Der Knochensammler - Die Rache - Fiona Cummins - E-Book

Der Knochensammler - Die Rache E-Book

Fiona Cummins

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Beschreibung

Seit seiner Flucht aus London hält sich der Knochensammler in einem kleinen Ort am Meer versteckt. Unerkannt und geduldig wartet er auf einen günstigen Moment, um mit dem Wiederaufbau seiner Sammlung zu beginnen. Gleichzeitig sucht er nach einem Nachfolger, einem gelehrigen Schüler, dem er all sein Wissen weitergeben kann. Als der Knochensammler Saul Anguish begegnet, weiß er, dass er den perfekten Erben gefunden hat. Saul ist sechzehn, verwahrlost und verführbar. Leichte Beute, wie geschaffen für sein Vorhaben. Mit ihm wird er seinen perfiden Plan vollenden. Und dann wird er Rache nehmen. An denen, die ihn um seinen allergrößten Schatz gebracht haben. Unbeschreiblich schlimme Rache … Nach »Der Knochensammler – Die Ernte« nun Teil zwei des schauderhaft genialen Thrillerduos mit Bestseller-Format – so nervenzerfetzend wie Mo Hayders »Der Vogelmann«, so abgründig und faszinierend wie »Die Chemie des Todes«.

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Seitenzahl: 454

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Fiona Cummins

Der Knochensammler – Die Rache

Thriller

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]Sonntag1234Montag5Dienstag6789Mittwoch10111213Donnerstag14151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556Freitag57585960616263646566676869707172737475767778798081828384858687Dank

Zur Erinnerung an Cherry Anthony, erste Leserin und Freundin

»Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Beule um Beule.«

2. Buch Mose (Exodus) 21, 24

»… Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut in gleicher Weise auch der Sohn. Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut …«

Johannes 5, 19

Sonntag

Sunday Mirror, 24. Februar 2013

Für die Eltern der vermissten Clara Foyle ist heute Tag 100 seit der Entführung der Fünfjährigen.

Miles und Amy Foyle werden mit Freunden und der Familie zu einer Mahnwache auf dem Blackheath Common zusammenkommen, um Kerzen anzuzünden und Luftballons steigen zu lassen.

Clara, die mit Spalthänden zur Welt kam, verschwand letzten November auf dem Heimweg von der Schule. Der Hauptverdächtige in diesem Fall, Brian Howley, der »Schlächter von Bromley«, ist auf der Flucht, nachdem er aus dem Polizeigewahrsam entkommen konnte.

Zeugen zufolge – darunter die kurzzeitig in die Gewalt des Killers geratene Londoner Ermittlerin Etta Fitzroy – sammelte Howley menschliche Skelette mit Deformationen.

Er stellte die Knochen in einem privaten Museum im Haus seines verstorbenen Vaters Marshall Howley aus. Aufgrund eines familiären Bezugs zum Londoner Hunterian Museum, auf das der ehemalige Krankenhausangestellte geradezu fixiert war, wird davon ausgegangen, dass die makabre Sammlung mehrere Generationen zurückreicht.

Der sechsjährige Jakey Frith, der an einer verheerenden Knochenkrankheit, dem Münchmeyer-Syndrom, leidet, konnte wenige Augenblicke, bevor es durch ein Feuer zerstört wurde, aus dem Haus von Howley sen. gerettet werden.

Umfängliche DNA-Tests an den in der Asche gefundenen menschlichen Überresten haben bestätigt, dass es sich bei einem der Opfer um Grace Rodríguez, das sogenannte Mädchen aus dem Wald, handelt. Die Ermittler konnten ihr Verschwinden mit Howley in Verbindung bringen, nachdem sich herausstellte, dass sie ein als Halsrippe bekanntes Knochenleiden hatte.

Von Clara Foyle gibt es weiterhin keine Spur.

1

22.17 Uhr

Saul Anguish zählte die Sekunden zwischen den gezackten Blitzen und dem Donnergrollen, das den Himmel aufriss.

Er wartete auf Regen. Betete dafür. Denn der Regen brachte fast immer seine Mutter nach Hause. Wenn sie nicht nach Hause kam, war sie tot.

Nicht unbedingt tot. Aber möglicherweise. Vielleicht. Saul verbrachte einen großen Teil seines Lebens damit, sich gegen dieses einschneidende Ereignis in seinem Leben zu wappnen; dagegen, dass ihm ein uniformierter Fremder mit gedämpfter Stimme mitteilen würde, in einer Gasse oder einer menschenleeren Ecke des Parks sei die Leiche von Gloria Anguish aufgefunden worden.

Dicke Tropfen fielen in den Sand. Er beobachtete, wie sie den feinen Staub in feuchte Krümel verwandelten, bis das Gemisch aus zerriebenen Steinen und Muscheln und über Jahrzehnte geschliffenem Glas zu einer unansehnlichen braunen Masse wurde.

Während er wie ein Wächter am Fenster stand, zog hinter ihm die Nacht herauf, und dunkle Schatten legten sich in die Ecken des Zimmers und um sein Herz.

Saul, der kein Kind mehr war, aber auch noch kein Mann, hasste dieses endlose Warten auf seine Mutter. Denn in die Lücken der Zeit zwischen Hoffen, Bangen und Sehnen schlüpften die anderen Gedanken. Die anderen Gedanken bedrängten ihn, und obwohl er sich sehr bemühte, sie zu ignorieren, war es ihm unmöglich, ihnen auszuweichen.

Saul holte ein stark mitgenommenes Figürchen aus seiner Hosentasche, das aus einem zurechtgebogenen Pfeifenreinigerbürstchen und Wolle bestand. Er und seine Mutter hatten es vor vielen Jahren gemeinsam gebastelt. Die Vertrauenslehrerin der Schule hatte Mrs Anguish eines Tages am Schultor abgepasst und ihr einfühlsam zu verstehen gegeben, dass sie und ihr neunjähriger Sohn doch vielleicht von einem Kurs profitieren könnten, der an der Leigh Park Junior angeboten wurde: Spaß haben mit Ihren Kindern.

In der ersten Stunde hatte Sauls Mutter diesen Pfeifenreiniger zu einem Püppchen mit Armen und Beinen gebogen und ihren Sohn mit geröteten Augen angelächelt. Seine Aufgabe war es gewesen, das Gesicht – ein weißes Stück Filz – mit einem schiefen Lächeln zu bemalen und schwarze Wollfäden als Haare dranzukleben.

Ein Sorgenpüppchen, dem er seine Geheimnisse anvertrauen konnte. Und seine Ängste.

Der farbige Strich im Gesicht des Püppchens war inzwischen abgerieben, und viele der kleinen Borsten des Pfeifenreinigers waren abgebrochen, so dass der silberne Metalldraht darunter durchschimmerte. Als Sauls Blick darauf fiel, fragte er sich, wie es sich wohl anfühlen würde, die Fingerspitzen an stromführenden Stacheldraht zu legen. Oder die Fußsohlen an die Gleise zu pressen, die am Fuß des Hügels, in der Nähe der Boote, durch den Bahnhof verliefen. Oder das Gesicht seiner Mutter in den Sand zu drücken, bis sie um sich schlug und dann ganz still wurde. So ging es ihm immer, wenn er Angst um sie hatte. Dann war er wütend und verwirrt und wusste nicht, was er fühlen sollte.

Vor ihm erstreckte sich die Flussmündung, in der Schlamm und Gezeiten wie alte Feinde aufeinandertrafen. Die Nacht war hereingebrochen, und durch ihren dichten Vorhang hindurch suchte er nach Gloria Anguish, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, seine Mutter möge endlich nach Hause kommen, und dem, nie wieder am Fenster nach ihr Ausschau halten zu müssen.

Da, eine Bewegung am Horizont. Ein Hauch von etwas. Saul starrte angestrengt in die verregnete Dunkelheit, in dem Versuch, die schemenhafte Gestalt zu erkennen. Und befingerte dabei das Sorgenpüppchen. Selbst mit sechzehn Jahren schob er es noch unter sein Kissen, wenn er schlafen ging, aber das erzählte er seiner Mutter nicht.

Als er fast so weit war, hinauszugehen und nach ihr zu suchen, sah er sie plötzlich über den Strandstreifen stolpern, den man von ihrer Mietwohnung aus überschauen konnte; der Mond schien durch eine Lücke in der Wolkendecke auf sie herab, ihr offener Mantel umflatterte sie.

Er brauchte ihren Atem nicht zu riechen, um zu wissen, dass sie betrunken war.

Gloria Anguish drehte sich unbeholfen um, schaute die Küstenlinie entlang zu den fernen Lichtern der Raffinerie und fing auf wackligen Beinen an zu laufen. Saul sah bereits den leichten Glanz auf ihrer Stirn, hörte die Entschuldigungen, die sie lallen würde, wenn er ihr die Tür öffnen und sie sich zu einem Abendessen aus eingetrockneten Baked Beans und kaltem, verbranntem Toast hinsetzen würden.

Ein paar Meter vor der Betontreppe, die vom Strand den grasbewachsenen Hügel hinauf zu ihrem Haus führte, wurde Gloria plötzlich langsamer. Sie war mit dem Schuh gegen einen Stein gestoßen, verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf den schmalen Streifen Sand. Saul wartete darauf, dass sie auf die Knie hochkam, sich aufrappelte und nach Hause torkelte wie schon unzählige Male zuvor. Doch seine Mutter blieb reglos liegen; ihr Mund war leicht geöffnet, und ihre schwarzen Haare hatten sich wie Seegras um ihren Kopf gebreitet.

Wie Wollfäden.

Die ansteigende Flut, die schon fast ihren Höchststand erreicht hatte, zupfte an dem Saum ihres Mantels wie ein allzu vertraulicher Freund. In der Zeit, die es dauern würde, bis Saul seine Schuhe zugebunden hatte und die Treppe im Haus hinuntergelaufen war, über die Straße, an den Bänken mit den Erinnerungsplaketten und den sterbenden Rosen vorbei und die steilen Stufen hinab zum Strand, könnte sich die Lunge seiner Mutter bereits mit Salzwasser gefüllt haben.

Wenn er sich wirklich sehr beeilte, kam er vielleicht genau in dem Moment bei ihr an, in dem die bittere Flüssigkeit den Weg in ihren Mund fand.

Aber Sauls Füße waren wie festgewachsen an dem fleckigen Teppich; obwohl sein Blick starr auf die Gestalt der Mutter geheftet blieb, konnte er sich nicht rühren.

Die Zeiger seiner Armbanduhr rückten leise klickend vor, jede winzige Bewegung eine vergeudete Chance. Er fragte sich, ob ihre Augen offen waren oder geschlossen.

Er erinnerte sich nicht gleich, da die Vergangenheit in seinem Gedächtnis zusammengeknüllt war wie alte Plastiktüten, aber das Bild, wie sie da im Sand lag, rief etwas in ihm wach; etwas, das halb verschüttet war wie die Kondome, die Posh Dan letzte Woche nach seiner Schicht auf dem Rummelplatz unter dem Pier vergraben hatte.

Auf der Suche nach diesem einen Moment unter Tausenden lenkte Saul seinen Blick blinzelnd an all den anderen Erinnerungen vorbei.

Und dann fand er ihn. Es war der Tag seiner Abschlussprüfung an der Grundschule. Einen Monat vor seinem elften Geburtstag. »Die Prüfung ist wichtig«, hatte seine Mutter zu ihm gesagt. »Vermassele sie nicht.« Sie hatte in ihrer Handtasche gekramt und ihm dann mit dem Daumen über die Wange gestrichen. »Wir sehen uns nachher. Ich hab genug Geld, um uns beiden ein Eis auszugeben.«

Und er hatte auf seine Mutter gehört, ja, wirklich. Er hatte die Aufgaben schnell, aber gewissenhaft durchgearbeitet. Er hatte alle Fragen beantwortet und sogar geglaubt, dass einiges davon richtig war, weil er am Ende ein bisschen Zeit übrig hatte, um alles noch mal durchzusehen.

Zufrieden lächelnd hatte er draußen vor der Schule die Gruppe der wartenden Eltern mit den Augen abgesucht und förmlich schon geschmeckt, wie das Minz- und Schokoladeneis auf seiner Zunge schmolz, doch Gloria Anguish war nirgends zu sehen gewesen.

Als die anderen Kinder längst weg waren, zum Pizzaessen oder ins Kino, und die Aufsichtslehrerin mit ihrem Mantel und ihrer Tasche aus der Schule kam, lehnte er immer noch wartend am Geländer.

Irgendwann gab Saul dann auf und machte sich auf den langen Fußweg nach Hause.

Als er, ein fast elfjähriger Junge, der seine Mutter brauchte, in die Wohnung kam, lag sie auf dem Bett. Bäuchlings, den Kopf zur Seite gedreht, die Haare ein schwarzer Fächer auf dem Kissen. Ihre Augen waren offen, auf dem Boden lag eine leere Wodkaflasche, in der Luft der Geruch von Herbstsonne und Verzweiflung.

»Mum«, sagte er, »Mummy.« Er rüttelte sie an den Schultern, klopfte ihr auf den Rücken, aber Gloria reagierte nicht. Sie war irgendwo anders, und nicht einmal die Stimme ihres Sohnes reichte aus, um sie zurückzuholen.

Saul hatte solche Situationen schon erlebt. Nicht oft, aber häufig genug. Er wischte ihr mit einem feuchten Stück Toilettenpapier das Erbrochene vom Kinn und setzte sich auf die Bettkante, bis sein Hunger zu groß wurde und er sich ein Marmeladenbrot machte. Dann kam er damit zurück in ihr Zimmer und blieb bei seiner Mutter, bis sich ihre Augen schlossen und aus Tag Nacht und wieder Tag wurde.

Saul war bereits eingeschlafen, als seine Mutter sich schließlich aufgesetzt hatte; die Falten des Lakens zeichneten sich in ihrem Gesicht ab, das Licht der Morgendämmerung war kalt und gnadenlos. Sie hatte ihren schlafenden Sohn angeschaut, der noch angezogen war und einen erdbeerroten Fleck auf der Wange trug, und Schuldgefühle hatten sich in ihre Brust gebohrt. Schuldgefühle und Scham.

Sie hatte ihn leicht an der Schulter berührt, und der Junge hatte sofort die Augen aufgeschlagen, als ob er gar nicht geschlafen, sondern sich nur ausgeruht hätte, bis sie zu sich kam.

»Eis?«, hatte sie mit einem schwachen Lächeln gefragt.

Aber Saul war nicht mehr in der Stimmung dafür gewesen.

Auch fünf Jahre später konnte er schon allein die Vorstellung, Eis zu essen, nicht ertragen, nicht einmal, wenn Cassidy Cranston aus der Mädchenschule mit einem anzüglichen Blick an ihrer Eiskugel leckte, wie im letzten Schulhalbjahr während eines Ausflugs ins West End geschehen. Für ihn würde Eis nie wieder nach etwas anderem schmecken als nach Enttäuschung.

 

Saul zwang sich, sich wieder auf seine Mutter zu konzentrieren. Sie lag noch immer da, die Wellen hatten sie fast erreicht. Ihr Bein zuckte heftig, und diese Bewegung schien eine Sperre in ihm zu lösen. Er rannte aus dem Zimmer. Der Gedanke, zu spät dort anzukommen, versetzte ihn jetzt unvermutet doch in Panik.

Draußen ließ der auffrischende Wind die Wellen wütend schäumen. Der Briefkastendeckel klapperte. Erst als er die Treppe am Kliff schon halb hinuntergelaufen war, bemerkte er, dass er ihren Namen rief; er schmeckte bereits die Bitterkeit des Verrats auf der Zunge.

Ich komme, Mum! Halt durch!

Der Regen war inzwischen stärker geworden; er glasierte die Betonstufen und verschleierte den Lichtschein der Straßenlaternen. Saul rutschte ein paar Mal fast aus und griff nach dem Geländer, um sich festzuhalten. Sein Blick folgte der Flut, die bereits zu nah war. Plötzlich graute ihm davor, zu sehen, wie ihr Körper aufs Meer hinausgezogen wurde.

Seine Augen suchten das Stück des Strandes ab, an dem sie gelegen hatte; das Wasser war auf dem Vormarsch, beanspruchte es für sich. Bald würde dort nichts anderes mehr sein als nur noch tintenschwarzes, wogendes Meer. Saul schluckte, aber sein Mund war trocken. Er starrte in die Wellen, hielt Ausschau nach einem Hinweis auf Gloria. Nach schwarzem Haar, weißen Turnschuhen. Doch sie war einfach verschwunden.

 

Wasser sickerte durch den Stoff seiner eigenen Schuhe. Er stolperte nach hinten und stieg über die niedrige Betonmauer am oberen Rand des Strandes. Er sollte die Polizei rufen. Oder die Küstenwache. Er sollte irgendetwas tun. Doch Saul wusste nicht, was. Wie sollte er der Polizei erklären, dass er so lange damit gewartet hatte, seiner Mutter zu helfen, bis die Flut sie holen konnte? Vielleicht verhafteten sie ihn dann. Was, wenn er ins Gefängnis kam? Dann würde Cassidy Cranston ihn keines Blickes mehr würdigen.

Saul stützte sich mit den Händen an der Mauer ab und schaute über die Themsemündung zum Horizont, wo die wie an einer Kette aufgereihten Lichter orangefarben funkelten. Heftige Übelkeit beschleunigte seinen Atem. Das Herz raste immer schneller in seiner Brust. Unsicher, was er als Nächstes tun sollte, rannte er auf die Stufen zu, die wieder nach oben führten, in die Sicherheit der Wohnung. Würde sie ohne seine Mutter noch ein Zuhause für ihn sein?

Als Saul sich mit hängenden Schultern vom Strand abwandte, drang der Fluch eines Mannes über den Asphalt zu ihm hin.

Der Junge blickte zu dem schmiedeeisernen Unterstand, der wenige hundert Meter die Straße hoch auf einer großen, vor allem von Spaziergängern mit Hunden und Kindern mit Tretrollern genutzten Rasenfläche stand.

Ein Mann mit dunklen, sich an den Spitzen kräuselnden Haaren und einem schmalen, harten Gesicht war über einen Kleiderhaufen gebeugt. Einen Kleiderhaufen, an dem Beine und Füße hingen, die in weißen Turnschuhen steckten.

Saul rannte darauf zu.

Obwohl der Mann nach vorn gebeugt auf dem Boden kniete, konnte Saul erkennen, dass er sehr groß war. Er kam ihm vage bekannt vor. Und er drückte seine Hände rhythmisch auf Glorias Brust.

Eins. Zwei. Drei. Vier.

Der Mann hielt kurz inne, presste seine Lippen auf Glorias und blies ihr seinen Atem in die Lunge.

Eins. Zwei. Drei. Vier.

Saul beobachtete, wie der Mann versuchte, wieder Leben in seine Mutter zu bringen. Seine Hände waren verkrümmt wie die von Sauls verstorbenem Großvater, dem die Arthritis sein Uhrmachergeschäft und seine Würde geraubt hatte.

»Steh nicht unnütz da rum«, sagte der Mann, ohne Saul anzuschauen. »Zieh deine Jacke aus.« Eins. Zwei. Drei. Vier. »Sie friert.«

Saul legte die Jacke über seine Mutter und versuchte, den Regen zu ignorieren, der ihm auf die nackten Unterarme schlug. Glorias Augen waren geschlossen. Saul spürte, wie er innerlich wegdriftete, sich aus der Situation ausklinkte. Er konnte doch nicht Zeuge des Todes seiner Mutter sein, da er an allem schuld war.

Plötzlich hustete sie.

Saul atmete auf und hielt dann die Luft an, blieb stocksteif stehen. Wartete. Um zu sehen, was seine Mutter als Nächstes tat.

Sie hustete erneut. Ihre Lider flatterten. Sie drehte sich auf die Seite und öffnete den Mund. Eine wässrige rote Flüssigkeit rann heraus.

Sauls Entsetzen musste sich auf seiner Miene abgezeichnet haben. Die dunklen Augen des Mannes folgten seinem Blick. »Das ist nicht das, was du denkst«, sagte er, stand auf und wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. »Das ist nur Rotwein und Salzwasser.«

Saul beugte sich über seine schwach hustende, zitternde Mutter, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie auf die Füße.

Saul und der Mann sprachen kein Wort, während sie Gloria Anguish die Treppe zur Wohnung hinaufschoben. Saul wusste nicht, was er sagen sollte. Er redete nicht gern mit Erwachsenen. Er traute ihnen nicht. Aber dieser Mann war anders als die meisten Erwachsenen. Er lag Saul nicht mit bedeutungslosem Blabla in den Ohren, versuchte gar nicht erst, Konversation zu machen. Die Stille passte zu ihm.

Der Mann wartete, bis Saul die Haustür geöffnet hatte, erst dann richtete er wieder das Wort an ihn.

»Du solltest sie ins Krankenhaus bringen.«

Saul zuckte die Achseln. »Vielleicht.«

Seiner Mutter entschlüpfte ein Stöhnen. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf, obwohl ihre Augen geschlossen waren.

»Schon gut, Mum. Mach dir keine Sorgen.«

»Dann bring sie ins Bett. Und halt sie warm.«

»Danke«, murmelte Saul, obwohl er sich nicht sicher war, ob er dankbar oder enttäuscht sein sollte, als er das durchnässte Häufchen ansah, das seine Mutter darstellte.

»Ist dein Vater da?«

»Nee.«

»Wann kommt er nach Hause?«

Er kaute auf einem Fingernagel. »Der wohnt nicht hier.«

Der Mann biss sich fest auf die Lippe und leckte einen winzigen Blutstropfen davon ab. Dabei schloss er kurz die Augen. Saul fröstelte. Die Kälte erinnerte ihn daran, dass es regnete und er keine Jacke mehr trug. Aber die dunklen Augen des Fremden hielten ihn fest. Dem Jungen wurde unwohl unter diesem durchdringenden Blick, und er lachte verlegen auf. Saul bekam ständig Ärger, weil er zur falschen Zeit lachte. Sein Schulleiter Mr Darenth war der Meinung, dass er ein Problem mit Autorität hatte. Der Fremde missdeutete Sauls nervöses Lachen als Zeichen von Heiterkeit und entblößte seine Zähne zu einem halben Grinsen. Als seine rissigen Lippen sich öffneten, sah Saul wieder einen winzigen Blutstropfen heraussickern.

»Bring sie ins Bett, bevor sie hier erfriert.« Er schaute auf Gloria hinab. »Und behalt sie im Auge. Falls sie Probleme mit der Atmung bekommt oder so was in der Art.«

Damit drehte der Mann sich abrupt um und ging. Er humpelte über die Straße und die Treppe hinunter, die in die Altstadt und zu einer Reihe von windschiefen, heruntergekommenen Fischerhäuschen führte, wie Saul wusste. Seine Mutter hatte ihm erklärt, sie würden trotz ihres maroden Zustands vermietet. Leicht verdientes Geld, hatte sie in einem abfälligen Ton gesagt. Aber Saul wusste, dass sie alles dafür gegeben hätte, auch so einfach an Geld zu kommen.

Glorias Kleider waren mit feuchtem Sand bedeckt, der an seinen Fingern scheuerte, als er ihr das schmale Treppenhaus hinaufhalf. In der Wohnung war es eiskalt, weil ihnen das Gas abgedreht worden war. Er zog sie im Badezimmer aus und vermied es, ihre vorstehenden Rippen und ihre kleinen Brüste anzuschauen. Da die Dusche kaputt war, stellte er sie in die Badewanne. Er machte Wasser im Wasserkocher heiß und gab ihr einen feuchten Schwamm, mit dem sie den Tang und den Sand von ihrem Körper abwusch. Auf ihrer Stirn bildete sich bereits ein großer Bluterguss.

Als sie fertig war, reichte er ihr eines der alten T-Shirts, die sie gern im Bett trug, und seinen eigenen grauen Kapuzenpulli. Sie zitterte. Jetzt, wo ihre dünnen weißen Beine entblößt waren, sah sie aus wie ein Kind. Schwach und mitleiderregend.

»Saul, ich …«

»Sei still, Mum. Ich will nicht drüber reden.«

Sie versuchte es nicht mehr, schaute aber sehnsüchtig zur Küche hinüber. Er konnte sehen, wie sie in Gedanken den Schrank aufmachte und ein Glas herausnahm.

»Ich hab alles weggeschüttet«, sagte er.

Sie lachte schuldbewusst. »Nein, nein, ich dachte an Tee, ehrlich. Süßen, heißen Tee.«

»Dann geh ins Bett. Ich mach dir einen.«

Als er den Becher in ihr Zimmer brachte, lag sie bereits unter der Decke. Die Vorhänge waren zugezogen, um die Erinnerungen an diese Nacht auszusperren; um das, was um ein Haar geschehen wäre, unwirklich erscheinen zu lassen.

Ihm stach der Kontrast zwischen ihren schwarzen Haaren und ihrem fahlen, müden Gesicht auf dem hellen Kissen ins Auge.

»Danke«, sagte sie.

Er war sich nicht sicher, ob sie den Tee meinte oder den Umstand, dass er sich um sie kümmerte. Plötzlich fühlte er sich erschöpft von ihrer Bedürftigkeit und dem ganzen endlosen Drama und wandte sich wortlos ab.

Später an diesem Abend, als der Mond wie eine Lache auf dem sich zurückziehenden Wasser lag und seine Mutter endlich eingeschlafen war, schaute Saul auf die Hütten am Ufer und die vertäuten Boote hinaus und dachte an den Lichtblitz zurück, den er vor ein oder zwei Nächten im Dachfenster des alten Fischerhäuschens gesehen hatte. Wie das Aufblitzen einer Taschenlampe oder so.

Er blinzelte und wartete darauf, dass es wieder passierte, doch die Dunkelheit blieb dunkel.

Neben dem Sofa lag Glorias Schere auf einem Stapel billigen Stoffs; daraus nähte sie Kleider, die sie donnerstags auf dem Markt in der Stadt verkaufte.

Saul holte das Sorgenpüppchen aus der Hosentasche. Es starrte ihn ausdruckslos an. Zerfranst und in Auflösung begriffen. Mit strähnigen schwarzen Haaren, die wie die seiner Mutter aussahen.

Saul nahm die Schere und schnitt ihm den Kopf ab.

2

Zehn Stunden zuvor

Detective Sergeant Etta Fitzroy ging den Weg hinunter und trat durch das Friedhofstor. Sie hatte mehr Zeit als die meisten Menschen auf Beerdigungen verbracht, um den Familien der Toten beizustehen: Opfern von Autounfällen; jungen Gangmitgliedern, die auf der Straße erstochen worden waren; einer talentierten jugendlichen Balletttänzerin an der Schwelle zur Frau, die nun für immer als das Mädchen aus dem Wald in Erinnerung bleiben würde.

Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, auf diesem winzigen Friedhof in einer unauffälligen Ecke der Stadt unweit von ihrer Wohnung, hatte sie sich den Luxus von Tränen verweigert. Dieses Privileg war einer anderen vorbehalten gewesen.

Conchita Rodríguez hatte so fest ihre Hand gedrückt, als der Sarg in die gefrorene Erde hinuntergelassen wurde, dass Fitzroy dachte, sie würde ihr die Finger brechen. Sie hatte den Schmerz ausgehalten, ihn sogar beinahe begrüßt. Es war nur ein Bruchteil von dem, was Mrs Rodríguez’ Tochter Grace – von der nun lediglich Asche und Erinnerungen übrig geblieben waren – in der Gewalt des Psychopathen Brian Howley erlitten hatte.

Sein Name schmeckte bitter auf ihren Lippen.

Sie ging an den Gräbern auf der anderen Seite der Grasfläche vorbei, an marmornen Grabsteinen mit goldgeprägten Namen und an einem Haufen bereits in Verwesung begriffener Blumen von einem anderen Begräbnis.

Abseits der Hauptwege befand sich ein ruhigerer Teil des Friedhofs. Hier waren die Grabsteine viel kleiner und aufgereiht wie Kinder auf einem Schulhof. Es gab Teddybären und Windräder und bunte Plastikblumen – bewegende Anklänge an das, was hätte sein können.

Etta Fitzroy wandte die Augen ab; sie ertrug es kaum, die Inschriften zu lesen, die von Liebe und Verlust kündeten, auch wenn sie sie fast auswendig kannte.

RUBY OLIVE JAMESON,

unser wunderschönes, am 15. April 2011

geborenes Mädchen, das am 14. Mai 2011

in die Arme Gottes zurückkehrte.

Schlaf, Kleines, schlaf.

 

Unser über alles geliebter Sohn

HENRY DONNELLY

1.3.2008–23.11.2010

Das Leben ist endlich.

Die Liebe nicht.

Sie ging vorbei an JEMIMA SOPHIE CROSS (7 Jahre) und ALEX JAMES HARRIS (13) und OLIVIA MAY BARRETT (9) und TOBY GRAFTON (11), bis sie an einen einfachen grauen Grabstein kam.

In liebender Erinnerung an

NATE FITZROY

Ein Sternenkind

24. Februar 2008

Fitzroy legte das Schleierkraut, das sie aus ihrem eigenen Garten mitgebracht hatte, auf den Erdhügel, der ihren Sohn barg. Heute wäre er fünf Jahre alt geworden. Fünf. Genauso alt wie Clara Foyle.

Die winzigen Finger wären inzwischen zu starken Händen herangewachsen, die einen Stift halten und einen Ball fangen konnten. Vielleicht hätten sie Äpfel gepflückt oder imaginäre Waffen abgefeuert und das Wasser in einem Swimmingpool zerteilt. Sie hätten ihre eigene, größere Hand festgehalten.

Manchmal hörte sie seine Stimme. Ein kindliches Kichern, ansteckend, nicht enden wollend; sie hörte ihn weinen oder rufen oder fröhlich singen. Die gemurmelten Vokale und Konsonanten: Mummy.

Die Geräusche einer wahr gewordenen Familie.

Ihrer Familie.

Fitzroy fischte die Tupperware-Dose aus ihrer Tasche, öffnete sie und holte einen kleinen Geburtstagskuchen heraus. Nachdem sie fünf silberne Kerzen in den weichen, blassblauen Guss gesteckt hatte, stellte sie den Kuchen neben die Blumen auf das Grab.

Dann kniete sie sich hin und legte ihre Hand um ein altes Feuerzeug; ihr Mann David hatte es in der Wohnung zurückgelassen, als er vor Weihnachten ausgezogen war, weil sie sich voneinander entfremdet hatten. Sie zündete eine Kerze nach der anderen an.

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Nate, mein Liebling.

Mit gesenktem Kopf wartete Fitzroy darauf, dass der Wind die winzigen Flammen ausblies; sie stellte sich gern vor, dass es Nates Atem war, der auf dem Wind zu ihr getragen wurde.

Minuten vergingen. Diesen Teil ihrer Besuche bei Nate hasste Fitzroy immer am meisten; es war, als müsste sie sich immer wieder von neuem von ihm verabschieden. Heute zögerte sie noch länger als üblich, zu gehen, weil sie wusste, was vor ihr lag.

Sie dachte an die E-Mail auf ihrem Handy, die darauf wartete, dass sie sie an Amy und Miles Foyle weiterleitete; daran, wie der kleine Lichtblick, den diese neue Information mit sich brachte, von Fragen getrübt werden würde, auf die sie keine Antworten wusste. Sie schaute auf ihre Uhr und drückte die Lippen auf den feuchten Grabstein ihres Sohnes.

Zeit, zu gehen.

3

13.26 Uhr

Amy Foyle hatte Luftballons schon immer gehasst. Den Geruch des überdehnten Gummis. Diese schrumpelige, unpassende Leere, wenn sie platzten. Sie hatte Lampions haben wollen und eine Nachtwache. Aber Miles hatte das abgelehnt. Das sei Claras Freundinnen gegenüber nicht fair, hatte er gesagt. Sie wollten ihrer schließlich auch gedenken.

Sobald sie in dem Park ankamen, wusste Amy, dass es ein Fehler gewesen war, Claras Klasse einzuladen. Überall waren Kinder. Ihre kleinen Köpfe flogen hin und her vor Aufregung über die vielen, noch in riesigen Netzen gefangenen weißen Ballons und das Zusammentreffen mit ihren Freunden am Wochenende.

Amys Finger strichen über das kühle Silber ihres Flachmanns. Sie verspürte den unbändigen Drang, ihn aufzuschrauben und seinen in der Kehle brennenden Inhalt hinunterzustürzen. Selbst nach drei Monaten waren die anderen Mütter im Umgang mit ihr immer noch unsicher und vermieden es, sie anzuschauen, wenn sie sie in Blackheath Village zufällig trafen oder auf dem Schulhof, wenn sie Eleanor abholte. Aber sie hatte sich selbst geschworen, heute nicht zu trinken. Aus Respekt vor Clara. Den Flachmann hatte sie nur dabei, um sich sicher zu fühlen, das war alles.

Ihr Blick glitt über die versammelte Menschenmenge, in der sie einige bekannte Gesichter entdeckte. Mr und Mrs Bruton aus dem übernächsten Haus in ihrer Straße. Megan Ambrose, eine »Tante« aus Claras alter Vorschule. Poppy Smith und ihre Mutter Miranda. Amy biss sich von innen auf die Wange.

In ungefähr zehn Minuten sollte jemand eine Rede halten, und anschließend würden sie die Luftballons fliegen lassen. Danach konnte sie nach Hause gehen und weiter die Stunden und Minuten zählen, die seit der Entführung ihrer jüngsten Tochter vergangen waren.

Ein Mädchen, das genau dieselbe Haarfarbe hatte wie Clara, spazierte an ihr vorbei, und plötzlich hatte Amy das seltsame Gefühl, aus sich herauszutreten. Sie wollte dieses Kind packen und es herumwirbeln, um festzustellen, dass sie in Claras Augen schaute; sie wollte seine Hand nehmen und es durch den Park nach Hause führen, ihm erklären, dass etwas furchtbar Trauriges passiert sei, das mit ihnen aber nichts zu tun habe.

Amy machte einen Schritt nach vorn, dann noch einen und noch einen, aber das Rückkopplungspfeifen aus der öffentlichen Lautsprecheranlage riss sie schlagartig wieder in die Realität zurück, und sie bohrte stattdessen die Fingernägel in ihre Handflächen. Sie würde sich vor ihrem Publikum keine Blöße geben. Vor kurzem hatte sie zu spüren bekommen, dass es ihres Dramas allmählich überdrüssig wurde. Miles hasste es, wenn sie so redete, aber Amy wusste es einfach. Jetzt, wo Claras Verschwinden keine aufregende Neuigkeit mehr war, wurden die Menschen allmählich unruhig; sie erwarteten, weiter »unterhalten« zu werden – durch neue Zeugenaussagen, Fernsehberichte, vielleicht einen Nervenzusammenbruch oder die Entdeckung von Claras Leiche. Ihre Gier nach schlechten Nachrichten war grenzenlos.

Miles. Sie suchte in dem Meer von Körpern auf dem Blackheath Common nach ihm. Er sprach angeregt mit einer Frau, die sie nicht kannte. Sein Teint zeugte von entspannten Tagen am Strand, und er hatte abgenommen. Er sah – man konnte es nicht anders sagen – gut aus. Gestern war er aus Spanien eingeflogen, hatte Amys Angebot, in ihrem ehemaligen gemeinsamen Zuhause zu übernachten, aber abgelehnt. Mit dem Argument, er wolle Eleanor nicht verwirren. Er sei noch nicht bereit, nach London zurückzukehren. Eigentlich hatte Amy ihm erwidern wollen, Eleanor sei auch so schon verwirrt, weil sie mit einem Nervenbündel von Mutter zusammenlebte und einen Vater hatte, der wenige Wochen nach ihrer kleinen Schwester aus ihrem Leben verschwunden war. Doch stattdessen hatte sie nur genickt und gesagt, sie verstehe das. Die Ereignisse der letzten Monate hatten sie verändert. Das Verschwinden ihrer Tochter hatte ihr gezeigt, dass keine noch so große Hysterie oder noch so viele bittere Anklagen etwas an dieser einen, unfassbar schmerzlichen Tatsache ändern würde: Clara war verschwunden.

Auch drei Monate später war der Schock darüber noch nicht geringer, wie andere ihr prophezeit hatten, sondern zu einer qualvollen Klette geworden; sie nistete in ihrem Herzen und riss es bei jeder Kontraktion, bei jedem rhythmischen Pumpen erneut auf. Und mal im Ernst: Was bedeuteten denn hundert Tage? Exakt dasselbe wie siebenundneunzig oder dreiundsechzig oder einunddreißig.

Was ihn anging, verbot sie sich alle Spekulationen und Phantasien. Bis Clara gefunden war, würde sie – oder konnte sie – sich nicht gestatten, zu glauben, dass ihre Tochter tot war.

Jemand stupste sie von hinten an.

»Ich glaube, Daddy will was von dir.«

Amy schaute in die Richtung, in die Eleanor zeigte. Miles winkte sie zu sich heran. Er hatte ein Mikrophon in der Hand und strahlte Entschlossenheit aus.

»Seid ihr bereit?« Er lächelte sie beide kurz an, geschäftsmäßig. Amy lächelte nicht zurück.

Er klopfte auf das Mikro und räusperte sich. Eleanor suchte die Hand ihrer Mutter. Amy hörte, über das Mikro kurzzeitig verstärkt, wie Miles tief einatmete, bevor er das Wort ergriff.

»Wir danken euch allen, dass ihr heute gekommen seid und uns in einer für unsere Familie wahrhaft harten Zeit unterstützt.« Sein Blick wanderte zu Amy, doch sie starrte aufs Gras und fragte sich, wie etwas, auf dem herumgetrampelt wurde und das mal von Frost und Schnee erstickt und mal von der Sonne versengt wurde, immer noch so lebendig sein konnte.

»Es ist jetzt einhundert Tage her, dass unser Liebling Clara aus unserem Leben gerissen wurde.« Miles’ Stimme war klar und fest, die Zuhörer, von dem gelegentlichen Pssst eines peinlich berührten Elternteils abgesehen, waren still.

»Wir wissen, wer unsere Tochter entführt hat, aber heute ist nicht der Tag, an dem wir uns damit ausführlicher befassen wollen. Heute wollen wir an unser wunderbares Mädchen erinnern und über das Wo nachdenken; wir wollen alle dazu aufrufen, weiter die Augen offenzuhalten und nach Clara zu suchen. Wir glauben, dass unsere Tochter immer noch bei uns ist, und wir werden sie nie aufgeben, bis sie gefunden wird. Clara, du bist unser Licht in der Dunkelheit. Wir sind mit unserer Hoffnung und unserer Liebe bei dir, und wir werden dich finden und nach Hause bringen.«

Miles versuchte, den Knoten an dem Netz zu lösen, das die Luftballons zusammenhielt. Eleanor lief nach vorn, um ihm zu helfen. Amy fiel zu spät ein, dass sie eigentlich eine Schere hätte mitbringen sollen.

Auf der anderen Seite der ausgedehnten Freifläche des Blackheath Common schärfte der Wind sein Messer und richtete es auf sie. In der Menge erhob sich Gemurmel, Kinder langweilten sich oder froren; sie warteten darauf, dass die Ballons freigelassen wurden, damit sie ihnen über den Rasen nachrennen und versuchen konnten, sie zu fangen. Amy wollte nicht, dass die Kinder sie mit ihren schmutzigen Fingern besudelten, dass sie die Ballons – die für ihre Hoffnung standen – zerplatzen ließen. Wenn, dann wollte sie, dass sie hoch und frei in die Luft flogen.

Die Menschen links vor Amy wirkten unruhiger als die anderen. Amy registrierte leises Gemurmel und einige unbeteiligte Blicke. Miles bemühte sich noch immer, den Knoten zu lösen, und hielt den Kopf gesenkt, so dass er nicht mitbekam, was sich nun abspielte; die Menge teilte sich, um eine Handvoll allzu vertrauter Gesichter durchzulassen.

Die Journalistin ganz vorn, eine Frau namens Sarah, sah aus, als wäre ihr unbehaglich zumute. Miles hatte die Presse eingeladen. Es sei wichtig, die Öffentlichkeit an Clara zu erinnern, hatte er gesagt. Und Amy hatte nicht widersprochen. Sie hatte sich gegen die unvermeidlichen Plattitüden und austauschbaren Fragen gewappnet. Aber warum trug diese junge Frau ganz vorn so einen neugierigen, ebenso stahlharten wie mitleidigen Ausdruck im Gesicht?

Die Menge begann, leise zu klatschen. Ein örtlicher Chor, den Miles im Internet entdeckt hatte, stimmte Abide With Me an. Als die Luftballons über ihren Kopf in den Himmel emporschwebten, bekam Amy plötzlich Angst. Sie befürchtete, dass sie von Clara Abschied nahmen, indem sie diese Ballons fliegen ließen.

Die Kinder schauten hoch und zeigten auf die weißen Symbole der Hoffnung, die vom Himmel verschluckt wurden. Der Lärmpegel stieg, und die angespannte Stille des Gedenkens zerbrach in Fetzen von Gesprächen über Mrs Foyles dürre Erscheinung und darüber, wie gut Mr Foyle dagegen aussehe, und über die arme, arme Eleanor. Dann drifteten die Gedanken allmählich zu Tassen voll heißem Tee ab, zu Abendessen, die vorbereitet werden mussten, sowie zu dem Bedürfnis, die Traurigkeit dieses Tages abzuschütteln und die eigenen Kinder dieses winzige Quäntchen fester an sich zu drücken.

Aber Amy bekam von all dem nichts mit, weil sie diese Journalistin dabei beobachtete, wie sie sich durch ein angedeutetes Nicken – das sie nicht bemerkt hätte, wenn sie sie nicht zufällig angeschaut hätte – mit der Zeitungsfotografin verständigte. Jetzt bewegte die Frau sich auf Amy zu, und die anderen Journalisten kamen ebenfalls näher; sie steckten ihre Handys in die Taschen und streckten flehentlich ihre Notizblöcke aus.

Gleichzeitig schien aus der entgegengesetzten Richtung ein verschwommenes Farbgemisch aus rötlichem Braun und Marineblau durch die sich zerstreuende Menge auf sie zuzukommen. Amy hatte Fitzroy vorhin schon erspäht und war ihr dankbar gewesen für die respektvolle Art, mit der sie sich im Hintergrund gehalten hatte. Sie wollte keinerlei Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken, während sie der Familie Beistand leistete.

Doch nun rannte Detective Sergeant Etta Fitzroy förmlich auf sie zu; offenbar wollte sie vor den Journalisten bei ihr ankommen.

»Mrs Foyle …?«

Amy schloss die Augen.

Und öffnete sie wieder.

Die Journalistin war ihr jetzt so nah, dass sie sie hätte berühren können. Amy sah den Lippenstift, der in die feinen Fältchen über ihrer Oberlippe gelaufen war, den Kratzer auf ihrem linken Brillenglas. Ihr Atem roch nach Nikotin und Wein zur Mittagszeit.

»Ja.« Sie gab sich Mühe, mit fester Stimme zu sprechen.

»Sarah Simpson, Daily Mirror. Was haben Sie beim Auffinden von Cla…«

Amy spürte diesen Schwindel, der in dem Bruchteil einer Sekunde einsetzt, bevor die Axt zuschlägt. Fitzroy war fast bei ihnen, aber Amy erkannte, dass ihre Bemühungen fruchtlos waren. Sie würde sie nicht mehr erreichen, bevor die Worte aus dem Mund der Journalistin gedrungen waren. »… ras Schuluniform empfunden? Es heißt, sie wäre heute Morgen an einer Insel vor Essex angespült worden?«

Amy Foyle hatte sich einhundert Tage lang auf diesen Moment vorbereitet. Darauf, dass die Erde beben und sich auftun und sie verschlingen würde. Dass sie hören würde, dass ihre Tochter tot sei.

Aber das jetzt. Das hatte sie nicht erwartet.

Sie wollte die Antworten aus ihnen herausschütteln. Sofort wissen, um welche Insel es sich handelte. Herausfinden, warum man es den Journalisten gesagt hatte, bevor sie es erfuhr. Fragen: Und was bedeutet das? Aber sie konnte nur an das Schild mit Claras eingesticktem Namen denken, das mit winzigen, sorgfältigen Stichen in ihr Trägerkleid genäht war.

»Wollten Sie dazu etwas sagen, Mrs Foyle?« Ein Blitz flackerte auf, und sie hörte das Klicken und Surren eines Blendenverschlusses.

»Glauben Sie, das ist eine Bestätigung dafür, dass sie tot ist?« Eine andere Stimme. Männlich, jung.

»Drei Monate ist sie jetzt nicht gesehen worden. Es gibt keinerlei Spur von ihr. Glauben Sie, dass Howley sie noch in seiner Gewalt hat?«

Ein Körper schob sich vor sie. Schirmte sie ab. Fitzroy. Zuverlässig und durch nichts aus der Fassung zu bringen.

»Treten Sie zurück«, sagte sie. »Zeigen Sie mehr Respekt.«

Sarah zuckte entschuldigend die Achseln, aber sie hatte das erhalten, wofür sie hergekommen war. Die Journalisten zogen ab, um in der nächstgelegenen Kneipe ihre Notizen zu vergleichen und ihre Berichte zu schreiben und abzuschicken.

»Tut mir leid«, sagte Fitzroy, sobald sie außer Hörweite waren. »Ich wollte warten, bis das hier« – sie zeigte auf den Park – »vorbei ist. Keine Ahnung, wie sie es so schnell erfahren haben.«

»Was erfahren?« Miles stand neben ihr und rieb Daumen und Zeigefinger in einer kreisenden Bewegung aneinander. Amy hielt automatisch nach Eleanor Ausschau, die mit einer ihrer Lehrerinnen plauderte.

»Ein Trägerkleid, das zu Claras Schuluniform passt und in das ihr Namensschild eingenäht ist, wurde heute Morgen auf Foulness Island gefunden.«

Alles an Miles erstarrte, seine Finger, seine Atmung und seine Augenlider. »Wo ist das?«

»Das ist eine Insel an der Küste von Essex, eine Oase der Wildnis mit nur einer Handvoll Bewohnern. Knapp neunzig Kilometer von hier entfernt.«

»Und Sie sind sich sicher, dass es Claras Kleidung ist?«

»Wir gehen davon aus, ja. Wir werden natürlich DNA-Tests durchführen, aber ich bin, ehrlich gesagt, nicht besonders optimistisch, was das angeht. Das Kleid wurde an den Salzwiesen angespült, und es sieht so aus, als hätte es schon eine Weile im Wasser gelegen.«

Amy beobachtete Fitzroys Lippen, während sie die Vokale und Konsonanten formten, die das neueste Kapitel in Claras Geschichte bildeten. Die Worte trieben auf dem auffrischenden Wind davon, und zum zweiten Mal an diesem Nachmittag hatte sie das Gefühl, ihre Tochter zu verlieren. Dass sich irgendetwas, das sie nicht näher bestimmen konnte, verschob und veränderte.

»Aber was bedeutet das denn?«, fragte sie. »Er« – sie weigerte sich, seinen Namen auszusprechen – »kann es schon vor Wochen ins Meer geworfen haben. Das bedeutet doch nicht, dass auch Claras Leiche angespült wird. Oder?« Sie schrie jetzt fast. »Oder?«

»Das ist richtig«, sagte Fitzroy, aber ihr Blick driftete bereits weg und fixierte einen fernen Punkt am dunkel werdenden Horizont.

Amy hatte in den letzten Wochen und Monaten genügend Polizisten für mehrere Leben gesehen, vor allem DS Fitzroy, und an dieser Geste des Ausweichens, dieser plötzlichen Weigerung, ihr in die Augen zu sehen, las Amy zwei Dinge ab.

Erstens: Die großen Versprechungen von Hoffnung, Tatkraft und Entschlossenheit, die von dem Augenblick von Claras Verschwinden an in der Miene der Ermittlerin gestanden hatten, verloren an Überzeugungskraft.

Und zweitens: DS Fitzroy verheimlichte ihr etwas; das wusste Amy so sicher wie die Tatsache, dass ihre Tochter verschwunden war.

4

16.47 Uhr

Er war erst den zweiten Tag hier, aber Saul hatte bereits entschieden, dass Conrad Gillespie ein Mistkerl war. Vielleicht lag es an der Art, wie er ihm befahl, ein Mal in der Stunde die beschissene Toilette des Ladens zu überprüfen – sie stank nach verstopften Leitungen und Putzmittel –, oder an dem Grinsen, mit dem er Saul dabei beobachtet hatte, wie er uringetränkte Sägespäne aus dem Chinchilla-Käfig gefegt hatte.

Aber es war ein Job, und ein Job bedeutete Geld.

»Hol uns mal einen Kaffee, ja?«

Saul schnitt gerade Äpfel für den Beo klein und überlegte kurz, ob er seinen Chef einfach ignorieren sollte, entschied dann aber, sich ein weiteres Toiletten-Strafkommando zu ersparen, und legte das Schälmesser aus der Hand.

»Soll ich das hier erst noch fertig machen?«, fragte er vorsichtig. Er hatte weniger als zwei Schichten gebraucht, um zu kapieren, dass Conrad Gillespie es nicht mochte, wenn man seine Autorität in Frage stellte.

Cassie hatte versäumt zu erwähnen, dass der Geschäftsführer der Tierhandlung ein Wichser war, als sie Saul den Tipp für den Job gegeben hatte. Eigentlich hatte sie meistens ein feines Gespür für Menschen, aber in diesem Fall nicht. Vielleicht hatte sie sich von seinem Motorrad und den protzigen Accessoires eines Vollzeitgehalts blenden lassen. Saul schob das Obst mit einer abrupten Geste zu einem Stapel zusammen. Conrad war in Sauls Schule gegangen, ein paar Klassen über ihm. Er erinnerte sich noch an ihn, weil er einmal als Mutprobe in einen Mülleimer gekackt hatte.

»Füttere den Vogel und dann geh«, sagte Conrad, ohne sich die Mühe zu machen, vom Display seines Handys aufzuschauen.

Saul legte die Apfelstücke auf einen Teller und trug ihn zum Vogelkäfig. Der Beo warf den Kopf in den Nacken und starrte ihn, ohne zu blinzeln, an, als er vorsichtig eine Hand hineinschob.

»Fick dich.«

Saul fiel der Plastikteller aus der Hand, und klebriger Obstsaft verteilte sich auf dem Boden. Der Vogel kreischte, gereizt über den Lärm. Saul lief feuerrot an.

Conrad machte sich vor Lachen fast in die Hose. »Der ist immer wieder gut. Das mache ich mit allen Neuen.«

Saul fragte sich, ob Conrad auch noch lachen würde, wenn »der Neue« ihm die Nase brach, entschied dann jedoch, dass er seine Hände besser damit beschäftigte, den Teller aufzuheben, wenn er nicht arbeitslos werden wollte.

»Wer hat ihm das Sprechen beigebracht?«

Conrad zuckte nicht mal die Achseln; er hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder dem Handy zugewandt.

»Keine Ahnung. Hat einem alten Knacker gehört, der abgenibbelt ist. Seine Tochter hat ihn uns geschenkt, weil ihn keiner nehmen wollte. Ist natürlich auch ein bisschen riskant. Man muss die Kunden vorwarnen, dass er ein Schandmaul ist.« Conrad lachte. »Oder auch nicht. Die mit einem Stock im Arsch sollen es ruhig selbst rausfinden. Ein Stück Zucker, übrigens.«

Saul wartete darauf, dass Conrad ihm Geld gab, aber als ein Kunde an die Kasse trat und fragte, ob sie Flohhalsbänder verkauften, wollte er lieber nicht stören.

Draußen war es bitterkalt; es war dieser Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab, an dem die Dämmerung einfach auf den Tag zustolzierte und ihn aus dem Weg schob. Holzrauch und der Gestank des Schlickwatts aus der Mündung lagen in der Luft des späten Nachmittags. Die bunten Glasfenster der Kirche, die vom Steilhang aus ins schwarze Wasser hinabschaute, waren von innen erleuchtet, und durch die schweren Türen drangen die Klänge eines Chorals der Abendandacht.

Saul blieb stehen, um den Stimmen zu lauschen, die in den weiten, leeren Himmel hinaufgetragen wurden. Er liebte diese Stadt, trotz allem. Er wollte niemals von hier weggehen.

Es war still in den Straßen, aber als er um die Ecke bog und an dem Postkartenladen, der Pizzeria und an den mit Graffiti besprühten Metalltüren der öffentlichen Toiletten vorbeikam, sah er, dass der Coffee Shop noch geöffnet hatte. Seine Fensterscheiben waren beschlagen von dem Atem der Familien, die darin saßen, von dem Mief eines Winternachmittags. Er schob die Tür auf und trat ein. Lichter, Geplauder und der Duft von Geld; frischer Kaffee und teurer Kuchen.

Saul schaute auf die Preisliste an der Wand und zählte das Kleingeld in seiner Tasche. Verdammt. Er hatte nicht genug für Conrads Kaffee, geschweige denn einen eigenen. Der Barista kämpfte mit dem unter Überdruck stehenden Milchschäumer, aus dem der heiße Dampf mit wütendem Fauchen stoßweise herausschoss, und auf dem Tresen stand ein Topf mit Trinkgeldern. Saul vergewisserte sich, dass niemand herschaute, und legte seine Hand auf eine glänzende Einpfundmünze. Was sein muss, muss sein.

 

In der Tierhandlung hatte sich eine lange Schlange an der Kasse gebildet.

Conrad warf ihm einen verächtlichen Blick zu, und Saul verstand auf Anhieb die Botschaft: Warum zum Teufel hat das so lange gedauert?

»Mach dich an die Arbeit«, murrte sein Chef und nickte einem Mann und einem Jungen im Rollstuhl zu, die gerade hereingekommen waren. »Du kannst deiner Freundin sagen, dass sie gefeuert ist, wenn sie noch mal krankfeiert. Geh und frag die da hinten, ob sie Hilfe brauchen. Beweg dich!«

Saul stellte Conrads Pappbecher auf den Kassentisch. Das konnte Conrad Cassie gefälligst selbst sagen. Sie redete gerade nicht mit ihm. Wieder mal.

Seine schlurfenden Schritte und langsam schlenkernden Arme verrieten seinen Widerwillen, als er auf die Kunden zuging. Er hasste diesen Teil seiner Arbeit, die notwendige Interaktion, die falsche Jovialität und das ganze Getue. Vater und Sohn – ihre rostroten Haare und der Umstand, dass sie beide Sommersprossen auf der Nase hatten, machte sie klar als solche erkennbar – brachten die Außenwelt mit in den Laden, der Geruch von Kälte hing in ihren Jacken und strahlte von ihrer Haut aus.

»Es schneit«, sagte der Junge, und Saul bemerkte winzige Eiskristalle, die in der Wolle seines Schals schmolzen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Trotz der dicken Winterkleidung war deutlich zu sehen, dass der Junge seinen Kopf schief hielt und seine Arme eigenartig abgewinkelt waren. Das machte Saul verlegen; er wusste nicht, wo er hinschauen sollte. An Cassies Schwester war er gewöhnt, aber das hier war etwas anderes. Dieser Vater und sein Sohn waren Fremde.

Wenn Saul gewusst hätte, wie sich die Dinge in den nächsten Stunden und Tagen entwickeln würden, wäre er wortlos aus dem Laden gegangen und nie mehr zurückgekehrt. Denn es würde eine Zeit kommen, in der er zu einer Reihe von Entscheidungen gezwungen war; eine Zeit, in der dieser Mann und dieser Junge für ihn keine Fremden mehr waren, sondern Widersacher.

Aber bedeutsame Momente werden selten erkannt.

Stattdessen fragte Saul sich insgeheim, ob er am Abend etwas zu essen bekam, ob seine Mutter nüchtern sein und wie lange es wohl dauern würde, bis Cassie sich wieder einkriegte, und nahm so kaum Notiz von diesen beiden, die einen Scheideweg auf der Landkarte seines Lebens markieren würden.

»Wir haben einen Hund.« Die Stimme des Jungen war wie Musikberieselung, hoch und nervig.

»Ist ja toll.« Saul klang sarkastischer, als er gewollt hatte. Der Mann sah ihn scharf an. Sauls Unterton war ihm offensichtlich nicht entgangen. »Äh, ich meine, brauchen Sie eine neue Leine oder Leckerlis und oder ein Spielzeug für ihn?«, stammelte er, plötzlich peinlich berührt.

Der Mann schaute seinen Sohn an. »Jakey …?«

»Ein Körbchen. Damit er in meiner Nähe schlafen kann, aber nicht in meinem Bett.« Das klang, als würde er einen Satz seiner Eltern nachplappern, und Saul konnte sich denken, dass es Streit um das Thema gegeben hatte.

Der Mann lächelte. »Das fasst es ganz gut zusammen.«

»Hier entlang.«

Saul führte die beiden tiefer in den Laden hinein. Hier roch es unangenehm feucht nach Aquarien und Sägemehl und nach Tierkot.

»Guck mal, Dad. Hast du gesehen, Dad?« Der Junge war, wie die meisten Kinder, fasziniert von den zum Verkauf angebotenen Tieren. Den Eidechsen und Vogelspinnen. Und von den Plastikbehältern mit Kakerlaken, Heuschrecken und Mehlwürmern, die als Lebendfutter für Reptilien verkauft wurden.

Der Mann hockte sich neben den Rollstuhl, neigte seinen Kopf zu dem seines Sohnes und legte einen Arm um seine Schultern, um nur ja nichts von der Begeisterung des Jungen zu verpassen. Das zu sehen versetzte Saul einen Stich ins Herz, und er lenkte sich ab, indem er die Beutel mit der sterilisierten Erde zurechtrückte.

Er spürte, dass der Junge ihm seine Aufmerksamkeit zuwandte. »Hast du auch ein Haustier?«

Saul hielt den Blick starr auf die Griffe des Rollstuhls gerichtet. Das war eine schwierige Frage. »Nein«, sagte er schließlich. »Aber ich wollte auch immer einen Hund.«

Der Junge – Jakey – strahlte.

»Wir sind neu hier«, sagte der Mann. »Wir sind von London hergezogen und wohnen jetzt ein kleines Stück weiter die Küste entlang.« Im Plauderton. Freundlich. »Ist ein bisschen Fahrerei für uns, aber dieser Laden ist echt toll.«

Saul raffte sich zu einem Lächeln auf und hoffte, dass es freundlich wirkte.

Sie gingen an den aufgestapelten Vitrinen vorbei, an dem strahlend bunten Schrägstrich auf der Haut eines Pfeilgiftfroschs und an der zu einem apathischen Komma gebogenen Kornnatter.

An den Metallgitterstäben des Beo-Käfigs.

»Halt an, Daddy. Ich möchte ihn mir ansehen.«

Der Mann schob den Rollstuhl des Jungen zu dem funkelnden Gefängnis. Der Vogel war schwarz und schlank, die Augenbinde aus gelben Federn an seinem Kopf so verblüffend wie ein Blitzstrahl. Seine glänzenden Augen fixierten Vater und Sohn. Saul wollte gerade ansetzen, sie vor seinem frechen Mundwerk zu warnen, als der Vogel zu plappern begann.

»Du bist tot«, sagt er, auf seiner Stange herumhüpfend. »Du bist tot, du bist tot, du bist tot.«

Montag

5

16.41 Uhr

In der Altstadt, wo abgewetztes Kopfsteinpflaster und verwitterte Fischerhäuschen Stein an Stein stoßen, hält der Mann, der früher Brian Howley war, nach jemandem Ausschau.

Sein Haar ist jetzt dunkler und reicht ihm bis zur Schulter, sein Nadelstreifenanzug hängt in einer Plastikhülle im fast leeren Schrank seines neuen Zuhauses. Er trägt eine alte Jeans und ein weiches schwarzes Hemd. Sein Bart ist grau meliert, weil die natürliche Farbe sich gegen das Färbemittel durchsetzt. Er weiß, dass er sich darum kümmern muss.

Seinen echten Namen nennt er niemandem. Er bezahlt sein neues Leben mit gebrauchten Scheinen, die er in einem Koffer unter dem Bett aufbewahrt; er hat alles über Jahre akribisch vorbereitet und sie immer wieder in der Bank umgetauscht, da sie altern wie er. Doch seine Augen, die jeden arglosen Passanten genauestens mustern, sind noch dieselben dunklen Klumpen.

Die dunklen Regenwolken hängen über dem Meer und ergießen ihren schmutzigen Inhalt ins Wasser. Für Brian sieht es so aus, als hätte jemand einen Bleistift genommen und den Himmel an den Stellen genau unter den Wolken dunkel schraffiert. Er fragt sich, wann der Regen das Festland erreicht. In zwanzig Minuten. Vielleicht auch eher.

Der Junge steht knapp fünf Meter weiter in der Nähe des Unterstands und isst zusammen mit zwei anderen Fish ’n’ Chips. Brian riecht Essig und einen Hauch Salz in der Luft. Ein schwarzer Hund läuft ins Wasser, um einen Stock zurückzuholen, und ignoriert die Kälte der ansteigenden Flut. Ein Fischerboot hat mit tropfenden Netzen am Betonpier in der Nähe des Holzschuppens angelegt und verkauft seinen Tagesfang. Die alten Hütten, eine bunte Ansammlung von Gebäuden, säumen die gepflasterten Straßen. Sie künden leise von Geschichte, von der Poesie der Meereslandschaft. Einige führen ein zweites Leben und sind ebenso auf Hochglanz getrimmt und gepflegt wie die Touristikunternehmen, die sie jetzt beherbergen. Andere riechen nach faulendem Holz. Brackig. Verwahrlost. Brian humpelt zu der Bank, von der aus man den Strand überblickt, und setzt sich mit dem Rücken zu dem Trio. Hört zu.

»… beknackten Aufsatz über Plattentektonik schreiben.«

»Wieso machst du so einen öden Scheiß überhaupt?«

»Weil die mich sonst rausschmeißen.«

»Na, ist doch geil. Lass dich rausschmeißen und komm an unsere Schule.«

»Ja, echt, Saul«, sagt der andere. »Vergiss die ganzen schnöseligen Wichser.«

»Gloria würde mich umbringen.«

»Oh, die glorreiche Gloria. Was macht denn die alte Saufnase?«

»Na, was schon? Saufen.«

Die drei Jugendlichen lachen, und Saul lacht am lautesten. Sein Lachen klingt wie das Bellen eines Schakals – hungrig und gemein. Er tippt mit der Spitze seines Turnschuhs auf den Asphalt und beschreibt einen Kreis. Brian wartet, bis die Jungs sich mit lauten Rufen voneinander verabschiedet haben, erst dann erhebt er sich von der Bank und riskiert einen Blick.

Saul macht sich auf den Weg zurück in die Altstadt und zu der rostigen Fußgängerbrücke, die über die Bahngleise führt. Er hat seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den Taschen vergraben.

Brian gefällt die Art, wie er den Kopf gesenkt und den Blick auf den Asphalt gerichtet hält. Ihm gefällt, dass er keine Angst hat, sich von seinen Freunden abzugrenzen, dass seine Miene seine Geheimnisse nicht preisgibt; auch wenn es vielleicht nicht viele sind, es gibt welche, dafür hat Brian ein gutes Gespür. Anders zu sein, das erfordert Mut, er weiß das. Aber vor allem gefällt ihm, dass der Junge mit seiner Mutter allein lebt, das macht ihn zu einem guten Zielobjekt, leicht zu isolieren und zu separieren.

Er kommt nicht gegen diese vertrauten Regungen an, gegen die reine, unverfälschte Jagdlust. Er hat gewartet und versucht, seinen Drang zu zügeln, indem er gemalt und Spaziergänge im Marschland von Two Tree Island unternommen hat, aber das Pflichtgefühl, das sein Vater in ihn eingepflanzt hat, sickert immer mehr in das Leben ein, das er sich in dieser Stadt am Rand des Nirgendwo eingerichtet hat.

Und der Junge mit den Knochen befindet sich in Reichweite, nur wenige Kilometer die Küste entlang. Das neue Zuhause der Frith’. Ihr Neuanfang. Diese kostbaren Informationen hat der Knochensammler von der Gebäudereinigungsfirma erbeutet, die sie an ihrem alten Wohnort engagiert hatten. Er konnte gar nicht anders, als ebenfalls hierherzuziehen; es war so, als wäre er in einer heftigen Strömung gefangen, gegen die er nicht ankam.

Und jetzt ist der Knochensammler perfekt positioniert. Im Epizentrum. Er wohnt in der Nähe des Jungen und unweit des Mädchens, das er an einem Ort seiner Kindheit versteckt hält.

Und wartet auf den richtigen Augenblick.

Während er den endlosen Korridor der Tage durchschreitet, die seit dem Tod seiner Frau vergangen sind, weiß er, dass der Sensenmann auch ihn eines Tages holen wird, genau wie er es bei Marilyn getan hat. Seine steifen Gelenke maßregeln ihn, halten ihm nörgelnd vor, dass er ein alter Mann ist.

Aber wenn er keinen eigenen Sohn hat, wer wird dann seine Familiensammlung wiederaufbauen, die Generationen zuvor begonnen und innerhalb weniger Stunden zerstört wurde? Wegen dieses Miststücks von der Polizei, das sich in alles einmischen musste. Wer wird seine Arbeit fortsetzen, wenn er nicht mehr da ist?

Jene finstere Nacht lässt ihn nicht los. Die Erinnerung daran verfolgt ihn, auch jetzt wieder.

Der Todesduft in den vergessenen Höhlungen von Marilyns Leiche. Das Tosen des Feuers in seinen Ohren. Das klappernde Geräusch, mit dem seine Knochenexponate in sich zusammenfielen. Der Geruch seiner eigenen Angst.

Er denkt sehnsüchtig an das Hunterian Museum und dessen Sammlung, von der seine eigene noch immer inspiriert wird. Durch den Tunnel der Jahrhunderte hört er die Befehle, die der gefeierte Chirurg John Hunter dem Grabräuber Mr Howison zugeflüstert hat, einem Vorfahren von Brian, der den Anstoß für die Familienobsession gab. Aber weil die Polizei das Museum jetzt bewacht, kann Brian nicht mehr dorthin. Noch ein Vergnügen, das ihm versagt bleibt.

In ihm steigt Wut auf. Er wird es sich nicht gestatten, länger bei diesem Thema zu verweilen. Es sind Vorbereitungen zu treffen; ein neuer Kurator muss gefunden werden.

Es ist noch Zeit.

Es wird noch Zeit sein.

Er wartet, bis Sauls rote Trainingsjacke verschwunden ist, und wendet sich dann wieder dem Strand zu.