Recovery - Manuela Reizel - E-Book

Recovery E-Book

Manuela Reizel

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Beschreibung

Eine internationale Leaking-Organisation stellt sich dem mächtigsten Geheimdienst der Welt entgegen. Aktivisten attackieren die Verschlüsselungsalgorithmen der NATO. Der geniale Hacker Luke Skywalker gerät unversehens in ein Netz schicksal hafter Verkettungen - und ein Kampf auf Leben und Tod beginnt ... Manuela Reizels Thriller um Hacker Lukas führt uns in die Welt der Whistle blower und der Plattformen, mithilfe derer brisante Informationen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können: Informationen, die von machtvollen Interessengruppen zurück gehalten werden. Welche Wahrheiten über das sagenumwitterte "Bohemian Grove" und die Anschläge von 9 / 11 sollen niemals an die Öffentlichkeit gelangen? Wer sind die Entscheidungsträger in der neuen Hightech-Gesellschaft? Die Autorin setzt sich mit kontroversen politischen und technischen Fragestellungen auf der Basis realer Fakten auseinander und kommt dabei zu beunruhigenden Ergebnissen. Atemberaubend spannend - ein echter Pageturner bis zum Schluss.

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Seitenzahl: 442

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Manuela Reizel

Recovery

Thriller

Manuela Reizel

RECOVERY

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2013© 2013 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wienwww.braumueller.at

Coverfoto: eelco brink/istockphotoISBN der Printausgabe: 978-3-99200-102-6

ISBN E-Book: 978-3-99200-103-3

In solidarity with J.A.

When injustice becomes law, resistance becomes duty.

Thomas Jefferson

Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist frei erfunden.

Die Fakten, auf denen sie beruht, sind es nicht.

Wo genau die Trennlinie zwischen Fiktion und Wirklichkeit verläuft, muss letztlich jeder Leser für sich selbst entscheiden.

1984

Unwirsch fegt der Wind an diesem Vorweihnachtstag über die Region nördlich von San Francisco. Die Dämmerung ist früh hereingebrochen.

Ein köstlicher Duft von Gebäck strömt aus der Küche hinauf ins Obergeschoss, wo der kleine Junge still auf dem kalten Fußboden sitzt. Wie lange er schon dort gesessen und vor sich hin gestarrt hat, weiß er nicht, sein Zeitgefühl ist noch nicht entwickelt.

Er spielt nicht. Die kleinen Plastikautos, die sein Vater ihm immer bringt, und sogar die teure Modelleisenbahn interessieren ihn nicht. Er denkt nach. Er denkt intensiv nach, und seine Milchzähne graben sich tief in seine Unterlippe.

Der Zeitpunkt für einen Ausflug ins Paradies scheint günstig. Er ist allein, seine Schwester nicht zu Hause und ihr Zimmer nur wenige Schritte entfernt. Er wird nichts durcheinanderbringen. Ja nicht einmal etwas anfassen wird er, nur anschauen will er sie. Er hat begriffen, dass bestimmte Dinge für ihn tabu sind, man hat es ihm oft genug gesagt. Nur, warum das so ist, hat man ihm nicht erklärt.

Lautlos steht der kleine Junge auf und geht die wenigen Schritte bis zur Tür des gegenüberliegenden Zimmers. Genauso lautlos öffnet er sie.

Er hält den Atem an.

Es ist nicht so, dass er gerne ungehorsam gewesen wäre, im Gegenteil. Er ist ein stilles und braves Kind. Am liebsten ist es ihm, wenn er gar nicht wahrgenommen wird und quasi in Vergessenheit gerät. Das ist meistens so, und das ist gut so. Doch manchmal kann er der Versuchung einfach nicht widerstehen.

Zögernd, fast ehrfürchtig streckt der kleine Junge die Hände aus, stellt sich auf die Zehenspitzen und nimmt eine kleine Puppe vom Regal.

2012

Macht hat Legitimität nur im Dienst der Vernunft.Allein von hier bezieht sie ihren Sinn. An sich ist sie böse.

Karl Jaspers

Stunden schienen vergangen zu sein, seit er in den ersten Morgenstunden jenes lauen Augusttages aus den Wäldern östlich des kleinen Ortes Monte Rio aufgebrochen war, obwohl er kaum fünfzig Meilen zurückgelegt hatte. Die Zeit klebte in der heraufziehenden Morgendämmerung an den Reifen des chromblitzenden Chryslers wie ausgespuckter Kaugummi. Schweißtropfen rannen über die tiefen Furchen seines ausgetrockneten Gesichtes, zeichneten die bitteren Kerben nach, die die Jahre in seinen Mundwinkeln hinterlassen hatten.

Fahrig wischte sich der Hillbilly mit einem Stofftaschentuch übers Gesicht, ohne dabei das anthrazitfarbene Asphaltband aus den Augen zu lassen, das sich schnurgerade und endlos vor ihm entspann. Den US-101 nach Süden. Es blieb ihm nicht viel Zeit. Wenige Wagen waren durch die Windschutzscheibe zu sehen, was ungewöhnlich war, und kein einziger durch den Rückspiegel, was noch ungewöhnlicher war. Wie eine kalte, gläserne Wand, die sich zwischen ihn und die Außenwelt geschoben hatte, hielt die Einsamkeit ihn umfangen. Blitzartig schossen Bilder des Baphomets an ihm vorbei, orgiastisch bewegten sich nackte, blutbesudelte Körper im Fackelschein, tranceerzeugende monotone Trommelklänge ließen die Luft erzittern. Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung suchte er die Erinnerungsfetzen zu vertreiben, lästigen Insekten gleich.

Bei Sausalito verließ er den Highway und fuhr eine Weile über Nebenstraßen, schließlich Feldwege, bis er endlich die majestätische Silhouette der Golden Gate Bridge tief unter sich aufragen sah. Noch tiefer lag kobaltblau und verführerisch die San Francisco Bay. Er stellte den Motor ab und ließ seine Finger tastend über das Innenfutter seines Jacketts gleiten, unter dessen Ärmeln sich bereits unappetitliche weiß geränderte Schweißflecken gebildet hatten. Das Zifferblatt der diamantenbesetzten Rolex an seinem Handgelenk zeigte, dass er gut eine Stunde zu früh war. Allmählich wurde sein Atem ruhiger. Er fingerte eine verbeulte Schachtel Tareytons aus dem Handschuhfach, zündete sich eine Zigarette an und stieg aus.

Der Wind hatte böig aufgefrischt. Die ausgetrocknete Erde wurde in feinen safranfarbenen Schleiern über den Boden getragen, die schließlich wie die Zigarettenkippe in dem gähnenden Abgrund verschwanden, der sich wenige Zoll vor seinen Schuhspitzen auftat. Eine weitere Kippe folgte. Dann eine dritte.

„Sie sollten vorsichtig sein mit dem Rauchen hier draußen zu dieser Jahreszeit. Ehe man sichs versieht, fackelt die ganze Bay Area ab.“

Der Hillbilly zuckte zusammen. Schon seit Jahren hatte sich sein Gehör in zunehmendem Maße verschlechtert, doch das Tragen eines Hörgerätes kam in seiner Position natürlich nicht infrage. Daher hatte er weder den Motor des sich nähernden Wagens noch die Schritte des Mannes wahrgenommen, der nun unmittelbar hinter ihm stand. Er wandte sich um und blickte in die ausdruckslosen schwarz getönten Gläser einer Designersonnenbrille. Hilfe suchend glitt sein Blick zur Uhr, die Zeiger bewegten sich unaufhaltsam dem verabredeten Zeitpunkt entgegen, doch selbst wenn der, den er eigentlich an diesem entlegenen Ort zu treffen gehofft hatte, pünktlich gewesen wäre – was hätte er nun noch ausrichten können? Der kleinste Schubs seines Gegenübers würde ausreichen, um ihn für alle Zeit zum Schweigen zu bringen. Es schien, als hätte er den Wettlauf gegen die Zeit verloren, als würde die Welt nie erfahren, was sich in den Wäldern von Sonoma County wirklich abspielte ...

„Ich schlage vor, Sie händigen mir den Datenträger aus. Dann können wir das hier schnell zu einem Ende bringen.“

„Ich habe ihn nicht bei mir.“

„Wie Sie wollen.“

Der Hillbilly versuchte nicht, sich zu wehren. Der Mann mit der Sonnenbrille war durchtrainiert, gut dreißig Jahre jünger und verfügte über eine der besten Nahkampfausbildungen, die es auf US-amerikanischem Boden gab.

Diejenige der NSA.

Der alte Mann spürte einen kurzen Schmerz im Nacken, unmittelbar danach sackten die Beine unter ihm weg. Durch dichten Nebel nahm er wahr, wie er durchsucht wurde. Natürlich würde es nichts nützen, dass sich die Memory Card in keiner seiner Taschen, sondern eingenäht im Futteral des Sakkos befand. Dieser Tatsache war er sich nur allzu bewusst. Eine oder zwei Minuten länger – was machte das schon für einen Unterschied? Er hatte gewusst, wer der Gegner war. Er hatte hoch gepokert und verloren.

In diesem Augenblick näherte sich plötzlich ein weiterer Wagen, der in krassem Gegensatz zu dem unweit geparkten pechschwarzen Van stand. Das neu hinzugekommene Fahrzeug als Auto zu bezeichnen, war genau genommen schon ein Euphemismus. Es war eher eine grellbunte Bastelpackung auf vier Rädern, die nichtsdestotrotz eine beachtliche Geschwindigkeit zu erzeugen vermochte. Noch bevor sie quietschend zum Stehen gekommen war, hatte der Mann mit der Sonnenbrille sich bereits blitzartig herumgeworfen und mit wenigen Sprüngen seinen Van erreicht. Nun jagte er mit aufheulendem Motor in Richtung Highway davon.

Mit schwindenden Sinnen sah der Hillbilly einen Jungen auf sich zukommen, fast noch ein Kind, blonder Pferdeschwanz, T-Shirt, Shorts, Turnschuhe. Ein Gesicht beugte sich zu ihm herunter.

„Die Karte, Sir ... Hat er die Karte gefunden?“

Der alte Mann atmete schwer. „Bohemian Grove“, flüsterte er. Es war das Letzte, was über seine Lippen kam, bevor er diese Welt verließ.

HESTIA

Schafft zwei, drei, viele WikiLeaks!

TAG 1: DONNERSTAG

„Ich implementiere die zusätzlichen Variablen in Python. Achten Sie bitte auf die Hidden Bits ...

Karl-Heinz Emmerich blickte von seinem Desktop auf und musterte den Sprecher. Der junge Mann, der einige Meter von ihm entfernt so lässig vor einem Hochleistungsrechner neuester Bauart saß, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt, schien mit der Tastatur zu verschmelzen, eins mit ihr zu sein. Ein Phänomen, das Emmerich seit dem ersten Tag, den Lukas bei Avaleet verbracht hatte, faszinierte. Doch während der nunmehr fast zwei Jahre ihrer Zusammenarbeit hatte Lukas sich verändert. Das Jungenhafte in seinen ebenmäßigen Zügen mit den kleinen Grübchen in den Wangen, die Frauen gewöhnlich unwiderstehlich fanden, war einer konzentrierten Ernsthaftigkeit gewichen, die ihn womöglich noch anziehender wirken ließ. Er war gereift, sowohl innerlich als auch äußerlich, das war unübersehbar. Kein Zweifel: Aus dem hochbegabten, menschenscheuen Computerkid war ein Mann geworden, der sich der Tragweite seiner Verantwortung voll bewusst war.

Ungeduldig wischte Emmerich die ambivalenten Gefühle beiseite, die sein Gegenüber stets in ihm auslöste. Sein ... Was war dieser junge Kerl nun eigentlich, verdammt noch mal? Sein Mitarbeiter? Sein Partner? Sein Chef? Trotzig entschied er sich für Ersteres.

Längst war es draußen dunkel geworden, und Insektenschwärme umkreisten surrend die Neonröhren an der Decke der loftartigen Halle, die die Entwicklungsabteilung im Wangener Firmensitz der Avaleet Software AG beherbergte. Ein warmer Nachtwind zog durch die weit geöffneten Fenster herein. Der August begann heiß in diesem Jahr. Emmerich ließ seinen Blick abwesend über die leeren Arbeitsplätze gleiten. Er zog ein Taschentuch aus der Innentasche der leichten Baumwolljacke, die er über dem T-Shirt trug, und ärgerte sich einmal mehr über seinen Chef, der anscheinend nicht in der Lage war, ein paar lächerliche Fliegengitter anbringen zu lassen. Schon den ganzen Sommer über nervten die lästigen Biester, während er Tag und Nacht damit beschäftigt war, die Lösung für ein Problem mit der FPU zu finden. Eine Lösung, die er finden wollte und finden würde.

Hatte er geglaubt. Nur dass er mit der Starrsinnigkeit des fortschreitenden Alters darauf beharrt hatte, diese spezielle Funktion in C++ zu schreiben. Folgerichtig musste er sich den Algorithmus nun von einem Ex-Hacker diktieren lassen, der fast alt genug war, um sein Sohn zu sein! Und es war keineswegs das erste Mal. Emmerich war sich nur allzu bewusst, wem er es zu verdanken hatte, dass er wenigstens formal noch immer Leiter der Entwicklungsabteilung war, und nur sehr wenige im Unternehmen wussten, wie es sich tatsächlich verhielt. Das machte es jedoch kaum besser. Er selbst wusste es, und mit jeder Nacht, die er gemeinsam mit Lukas in der Firma verbrachte, bohrten sich Selbstzweifel und Unzufriedenheit quälender in seine Eingeweide. Doch er war es gewohnt, seine inneren Kämpfe mit sich selbst auszufechten.

Avaleet hatte sich die internationale Spitzenposition im Spielesegment hart erkämpft. Alle Beteiligten hatten Opfer dafür gebracht. Mit einem bitteren Lächeln wanderte sein Blick zu dem Asthmaspray, das wie immer griffbereit vor ihm auf dem Tisch stand. Es war besser geworden mit der Krankheit, seit er jedes Jahr zweimal an die See fuhr. Seit zwei Jahren, seit dieser leidigen Geschichte mit Mario Pross ...

„Alles in Ordnung? Geht’s Ihnen gut?“

Jäh wurden Emmerichs Gedanken durch den forschenden Blick seines Kollegen unterbrochen. Gewöhnlich mied Lukas den direkten Blickkontakt, doch wenn er ihn suchte, entging ihm nichts. Seine klaren blaugrauen Augen schienen alles zu durchdringen, gleichgültig ob sein Gegenüber aus Metall und Glas oder aus Fleisch und Blut bestand.

Lukas war der Einzige, der Emmerichs ungewöhnliche Arbeitszeiten teilte. In vielen langen Nächten hatte der Programmierer bislang jedoch vergeblich versucht, den Neuen einzuordnen. Zweifellos war Lukas mit seinen knapp siebenundzwanzig Jahren viel zu jung, um an dem Punkt zu sein, an dem er nun einmal war. Seit er zweieinhalb Jahre zuvor mit einem Programm auf den Markt geplatzt war, das der gesamten Informatik eine neue Richtung gab, war er der gefeierte Star der internationalen IT-Szene. Seltsamerweise schien ihm der ganze Rummel eher unangenehm zu sein, und er machte erstaunlich wenig Aufhebens um seine Person. Monatelang hatte er alle Jobangebote ausgeschlagen, nach denen sich andere Top-Informatiker die Finger leckten, und keiner vermochte zu sagen, wie Weber es schließlich geschafft hatte, ihn ausgerechnet zur Mitarbeit in einer Firma zu bewegen, die sich seinerzeit im freien Fall befunden hatte. Vielleicht war gerade das der Grund gewesen. Ein verfrühter Börsengang und die unklare politische Situation im Segment der Ego-Shooter hatten Avaleet an den Rand des Crashs gebracht. Doch Weber hatte Hartnäckigkeit bewiesen.

Keine Festanstellung – das war Lukas’ Bedingung. Er trat der Truppe offiziell als freier Game-Designer bei, und wenige Monate später wurden die Karten neu gemischt.

Das allein wäre wahrlich problematisch genug gewesen, doch da war noch diese andere Sache. In dem ungewöhnlich harten Winter bevor Lukas in der Firma auftauchte, waren Emmerich und sein damaliger Kollege Mario Pross, Stellvertreter des CEO Gerhard Weber, mit nicht ganz salonfähigen Methoden an einen fragmentarischen Datensatz gelangt, der auffällige Parallelen zu dem Algorithmus aufwies, mit dem der junge Hacker wenig später die A.I.-Forschung auf den Kopf stellte. Mehr als auffällige Parallelen.

Als Emmerich die Dimension der Geschichte, auf die er sich eingelassen hatte, und die Skrupellosigkeit von Pross bewusst geworden war, war es bereits zu spät gewesen. Menschen waren verletzt worden. Lukas war in einen Strudel von Ereignissen geraten, deren Zusammenhänge er nicht gekannt hatte, und hatte sich plötzlich mit einer lebensgefährlichen Situation konfrontiert gesehen, die er dadurch löste, dass er seinen Suizid inszenierte und in die Karibik floh. Dass er sich hatte retten können, war bestimmt nicht Emmerichs Verdienst! Und noch immer erschauderte Emmerich über sich selbst angesichts der Tatsache, dass er wahrscheinlich dazu fähig gewesen wäre, seine kranke Mutter zu verkaufen, um den Core-Algorithmus, auf dem das unvollendete Quine basierte, zum Abschluss zu bringen. Beim Gedanken daran wurde ihm trotz der tropischen Temperaturen fast kalt. Keine Chance. In dieser Liga spielte er nicht mit.

Ohne zu ahnen, was sich bei Avaleet abspielte, hatte Lukas es schließlich, weit weg von allem, auf einer Insel, deren Namen nur er allein kannte, geschafft. Aufgrund seiner einzigartigen Fähigkeit, buchstäblich gegen den Uhrzeigersinn zu denken, war er mit Code an die Öffentlichkeit getreten, der dem Turing-Test standhielt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Informatik öffnete. Die Tatsache, dass ebendieser Code wenig später auf einem anderen Weg in die Firma zurückgelangte und sie vor der sicheren Insolvenz bewahrte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie!

Vielleicht war es auch so etwas wie eine höhere Gerechtigkeit, Karma oder wie auch immer man es nennen wollte. Nun waren die Würfel gefallen. Pross hatte sich längst in die USA abgesetzt, Lukas hatte die unanfechtbaren Rechte an einer Handvoll Programmzeilen, die die Basis für Avaleets Marktposition darstellten, und Emmerich war zum Hilfsarbeiter seiner eigenen Truppe degradiert worden.

Es gab nur noch zwei Menschen in der Firma, die außer ihm selbst von der unangenehmen Sache wussten. Der eine war sein Chef, dem er sich anvertraut hatte, als die Sache außer Kontrolle geriet. Der andere war Marcel Abramovich. Bis zu Lukas’ unverhofftem Auftauchen war der Grafikdesigner sein engster Mitarbeiter gewesen, und Emmerich hatte sich bei Weber für ihn eingesetzt. Ein paar weitere Laufburschen, die Pross rekrutiert hatte, waren froh gewesen, mit einer einfachen Kündigung davonzukommen, und die Akte wurde geschlossen. Die entscheidende Information freilich fehlte selbst Marcel Abramovich. Die teilte Karl-Heinz Emmerich lediglich mit dem Firmenchef.

Dass nämlich der aufsehenerregende Datensatz, den Emmerich damals in Händen gehalten hatte, tatsächlich aus dem noch unveröffentlichten Programm stammte, das Lukas NORT nannte.

Nun war Emmerich auf unbestimmte Zeit dazu verdammt, dem Objekt seiner folgenschwersten Verfehlung Nacht für Nacht ins Gesicht zu sehen.

L’enfer c’est les autres!

Geräuschvoll nahm er einen Zug seines Sprays. „Die Python-Performance ist viel zu niedrig. Ganz zu schweigen von der Interaktion mit externem Code.“

„Die Crosscutting Concerns programmieren wir in Cython. Direkte Interaktion mit Ihrem C++ Code.“

„In Ordnung. Versuchen wir’s.“

Eine Zeit lang war es still. Das Surren der Mücken wurde nur vom leisen Klicken der Tastaturen übertönt, ab und zu drangen gedämpft Verkehrsgeräusche vom nahen Neckarufer durch die Nacht, während auf den beiden beleuchteten Monitoren ungewöhnliche Wesen zum Leben erwachten.

Es war die neuartige Art und Weise, wie Avatare und Bots interagierten, die Avaleets Konkurrenz auf die Plätze verwiesen hatte. Basierend auf dem von Lukas entwickelten Quine und unterstützt durch Abramovichs innovative Grafik, hatte sich die umstrittene Sniper-Reihe als wahrer Kassenschlager erwiesen. Voraussetzung war natürlich gewesen, dass sich die aufgepeitschten öffentlichen Nerven wieder beruhigt hatten, die seinerzeit jede Spielfigur mit einer Waffe in der Hand verteufelten. Doch die politische Großwetterlage hatte sich geändert. Auch harte Animationen wurden in zunehmendem Maße als Kunstform anerkannt und die zahlreichen Indizierungen allmählich wieder aufgehoben.

Dass das Release von Sniper V bereits zum dritten Mal verschoben worden war, hatte andere Gründe.

„Verdammt!“

Obwohl sie seit Wochen unter enormem Druck arbeiteten, war es ungewöhnlich, dass Lukas die Nerven verlor. Emmerich erhob sich und trat hinter ihn. Wie immer spürte er einen unangenehmen Stich im Herzen, als er beobachtete, wie Lukas scheinbar völlig mühelos das Verhalten der Figuren adaptierte, sie einem umsichtigen Regisseur gleich lenkte, ohne direkt Einfluss zu nehmen. Er war eine Klasse für sich, das stand außer Frage.

„Was ist denn los? Das sieht doch sehr gut aus!“

„Sieht vielleicht so aus, ist es aber nicht. Das Stressverhalten der Sekundärbots ist immer noch nicht situationsadäquat.“

„Ich dachte, mit Python kriegen Sie’s in den Griff?“

„Dachte ich auch.“

„Wir sollten für heute Schluss machen. Es ist spät. Rom ist schließlich auch nicht an einem Tag erbaut worden!“

Lukas zögerte. „Vielleicht sollten wir ...“ Er brach ab und starrte aus dem Fenster in die Nacht.

„Was sollten wir?“, hakte Emmerich nach und fuhr seinen Rechner herunter.

„Die Mod-Szene einbeziehen.“

Emmerich blickte auf. „Was?“

„Wieso nicht? Es gibt da spannende Entwicklungen, und wir würden erheblich Ressourcen einsparen.“

„Das ist ein Scherz?“

„Absolut nicht.“

Emmerichs Tonfall wurde väterlich-nachsichtig, während er seine Notizen in eine abgegriffene braune Ledertasche packte. „Lukas, Sie scheinen zu vergessen, auf welchem Niveau wir hier arbeiten. Glauben Sie ernsthaft, ein paar Hobbyprogrammierer könnten da was Sinnvolles beitragen?“

„Schauen Sie keine Nachrichten?“, erwiderte Lukas lachend. „Ein paar Hobbyprogrammierer mischen seit geraumer Zeit die internationale Politik auf!“

Achselzuckend hängte sich Emmerich seine Tasche um und wandte sich zur Tür. „Wenn Sie meinen – besprechen Sie’s mit Weber. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass er von der Kollektivierung seines Betriebs begeistert sein wird. Vergessen Sie nicht abzuschließen, wenn Sie gehen.“

Nachdem sich die Tür hinter Karl-Heinz Emmerich geschlossen hatte, saß ich lange Zeit reglos vor meinem Bildschirm und beobachtete das Spiel der Wesen, das sich vor meinen Augen entspann. Einige Male griff ich ein, wenn sich eine Schnellfeuerwaffe auf den Kopf meines Avatars richtete, doch ich tat es mechanisch, unbeteiligt. Obwohl ich die Figuren zusammen mit Marcel Abramovich entwickelt hatte, waren sie mir seltsam fremd. Marcel, der nicht nur ein begnadeter Künstler, sondern außerdem ein ausgesprochen liebenswerter Kollege war, und wahrscheinlich der Einzige, der mich über die Zusammenarbeit bei Avaleet hinaus interessierte. Er war jedenfalls das genaue Gegenteil des verknöcherten und übertrieben distanzierten Emmerich.

Ich spürte, wie meine Konzentration nachließ, obwohl jede Aktion, die vor mir stattfand, jede intelligente Entscheidung der sich unerbittlich bekämpfenden Gegner, auf NORT, meinem Quine, basierte – dem ersten voll funktionsfähigen autoreferenziellen Algorithmus der IT-Geschichte. Ein Programm, für das Menschen zu töten bereit gewesen waren ... Meine Gedanken glitten weg, hin zu der Zeit vor zweieinhalb Jahren, als ich noch Luke Skywalker war. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände waren damals Fragmente des noch unvollendeten Programms in falsche Hände geraten, und ich war gezwungen, eine abenteuerliche Flucht anzutreten. Noch immer schmerzte die Erinnerung daran. Nicht um meinetwillen, doch angesichts dessen, was ich den Menschen angetan hatte, die mich liebten. Viele Fragen waren bis heute offengeblieben, einschließlich derjenigen, wer hinter der Sache steckte, und die Wunden waren nicht verheilt. Gustav Elvert, mein langjähriger Therapeut, der inzwischen zu einem engen Freund geworden war, riet mir zwar unaufhörlich dazu, die Sache abzuschließen, doch das konnte ich nicht. Ich war auf der Suche. Ich suchte im Netz, in meiner Welt, in der ich mich weit sicherer bewegen konnte als in der sogenannten Realität. Im Cyberspace blieb mir nichts verborgen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis ich etwas finden würde ...

Ein ohrenbetäubender Knall ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Meine Schöpfung verzieh keine Unaufmerksamkeit. Mit der Kugel aus einer großkalibrigen Waffe in der Brust sank mein virtuelles Ich vor meinen Augen tödlich getroffen zu Boden. Augenblicklich eilten Mitstreiter im Kugelhagel aus den umliegenden Hecken und hinter Barrikaden hervor, zogen meinen blutüberströmten Körper aus der Schusslinie, versuchten zu helfen. Doch es bestand kein Zweifel daran, dass es zu spät war. Ich empfand physischen Schmerz und für einen Moment würgende, bleierne Angst, während mein Avatar die Augen schloss und einen letzten, tiefen Atemzug tat. Dann war es plötzlich totenstill. Noch immer schwebte der Schatten drohenden Unheils über mir – nicht in der virtuellen Welt. Er war real.

Ein durchdringender Signalton. GAME OVER.

Ich lehnte mich zurück, versuchte zu Atem zu kommen und wartete ab, bis mein Herzschlag wieder eine halbwegs gesunde Frequenz angenommen hatte. Dann schüttelte ich kräftig den Kopf und zwang mich dazu, eine scharfe Trennlinie zwischen realer und virtueller Welt zu ziehen. Offensichtlich war ich übermüdet. Ich hatte Gustav Elvert fest versprochen, meine physischen Grenzen zu respektieren, um aufkommenden Wahnvorstellungen keine Angriffsfläche zu bieten.

Ich mochte mein neues Leben. Ein Job, ein geregelter Rhythmus, reale Menschen um mich herum. Nur selten verspürte ich noch das Bedürfnis auszubrechen. Also widerstand ich der Versuchung, mich in die Tiefen der Internets zu begeben, und fuhr den Rechner herunter.

Draußen vor dem roten Backsteinbau, dem Wangener Hauptsitz der Avaleet AG, blieb ich eine Zeit lang stehen und atmete die klare Nachtluft. Jetzt, da der Morgen bald heraufziehen würde, war es kühler geworden. Eine wohltuende Ruhe breitete sich in mir aus, und ich begab mich auf einen langen Spaziergang.

TAG 2: FREITAG

Die bescheidenen Redaktionsräume des linksalternativen Nachrichtenmagazins Chronos befanden sich im Erdgeschoss eines klotzigen Gebäudes aus den Fünfzigerjahren, das schon zu seinen besseren Zeiten keine Schönheit gewesen war. Nun hatten die Abgase an der viel befahrenen Ecke Wagenburg- / Schwarenbergstraße den Putz bräunlich und porös werden lassen, doch das glichen die riesigen, an der Oberkante elegant geschwungenen, fast bodentiefen Fenster locker wieder aus. Diese boten jedoch leider auch dem politischen Gegner eine weitgehend ungeschützte Angriffsfläche, und mit der erstarkenden Rechten war nicht zu spaßen. Der Chronos hatte sich durch seine kompromisslose Berichterstattung in der Vergangenheit bei mehr als einer Gruppierung dieses Spektrums unbeliebt gemacht. Mit Abstand am unangenehmsten fielen dabei die Anhänger der sogenannten „Württembergischen Bruderschaft“ auf, einer recht wilden, heterogenen Ansammlung Unzufriedener, die sich schon mal zu offenen Gewaltdrohungen hinreißen ließen. Ihr nicht weniger unangenehmer Anführer fühlte sich zu Höherem berufen und mühte sich nach Kräften, seinem Laden einen seriösen Anstrich zu geben. Bislang jedoch mit überschaubarem Erfolg. Von offizieller Seite hatte die Redaktion in ihrem Kampf gegen die unverhohlenen Angriffe bemerkenswert wenig Unterstützung erfahren, was dazu geführt hatte, dass man sich inzwischen weitgehend als Alleinkämpfer betrachtete.

Die unweit gelegene Glaserei freute sich zwar über die regelmäßigen Aufträge für neue Scheiben, die von der Chronos-Redaktion eingingen, Ulrich Herberger, amtierender Chefredakteur, dachte allerdings schon mal laut über eine engmaschige Vergitterung nach. Da die nordirische Redaktionsassistentin Caitlyn angesichts derartiger Diskussionen regelmäßig in Tränen ausbrach, wurde die Idee jedoch vorerst wieder verworfen. Was blieb, war die Gefahr, und die bezog sich nicht nur auf eingeworfene Fenster. Jeder in dem fünfköpfigen Team war sich dessen bewusst und lebte damit. Jeder auf seine Weise.

Ralf Albin dachte nicht an Bedrohungsszenarien, als er an diesem Morgen mit seinem schneeweißen Renault Scénic durch den Wagenburgtunnel brauste. Der Scénic war natürlich nicht neu, aber verdammt gut in Schuss, und, doch, er bot fast so etwas wie ein klitzekleines Sportwagengefühl. Ralf hatte ihn noch nicht lange, Christos Pandakis hatte ihn ihm vermittelt. Der Deutsche mit griechischem Migrationshintergrund betrieb die vielleicht angesagteste Kfz-Werkstatt Stuttgarts, oben in Büsnau, wo auch Ralf zu Hause war. Ralf hatte nach dem Abi bei Pandakis gelernt, und eigentlich hatte er sich nie etwas anderes vorstellen können, als ölverschmiert unter Pkws zu liegen – mit garantiertem Flirtbonus natürlich. Abgesehen davon galt sein Interesse bestenfalls noch Apple-Rechnern, doch das war nur ein Freizeitvergnügen. Dies war die unanfechtbare Domäne seines besten Freundes.

Eine völlig unvorhergesehene Wendung hatte Ralfs beruflicher Werdegang allerdings genommen, als Lukas ihn gebeten hatte, einen Artikel für den Chronos zu schreiben. Es war zweieinhalb Jahre her, und Luke war in Schwierigkeiten gewesen. In ziemlich großen sogar. Die Veröffentlichung hatte ihren Zweck erfüllt, eine weitere war gefolgt, und zu seinem großen Erstaunen hatte Ralf Gefallen an der Sache gefunden. Nun war er bereits seit zwei Jahren freies Redaktionsmitglied, hatte seinen Job bei Pandakis sehr zu dessen Verdruss um einige Wochenstunden reduziert und litt unter chronischem Schlafmangel. Er wusste längst, dass es nicht ewig so weitergehen konnte, und er hatte nie ernsthaft daran gedacht umzusteigen, aber die liebenswerte kleine Truppe war ihm ans Herz gewachsen. Außerdem gab es immer jede Menge zu tun in der Redaktion, und – auch wenn er es sich nicht so recht eingestehen wollte – in ihm war die Überzeugung gereift, dass es eine wichtige Arbeit war. Wichtig in einem anderen Sinne als Auspuffwechsel und Abgassonderuntersuchungen. Doch obwohl Ralf das Gefühl hatte, dass er dort nicht wirklich hingehörte – der Weltverbesserer war ohne jeden Zweifel Lukas! –, hatte er seinen Abschied vom Chronos immer wieder vor sich hergeschoben, aber nun schien der unabwendbare Zeitpunkt gekommen zu sein. Mehrere brisante Recherchen standen an, die von allen Beteiligten den bedingungslosen Einsatz verlangen würden, und er fühlte sich außerstande, weiterhin praktisch zwei Jobs gleichzeitig zu machen. Er hatte einiges an Gewicht verloren in den letzten Monaten, worüber er zunächst nicht unglücklich gewesen war, doch nun näherte er sich einem kritischen Bereich.

Gedankenverloren bog er in die Lembergstraße ein und parkte unweit des Ganesha, des Stamminders der Redaktion. Einige feuchtfröhliche Abende hatte er hier erlebt. Er versuchte, die melancholischen Gefühle in Schach zu halten, während er an den heruntergelassenen Jalousien des Restaurants vorbeiging, und fragte sich, warum er so nachdrücklich gebeten worden war, an diesem Morgen zur Redaktionskonferenz zu kommen. Der Chronos erschien vierzehntägig montags, daher war die Freitagskonferenz seit jeher der wichtigste Termin der Woche und überdies eine Veranstaltung, die ausschließlich dem festen Team vorbehalten war. Wie auch immer. Es war eine gute Gelegenheit, seinen Rückzug anzukündigen und sich wieder mit vollem Einsatz dem zu widmen, wovon er am meisten verstand: Auspuffrohren.

Als Ralf die Redaktion betrat, waren bereits alle versammelt. Es gab einen großen Raum, in dem sich praktisch alles abspielte: Die Arbeitsplätze des Teams befanden sich hier, auf mehreren einfachen IKEA-Tischen standen Notebooks, Telefone, stapelten sich Papiere. Ein paar zusätzliche Stühle für Besucher standen herum. Bei Besprechungen pflegte sich jeder irgendeine Sitzgelegenheit oder auch eine zufällig frei gebliebene Tischecke auszusuchen und sich mit einem Pott Kaffee zu bewaffnen. Ulrich war der Einzige, der ein separates, kleines Büro besaß, abgesehen davon gab es noch eine Mini-Küche und eine Toilette. Für die dringend erforderliche Dusche hatte bislang das Geld gefehlt.

„Grüß dich, Ralf!“ Caitlyn Branagh saß an ihrem Computer und hielt ihre Kaffeetasse müde lächelnd in beiden Händen.

Im selben Moment kam Ulrich Herberger mit einem überquellenden Aktenordner aus seinem Büro und setzte sich auf einen Besucherstuhl mitten im Raum. Er war unrasiert und wirkte übernächtigt, doch das war nicht ungewöhnlich. Reporter Michael Sieber hatte es sich bereits auf Caitlyns Schreibtisch bequem gemacht. Schließlich kam noch Fotograf Yann Castanère, ein Bretone, mit Ute Maibach im Schlepptau aus der Küche. Ute war so etwas wie der Kitt, der den Laden zusammenhielt, wie Ulrich manchmal scherzte. Von Caitlyn tatkräftig unterstützt, kümmerte sie sich um alles, angefangen von den Finanzen über Akquisition, Archiv, Telefondienst bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit. Allerdings ließ es sich in einem so kleinen Team oft nicht vermeiden, dass jeder ein bisschen alles machte.

Ralf schnappte sich einen Besucherstuhl und eine Kaffeetasse. „Bin ich der Einzige, der heute Nacht ein Bett gesehen hat?“

Caitlyn schüttelte den Kopf. „Nur Uli und ich waren hier.“

Der Chefredakteur nahm das Stichwort auf. „Okay. Dann sind wir, glaube ich, vollzählig und können anfangen.“

Ralf holte tief Luft. „Entschuldige, Uli, aber bevor du einsteigst, würde ich gern etwas loswerden.“

Herberger hob die Brauen.

„Ich kann mir ungefähr vorstellen, warum ihr mich heute dabeihaben wolltet. Zwei große Projekte stehen an und da werdet ihr jede Unterstützung brauchen, die ihr kriegen könnt. Du weißt, dass ich die Zeit mit euch wirklich genossen habe, aber ich habe eben ganz nebenbei noch einen Job, von dem ich leben muss, und ich kann einfach nicht ...“

Beschwichtigend hob der Chefredakteur die Hand. Er war ein ruhiger und besonnener Typ, der eine natürliche Autorität ausstrahlte. „Langsam, Ralf. Vielleicht hörst du dir erst mal an, was wir dir zu sagen haben.“

Ralf verstummte und ließ einen unsicheren Blick durch die Runde gleiten, doch er vermochte aus den ernsten, aufmerksamen Mienen nichts herauszulesen. Blitzartig ging er in Gedanken die letzten Themen durch, an denen er mitgearbeitet hatte. Hatte er etwas verbockt? Ulrich war normalerweise tolerant und umgänglich, duldete bei der Arbeit jedoch nicht die kleinste Nachlässigkeit. Im Bereich des investigativen Journalismus eine Notwendigkeit. Die Liste derer, die nur darauf warteten, dass der Chronos sich inhaltlich angreifbar machte, war lang! Trotzdem konnte Ralf beim besten Willen nichts finden, dessen man ihn hätte bezichtigen können.

„Du bist jetzt schon eine ganze Weile Gast bei uns“, fuhr Herberger bedeutungsvoll fort. „Und du warst während dieser Zeit eine enorme Unterstützung. Nicht nur, weil die ‚Luke-Skywalker-Veröffentlichungen‘ damals unsere maroden Finanzen saniert und uns neue Spielräume eröffnet haben. Es geht jetzt auch nicht primär um die Projekte, die aktuell anstehen. Was viel wichtiger ist: Du hast dich in den letzten zwei Jahren zu einem hervorragenden Journalisten entwickelt. Das ist niemandem hier im Raum entgangen. Kurz und gut – wir möchten dir gerne eine Vollmitgliedschaft im Team anbieten. Mit festem Gehalt, eigenem Schreibtisch, vollem Stimmrecht und allem Drum und Dran.“

Ralf war einen Moment lang sprachlos, warf einen weiteren Blick in die Runde, sah diesmal verschmitzt grinsende Gesichter.

Er räusperte sich. „Also ... ich weiß jetzt nicht, was ich sagen soll. Die Überraschung ist euch jedenfalls gelungen!“

„Ein einfaches ‚Ja‘ würde genügen“, schaltete sich Ute ein.

Eine Pause entstand, während der sich die Gedanken in Ralfs Kopf überschlugen. Einerseits fühlte er sich geschmeichelt, denn er wusste genau, dass dies ein außergewöhnliches Angebot war, noch dazu für einen Quereinsteiger wie ihn. Der Chronos war schließlich nicht irgendein x-beliebiges Käseblatt, sondern der bedeutendste Gegenpol zur Mainstream-Presse, den die Republik aktuell zu bieten hatte. Andererseits warf diese neue Perspektive seine gesamten Lebensentwürfe in einer derart radikalen Art und Weise über den Haufen, dass er sich erst einmal von dem Schock erholen musste.

Ulrichs ruhiger Bass durchbrach die Stille. „Na klar kommt das überraschend für dich. Noch dazu in einem Augenblick, in dem du offensichtlich geplant hattest, dich in eine andere Richtung zu orientieren. Du musst das natürlich nicht jetzt entscheiden. Nimm dir ein paar Tage Zeit und denk gründlich darüber nach. Aber lass dir eines sagen: Du bist wirklich ein Talent, Ralf. Ich bin lange genug in der Branche, um das beurteilen zu können. Du hast ein Gespür für Storys und du kannst sie auch schreiben – das ist mehr, als die meisten von sich behaupten können. Und ich glaube, ich spreche allen hier aus der Seele, wenn ich sage: Wir wären traurig, dich zu verlieren.“

Alle Anwesenden nickten eifrig, und Ralf fühlte plötzlich einen würgenden Kloß im Hals.

„Ich ... danke euch.“

„Schön. Da wir den Punkt ‚In eigener Sache‘ nun abgehakt haben, wenden wir uns wieder dem Ernst des Lebens zu. Wir haben zwei Titelstorys festzuzurren, die Sprengstoff sind. Einmal Neckarwestheim und für die übernächste Ausgabe die Württembergische Bruderschaft. Damit werden wir uns keine Freunde machen, aber das kennen wir ja. Ralf, falls du nichts Dringendes zu tun hast heute Vormittag, wäre es am besten, du bleibst gleich hier, dann bist du auf dem neuesten Stand. An die Arbeit, Leute – no risk, no fun. Wer gibt uns ein Resümee über die Neckarwestheim-Recherche? Michael?“

Alle Blicke wandten sich dem Reporter zu, und Ralf lächelte in sich hinein. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Entscheidung bereits für ihn getroffen worden war.

Gustav Elvert lehnte sich in seinem Sessel zurück und ließ den Anblick der jungen Frau, die ihm gegenübersaß, auf sich wirken. Sie war ohne Zweifel eine Schönheit. Volles kastanienbraunes Haar fiel in weichen Wellen über ihre Schultern. Obwohl sie leger gekleidet und nicht geschminkt war, schien sie sich ihrer optischen Wirkung bewusst zu sein. Gleichzeitig hatte ihr Auftreten etwas Widersprüchliches, das er nach der dritten gemeinsamen Sitzung noch nicht recht einzuordnen vermochte. Da war einerseits diese beinahe herausfordernde Offenheit, mit der sie ihm gegenübertrat, andererseits zeigte sie aber immer wieder eine extrem verletzliche, schutzbedürftige Seite. Beide Haltungen konnten rasch wechseln, aber auch ganze Sitzungen überdauern. Sie war etwa Mitte zwanzig und hatte eine Fülle neurotischer Symptome, die er bislang noch keiner übergeordneten Diagnose zugeführt hatte.

Sie erzählte von Essstörungen, Selbstverletzungen, Zwangshandlungen, krankhaften Ängsten und Suizidgedanken. Es gab Momente, in denen ihre innere Not deutlich spürbar war, dann wieder vermittelte sie eine emotionale Distanz zu ihren eigenen Schilderungen, die es ihm schwer machte, das Gehörte nachzuvollziehen. Am unverständlichsten erschien ihm jedoch ihr fast panisches Beharren auf der Tatsache, dass sie die glücklichste und behütetste Kindheit erlebt hatte, die man sich vorstellen konnte.

Während seine Klientin sprach, wandte sich der Blick des Therapeuten dem kleinen weißen Origami-Kranich zu, der sich auf dem runden Tischchen zwischen ihnen befand. Er stand schon so lange dort, dass seine Flügel allmählich vergilbten, doch es wäre Elvert nie in den Sinn gekommen, ihn zu entfernen. Er erfüllte eine wichtige Funktion. Er erinnerte ihn gleichzeitig daran, wie zerbrechlich, wie vergänglich alles ist, und daran, dass die Dinge oft nicht so sind, wie sie im ersten Moment erscheinen.

Lukas hatte ihn gefaltet, damals.

Lukas Stegmann, im Netz als Luke Skywalker bekannt, Asperger-Klient, kreatives Genie und eine der größten Herausforderungen in Elverts Berufsleben. Er hatte geglaubt, ihn verloren zu haben, doch er war zurückgekehrt. Einiges hatte sich verändert seither. Lukas hatte seine Skywalker-Identität und manches andere hinter sich gelassen. Längst war er kein Klient mehr, sondern ein Freund, nein, weit mehr als das. Elvert hätte es niemals ausgesprochen, aber die Wahrheit war, dass er für Lukas inzwischen empfand wie für einen Sohn.

„Hören Sie mir eigentlich zu?“

Der Therapeut hob den Kopf und wischte die Erinnerungen hastig beiseite. Er blickte in Simone Webers grüne Augen. Auf ihrer Stirn zeigten sich Falten.

„Ich höre jedes Wort, das Sie sagen. Und ich versuche, mir eine Kindheit in Afrika vorzustellen. Was mir nicht ganz leichtfällt, ehrlich gesagt, denn ich kenne diesen spannenden Kontinent nur aus dem Fernsehen.“

„Das geht den meisten so.“

„Dann wurden Sie also in Namibia geboren?“

„Ja, das stimmt. Damals hieß es allerdings noch Südwestafrika. Mein Vater hatte gerade angefangen, die Radiologie im Windhoek Central Hospital aufzubauen, als meine Mutter schwanger wurde. Ich glaube, er war nicht allzu begeistert davon. Das war nicht geplant. Meine Mutter wollte zur Entbindung nach Deutschland fliegen, zur Sicherheit. Aber ich war wohl schon damals ziemlich ungeduldig.“ Sie lachte und warf ihr Haar zurück. „So kam ich auf einem altersschwachen Sofa in Windhuk zur Welt.“

„Dann waren Sie also gewissermaßen ein Unfall ...“

„Man sollte meinen, die hätten wissen müssen, wie man verhütet!“ Sie lachte wieder ihr offenes, einnehmendes Jungmädchenlachen, und keine Spur von Befangenheit war spürbar. „Aber es ist nicht so, wie Sie denken.“

„Wie denke ich denn, dass es ist?“

„Wissen Sie, was mein zweiter Vorname ist?“

Elvert schüttelte den Kopf.

„Oweuyapo. Das bedeutet ‚Willkommen‘ auf Oshivambo. Dass ich nicht geplant war, bedeutet nicht, dass sie mich nicht haben wollten.“

„Das habe ich nicht unterstellt.“

„Kommen Sie, ich spüre doch ganz genau, wie Sie etwas suchen, das meine Eltern für meine Probleme verantwortlich machen würde. Alle Psychologen tun das! Das ist ja auch so verdammt einfach. Die Eltern sind schuld, weil sie alles falsch gemacht haben, und alles ist wieder gut. Aber ich muss Sie enttäuschen. Da ist nichts. Ich ... ich bin ganz allein dran schuld, wenn ich nicht klarkomme.“

Simones Blick verdunkelte sich. Für einen Moment wirkte sie beinahe feindselig.

Elvert nahm sich bewusst Zeit für seine Antwort. „Erstens möchte ich Ihnen sagen – das können Sie nicht wissen, weil wir uns noch nicht lange kennen –, dass ich gewöhnlich für mich in Anspruch nehme, genau das nicht zu tun, was ‚alle Psychologen‘ tun.“ Er versuchte, es nicht allzu selbstgefällig klingen zu lassen, doch es war wichtig, dass sie begriff, woran sie mit ihm war. Sonst verschwendeten sie ihre Zeit. „Außerdem suchen wir keine Schuldigen. Wir werden gemeinsam versuchen einen Weg zu finden, wie es Ihnen besser gehen kann. Mit sich selbst. Vielleicht werden wir auf diesem Weg nach möglichen Ursachen für Ihre Probleme suchen, das ist aber etwas ganz anderes. Außerdem bestimmen allein Sie, was wir hier tun, wie wir es tun und wann wir es tun.“

Simones Blick glitt über die Couch, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befand, und sie lächelte kokett. „Ganz sicher?“

Gustav Elvert überhörte die Anspielung. „Erzählen Sie mir von Namibia.“

Plötzlich veränderte sich ihre Haltung. Von einer Sekunde zur nächsten wurde aus der flirtenden Frau ein verängstigtes kleines Mädchen.

„Ich ... ich habe eigentlich gar nicht viele Erinnerungen an Afrika, wissen Sie. Ich war ja auch noch klein, und als ich sechs war, da kamen wir dann ja auch schon zurück ...“

Überstürzt begann sie zusammenhangslose Anekdoten aus ihrer Schul- und Studienzeit hervorzukramen, und Elvert hörte schweigend zu. Es war okay, für jetzt. Aber genauso klar war auch, dass der Schlüssel zu Simone Webers gravierender Symptomatik in Südwestafrika lag.

Und es würde vermutlich eine lange Reise werden dorthin.

Nachdem sich die Tür hinter seiner letzten Klientin am Freitagnachmittag geschlossen hatte, fuhr Elvert den Computer herunter und stieg die Treppe zu seiner Privatwohnung hinauf. Er öffnete die Balkontür und trat hinaus in die Schwüle des beginnenden Abends. Von seinem jenseits des Wallgrabens an der Möhringer Landstraße gelegenen, senfgrün gestrichenen Einfamilienhäuschen aus hatte er einen herrlichen Blick über die Hengstäcker bis hinunter nach Kaltental. Es war ein Glücksfall gewesen, das Haus, er hatte es zum Zeitpunkt seiner Praxiseröffnung sehr günstig gekauft. Obwohl das einige Jahre her war, fraßen die monatlichen Raten allerdings noch immer ein beträchtliches Loch in sein Budget. Es hatte Momente gegeben, in denen er die Entscheidung infrage gestellt hatte, doch wenn er auf seinem Balkon stand, ab und zu ein Pfeifchen rauchte und in den Stuttgarter Kessel blickte, waren solche Gedanken weit weg. Es waren glückliche Momente, in denen er mit keinem Menschen auf der Welt hätte tauschen mögen.

Der Sommerabend trug die üblichen stickigen Verkehrsabgase herauf. Elvert ließ sich auf einem seiner hölzernen Balkonstühle nieder und überdeckte den Smog mit süß aromatisiertem Tabakduft. Das Pfeifenrauchen war eine relativ neue Angewohnheit, auf die seine Umgebung mit verhaltener Skepsis reagierte. Doch da er inzwischen ein in die Jahre gekommener Single war, störte er niemanden damit.

Gustav Elvert blickte gedankenverloren auf die Möhringer Landstraße hinunter und dachte an die vorangegangene Sitzung mit Simone Weber. Oweuyapo. Spannende Geschichte. Er hoffte, dass er in der Lage sein würde, ihr die erforderliche Hilfestellung zu geben, ohne sich mit ihr zu verstricken. Eine Supervisorin wie Karin Kutscher hätte ihm jeden Ausrutscher seiner Gegenübertragung unmittelbar vor Augen geführt, um nicht zu sagen: um die Ohren gehauen. Elvert lächelte. Sie war seit Langem nicht mehr seine Supervisorin. Ihr Nachfolger war allerdings ... er war nicht schlecht, ganz bestimmt nicht, doch er war ... na ja, völlig anders eben. Nun, man konnte eben nicht alles haben!

Gemächlich tröpfelten die Autos vorbei. Fußgänger waren hier am Vaihinger Ortsausgang wenige unterwegs, die meisten Passanten, die vorbeikamen, wollten gewöhnlich zu ihm. So auch die schlanke Frau im geblümten Sommerkleid, die nun das Gartentor öffnete. Sie war nicht jung, doch durch ihre energischen Bewegungen wirkte sie so, und Elvert wunderte sich zum wiederholten Male darüber, wie sie es anstellte, dass ihr langes aschblondes Haar von nur wenigen grauen Fäden durchzogen wurde. Auch wenn sie keine feste Beziehung hatten, war sie auf jeden Fall viel zu gut für einen wie ihn – das stand fest!

Er ließ die Pfeife auf dem Balkontisch liegen, eilte die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Er roch ihren vertrauten Duft, spürte ihren Körper in seinen Armen. Und er war glücklich, dass sie da war.

Karin.

In Santa Monica war es zehn Uhr morgens und die Luft glühte.

Leo Whitehead bezahlte sein Taxi, stieg aus und blinzelte gegen die grellweiße Sonne. Zahlreiche Urlauber, die meisten von ihnen Touristen aus Europa, räkelten sich bereits im weißen Sand, der Pier jedoch war noch nicht überlaufen. Erst allmählich öffneten die Bars, Buden und Fahrgeschäfte ihre Türen fürs Publikum. Muskulöse junge Kerle stellten stolz ihre sonnengebräunten Bodys zur Schau. Business as usual.

Leo hatte keinen Blick dafür. Er zog die Baseballmütze ins Gesicht und setzte die Sonnenbrille auf – eine sehr coole Brille mit kobaltblauen, verspiegelten Gläsern, die ihn ein kleines Vermögen gekostet hatte –, dann schlenderte er über die Holzbohlen.

Der, den er suchte, saß ungefähr auf halbem Weg den Pier hinaus auf einer Holzbank und starrte ins Wasser. Er war leicht zu erkennen. Auf seinem schwarzen T-Shirt stand in großen roten Buchstaben zu lesen: „Life is not fair sometimes ... but the root password helps!“

Leo unterdrückte ein Grinsen und nahm neben dem blassen jungen Mann Platz. Für hiesige Verhältnisse war er tatsächlich beunruhigend blass.

„Joke?“, fragte Leo, indem er zur Demonstration seiner Sozialkompetenz die Brille abnahm.

Das Milchgesicht nickte. „Josh. Wir reden uns hier mit Klarnamen an.“

„Okay. Leo.“

„Gab’s Probleme?“

Leo schüttelte den Kopf.

Josh Young ließ den Blick lange und aufmerksam über den Pier wandern. „Du bist nicht verfolgt worden?“

„Ich war vorsichtig.“

„In Ordnung. Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren.“

Das Domizil der südkalifornischen Sektion von Underground lag nur ein paar hundert Meter die Ocean Avenue hinauf, etwa auf Höhe des Wilshire Boulevard. Die Adresse konnte sich sehen lassen, aber als Leo seinem schweigenden Begleiter die ausgetretenen Steinstufen hinunter folgte und am Eingang zu dem modrig riechenden Kellerraum über unzählige Kabel stolperte, wunderte er sich dann doch etwas. Das „Büro“ von Santa Monica, das in naher Zukunft der Hauptsitz der bedeutendsten Leaking-Organisation weltweit werden sollte, hatte er sich etwas anders vorgestellt! Er setzte die Sonnenbrille ab und wartete, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten.

Der Raum war mittelgroß und in keinem gepflegten Zustand. Zudem war er vom Boden bis zur Decke mit elektronischer Infrastruktur vollgestopft, was ihn winzig erscheinen ließ. Hinter den beiden kleinen Fenstern, die sich knapp unterhalb der Zimmerdecke befanden und mit Stofffetzen zugehängt waren, konnte man die Bordsteinkante ahnen.

Josh schloss die Tür hinter Leo und schleuste ihn zwischen Kabelgewirr, Servern und mehreren Split-Klimageräten hindurch zu einer Nische, wo auf improvisierten Holztischen eine ansehnliche Zahl Notebooks aufgebaut war. Es handelte sich um Macs und PCs unterschiedlicher Generationen, die parallel mit Linux, OS X und einem weiteren System liefen, das Leo nicht unmittelbar einzuordnen vermochte.

„Na ja, es ist nicht grade das Hilton, aber für den Anfang gar nicht so übel“, ließ sich Josh fast entschuldigend vernehmen. „Wir haben praktisch das gesamte Geld aus dem ersten Spendenaufkommen in Technik investiert. Die Räumlichkeiten sind im Moment sekundär.“

Leo war vollkommen in den Anblick der Computer vertieft und hätte beinahe vergessen, dass er nicht allein war. Josh zeigte auf einen kräftigen Schwarzen, der mit gerunzelter Stirn an den Kabelverbindungen herumstöpselte.

„Das hier ist Charlie, Leo. Er baut grade die Clusterarchitektur auf. Und hier haben wir Ciarán. Er wird sich deine Karte ansehen.“

Leo schüttelte dem vierten Mann im Raum die Hand und spürte, wie sein Mund trocken wurde. Nun war es also so weit. Er stand einer lebenden Legende gegenüber – dem Staatsfeind Nummer eins.

Ciarán McCallum sah nicht aus wie jemand, auf dessen Kopf die CIA inoffiziell eine sechsstellige Summe ausgesetzt hatte. Er sah ein bisschen aus wie Brad Pitt in The Devil’s Own. Und er lächelte. Es war ein sympathisches, offenes Lächeln, doch es war auch ein wissendes Lächeln, so als könne er Gedanken lesen.

„Du musst nicht alles glauben, was du hörst!“

Leo Whitehead versuchte sich daran zu erinnern, was er tatsächlich gehört hatte.

Hartnäckig hielten sich Gerüchte, Ciaráns Vater, Frankie McCallum, sei als Sprengstoffexperte der IRA direkt am Anschlag von Omagh beteiligt gewesen. Kurz nach der Emigration der Familie in die USA war er in Chicago unter ungeklärten Umständen ermordet worden. Ciarán selbst hatte aus der IRA-Vergangenheit seiner Familie nie einen Hehl gemacht, jedoch legte er Wert darauf, dass sie überzeugte Provos waren, und verwahrte sich gegen jegliche Verbindung zur RIRA. Von seinem Vater hatte er mit Sicherheit den ungestümen Freiheitsdrang geerbt und das tiefe Misstrauen gegen jegliche Form von Autorität. Er hatte den Kampf mit seinen Mitteln fortgesetzt und war einer der meistgesuchten Cyberterroristen der Vereinigten Staaten geworden. Seit Jahren war keine noch so gut geschützte Institution vor seinem Zugriff sicher. Sein Spezialgebiet: Kryptografie.

„Setz dich doch.“

Leo fasste in die Innentasche seiner Jacke und legte die kleine, unscheinbare Speicherkarte zwischen die Rechner auf den Tisch. Unwillkürlich breitete sich eine Spannung im Raum aus, die fast mit Händen zu greifen war. Alle Anwesenden ließen sich auf den herumstehenden Hockern nieder. Ciarán blickte auf die Karte, dann sah er Leo direkt in die Augen. Es war ein Blick, vor dem es kein Ausweichen gab.

Leo schluckte.

„Okay.“ Ciaráns Stimme klang ruhig, fast sanft. „Am besten, du erzählst uns die ganze Geschichte jetzt noch mal von Anfang an.“

Und Leo Whitehead erzählte. Von George Caviness, den alle Anwesenden kannten, weil er in den Achtzigerjahren mit seinem Softwareunternehmen Titan in Silicon Valley ein Vermögen gemacht hatte, und der wenige Tage zuvor unter mysteriösen Umständen an einem Herzinfarkt gestorben war. So stand es jedenfalls in der Presse zu lesen. Weniger bekannt war die Tatsache, dass Caviness nach seinem medienwirksamen Ausstieg bei Titan Ende der Neunziger und einer kurzen, weniger erfolgreichen politischen Karriere angesehenes Mitglied im elitären Bohemian Club gewesen war. Er gehörte immerhin zum zweithöchsten Camp der Grovers, zu den Hillbillies. Das war nicht übel, wenn man bedachte, dass das Mandalay Camp, welches den höchsten Status genoss, praktisch ausschließlich Ex-Präsidenten vorbehalten war. Wie auch immer. Eben jener Caviness hatte also zwei Wochen zuvor Kontakt zur SanFrancisco-Sektion von Underground aufgenommen. Das allein wäre schon bemerkenswert genug gewesen, doch die Geschichte, die er anbot, versprach einen Scoop. Er wollte exklusives Material liefern, das sämtliche Hypothesen von Alex Jones in den Schatten stellen würde. Er wollte ein für alle Mal mit dem Mythos Bohemian Grove aufräumen ...

„Moment mal, Moment mal“, unterbrach Ciarán. „So läuft das bei uns nicht. Unsere Quellen sind anonym. Auch für uns. Zu ihrem eigenen Schutz. Warum hat er das Material nicht einfach hochgeladen? Die Technik steht und ist ausgereift.“

„Er hatte Angst um sein Leben“, antwortete Leo. „Er rief von einem Cryptophon aus bei uns an. Er war nicht sicher, ob er es schaffen würde, das Material aus Sonoma County rauszubringen. Er glaubte, die NSA wäre ihm schon auf der Spur.“

Ciarán schüttelte den Kopf. „Das klingt ziemlich wild.“

„Ich würde es auch nicht glauben, wenn er nicht in meinen Armen gestorben wäre.“

Josh riss die Augen auf. „Er ist was?“

Wieder fühlte Leo Ciaráns hypnotischen Blick auf sich ruhen.

„Wie lange arbeitest du schon für Underground-SF, Leo?“

„Traut ihr mir etwa nicht?“

„Darum geht’s nicht.“

Eine unangenehme Pause entstand. Schließlich ließ sich zum ersten Mal Charlie vernehmen. Er hatte eine tiefe Stimme und sprach den typischen Südstaaten-Slang, der für Leo schwer zu verstehen war.

„Ich höre immer nur Bohemian Grove, Alex Jones, Hillbillies ... Vielleicht bin ich ja ein hirnverbrannter Fachidiot – aber bei George Caviness hört meine Allgemeinbildung auf. Kann mich bitte mal jemand aufklären?“

Josh ergriff das Wort. „Na, dann wird’s aber verdammt Zeit, dass du mal was über dein Vaterland lernst! Den Bohemian Club gibt es seit gut hundert Jahren. Er ist eine abgeschottete Altherrenriege, hauptsächlich republikanische Politiker, aber auch Superreiche aus der Wirtschaft und ein paar Künstler. Ist verdammt schwer, da reinzukommen. Frauen sind nicht zugelassen, es gibt auch kaum jüdische oder afroamerikanische Mitglieder.“

„Aha“, kommentierte Charlie mit gerunzelter Stirn. Sein Ton sagte alles.

„Sie treffen sich jedes Jahr im Juli auf einem zehn Quadratkilometer großen Privatgelände, oben bei Monte Rio“, fuhr Josh unbeirrt fort. „Dort wohnen sie in sogenannten Camps, die voneinander getrennt und streng hierarchisch gegliedert sind. Status ist bei denen alles.“

„Meine Güte! Und was tun sie dann?“

„Tja, alles, was Männer gerne tun, wenn sie reich und unbeobachtet sind. Saufen, Bäume anpinkeln und politische Intrigen spinnen.“

„Das ist jetzt ein Scherz?“

„Absolut nicht. Den Höhepunkt der alljährlichen Sommerveranstaltung bildet die Cremation-of-Care-Zeremonie. Dabei wird in einem okkulten Ritual eine menschengroße Holzpuppe vor einer vierzehn Meter hohen, steinernen Eulenfigur verbrannt. Die Eule heißt Owl Shrine und ist innen hohl, die Puppe symbolisiert alle Sorgen, die sich das Jahr über angesammelt haben. Sie werden dann feierlich dem Feuer übergeben. Na ja, weil die hohen Herren sich bei ihren elitären Spielchen nicht gerne beobachten lassen, gibt es wenig Informationen und schon gar keine Bilder oder Videoaufzeichnungen von dem Treiben. Handys, Kameras und Ähnliches sind auf dem Gelände streng verboten. Außenstehende kommen erst gar nicht rein. Da verwundert es nicht, dass es jede Menge Gerüchte und Spekulationen gibt. Der Einzige, der es mal geschafft hat, heimlich Aufnahmen zu machen, war der Verschwörungstheoretiker Alex Jones. Er filmte die Cremation of Care 2000 und konstruierte einen Zusammenhang zum Baphomet-Kult. Ihr wisst schon, dieses Wesen mit Ziegenkopf, das die Freimaurer angeblich verehrt haben sollen.“

„Moment mal – war diese ganze Baphomet-Geschichte nicht ein Hoax von Leo Taxil?“, warf Ciarán ein.

„Das stimmt. Aber Verbreitungen dieser Art sind bekanntlich sehr schwer wieder unter Kontrolle zu bekommen. Vor allem, wenn sie von bestimmten Interessengruppen bereits instrumentalisiert worden sind. Jedenfalls hält sich seit dem Jones-Video hartnäckig das Gerücht, in Bohemian Grove würden Menschen – vielleicht sogar Kinder – geopfert. Offiziell gilt es jedoch längst als widerlegt.“

„Gab es eine Ermittlung?“

„Charlie! Die politische und wirtschaftliche Elite dieses Landes tummelt sich dort. Die machen, was sie wollen, und kaufen, wen sie wollen. Wer sollte dort Ermittlungen durchführen?“

„Na gut.“ Ciarán griff nach der SD-Card und fixierte sie, als könne er mit bloßem Auge ihren Inhalt entziffern. „Und was genau soll hier jetzt drauf sein?“

Leo seufzte. „Sie haben Caviness getötet, bevor er es mir sagen konnte. Aber was schlimmer ist – bevor er mir den Schlüssel geben konnte. Ich kam ... nur ein paar Minuten zu spät.“

„Was heißt das – getötet? Ich denke, es war ein Herzinfarkt?“

Leo schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie sie’s gemacht haben – aber sie haben ihn auf jeden Fall getötet. Praktisch vor meinen Augen. Es waren NSA-Agenten.“

Ciarán hob die Brauen und schwieg.

Betreten sah Leo den Datenträger in seiner Hand an und schüttelte dann abermals den Kopf. „Wir haben nicht viel Zeit damit verschwendet. Jeff ist ein Spezialist für Chosen Plaintext, nicht für COA. Exhaustion kommt bei dieser Schlüssellänge nicht infrage.“

Ciaráns Blick war noch immer auf die Speicherkarte geheftet. „Also habt ihr nichts?“

„Doch ...“, fuhr Leo zögernd fort, „... wir haben was. Jeff ist sich ziemlich sicher, dass es eine Stromchiffre ist, die einen 128-Bit-Schlüssel benutzt.“

Ciarán blickte auf.

„Er hält es ... für SAVILLE“

„SAVILLE?“ Ciarán hielt einen Augenblick die Luft an. „Wow.“ Eine knisternde Spannung lag in der Luft.

„Jeff Mason ist ein guter Mann“, sagte Ciarán schließlich leise, wie zu sich selbst. „Ihr könnt verdammt stolz sein, dass ihr einen wie ihn da oben habt ...“

Dann wandte er sich seinem Notebook zu und ließ die Karte in den Steckplatz gleiten.

Ralf parkte den Scénic am Straßenrand, stieg aus und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Der Sommersmog wollte einfach nicht weichen in diesem Jahr. Selbst hier oben am Kräherwald, wo die Luft gewöhnlich am besten war, war es an diesem frühen Freitagabend noch drückend schwül. Verschwitzte Yuppiepärchen kamen ihm aus dem Park entgegen, angestrengt mit der Frage beschäftigt, wie man die verbleibenden Stunden bis zur Öffnung von Stuttgarts angesagtester Edeldisco – mit Poolparty, versteht sich! – am besten herumbekommen könne.

Ralf musste grinsen. Es war nun schon über ein Jahr vergangen, seit Luke sein neues Luxusdomizil bezogen hatte, doch noch immer fühlte er sich wie im falschen Film, wenn er ihn hier besuchte. Nicht dass er es ihm nicht gegönnt hätte – wenn einer es verdient hatte, dass Geld in seinem Leben keine Rolle mehr spielte, dann war das mit Sicherheit Lukas! Vor allem, weil er sich überhaupt nicht darum scherte. Erst recht nicht um den Hype, der die Vermarktung von NORT naturgemäß begleitet hatte. Lukes Vorstellung, er könne einfach sein altes Leben weiterleben, wenn sich die Wellen erst mal geglättet hätten, stellte sich allerdings als naiv heraus. Ein weiteres Mal hatte er flüchten müssen, diesmal nicht in die Karibik, sondern in einen sexy Bungalow am Kräherwald, einen Kilometer Luftlinie vom Perkins Park entfernt. Die Adresse kannten nur seine engsten Freunde.

Doch Lukas war weit entfernt davon, ein Boheme-Leben zu beginnen, und schien das Wort „Bungalow“ eher mit „Bunker“ zu verwechseln. Ralf streifte durch die leeren, kühlen Räume und fröstelte fast.

„Hey, Skywalker, wie wär’s mit ein bisschen Einrichtung? Das kann so einen Raum erheblich aufwerten.“

Lukas kam mit zwei Flaschen Club-Mate hinter dem Tresen hervor, der die offene Küche begrenzte. Diese hätte jedem Sternerestaurant zur Ehre gereicht – nur dass nie jemand darin kochte. Er war barfuß, trug Shorts und ein schwarzes T-Shirt, auf dem stand: Besser natürliche Dummheit als künstliche Intelligenz. Die Haare fielen ihm eigenwillig ins Gesicht. Er trug sie länger als früher.