht auf den Stufen vor dieser von Privilegien und Reichtum kündenden Tür gestanden, um die Hoffnung ihrer Besitzer zu Staub zu zermahlen.

Als sie in den Pagoda Drive einbog, nahm Fitzroy ein Papiertaschentuch aus der Tasche und wischte sich den Glanz aus dem Gesicht. Eltern erwarteten ein dezentes, professionelles Erscheinungsbild. Und sie verdienten es auch.