Der Kranich - Manuela Reizel - E-Book

Der Kranich E-Book

Manuela Reizel

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Beschreibung

Ein genialer Hacker steht kurz vor dem entscheidenden Durchbruch bei der Entwicklung eines "Quines", dem Prototyp einer maschinell gesteuerten Intelligenz. Das weckt Begehrlichkeiten. Ein hochbegabter Programmierer mit autistischen Zügen und ein drogenabhängiger Kleinganove in akuten Geldnöten. Beide treffen für einen kurzen Moment aufeinander - ausgerechnet beim Psychologen. Ein Moment der Verwundbarkeit, ein Augenblick der Unachtsamkeit, und das weltverändernde "Quine" ist in grundfalsche Hände geraten. Doch das entscheidende letzte Puzzleteil fehlt noch - und Hacker Lukas, der geniale "Luke Skywalker", schwebt plötzlich in akuter Gefahr ... Manuela Reizels Roman "Der Kranich - der Origami-Kranich steht für den komplexen Charakter des Protagonisten - entführt uns in die Welt der Computerhacker und PC-Spiele. Die Autorin verbindet geschickt so unterschiedliche Milieus wie die gnadenlose kriminelle Unterwelt, die ebenso skrupellosen Konzerne und professionell agierende Therapeuten. Der temporeiche Psychothriller setzt sich mit dem aktuellen Thema Künstliche Intelligenz auseinander und ist dabei ein Pageturner bis zum Schluss.

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Seitenzahl: 417

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DER KRANICH

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printed in Austria

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2012

© 2012 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Basisentwurf für Cover: Małgorzata Borkenstein nach nazreth / sxc.hu

Coverfoto: AMR images / istockphoto

ISBN E-Book: 978-3-99200-078-4

ISBN der Printausgabe: 978-3-99200-077-7

Für Bernd

Then Micky Maloney raised his head,

When a noggin of whiskey flew at him,

It missed and falling on the bed,

The liquor scattered over Tim;

Bedad he revives, see how he rises,

And Timothy rising from the bed,

Says, “Whirl your liquor round like blazes,

Thanam o’n dhoul, do ye think I’m dead?”

The Ballad of Tim Finnegan or Finnegan’s Wake

PROLOG

Realität ist dort, wo der Pizzamann herkommt.

Es ist ein harter Schnitt, aus der karibischen Wärme Fernando Poos kommend, in die unwirtliche Realität bundesdeutschen Winters zurückgeworfen zu werden, und der abrupte Klimawechsel ließ mich frösteln.

Seit dem Morgen hatte es in Strömen gegossen. Die kleinen Rinnsale matschigbrauner Flüssigkeit, die sich zwischen den Holzkreuzen und Natursteinblöcken den Hang hinabschlängelten, waren bereits zu Bächen angeschwollen. In der einbrechenden Dämmerung mischte sich das Murmeln des Wassers mit dem gedämpft aus dem Westen heraufziehenden gleichförmigen Rauschen des Feierabendverkehrs, unterbrochen nur vom vereinzelten Aufheulen einer Hupe, das sich sogleich über der Stadt verlor. Zwischen den Bäumen hindurch konnte ich sie tief unter mir spüren: eigenwillige Kleinbürgermetropole, doch nicht ohne spröden Charme. Als hätte ein sanfter Riese sie sorgsam in eine Mulde gebettet, um sie zu schützen. Ein Stück weiter abwärts verdichteten sich die Eindrücke grauer Fassaden und roter Ziegel zur Gewissheit, hier im oberen Teil des weitläufigen Friedhofs jedoch waren sie nur eine Ahnung.

Zu Hause gefühlt hatte ich mich an diesem Ort eigentlich nie, auch wenn ich ein bedeutendes Stück meines kurzen Lebens hier verbracht hatte. Umso unvorbereiteter hatte mich die Tatsache getroffen, dass ich mich, kaum hatte ich der süddeutschen Enge den Rücken gekehrt, bereits wieder hierher zurücksehnte. Doch das hatte andere Gründe und spielte nun keine Rolle mehr. Die Würfel waren gefallen.

Ich warf einen raschen Blick um mich, legte dann lächelnd einen kleinen weißen Origami-Kranich vor mir auf die frisch aufgehäufte Erde. Ich sah zu, wie er im niederprasselnden Regen augenblicklich seine Form verlor, die Flügel in den weichen Boden einsanken, bis er schließlich nur noch ein aufgeweichter Fetzen Papier war.

Das erneute Aufheulen einer Autohupe ließ mich zusammenzucken. Ich strich mir das Wasser aus dem Haar, setzte die Sonnenbrille ab, steckte sie in die Jackentasche und platzierte die Schaumstoffstöpsel, die Dr. Elvert mir empfohlen hatte, in meinen Ohren. Ein paar Minuten noch blieb ich stehen und blickte auf den Namen, der in das Kreuz eingraviert war. Ich spürte, wie der Regen kühl und sanft über mein Gesicht rann, es zärtlich streichelte.

Es bestand kein Zweifel daran, dass ich tot war.

GAIA

Ein Quine ist ein autoreferenzielles Programm.

main() {

print myself out.

}

1

Als Ralf Albin spürte, dass sein Magen unangenehm zu knurren begann, glitt er auf dem mit Rollen versehenen Holzbrett, auf dem er rücklings lag, unter dem VW hervor. Es gab nur eine Hebebühne in der kleinen Werkstatt am Ortsausgang von Büsnau, und die wurde seit dem frühen Morgen von einem silbergrauen Porsche blockiert, an dem der Chef, ein ebenso grauer Mittfünfziger, die Zigarette im Mundwinkel, selbstvergessen herumschraubte. Ralf stand mühsam auf, ärgerte sich ein bisschen über die paar Kilo zu viel über seinem Gürtel und die geschwänzten Schulsportstunden, wischte seine ölverschmierten Hände an einem Lappen ab und wandte sich dem Porsche zu.

„Ich bin mit dem Passat fast so weit. Muss nur noch die Zündkerzen wechseln, dann mache ich eine Testfahrt. Ist es okay, wenn ich vorher rasch einen Happen essen gehe?“

Das Grunzen unter der Motorhaube des Porsche als Zustimmung wertend, verließ Ralf die Halle, wusch sich in dem angrenzenden engen und muffig nach kaltem Rauch riechenden Büro die Hände und trat dann aufatmend in den kalten Vormittag hinaus.

Es war keineswegs so, dass ihm seine Arbeit keinen Spaß gemacht hätte – im Gegenteil – nur eben nicht mit leerem Magen! Er ließ seinen Wagen, der vor dem Werkstatttor geparkt war, stehen und machte sich, leise vor sich hin pfeifend, zu Fuß auf den Weg zu der wenige Straßen entfernt gelegenen Pizzeria, in der er gewöhnlich seine Mittagspause verbrachte. Normalerweise fuhr er nicht mit dem Wagen zur Arbeit, denn seine kleine Dachwohnung lag zu Fuß nur zehn Minuten entfernt. Doch er hatte vor, nach Feierabend noch ein paar Schönheitsreparaturen an seinem betagten Opel in Angriff zu nehmen, und später wollte er dann sofort zu Luke in die Stadt hinunterfahren.

Es war Freitag. Sie würden am „Palast der Republik“ ein paar Drinks nehmen und danach ins „Perkins Park“ oder „City Department“ gehen, bis sie dort rausfliegen würden. Jedenfalls hatte er nicht vor, vor fünf Uhr morgens nach Hause zu kommen – das war am Wochenende so eine Art Ehrenkodex. Er pfiff etwas lauter.

Ralf war ein Kind dieses Stadtteils. Er hatte sein ganzes Leben hier verbracht, und es störte ihn nicht im Geringsten, dass sich auf absehbare Zeit daran auch wahrscheinlich nichts ändern würde. Es störte ihn nicht einmal, dass zwischen ihm und seiner Mutter nur ein Stockwerk lag. Seit er mit Beginn seiner Lehrzeit die gemeinsame Wohnung verlassen und sein Reich unter dem Dach bezogen hatte, störte ihn fast nichts mehr. Die Lehre als Kfz-Mechaniker war genau das, was er immer gewollt hatte, und nun, da sich sein drittes Lehrjahr dem Ende zuneigte, hatte sein Chef ihm bereits die unbefristete Übernahme signalisiert. Und Christos Pandakis, ein Deutscher mit griechischen Wurzeln, war bestimmt nicht die schlechteste Adresse. Er war umgänglich, und in seinem Metier machte ihm keiner etwas vor. Er hatte sich seinen Ruf hart erarbeitet und erntete nun die Früchte, denn in den letzten Jahren galt es im Stuttgarter Jetset zunehmend als schick, seinen Wagen zu Pandakis zu bringen. Ralf grinste. Nicht zuletzt diese Tatsache hatte ihn dazu bewogen, dem Übernahmeangebot schnell zuzustimmen. Die Jetsetterinnen waren im Allgemeinen sehr attraktiv – und oft genug allzu gelangweilt. Und er, Ralf, hatte noch nie etwas anbrennen lassen.

Er schob die Tür der italienischen Kneipe auf, die eben erst geöffnet hatte und noch vollkommen leer war. Trockene Heizungsluft und der übliche Geruch von Tomatenmark, Thymian und Parmesan schlugen ihm entgegen. Er hängte seine Jacke an die Garderobe, nahm seinen Stammplatz am Fenster ein und zwinkerte der blonden Kellnerin zu, die gähnend an der Theke stand.

„Na, Marcy, schläft hier noch alles, oder kriegt man schon eine Pizza-Party?“

Ralf liebte seine Gewohnheiten. „Pizza-Party“ bedeutete eine einfache, aber schmackhafte Pizza – Salami, Schinken oder Funghi – und ein kleines Bier. Und es war das billigste Essen auf der Karte.

Während er wartete, zog er sein iPhone, das er sich eigentlich gar nicht leisten konnte, das jedoch umso mehr sein ganzer Stolz war, aus der ausgebeulten Gesäßtasche seiner Jeans und ging das umfangreiche Adressbuch durch. Beim Eintrag Luke Skywalker hielt er an und tippte spielerisch mit der Fingerspitze auf den blankpolierten Touchscreen. Da er sein neuestes Spielzeug noch nicht allzu lange besaß, stellte sich dabei wie üblich ein wohliges Gänsehautgefühl ein. Es ließ sich nicht leugnen – diesem kühlen, glatten Metallkästchen wohnte beachtliches erotisches Potenzial inne! Auf der anderen Seite klingelte es einige Male, und als sich die Mailbox meldete, schaltete er sein Gadget wieder aus. Es hatte keine Eile.

Gedankenverloren blickte er aus dem Fenster. Milchige Schleier stiegen aus dem nahen Glemstal auf. Es war ein nebliges Fleckchen Erde, dieses Büsnau, und um diese Jahreszeit sah man manchmal die Hand vor Augen nicht.

Rhythmisch trommelte Thomas Lamprecht mit den Fingern seiner rechten Hand auf die Matratze. Sein Blick wanderte über die kahlen Wände, zu den weißen Gitterstäben vor den bruchsicheren Scheiben, die kalte Toilettenschüssel entlang, die in die Wand eingelassen war, und schließlich hinüber zu dem schmalen Schreibtisch, auf dem sich nun, säuberlich in einer Reisetasche zusammengepackt, die Handvoll Habseligkeiten befand, mit denen er die letzten drei Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Kalkweiß die Decke über ihm. Zu viele Stunden schon hatte er sie angestarrt. Hypnotisiert, wie ein kleines Tier, gefangen, chancenlos. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie er überlebt hatte. Das erste Jahr ist das schlimmste, sagen sie. Es stimmt nicht. Genau genommen war es ein Versehen, dass er noch hier war, ein dummer Zufall, launisches Schicksal. Das aus einem in Streifen gerissenen Handtuch zusammengeknotete Seil hatte nicht gehalten. Noch bevor er auch nur die Chance gehabt hatte, das Bewusstsein zu verlieren, hatte er sich unsanft auf dem harten Zellenboden wiedergefunden. Ein weiterer trauriger Höhepunkt in der endlosen Abfolge des Versagens, das sein Leben war. Andere hatten seinerzeit mehr Glück gehabt. Wenn er sich auf die Pritsche stellte und den Kopf weit in die Ecke drückte, konnte er durch die Gitterstäbe einen flüchtigen Blick auf den ehemaligen RAF-Trakt erhaschen. Doch es interessierte ihn nicht wirklich, er hatte genug mit der Realität in seinem eigenen Block zu tun.

Nach der Episode mit dem Handtuch hatte man ihn unter verschärfte Beobachtung gestellt, ihm einen Anstaltspsychologen verpasst, der Hafttauglichkeit bescheinigte. Das war lange her. Der Rest verschwamm im Einheitsgrau der Uniformen, die Tage glichen einander bis aufs Haar, einzige Abwechslung die kurzen Besuche von Judith, im letzten Jahr waren sie selten geworden. Wegen Nina, hatte sie gesagt. Er fragte sich, ob es etwas geändert hätte, wenn Nina seine Tochter gewesen wäre. Bald würde sie zur Schule gehen. Sie würde Fragen stellen …

Das metallene Geräusch des Schlüssels in der Zellentür riss ihn abrupt aus seinen Gedanken.

„Es ist so weit, Lamprecht! Auf geht’s – oder willst du noch ein Jahr dranhängen?“

Während er dem Uniformierten durch die steingefliesten Gänge folgte, spürte er, wie seine Knie weich wurden. Die letzten Formalitäten wurden abgewickelt, die letzten Worte gewechselt, die letzten Papiere unterschrieben.

„Montag, elf Uhr, beim Bewährungshelfer. Pünktlich.“

Als er den schweren Mantel anzog, starrte ihn im Spiegel ein Mann an, der ihm fremd war. Hager, abgemagert, die Augen in tiefen Höhlen liegend. Alt. Er fröstelte.

Dann, ohne weitere Vorwarnung, öffneten sich die Tore.

Er trat auf die Straße hinaus, ging ein paar Schritte. Ohne sich noch einmal umzusehen, nahm er die bedrohliche Masse des gigantischen Klotzes aus Beton und Stahl in seinem Rücken wahr, die scheinwerfer- und kameragespickte Mauer, die glänzenden Metallgitter.

Er beschleunigte seinen Schritt. Nach etwa einem Kilometer geriet er außer Atem, hielt inne, hob den Kopf und blickte in den wolkenverhangenen Januarhimmel.

Zwanzig Minuten, nachdem er die Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim verlassen hatte, traf Thomas Lamprecht am Hauptbahnhof ein. Zielstrebig steuerte er eines der wenigen verbliebenen Münztelefone in der zugigen Halle an, exotische Relikte, die sich aus der Vergangenheit ins Handyzeitalter hinübergerettet hatten, doch mit unbestreitbaren Vorteilen. Das zweite Blechgehäuse, in das er ein paar Münzen gleiten ließ, funktionierte, und er führte drei knappe Gespräche. Das erste mit seinem Anwalt, das zweite mit Barranquilla und das dritte mit Judith.

Danach genehmigte er sich am gegenüberliegenden Kiosk ein paar Kurze. Während der Alkohol brennend durch seine Kehle rann und eine wohltuende Wärme durch seine Glieder schickte, betrachtete er seine Situation. Plötzlich war der Moment da, den er eintausendsiebenundneunzig endlose Tage und Nächte herbeigesehnt hatte, und nun schien er nicht so recht zu wissen, was er damit anfangen sollte. Vielleicht war es auch zu viel verlangt, nach eintausendsiebenundneunzig Tagen völliger Fremdbestimmtheit von einem Moment auf den anderen wieder sinnvolle eigenständige Entscheidungen zu treffen. Er dachte an Judith. Es sei okay, wenn er käme, hatte sie gesagt. Doch was genau hieß das eigentlich? Wollte sie ihn überhaupt noch? Und er selbst, was wollte er eigentlich? Unvermittelt schossen Erinnerungsfetzen hoch, und er fürchtete einen Augenblick, sich übergeben zu müssen. Er stand im Wasserdampfnebel, die Beine gespreizt, mit den Händen an eine gekachelte Wand gestützt, während der Schmerz ihn unbarmherzig durchzuckte, seinen Körper in zwei Teile zertrennte, er biss sich in den Arm, um nicht aufzuschreien.

Die Abdrücke seiner Zähne waren noch immer sichtbar. Allen Neuen erging es so, und irgendwann hatte es aufgehört. Er hatte Glück gehabt, manchmal blieb nach dem Duschen einer am Boden zurück und stand nicht mehr auf. Glück? Wie man’s nimmt. Er fragte sich, ob er jemals wieder in der Lage sein würde … Ein starkes Gefühl stieg in ihm auf, eine Mischung aus Hass, Verlangen, Wut und Verzweiflung. Judith war zu Hause und wartete auf ihn. Sie würde warten müssen. Wenn er jetzt zu ihr ginge, würde er ihr wehtun, und das war das Letzte, was er wollte. Endlich wollte er damit anfangen, alles richtig zu machen.

Er nahm noch ein paar Kurze, und nach und nach wurde die Kälte erträglich. Irgendwann machte er sich, nachdem er ein großzügiges Trinkgeld zurückgelassen hatte, auf den Weg zum Marktplatz.

Sein Ziel war ein dreifarbiges Haus.

Dr. Gustav Elvert zwang sich dazu, ruhig und gleichmäßig durchzuatmen. In seinen nunmehr fünfzehn Berufsjahren als niedergelassener Psychotherapeut war es ihm nicht oft passiert, dass ihm eine Sitzung entglitt. Doch genau das drohte momentan zu geschehen. Seit exakt fünfunddreißig Minuten torpedierte der junge Mann, der ihm gegenübersaß, mit bemerkenswerter Konsequenz jeden seiner wohlüberlegten Interventionsversuche. Beunruhigt stellte Elvert fest, dass sich das Repertoire seiner Deeskalationsstrategien unaufhaltsam dem Ende zuneigte, während sein Gegenüber zusehends lauter wurde. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was der Auslöser dieser Gefühlsaufwallung gewesen war, konnte jedoch keine größeren Patzer seinerseits im bisherigen Gesprächsverlauf ausmachen. Die Geschichte schien einen Aufhänger zu haben, der sich außerhalb der Wände seines Sprechzimmers befand. Er versuchte es erneut.

„Herr Roth, es macht keinen Sinn, dass Sie mich in dieser Weise angehen. Ich bin auf Ihrer Seite!“

Was auch immer er hätte sagen oder tun können, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen – es wäre offensichtlich etwas anderes gewesen. Als die Gesichtsfarbe des Mannes in dem hellblauen Schalensessel einen unnatürlich grünlichen Ton annahm, wusste Elvert, dass er verloren hatte. Die Tirade gipfelte in unverständlichem Gebrüll, der junge Mann sprang auf, kam auf ihn zu, und einen Augenblick lang war der Therapeut überzeugt, dass er im nächsten Moment k.o. gehen würde, dennoch zeigte er keinerlei Reaktion. Dann schien es sich sein Klient plötzlich anders zu überlegen, stürmte zum Schreibtisch, der auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand, packte den Besucherstuhl – ein schweres Möbel aus Massivholz – und ließ ihn gegen die Zimmertür krachen. Dem hielt der abgenutzte Türgriff nicht stand, er barst aus dem Holz, die Tür flog auf, und Jürgen Roth stob aus der Praxis.

Ein paar Minuten lang blieb Gustav Elvert reglos in seinem Sessel sitzen und bemühte sich, das Geschehene zu analysieren. Er konnte nicht verhindern, dass sich ein Gefühl der Erleichterung einstellte angesichts der Tatsache, dass Roth an diesem Nachmittag sein letzter Klient gewesen war und niemand in dem angrenzenden Wartezimmer die peinliche Szene mitbekommen hatte. Sofort rügte er sich scharf für diesen Gedanken. Es ging hier nicht um ihn! Er hatte es nicht geschafft, einem Klienten, der sich offensichtlich in einer akuten Krisensituation befand, die erforderliche Hilfestellung zu geben. Er seufzte und sah auf die Uhr. Es würde kein Weg daran vorbeiführen, dass er sich vor Karin Kutscher für seinen Ausrutscher zu verantworten hatte.

Elvert stand auf, setzte sich an seinen Computer und machte eine kurze Aktennotiz. Dann besah er sich den Schaden an der Tür. Er reparierte den Griff notdürftig mit Hilfe eines zu kleinen Schraubenziehers, doch es war nicht mehr möglich, die Tür ganz zu schließen. Keine Chance, am Freitagnachmittag noch einen Handwerker herzubekommen, der hinterher auch zu bezahlen war! Gleich am Montag würde er sich darum kümmern. Eilig zog er seinen Mantel an. Es war höchste Zeit für seine wöchentliche Supervisionssitzung.

Der Feierabendverkehr hatte noch nicht eingesetzt, und so schaffte Elvert das kurze Stück von seiner in Vaihingen gelegenen Praxis hinunter zur Waldeck-Klinik in wenigen Minuten. Als er seinen Wagen auf dem Besucherparkplatz abgestellt hatte, stellte er erleichtert fest, dass ihm sogar noch ein paar Minuten Zeit für einen kurzen Spaziergang blieben.

Die Psychotherapeutische Klinik Stuttgart-Waldeck ist ein idyllisch gelegener Ort. Wie eine Kurklinik befindet sie sich mitten im Wald und dennoch wenige U-Bahn-Stationen von der Stuttgarter Innenstadt entfernt. Und es handelt sich um eine gute Adresse. Vielleicht nicht ganz so renommiert wie Bad Herrenalb einst unter Walther Lechler, aber doch annähernd. Die Creme der Therapieszene des Landes gibt sich hier die Klinke in die Hand, und die Psychiaterin Karin Kutscher gehörte zweifellos dazu. Zum wiederholten Male empfand Elvert fast so etwas wie Stolz über die Tatsache, dass er sie nun bereits das vierte Jahr seine Supervisorin nennen durfte. Er schätzte sie menschlich mindestens ebenso sehr wie fachlich, und die Einsichten, zu denen sie ihm verholfen hatte, waren für ihn tagtäglich von unschätzbarem Wert. Doch sie war auch eine harte und unbestechliche Kritikerin, und er ertappte sich dabei, dass er vor den Terminen mit ihr nervös wurde.

Gustav Elvert zog die gläserne Eingangstür auf, nickte dem Studenten an der Pforte zu und ging den Gang entlang. Nicht ohne vorher noch einen raschen Blick auf die Uhr geworfen zu haben, die den Eingangsbereich schmückte. Karin Kutscher mochte keine Verspätungen – abgesehen davon war es ja seine Zeit.

Als er den Raum betrat, blickte sie lächelnd von ihren Akten auf. Er mochte ihr offenes Gesicht mit den mitfühlenden blauen Augen. Obwohl sie ihm sicher ein paar Jahre voraus hatte, wirkte sie erstaunlich jung. Nur wenige graue Fäden zogen sich durch ihr langes, aschblondes Haar, das sie meist offen trug.

„Hallo, Gustav. Nimm Platz, ich bin sofort da. Kaffee?“

„Nein, danke.“

Er setzte sich in einen der beiden schon leicht verschlissenen Sessel, und der Gedanke tauchte auf, was diese in ihrem langen Leben wohl schon alles gehört haben mochten. Sofort wischte er ihn beiseite und versuchte, sich auf die vor ihm liegenden fünfzig Minuten zu konzentrieren.

Karin Kutscher klappte die Akte zu, setzte sich ihm gegenüber, eine große Tasse in der Hand, und sah ihn erwartungsvoll an.

Elvert begab sich sofort in medias res. Er wollte es hinter sich bringen und beschrieb die vorausgegangene Sitzung in allen unerfreulichen Einzelheiten. Als er geendet hatte, war es einen Moment still.

„Ich überlege zurzeit schon manchmal …“, begann er erneut, dann brach er ab.

„Was überlegst du?“

„Ich weiß nicht, ob ich das noch machen will. Ich meine schwerpunktmäßig. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch kann.“

„Was genau meinst du?“

„Ich meine die Arbeit mit –“. Er suchte nach den richtigen Worten.

„Gewalttätigen Drogenabhängigen?“

„Das klingt diskriminierend.“

Ein Lächeln huschte über Karins Gesicht. „Was soll das, Gustav? Wir stehen doch auf derselben Seite. Manchmal ist es gut, die Dinge einfach beim Namen zu nennen.“

Eine Pause entstand.

„Es wäre schade, wenn du damit aufhörst, denn diese Leute brauchen dich. Aber du musst dringend an deiner Abgrenzung arbeiten. Außerdem glaube ich, dass du manchmal zu früh zur Deutungsebene übergehst. In diesem Fall hast du es aus meiner Sicht eindeutig versäumt, ein stabiles Fundament auf der Beziehungsebene herzustellen. Es war in Ansätzen da, sonst müsste ich jetzt wahrscheinlich zuerst dein Gesicht verarzten – aber es war noch brüchig. Und hier sind wir bei einem altbekannten Problem: deiner Ungeduld.“

„Aber …“

„Ich weiß, was du sagen willst. Wie kann ich mit einem Patienten geduldig sein, der dabei ist, sich umzubringen? Vielleicht erlebt er die nächste Therapiesitzung ja nicht …“

„Klienten“, murmelte Elvert abwesend, „ich bin Psychologe.“

„Natürlich. Entschuldige. Aber auch wenn das jetzt vielleicht hart klingt: Das Risiko, dass deine Klienten sich umbringen, bevor du zu ihnen durchgedrungen bist, musst du eingehen. Die Chance, dass das nicht geschieht, wird allerdings erheblich größer, wenn du die Betreffenden nicht überforderst. Und dich selbst ebenso wenig. Vielleicht sollten wir uns mal anschauen, was für eine Rolle das Thema Überforderung in deiner Biografie spielt.“

Gustav Elvert richtete sich in seinem Sessel auf. Die Abreibung war glimpflicher ausgefallen, als er befürchtet hatte. Er war jedoch fest entschlossen, sich das Konzept für die Stunde nicht aus der Hand nehmen zu lassen.

„Gerne, Karin, aber nicht heute. Ich habe noch eine andere Sache, die mir unter den Nägeln brennt.“

„Lass mich raten: dein Asperger-Klient. Wie läuft es mit ihm?“

„Gut, so weit. Nein, das stimmt nicht ganz. Es läuft sogar sehr gut. Um nicht zu sagen, fast beunruhigend gut.“

„Was ist daran falsch?“

„Er verwirrt mich. Ich bin mir unsicher im Hinblick auf die Diagnose. Seine Symptomatik ist in hohem Maße atypisch.“

„Ich hatte bisher nicht das Gefühl, dass du falsch liegst. Willst du die DSM IV-Kriterien noch mal durchgehen?“

„Die Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion sind bei ihm kaum wahrnehmbar. Ebenso wenig motorische Defizite, von dezenten Bewegungszwängen abgesehen. Andere Symptome wiederum sind deutlich ausgeprägt. Etwa der subjektive Stress, den er in Gegenwart von Menschen empfindet und die daraus resultierende Tendenz zur Isolation. Außerdem manifeste Inselbegabungen und Hypersensibilität auf akustische und visuelle Reize.“

„Hast du Ravens Matrizentest versucht?“

„Beim ersten Verdacht schon.“

„Und?“

„Der Junge ist ein Genie. Als er damit angefangen hat, Computer zu reparieren, war er sechs Jahre alt!“

„Hm. Ich glaube, du hattest gesagt, er sei jetzt Anfang zwanzig. – Wie sieht’s auf der körperlichen Ebene aus?“

„Vierundzwanzig. Ich denke, er hat Probleme mit dem Berührtwerden, aber thematisiert hat er es bisher noch nicht.“

„Wahnhafte Episoden?“

„Ich bin mir noch nicht hundertprozentig sicher, ich vermute es aber in Bezug auf mindestens eine Figur.“

Karin Kutscher runzelte die Stirn. „Spannende Geschichte. Ich denke immer noch, dass du mit deiner Eingangsdiagnose richtig liegst, aber ich will mehr hören. Für heute muss ich allerdings Schluss machen, meine Anorexie-Gruppe wartet. Nächste Woche, selbe Zeit?“

Elvert nickte und drückte ihr die Hand. Er musste dabei wohl ähnlich deprimiert ausgesehen haben, wie er sich fühlte, denn sie fügte, was eigentlich nicht ihre Art war, noch hinzu: „Nimm dir die Sache von vorhin nicht so sehr zu Herzen. Du weißt selbst am besten, dass man so etwas bei Borderlinern nie völlig ausschließen kann … Oh, fast hätte ich’s vergessen: Die Klinikleitung plant ein Symposium zum Thema ‚Die Genese des Borderline-Syndroms im Spiegel von Kernberg, Mahler, Searles und Wolberg‘. Ich habe dich als Gastredner vorgeschlagen – ich hoffe, du blamierst mich nicht!“

„Danke, Karin.“

Nachdenklich, doch deutlich weniger deprimiert, verließ Elvert die Klinik.

„Mami, du hast doch gesagt, Thomas kommt heute zu uns. Warum muss ich jetzt schon ins Bett, wenn er doch noch gar nicht da ist?“

„Weil für kleine Mädchen, die noch in den Kindergarten gehen, jetzt Schlafenszeit ist. Thomas kommt später, du siehst ihn morgen noch lange genug.“

„Bleibt er jetzt für immer bei uns?“

„Ich weiß es nicht, mein Schatz.“

„Ich kann mich gar nicht mehr so richtig an ihn erinnern.“

„Das macht nichts. Wenn du dir brav die Zähne geputzt hast, lese ich dir noch was vor.“

Aufatmend schloss Judith Günther eine Stunde später die Tür zum Kinderzimmer. Sie ging in die Küche, räumte den Tisch ab und begann das Geschirr zu spülen, das sich seit Tagen auf beiden Seiten des Beckens stapelte. Unruhig blickte sie von Zeit zu Zeit zur Uhr, ging ins Wohnzimmer, stellte den Fernseher leise, schlich schließlich auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer, wo ihre Tochter bereits fest eingeschlafen war. Sie ging ins Schlafzimmer, schüttelte das frisch bezogene Bettzeug auf, kehrte ins Wohnzimmer zurück und schenkte sich ein kleines Glas Cognac ein, bevor sie sich erschöpft auf die Couch fallen ließ. Ein kleiner Schluck, dagegen war nichts zu sagen, den brauchte sie jetzt.

Gedankenverloren ließ sie ihre Hand über den weichen, blumengemusterten Bezug des Sofas gleiten und musste plötzlich lächeln. Eine Schönheit war das Sofa nicht gerade, war es nie gewesen und auch nicht neu, als Thomas es angeschleppt hatte. Aber in einem guten Zustand. So, wie viele der Dinge, die er damals herbeigeschafft hatte. Dinge, die sie sich von dem knapp bemessenen Hartz IV-Satz niemals hätte leisten können, seiner Meinung nach jedoch unbedingt brauchte. Sie hatte ihn noch nicht sehr lange gekannt, doch sie hatte nicht nachgefragt. Für sich selbst brauchte sie nicht viel, sie hatte niemals um etwas gebeten, aber sie war froh, wenn es Nina an nichts fehlte. Und er hatte in der kurzen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, immer dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte. Judith besaß zwar eine recht bescheidene Schulbildung, war jedoch alles andere als dumm, und sie hatte geahnt, dass es nicht ewig gut gehen würde. Aber sie hatte geschwiegen und die schöne Zeit genossen. Thomas hatte sie und das Kind immer gut behandelt, das war ihr wichtiger gewesen als der Altersunterschied und seine Drogengeschichten. Vielleicht musste sie sich Bequemlichkeit vorwerfen lassen, doch sie hatte ihm immer vertraut. Aber drei Jahre waren eine lange Zeit, und Nina war nun kein Baby mehr. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie bei allem, was nun kommen würde, zuerst an ihr Kind denken musste.

Gerade, als sie sich einen weiteren winzigen Cognac eingeschenkt hatte, schrillte die Türklingel. Judith eilte zum Garderobenspiegel, zupfte hektisch ihre Frisur und Kleidung zurecht und öffnete. Die Begrüßung blieb ihr jedoch im Hals stecken, als sie unsanft zurückgestoßen wurde und die Wohnungstür aufflog.

Es waren zwei, und sie war sicher, dass sie sie noch nie gesehen hatte. Sie waren jung, hatten kurz rasierte Haare, trugen dunkle Anzüge und Sonnenbrillen. Und sie sprachen einander mit Namen an, die sich tief in Judiths Gedächtnis eingruben: Mr. Yes und Mr. No.

Offensichtlich hatten sie ihren Spaß.

Es war ein kurzer Besuch. Sie machten nicht viel Lärm – nicht einmal so viel, dass Nina aufwachte – doch sie drückten sich absolut klar und unmissverständlich aus.

Als Thomas Lamprecht mühsam die Treppen des sanierungsbedürftigen Altbaus in der Cannstatter Straße erklomm, war es tiefe Nacht. An die vorangegangenen Stunden würde er sich später nur noch in Bruchstücken erinnern. Da er längst keinen Schlüssel mehr besaß, musste er klingeln.

Judith war schnell an der Tür, öffnete sie jedoch nur einen Spalt breit. Sie hatte die Sicherheitskette vorgelegt.

„Was soll das, Baby? Ich bin’s!“ Das Sprechen hatte ihm schon eine Zeitlang in dieser Nacht Mühe bereitet, doch als sich die Tür öffnete, war er schlagartig nüchtern. Judiths Augen waren rot geweint, ihre Wangen bläulich verfärbt und geschwollen. Festgetrocknetes Blut klebte an ihren Lippen.

„Verdammt, was ist passiert?“ Rasch schloss er die Tür hinter sich und folgte ihr ins Wohnzimmer.

„Ich soll dir sagen, du hast eine Woche, sonst …“, sie brach ab und begann heftig zu schluchzen.

„Sonst was?“

„Sonst ist beim nächsten Mal Nina dran.“

Thomas nahm Judith, die aschfahl und zitternd auf dem Sofa kauerte, in die Arme.

„Barranquilla, dieser verdammte Hurensohn!“

„Was ist da los, Thomas? Wo ziehst du uns da rein?“

„Keine Angst, Baby, ich bringe das in Ordnung. Ich lasse nicht zu, dass euch etwas geschieht. Ich verspreche dir, ich bringe das in Ordnung!“

Nina lag friedlich in ihrem Bettchen und träumte. Die schokoladenbraunen Locken kräuselten sich um ihr pausbäckiges Gesicht. Ein Kind, das an der B14 aufwächst, hat einen sehr tiefen Schlaf.

Exakt vier Kilometer südwestlich, in der Rosenbergstraße, stürmte Ralf, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Steintreppe eines etwas weniger sanierungsbedürftigen Altbaus hinauf. Im fünften Stock angekommen, war er so außer Atem, dass er sich einen Moment lang am Geländer festhalten musste, bevor er die angelehnte Wohnungstür aufschob.

Der kurze Flur, von dem linker Hand das einzige Zimmer und rechter Hand die geräumige Wohnküche abgingen, wurde von zwei Halogenstrahlern erhellt. Der Laminatboden war nicht teuer, aber intakt, die Garderobe, genauso wie alles andere in Lukas Stegmanns Wohnung, schlicht und zweckdienlich. Das Badezimmer schloss, wie in Altbauten üblich, an die Küche an.

Ralf warf einen Blick auf den Esstisch, auf dem noch die Reste des Abendessens standen: Vollkornbrot, vegane Pastete und Avocadocreme. Er schauderte. Dann wandte er sich dem Wohn- und Schlafzimmer zu, das von einem riesigen Hochbett dominiert wurde. Die Wand darunter schmückten die Portraits der Helden seines Freundes: der junge Kurt Gödel als Student an der Uni Wien, Mitte der 1920er Jahre; Reinhold Messner nach der Besteigung des Lhotse im Herbst 1986; Bertolt Brecht als Fünfzigjähriger mit schwarzer Hornbrille; Shri Ramana Maharshi, milde lächelnd mit weißem Bart in Tiruvannamalai kurz vor seinem Tod.

Straßenlicht drang durch die bodentiefen Fenster herein und ließ die schwarzweißen Konterfeis auf mystische Weise lebendig wirken.

Mitten im Raum kauerte Lukas, umgeben von Büchern und vollgekritzelten Notizzetteln, vor seinem Notebook, dessen Displaybeleuchtung die einzige Lichtquelle war. Obwohl er vor weniger als drei Minuten die Tür geöffnet hatte, schien er so vollkommen in die Zeichenkombination auf dem Bildschirm vertieft, als befände er sich auf einer einsamen Insel – oder auf einem weit entfernten Planeten. In rascher Folge gab er Befehle ein, wartete auf die Programmausgabe, gab erneut ein, kritzelte etwas auf einen Zettel, wartete erneut.

Auch Ralf wartete. Geduldig setzte er sich Lukas gegenüber auf einen hellbraunen Cordsessel. Er wusste, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis der Computer sein regelmäßiges Veto einlegte. Es dauerte exakt vier Minuten.

Der Bildschirm wurde schwarz, mit einem unüberhörbaren „fuck“ knüllte Lukas einen beträchtlichen Teil der Zettel zusammen und schleuderte sie in die Ecke.

Ralf grinste. „Buffer overflow. Wahrscheinlich ein Syntaxfehler. Bei Codes diesen Umfangs brauchst du dich darüber nicht zu wundern!“ Zwar hatte er sich während der vergangenen beiden Jahre in erster Linie mit Verbrennungsmotoren beschäftigt, das bedeutete jedoch noch lange nicht, dass er sich von der Nerd-Attitüde seines besten Freundes einschüchtern ließ.

„Verdammt, ich bin so dicht dran, so dicht!“

„Das höre ich jetzt schon seit Wochen. Und ich hab dir schon hundertmal gesagt, dass du’s mit Perl versuchen sollst.“

„Zu kontextintensiv. Ich schaffe es wegen der ganzen Rekursionen einfach nicht, die Performance aufrechtzuerhalten ...“

„Versuchs mit ’nem anderen Compiler.“

„Bisher tut nicht mal mein Linker, was er soll. Er findet die entscheidenden Funktionen nicht.“

„Lässt du mich einen Blick auf den Quellcode werfen?“

Zum ersten Mal an diesem Abend sah Lukas ihn an. Etwas Zweifelndes lag in seinem Blick. Hätten sie sich nicht so lange gekannt, hätte Ralf es für Misstrauen gehalten.

„Na, was ist? Glaubst du, du hättest das Rad neu erfunden?“

Langsam, fast andächtig, ließ Luke den Rechner booten. Dann drehte er ihn, sodass Ralf auf den Monitor sehen konnte.

Der überflog die Zeilen, hielt inne, holte tief Luft und pfiff durch die Zähne. „Fuck, du hast das Rad neu erfunden.“ Eine Weile war es totenstill, dann sagte Ralf halb scherzhaft: „Armageddon was yesterday …“, doch sein Blick war ernst.

„Today we have a serious problem. Glaubst du mir nun?“

„Du musst mit jemandem reden. An der Informatik-Fakultät hier gibt es gute Leute …“

„Willst du mich verscheißern?“

„Dann sprich wenigstens mit den Jungs vom C3S! Das ist eine heiße Sache. Das muss ich dir nicht sagen. Andere sind schon für weit weniger um die Ecke gebracht worden.“

Lukas lachte. „Du meinst Leute wie Karl Koch? Oder Boris F.? Für wie bescheuert hältst du mich? Natürlich gehe ich damit nicht online. Und ich werde auch nicht versuchen, es irgendwem zu verkaufen – zumal es, wie du ja gesehen hast, noch nicht funktioniert. Aber das hier ist mein Baby, verstehst du? Ich bringe das zu Ende. Ich allein. Und wenn du mit irgendjemandem darüber plauderst …“

„Keine Sorge, Luke Skywalker, ich will bestimmt nicht derjenige sein, der dich auf dem Gewissen hat. Aber irgendwann wird es vielleicht tatsächlich funktionieren, und dann wirst du es verkaufen wollen. Ich hoffe nur, dass ich dann sehr weit weg bin … Ach, was soll’s – your choice. Hey, es ist Freitagabend, und ich bin am Verdursten! Könnte es sein, dass es in deiner Welt noch etwas anderes als dein Quine gibt? Lass uns gehen, das Problem mit der Performance löst du heute Nacht sowieso nicht mehr!“

Aufgrund der Jahreszeit war der „Palast der Republik“ eher spärlich besucht. Ralf und Luke zogen sich mit zwei Milchkaffees in eine warme Ecke zurück, und Ralf tat sein Möglichstes, in der anschließenden theoretischen Diskussion über die Vorzüge und Nachteile verschiedener Programmiersprachen nicht als Underdog dazustehen. Nachdem sich ein paar Freunde vom Ironhawk-MC dazugesellt hatten, wurden die Themen allgemeiner, und Luke wurde zusehends stiller. Irgendwann schafften die beiden den Absprung.

Sie entschieden sich für das „Perkins Park“.

Am Killesberg angekommen fand Ralf in der Stresemannstraße auf Anhieb einen Parkplatz und besah sich etwas verschämt die lange Reihe der Luxuskarossen, die sich wie gewöhnlich den Hang hinunterzog.

Lukas, der seinem Blick gefolgt war, lachte und begann aus voller Kehle den alten Wolle-Kriwanek-Song zu skandieren: „I for Daimler, d’Stroß ghert mir …“

„Hey, benimm dich gefälligst, ich wäre gerne wenigstens mal kurz drin gewesen, bevor sie uns wieder rausschmeißen!“

„Mach dir nichts draus, Buddy, ich wette, du steigst noch früh genug in den edlen Club mit dem Stern ein, und bis dahin tut’s dein Kaddy allemal.“

Es war bereits in den ersten Morgenstunden, als sie die breite Auffahrt entlanggingen, den finster dreinblickenden Türsteher, der erstaunlicherweise nichts an Lukas’ ausgefranster Jeans auszusetzen hatte, passierten und in die Welt der Lichter und Klänge eintauchten.

Da es der dritte Freitag im Monat war, war „La Boum“ angesagt. Ralf stand zwar eher auf gepflegten Frankfurter Rave, doch bevor er sich wehren konnte, hatte Lukas ihn in den großen Club gezerrt, wo Mr. Mac’s Party in vollem Gange war, und es dauerte nicht lange, bis er den Freund im Gewühl verloren hatte. Seufzend zog er sich an die Bar zurück und bewaffnete sich mit einem Wodka-Lemon. Nachdem er sich in Ruhe umgesehen hatte, erspähte er auf der anderen Seite der Tanzfläche eine entzückende Blonde, die nicht in Begleitung zu sein schien. Er beobachtete sie eine Weile, leerte sein Glas und begab sich in ihre Richtung.

Wie sich herausstellte, war ihr Name Heike, und man konnte viel Spaß mit ihr haben. Irgendwann musste Ralf jedoch enttäuscht feststellen, dass sie entschlossen war, den Rest der Nacht allein zu verbringen. Also machte er sich nach seinem dritten Wodka-Lemon – mehr würden es auch nicht werden, er musste ja noch fahren – auf die Suche nach Lukas.

Er fand ihn in der Lounge, wo die Karaoke-Show seit Langem beendet war, allein auf einem Hocker sitzend, den Kopf gegen die Wand gelehnt, den Blick wie abwesend zur Raumdecke gerichtet. Ralf sah nach oben, wo sich mehrere große Glitzerkugeln im bunten Lichtbeschuss drehten, während milchiger Rauch vom Boden aufstieg. Obwohl sich das Ende der Nacht unaufhaltsam näherte, waren alle Ebenen noch gut besucht. Er bahnte sich seinen Weg zwischen den Menschen hindurch, nahm seinen Freund beim Arm und zog ihn nach draußen.

Die Kälte und Stille der eisigen Winternacht schienen Lukas allmählich aus seiner Trance zu reißen.

„Hey, Skywalker, willkommen auf der Erde! Du weißt ganz genau, dass du die Dinger nicht anstarren sollst.“

„Ich hab Zahlen gesehen … Vielleicht gibt es eine Möglichkeit über einen Sekundärprozess …“

„Und trinken solltest du auch nicht.“

„Wieso nicht? Du fährst doch.“

„Ja, aber du verträgst es nicht. Komm mit, ich bring dich nach Hause. Warum war Eva eigentlich heute nicht dabei?“

„Sie hat Prüfungen. Ich sehe sie nicht viel zurzeit.“

Sie stiegen in den Wagen und schlugen die Türen zu. Als Ralf wie üblich Richtung Kräherwald starten wollte, sagte Lukas plötzlich: „Fahr über den Bahnhof.“

Ralf zog die Brauen hoch und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Luke …“, den Ausdruck im Gesicht seines Freundes kannte er jedoch zu gut, um weiterzusprechen. Es war schon immer aussichtslos gewesen, Lukas etwas ausreden zu wollen, wenn er es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Also wendete Ralf schweigend, fuhr weiter bis zum Pragsattel und bog dann in die Heilbronner Straße ein.

Es kam nicht oft vor, dass Lukas trank, doch wenn er es tat, tat er es wie alles in seinem Leben: exzessiv. Auf dem kurzen Weg vom Hauptbahnhof in den Westen schaffte er knapp eine halbe Flasche Johnny Walker Black Label, und jemand, der ihn nicht gut gekannt hätte, hätte nichts davon bemerkt.

Das Problem war nur, dass Ralf Lukas wahrscheinlich besser kannte als jeder andere. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Blick seines Freundes sich allmählich veränderte und fragte sich zum x-ten Mal, was der Grund dafür sein mochte, dass Lukas, der prinzipiell niemanden an sich heranließ, damals, vor fast genau zehn Jahren, ausgerechnet bei ihm eine Ausnahme gemacht hatte. Damals hatte Lukas’ Mutter aus unerfindlichen Gründen entschieden, ihr Nomadendasein zu beenden und sesshaft zu werden, und Lukas war, abrupt aus seinem kosmopolitischen Leben herausgerissen, neben Ralf auf einer deutschen Schulbank gelandet. Vielleicht war es ihre gemeinsame Leidenschaft für alles, was mit Computern zu tun hatte, die sie einander nähergebracht hatte, wenngleich Ralf schnell herausgefunden hatte, dass Lukas in einer ganz eigenen Liga spielte.

Ralf hatte die Mädchen, während Lukas die mathematischen Probleme löste.

Vielleicht war es auch ihre Verschiedenheit, die den Reiz ihrer Freundschaft ausmachte. Auf Ralf hatte Lukes Anderssein jedenfalls von Anfang an eine unerklärliche Faszination ausgeübt. Erstaunt wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er trotz all der gemeinsamen Jahre immer noch wenig über die Vergangenheit seines Freundes wusste. Lukas sprach nicht gerne über sich. Nicht einmal, wenn er getrunken hatte, zumal auch Alkohol bei ihm anders zu wirken schien als bei anderen Menschen.

Selbst am Grab seiner Mutter hatte er keinerlei Gefühle gezeigt. Das war sechs Jahre her. Danach hatte er sich jedoch für längere Zeit von der Welt verabschiedet. Er hatte die Jahre, die folgten, zum Tabu erklärt, und Ralf hatte es respektiert. Erst in den letzten beiden Jahren war die Freundschaft neu entstanden, in warmen Sommernächten am „Palast der Republik“, mit den eisernen Falken. Und dann war die Sache mit Eva passiert. Vielleicht hatte sie ja etwas verändert, doch so recht wollte Ralf noch nicht daran glauben.

Erste Dämmerungsstreifen zogen herauf, als er den Kadett in der Rosenbergstraße abstellte. Er nahm Lukas die Flasche aus der Hand, trank einen Schluck und sah ihn an. Lukes Blick war direkter als sonst, ein ungewöhnlicher Glanz lag darin.

„Alles okay?“

„Sicher.“

Ralf war alles andere als sicher. Er zog die Schlüssel aus Lukas’ Tasche und schleifte ihn die Treppen hinauf. Erfahrungsgemäß funktionierte der Verstand seines Freundes unter Alkohol oder Drogeneinfluss zwar immer besser, was seinen Körper jedoch nicht davon abhielt schlappzumachen.

Nachdem er Lukas unter dem Hochbett auf ein paar Kissen verfrachtet hatte, nahm er sich eine Club-Mate aus dem Kühlschrank.

„Verrätst du mir, wieso?“

„Wieso was?“

„Das letzte Mal, als du dich so zugeschüttet hast, war bei der Abifeier.“

Lukas lachte. „Vielleicht solltest du mir bei Gelegenheit mal davon erzählen.“

„Es hätte sich gelohnt, dabei zu sein … Ist es das Programm?“

Lukas schüttelte den Kopf. „Nein. Das Programm ist nur … nur ein spannendes Spielzeug, nichts weiter.“

„Was ist es dann? Eva?“

Wieder blickte Lukas Ralf mit einer Direktheit in die Augen, die ungewöhnlich war und ihn fast erschreckte.

„Ich wollte vergessen, dass wir nichts wert sind, das ist alles. Nichts Spektakuläres.“

Ralf ließ sich neben seinem Freund auf den Kissen nieder und nahm ihm abermals die Whiskyflasche aus der Hand. Nur damit Luke es nicht tat, trank er einen weiteren Schluck.

„Komm schon.“

„Okay. Es geht um den Zynismus, mit dem Institutionen durch Datenmissbrauch ihre eigenen Mitarbeiter in den Suizid treiben, die Herausgabe von Daten aber verweigern, wenn sie ein Leben damit retten könnten. Aber es sind ja nur … Freaks, um die es dabei geht. Durchgeknallte Irre, denen keiner eine Träne nachweint … – Menschenmüll.“

Stockend erzählte Lukas vom Freitod eines jungen Mannes, über den er in einem Blog gelesen hatte. Obwohl er ihn nicht persönlich gekannt hatte, brachte seine Geschichte ihn sichtlich aus der Fassung. Weil er sich mit ihm identifiziert, vermutete Ralf, während er ruhig zuhörte.

„Er könnte noch leben, wenn der Provider die Adresse sofort rausgegeben hätte. Juristisch ist das völlig wasserdicht, es war ihnen nur einfach … gleichgültig.“

Schweigend lagen sie nebeneinander, bis es im Zimmer hell wurde und Lukas einschlief. Vorsichtig stand Ralf auf und schloss lautlos die Wohnungstür hinter sich.

Während er unter der Morgensonne den Schattenring entlangfuhr, dachte er über die Geschichte nach, die Lukas erzählt hatte, und er dachte an die Programmzeilen, die er Stunden zuvor für einen flüchtigen Augenblick auf dem Bildschirm gesehen hatte.

Er konnte nicht verhindern, dass ihn ein ungutes Gefühl beschlich.

2

„Hi, Bro.“

Ich zuckte zusammen und sah von meinem Notebook auf, wo die Symbole auf dem Desktop bereits zu verschwimmen begannen. Sie kam im richtigen Moment – aber sie hatte ja schon immer ein erstaunliches Gespür für Timing gehabt. Vor den eisblumenbeglänzten Fensterscheiben zeigte sich der erste silbrige Schimmer der heraufziehenden Morgendämmerung. Der zweite Morgen, seit Ralf nach unserem nächtlichen Ausflug nach Hause gefahren war. Inzwischen bombardierte er mich mit Mails, Anrufen und SMS. Nichts davon hatte ich beantwortet. Abgesehen von ein oder zwei Sandwichpausen hatte ich die Zeit praktisch ununterbrochen am Computer verbracht, und wieder bildete ich mir ein, einen entscheidenden Schritt weiter zu sein. Doch in den letzten Stunden fiel es mir in zunehmendem Maße schwer, die Augen offen zu halten.

Als ich sie anblickte, begann sie zu lachen, und die großen Ohrringe unter ihren schwarzen Locken klirrten leise.

„Habe ich dich vielleicht erschreckt?“

Ich zwang mich, meinen Blick wieder auf die endlose Reihe von Zahlen und Zeichen zu richten. „Wie könntest du mich erschrecken?“

Spielerisch legte sie die Arme um meinen Hals. „Faltest du mir einen Schwan, Luke Skywalker?“

Unter Aufbietung all meiner Kräfte versuchte ich, meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm zu konzentrieren. „Jetzt nicht, Maya, ich habe zu arbeiten.“

Unbeeindruckt ließ sie sich in den Sessel fallen und schlug die Beine übereinander. Die Kälte im Zimmer schien sie nicht im Mindesten zu stören.

„Sieh mich an, Bro. Ist dir dein Computer wirklich wichtiger als ich?“

„Er ist berechenbar. Außerdem hat Dr. Elvert gesagt …“

„Ich weiß schon, dass dein Shrink mich nicht leiden kann. Was hat er denn über mich gesagt?“

„Nichts. Er kennt dich ja überhaupt nicht. Nur, dass ich mich durch dich nicht ablenken lassen soll.“

„Und er hat immer recht, ja?“

„Meistens.“

„Wie ist er so? Ist er nett?“

„Nicht dein Typ.“

Für einen Moment schien sie betrübt, doch so leicht gab sie sich nicht geschlagen. „Was machst du da?“

Vielleicht hätte ich sie komplett ignorieren sollen, wie Dr. Elvert es mir empfohlen hatte, hätte einfach nicht auf ihre penetrante Fragerei eingehen sollen, doch aus irgendeinem Grund tat ich es nicht. „Das siehst du doch. Ich schreibe ein Programm. Und wenn du aufhörst, mich ständig zu stören, werde ich vielleicht auch irgendwann mal damit fertig.“

„Wozu ist es gut, dein Programm?“

Jetzt sah ich zu ihr hinüber. Ich blickte direkt in ihre braunen Augen, und fast hatte ich das Gefühl, durch sie hindurchzusehen. „Dieses Programm wird die gesamte IT-Branche revolutionieren. Um nicht zu sagen: die Geschichte der Menschheit.“

Ein amüsiertes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. „Ein bisschen größenwahnsinnig bist du aber nicht, oder? Und womit genau willst du die Menschheit revolutionieren, wenn man fragen darf?“

„Mit NORT.“

Natürlich war sie mit dieser Antwort alles andere als zufrieden, doch ich beabsichtigte nicht, zu diesem Zeitpunkt weiter auf sie einzugehen, und vertiefte mich wieder in das, womit ich seit Monaten nahezu meine gesamte Zeit verbrachte: die Programmierung der innersten Rekursionsschleife in meinem Quine.

Ich war fast am Ziel.

In Echterdingen öffnete Eva angesichts des nervtötenden Piepens widerstrebend die Augen, griff zum Nachttisch und stellte den Wecker ab. Einen Moment lang war sie versucht, noch einmal einzuschlafen – nur ein Viertelstündchen noch! – doch quälende Gedanken ließen es nicht zu. Vertragsrecht am Montagmorgen. Nur ein verdammter Zyniker konnte sich das ausgedacht haben. Aber Professor Köberle war wichtig. Und er legte äußersten Wert auf Pünktlichkeit. Wenn sie es sich mit ihm verdarb, weil sie zu spät zur Aufsichtsarbeit kam, konnte sie das ihre Zwischenprüfung kosten, gleichgültig, ob sie die Materie aus dem FF beherrschte.

Fröstelnd kroch sie unter der Decke hervor, warf einen Bademantel über den Pyjama und verließ ihr Zimmer. Aus der Küche drang gedämpfte Musik, und als Eva die Tür öffnete, sah ihre Mutter überrascht von der Zeitung auf.

„Guten Morgen, Süße, so früh schon auf?“

„Wenn ich eine Wohnung in Tübingen hätte wie Anke, dann könnte ich natürlich noch fast eine Stunde schlafen“, rutschte es ihr heraus, doch im selben Augenblick tat es ihr leid. Ihre Mutter hatte genug getan, um ihr das Studium zu ermöglichen, für mehr reichte es einfach nicht. Versöhnlich schlang sie die Arme um ihren Hals und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Tut mir leid, Mama. Ich hab’s nicht so gemeint.“

Eva wusste, dass ihre Mutter sie über alles liebte. Seit Susanne Beiers Scheidung vor sechs Jahren war die einzige Tochter alles, was sie hatte. Bestimmt hätte sie ihr eine Wohnung oder zumindest ein Zimmer in der 20 km entfernten Universitätsstadt finanziert, doch in ihrem Beruf als Friseurin verdiente sie grade so viel, dass es zum Leben reichte. Dass Eva das Jurastudium überhaupt hatte aufnehmen können, hatte sie nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass ihr Vater, ein Stuttgarter Kriminalbeamter, zu Unterhaltszahlungen verpflichtet war, doch die deckten nicht wesentlich mehr als den Unterhalt für ihren VW-Käfer. Insgeheim hegte Eva allerdings den Verdacht, dass ihrer Mutter die finanzielle Situation, die den unvermeidlichen Zeitpunkt ihres Auszuges auf unbestimmte Zeit vertagte, nicht völlig ungelegen kam. Doch vielleicht tat sie ihr auch unrecht. Sie unterdrückte ein Gähnen und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.

„Und warum bist du schon auf? Ihr habt montags doch gar nicht geöffnet.“

„Ich konnte nicht schlafen.“

„Du bist überarbeitet. Du solltest Urlaub machen.“

Liebevoll strich Susanne Beier ihrer Tochter das kurz geschnittene blonde Haar aus der Stirn. „Urlaub? Du weißt doch, wie unterbesetzt wir sind … Soll ich heute Abend etwas für uns kochen?“

„Ich weiß nicht, wann ich komme, ich wollte nach der Uni noch bei Lukas vorbeischauen.“

„Warum kommt denn dein Freund nicht mal rauf zu uns, Süße? Ich würde ihn gerne kennenlernen.“

„Weil er kein Auto hat, Mama.“

„Schon mal was vom öffentlichen Nahverkehr gehört?“

„Außerdem hat er viel zu tun.“

„Was macht er denn?“

Eva lächelte geheimnisvoll. Dann stellte sie ihren Kaffee auf den Tisch, ließ die Hand in die Tasche ihres Bademantels gleiten und legte eine Rose aus altrosafarbenem Pergament neben die Tasse. „So was zum Beispiel.“

Ehrfürchtig nahm ihre Mutter das kleine Kunstwerk in die Hand und betrachtete es von allen Seiten. „Wie wunderschön! Ich hatte allerdings mehr gemeint …“

„Am liebsten faltet er Kraniche. Jetzt muss ich aber los, sonst komm ich noch zu spät. Bis dann.“

„Hey, fahr vorsichtig, es kann glatt werden!“

Fünfzehn Minuten später drehte Eva den Schlüssel im Zündschloss ihres geliebten cremefarbenen Käfers, doch ein müdes Röcheln des Motors, das sofort wieder erstarb, war die ernüchternde Reaktion. Sie versuchte es, einen unfeinen Fluch murmelnd, erneut – mit demselben Ergebnis.

Goodbye Vertragsrecht, goodbye Zwischenprüfung! Wütend schlug sie aufs Lenkrad. In fast drei Semestern hatte ihr Auto sie noch nie im Stich gelassen, dies war nicht der geeignete Zeitpunkt, um damit zu beginnen! Sie zerrte das Handy aus ihrer Tasche und wählte, da ihr auf die Schnelle beim besten Willen nichts Besseres einfiel, Lukes Nummer.

Eine halbe Stunde später schlug Ralf die Motorhaube zu. Zarte weiße Flöckchen tanzten in der Luft. „Tja, bei älteren Wagen kann das in der Kälte schon mal passieren. Deine Batterie ist nicht mehr die allerstärkste, du solltest sie bei Gelegenheit mal auswechseln. Versuchs jetzt mal.“

Anstandslos sprang der Motor an.

„Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Ralf!“

„Ich schick dir die Rechnung – war ’n Scherz.“ Einen Moment zögerte er, dann fuhr er fort: „Hör mal … siehst du Luke heute noch?“

„Ich denke schon. Warum?“

Falten zeigten sich auf seiner Stirn. „Das ist gut.“

„Stimmt irgendwas nicht?“

„Nein, nicht direkt. Ich hab ihn nur seit zwei Tagen nicht erreicht, und er …“

Fragend blickte Eva Ralf an.

„Na ja, er war … wie soll ich sagen …, ich finde es nicht gut, dass er so viel allein ist.“

„Ich weiß, was du meinst.“

„Na gut, grüß ihn von mir. Vielleicht seh’n wir uns ja am Wochenende.“

Eva schlug die Tür zu und sah seufzend auf ihre Armbanduhr. Köberle würde sie zu Hackfleisch verarbeiten.

Als Thomas Lamprecht am späten Vormittag aus dem Haus trat, hatte sich der Druck in seinem Kopf bereits dergestalt ausgeweitet, dass er glaubte, er würde zerplatzen. Nach den ersten beiden Tagen freiheitstrunkener Euphorie schlugen nun, am Montagmorgen, die alltäglichen Realitäten mit umso unbarmherzigerer Vehemenz zu. Er war auf Bewährung. Er musste und wollte sein Leben neu ordnen, er musste die leidige Geschichte mit Barranquilla aus der Welt schaffen, und er musste diesen unerträglichen Druck aus seinem Kopf bekommen, damit er wieder klar denken konnte. Forderungen, von denen zumindest die erste und die letzte in unmittelbarem Widerspruch standen. In unüberbrückbarem Widerspruch. Es fing schon wieder an. Kaum hatte er einen Fuß auf freie Erde gesetzt, holte ihn seine Vergangenheit ein und stellte ihn vor ein unlösbares Dilemma. Eigentlich war es so gewesen, seit er denken konnte. Es hatte immer nur links oder rechts gegeben, und aus einem zynischen Grund, den er nicht kannte, war jedes Mal weder links noch rechts für ihn möglich gewesen. Wenn er versucht hatte, geradeaus zu gehen, war er zielstrebig gegen die Wand gerannt. Er hatte sich dabei so oft eine blutige Nase geholt, dass er irgendwann aufgehört hatte zu zählen. Und irgendwann, viel später, hatte er herausgefunden, dass es einen weit besseren Weg gab, sich eine blutige Nase zu holen …

Ohne dass er sie bewusst zur Kenntnis nahm, zogen die Gedanken an ihm vorüber, während er in die U-Bahn stieg und die paar Stationen zum Charlottenplatz fuhr. Er sah auf die Uhr. Zwanzig vor elf. Er würde pünktlich sein.

Das Gebäude, in dem die seit wenigen Jahren privatisierte Stuttgarter Bewährungshilfe untergebracht war, befand sich in der Uhlandstraße, einen Steinwurf vom Charlottenplatz entfernt. Dreiundneunzig Prozent der Richter hatten sich wegen grundsätzlicher Bedenken gegen eine Privatisierung in diesem sensiblen Bereich des öffentlichen Lebens ausgesprochen, vor allem, weil sowieso niemand recht wusste, was sie eigentlich bewirken sollte – ausgenommen eine lächerliche Haushaltseinsparung. Daran dachte Thomas Lamprecht nicht, als er die zugige Passage durchquerte. Er dachte an David Reich, der ihn in den letzten Wochen in Stammheim einmal besucht hatte. Ein Sozialpädagoge, langhaarig, Typ ewiger Student, dabei kaum halb so alt wie er selbst – doch er schien ganz okay zu sein.