Der Kuckuck - Alexander Schuller - E-Book

Der Kuckuck E-Book

Alexander Schuller

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Beschreibung

Hinter diesem Lächeln lauert dein Tod: Der True-Crime-Thriller »Der Kuckuck« basiert auf dem wahren Fall eines narzisstischen Soziopathen und Frauen-Mörders Während der ehemalige Polizeireporter Stephan Engler versucht, sein Leben als Gastronom in den Griff zu kriegen, leistet er sich einen fatalen Fehlgriff. Denn der gelernte Restaurantfachmann Lukas Friedrich, dem er Arbeit gibt und den er schließlich aus Mitgefühl bei sich wohnen lässt, ist ein narzisstischer Soziopath und geschickter Manipulator, an dessen Händen Blut klebt: Fast zwei Jahrzehnte zuvor hatte er eine Frau brutal erwürgt. Den Ermittlern war es jedoch nicht gelungen, dem »Kuckuck« Lukas den Mord nachzuweisen. Erst als eines seiner späteren weiblichen Opfer den Mut besitzt, Lukas wegen Vergewaltigung anzuzeigen, muss auch Stephan als Zeuge vor Gericht aussagen. Der Täter wird zu einer milden Haftstrafe verurteilt - doch dann kommt durch einen DNA-Abgleich die ganze Wahrheit über Lukas Friedrich ans Licht... Alexander Schuller hat selbst eine Weile mit dem »Kuckuck« in einer Wohngemeinschaft gelebt, ohne zu ahnen, wer sich da in seinem Leben eingenistet hatte. Seine Erlebnisse rund um den wahren Fall machen »Der Kuckuck« zu einem ebenso authentischen wie perfiden True-Crime-Thriller.

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Seitenzahl: 441

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Alexander Schuller

Der Kuckuck

Thriller nach einer wahren Geschichte

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Über dieses Buch

Während der ehemalige Polizeireporter Stephan Engler versucht, sein Leben als Gastronom in den Griff zu kriegen, leistet er sich einen fatalen Fehlgriff. Denn der gelernte Restaurantfachmann Lukas Friedrich, dem er Arbeit gibt und den er schließlich aus Mitgefühl bei sich wohnen lässt, ist ein narzisstischer Soziopath und geschickter Manipulator, an dessen Händen Blut klebt: Fast zwei Jahrzehnte zuvor hatte er eine Frau brutal erwürgt. Den Ermittlern war es jedoch nicht gelungen, dem »Kuckuck« Lukas den Mord nachzuweisen. Erst als eines seiner späteren weiblichen Opfer den Mut besitzt, Lukas wegen Vergewaltigung anzuzeigen, muss auch Stephan als Zeuge vor Gericht aussagen. Der Täter wird zu einer milden Haftstrafe verurteilt - doch dann kommt durch einen DNA-Abgleich die ganze Wahrheit über Lukas Friedrich ans Licht...

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Widmung

Erster Teil

Sonnabend, 17. Juli 1993, 16.30 Uhr

Sonntag, 18. Juli 1993, 7.35 Uhr

Sonntag, 18. Juli 1993, 17.35 Uhr

Sonntag, 18. Juli 1993, 18.45 Uhr

Sonntag, 18. Juli 1993, 20.05 Uhr

Sonntag, 18. Juli 1993, 23.15 Uhr

Montag, 19. Juli 1993, 11.20 Uhr

Freitag, 23. Juli 1993, 10.00 Uhr

Mittwoch, 28. Juli 1993, 9.30 Uhr

Donnerstag, 5. August 1993, 14.45 Uhr

Sonntag, 8. August 1993, 9.50 Uhr

Montag, 9. August 1993, 9.15 Uhr

Montag, 9. August 1993, 13.20 Uhr

Dienstag, 10. August 1993, 16.45 Uhr

Zweiter Teil

Mittwoch, 13. Mai 2009, 23.45 Uhr

Donnerstag, 14. Mai 2009, 14.55 Uhr

Sonnabend, 6. Juni 2009, 21.25 Uhr

Freitag, 19. Juni 2009, 7.30 Uhr

Freitag, 26. Juni 2009, 22.45 Uhr

Sonnabend, 18. Juli 2009, 17.15 Uhr

Sonntag, 19. Juli 2009, 11.15 Uhr

Montag, 20. Juli 2009, 8.45 Uhr

Donnerstag, 17. September 2009, 0.15 Uhr

Sonnabend, 26. September 2009, 3.35 Uhr

Dienstag, 13. Oktober 2009, 10.00 Uhr

Mittwoch, 14. Oktober 2009, 23.45 Uhr

Mittwoch, 9. Dezember 2009, 18.00 Uhr

Dritter Teil

Mittwoch, 9. Dezember 2009, 21.30 Uhr

Donnerstag, 10. Dezember 2009, 16.35 Uhr

Freitag, 18. Dezember 2009, 20.00 Uhr

Freitag, 10. April 2010, 9.00 Uhr

Mittwoch, 19. Oktober 2011, 8.30 Uhr

Freitag, 9. März 2012, 9.00 Uhr

Freitag, 20. Juli 2012, 9.00 Uhr

Epilog

Dienstag, 24. Dezember 2019, 15.50 Uhr

Dieser Roman beruht auf wahren Begebenheiten, Gesprächsprotokollen und Interviews. Die Namen, Schauplätze sowie einige Ereignisse wurden jedoch aus juristischen Gründen und zum Schutz der Persönlichkeitsrechte geändert.

Die Dialoge sind frei erfunden.

Für Marion

Erster Teil

Der Fuchs

Kaum ein einziges anderes Mitglied der ersten Klasse

(der Säugetiere) genießt einen so hohen Ruhm und erfreut sich einer so großen Bekanntschaft wie Freund Reineke, das Sinnbild der List, Verschlagenheit, Tücke, Frevelhaftigkeit und, wie ich sagen möchte, gemeinen Ritterlichkeit.

 

Alfred Edmund Brehm, deutscher Zoologe und Schriftsteller

Sonnabend, 17. Juli 1993, 16.30 Uhr

Dann lass uns ins Strandbad fahren, das hat noch bis 7 Uhr auf, nörgelt Ebi, eigentlich Eberhard, korrekt Eberhard Haller, 24 Jahre alt, dumm wie Brot. Er schnippt seine Kippe aus dem Seitenfenster seines verbeulten Kombi, einem Ford Taunus Turnier, Baujahr 1982, Farbe dunkelblau, in den Kies des Parkplatzes vorm Forsthaus auf der Ilkahöhe über Tutzing, wo sie gerade Rippchen gegessen hatten. Dazu hatte Ebi sich ein großes Radler genehmigt, sein Kumpel Luki, eigentlich Lukas, vollständig Lukas Friedrich, 23 Jahre alt, eine Cola.

Luki, der wie immer bezahlt hatte, trinkt aus Prinzip keinen Alkohol, das allerdings unfreiwillig. Gut 15 Monate zuvor war eine Frau verletzt worden, als er zugedröhnt auf der Bundesstraße 472 bei Bad Heilbrunn kurz über den Mittelstreifen gefahren und seitlich in ihren SUV gekracht war. Eigentlich fast frontal. Danach hatte er sich mit seinem Auto im Straßengraben zweimal überschlagen, es war auf der Fahrerseite liegen geblieben. Ihm war so gut wie nichts passiert; ein paar Kratzer im Gesicht, ein paar Prellungen, ein Schleudertrauma. Ein Wunder, hatten die Feuerwehrleute gemeint, die ihn aus dem Wrack herausgeschnitten hatten. Seine Karre war logischerweise Totalschaden. Sechs Monate später hatte er eine einjährige Bewährungsstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung und Vollrausches in der Öffentlichkeit kassiert und den Führerschein für zwei Jahre abgeben müssen, mindestens.

Lukas steht daher noch die MPU bevor, und auch die Geschichte mit der Versicherung ist noch lange nicht ausgestanden. Alles in allem ist es eine verflucht teure Angelegenheit, doch am meisten nerven ihn der Kurs beim TÜV Süd, an dem er regelmäßig teilnehmen muss, und vor allem die unangekündigten Urintests. Außerdem kosten die Taxifahrten von Tutzing nach Starnberg und zurück ein Heidengeld, wenn Eberhard keine Zeit hat, ihn zu fahren. Denn Lukas hasst das Busfahren, Fahrradfahren sowieso.

Was willst denn im Strandbad, Ebi?

Muschis gucken, feixt Eberhard.

Lukas zieht zweifelnd die Augenbrauen hoch. Herrgott, was für eine dumme Visage dieser Kerl hat. Auch wenn Ebi für seine operierte Hasenscharte nichts kann.

Weißt du vielleicht was Besseres?

Lukas überlegt kurz. Er tut zumindest so. Selbstverständlich weiß er etwas Besseres, weil er im Gegensatz zu Ebi immer etwas vorhat, heute sogar was ziemlich Großes. Vor Lukas liegt das Ziel einer Reise, die vor einigen Monaten begonnen hat. Ein Schimmer Glückseligkeit legt sich über sein Gesicht, weil in diesem Moment Hannelore vor seinem geistigen Auge erscheint, wie sie verschwitzt mit verwuschelter Frisur auf ihrem Bett liegt, ihre Beine spreizt und flüstert: Bitte, Luki, mach’s mir noch einmal!

Hm. Glaub schon, sagt Lukas.

Was hast denn vor?, insistiert Eberhard, der von der Stütze lebt und ab und an als Möbelpacker oder Bauhelfer was nebenher verdient, schwarz, während Lukas im Starnberger Tennisclub die Bar des Clubhauses in Vollzeit schmeißt. Sein zweiter richtiger Job seit seiner abgebrochenen Lehre als Restaurantfachmann, zwischendurch hatte er dies und das getan, jedenfalls nichts Gescheites. Eberhard hat häufig frei, an den Wochenenden sowieso, Lukas dagegen hat sich heute unerlaubt einfach mal freigenommen, obwohl der Sonnabend bei gutem Wetter ein Großkampftag ist. Er hatte am frühen Morgen seinen Chef Georg Keller angerufen, um ihm mit schwacher Stimme mitzuteilen, dass er krank sei. Dass er die ganze Nacht über der Schüssel gehangen hätte. Das kann er sich leisten, denn der Clubwirt, der gleichzeitig als Vereinsvorsitzender des Starnberger Tennisclubs amtiert, hält große Stücke auf ihn. Seitdem Lukas für ihn arbeitet, hat sich der Umsatz um gut zwanzig Prozent erhöht.

Du musst mich heute noch nach Starnberg fahren, sagt die Umsatzrakete. In die Possenhofener Straße, am besten gleich. Ich bin verabredet.

Eberhard, nicht zuletzt sein Sklave, ist ebenso muskulös wie gutmütig. Ein Brecher, aber leider auch ein ziemlicher Depp mit dem IQ einer Weißwurst. Doch mit Deppen kennt Lukas sich aus. Sein jüngerer Zwillingsbruder Ludwig ist nämlich auch einer, bereits von Geburt an. Fahr los, Ebi, drängt er, ich sag dir, wohin.

Kennengelernt haben die beiden sich beim Kehraus am Faschingsdienstag, ein knappes halbes Jahr zuvor, drei Monate nach Lukas’ Prozess. Eine total verrückte Geschichte, sagt Lukas, wenn jemand danach fragt, was allerdings nicht häufig vorkommt; was Eberhard dann immer mit Stolz erfüllt. Diese Geschichte geht so: Lukas hatte in der Starnberger Schützenhalle hartnäckig eine Frau angetanzt, so um die fünfzig, die sich als Salome verkleidet hatte. Genau seine Kragenweite. Es hatte zwischen ihnen gefunkt, doch zwischendurch hatte er pinkeln gehen müssen und sich dann auf der Herrentoilette plötzlich ihrem Ehemann gegenübergesehen, in Begleitung von zwei kräftigen Freunden, die mächtig geladen und nicht lange gefackelt hatten. Lukas hatte eine mordsmäßige Watschen aufs linke Ohr kassiert, war sofort zu Boden gegangen und hatte dann nur noch versucht, sein Gesicht und seinen Unterleib vor den Tritten zu schützen. Der Koloss namens Eberhard, der eben noch furzend neben Lukas am Urinal gestanden hatte, kann zwar bis heute nicht richtig erklären, warum er sich in diese Schlägerei eingemischt hatte, aber Tatsache war, dass er die drei Schläger einen nach dem anderen mit urwüchsiger Gewalt umgehauen und Lukas so vor der Notaufnahme bewahrt hatte, vermutlich sogar vor Schlimmerem. Das Problem mit Betrunkenen ist, dass man sie praktisch totschlagen muss, um zu verhindern, dass sie wieder aufstehen, hatte Eberhard ihm später erklärt. Mit Schlägereien kennt er sich aus. Weißt du, Ebi, sagt Lukas jetzt häufig, du bist vielleicht manchmal ein bisserl langsamer, aber dein Beschützerinstinkt ist überragend!

Im weiteren Verlauf jenes Abends hatte Eberhard ihm dann nach ein paar Hellen treuherzig erzählt, dass er eine günstige Bleibe suchen würde, ziemlich dringend sogar. Denn auf dem Wohnungsmarkt standen wegen seines Schufa-Eintrags, wegen seiner unregelmäßigen Einnahmen und wohl auch wegen seines furchterregenden Aussehens die Chancen schlecht. Wunderbar!, hatte Lukas gerufen und ihm kameradschaftlich auf die Schulter gehauen, Mensch, Ebi, du wirst es nicht glauben, aber ich bin auf der Suche nach einem Mitbewohner, sonst flieg ich aus meiner Wohnung raus. Ich kann mir die Miete allein nicht mehr leisten. Was nicht einmal gelogen war.

So war Ebi nur zwei Tage später mit zwei Kartons und einem halben Dutzend Plastiktüten in seine Tutzinger Zweizimmerwohnung eingezogen. Unser Bullenkloster, sagt Lukas, weil er weiß, dass er Ebi damit zum Lachen bringen kann.

Spendierst mir noch eine Zigarette, Luki?

Kauf dir doch endlich mal eigene! Lukas langt gönnerhaft in seine Packung, gibt seinem Kumpel eine und zündet sich selbst auch eine Zigarette an. Er spürt ein Kribbeln im Bauch, weil er wieder an Hannelore denken muss, Hannelore Plattner, die Mannschaftsführerin der Ü-40-Damenmannschaft des Starnberger Tennisclubs, die schon seit einer geraumen Weile scharf auf ihn ist, und wie. Dabei ist sie mit ihren 47 beinahe ein Vierteljahrhundert Jahre älter als er. Aber für Lukas ist sie ein Schuss, nein, sie ist der Schuss schlechthin. Lebenslustig, charmant, selbstbewusst, erfolgreich, offenherzig. Die Unternehmerin kann es sich eben leisten, immer ein bisschen mehr von dem zu zeigen, was sie besitzt. Sie neigt sogar ein wenig dazu, was sie nicht gerade zum beliebtesten Vereinsmitglied macht. Viele Tennisspielerinnen empfinden Hannelore Plattner als missliebige Konkurrenz. Sie sorgen sich um ihre Ehemänner und sind eifersüchtig auf sie, zum einen, weil sie auch verflucht gut Tennis spielt, zum anderen neuerdings auch wegen Lukas, dem neuen Stern im Vereinslokal. Denn Lukas, der neue Barmann und Kellner, sieht einfach toll aus, groß gewachsen, schlank, nicht zu muskulös, gepflegtes, halblanges Haar, lässig und souverän im Auftreten, gute Manieren, immer aufmerksam und ziemlich reif für sein Alter. Ein richtig fescher Bursche halt. So einen wünscht man sich als Schwiegersohn. Es wäre zu schade, solch ein prächtiges Exemplar links liegen zu lassen.

Lukas selbst weiß am besten, wie es läuft. Die einen führen, die anderen folgen, und bald hatte Hannelore die Initiative ergriffen und damit begonnen, ihrem Luki zu ihren großzügigen Trinkgeldern ein besonders strahlendes Lächeln zu schenken, wobei sie ab und zu keck mit ihrer Zungenspitze über ihre fein geschwungene Oberlippe leckte. Natürlich nur, wenn niemand genau hingesehen hatte. Doch in einem Tennisverein bleibt so etwas nicht lange geheim, sondern befeuert die Gerüchteküche erst recht.

Hannelore Plattner hatte ihn nicht einmal mit der Nase darauf stoßen müssen, dass sie gerne mit dem Feuer spielt. Lukas besitzt dafür eine Antenne, er war jedoch absichtlich zurückhaltend geblieben. Auch wenn sie sich auf dem Clubgelände begegnet waren und ihre Hand seine Hüfte im Vorbeigehen berührt hatte, unabsichtlich, rein zufällig, huch!

Er hatte längst gemerkt, dass Hannelore nicht die einzige Frau in den besten Jahren war, die sich mehr oder minder verstohlen nach ihm umdrehte. Aber sie entspricht nun einmal perfekt seinem Beuteschema, und so hatte Lukas damit begonnen, ihre Avancen zu erwidern, wie es seine Art ist; erst einmal vorsichtig und schüchtern, um nur wenig später in den zweiten Gang hochzuschalten und etwas mehr Gas zu geben. Gleichzeitig hatte er jedoch weiterhin auch die anderen Trockenpflaumen in Hannelores Alter bespaßt. Eine freche Bemerkung hier, ein Luftküsschen da, die Weißweinschorlen oder das Prosecchelchen immer daumenbreit über dem Strich eingeschenkt.

Beinahe jeder im Verein hatte dann gewusst, dass zwischen Hannelore Plattner und Lukas was im Busch war, aber niemand hatte geahnt, dass sie inzwischen nach Feierabend regelmäßig im Clubhaus mit ihm versackte. Begonnen hatten ihre heimlichen Treffen kurz vor Ende der Hallensaison, an einem Dienstag, weil Hannelores Mannschaft immer dienstags trainierte. Als Lukas am letzten Dienstag im März gegen 23 Uhr das Vereinslokal dichtgemacht hatte, war sie urplötzlich im Gastraum erschienen. Frisch geduscht, mit feuchten Haaren, ungeschminkt, in einem türkisfarbenen Trainingsanzug. Sie hatte gut gerochen.

Krieg ich vielleicht noch eine Weinschorle, Luki? Ich weiß, es ist schon spät, und du willst bestimmt Feierabend machen. Ihr Augenaufschlag war sensationell gewesen.

Ach, das passt schon, Frau Plattner. Ich hab ja nix vor.

Ihm war sofort klar gewesen, dass Hannelore Plattner sich nur deshalb so lange in der Damenumkleide aufgehalten hatte, weil sie sicher sein wollte, dass sie allein mit ihm war. Aber er hatte sich nichts anmerken lassen.

Nix vor? Wie, du hast etwa keine Freundin, die auf dich wartet? Komm, schwindle mich nicht an, Luki!

Ich hab nicht mal einen Freund, Frau Plattner. Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen.

Frau Plattner? Ich bitte dich! Hannelore! Und auch nicht Sie, sondern du. Aber, pssst! Das muss unter uns bleiben …

Lukas hatte wortlos den Schlüssel zum Vereinshaus im Schloss umgedreht und stecken lassen, damit niemand von außen aufschließen konnte. Hatte dann die Lamellenwände vor den Fenstern im Barbereich zugezogen und alle Lichter bis auf die schummerige Tresenbeleuchtung ausgeschaltet. Er hatte schüchtern gelächelt. Pssst!

An diesem, ihrem ersten Abend hatte er noch hinter dem Tresen gestanden und Gläser poliert, während sie auf der anderen Seite der Bar auf einem Hocker Platz genommen hatte. Als er ihr die Weinschorle serviert und sich selbst eine Cola genommen hatte, hatte sie sich gewundert, dass er keinen Alkohol trank.

Ich mach mir nichts draus, hatte Lukas gesagt, Sport, was ihr ziemlich imponiert hatte.

Schon seit Längerem treffen sie sich nicht mehr nur noch an den Dienstagen im Clubhaus, wo sie längst nebeneinander an der Bar hocken. Hannelore hatte ihn mittlerweile sogar ein paarmal zu sich nach Hause mitgenommen, wenn ihr Lebensgefährte, ihr Günther, auf Dienstreise war, und Lukas dann die nächtliche Heimfahrt mit dem Taxi nach Tutzing spendiert. Mit ihr gefrühstückt hatte er jedoch noch nie.

Überhaupt war es zwischen ihnen bisher nur zu intensiven Berührungen gekommen, die sie stets forciert hatte. Doch wenn Lukas dann genauso reagiert hatte, wie man es von einem jungen Mann im Allgemeinen erwarten konnte, hatte Hannelore ab einem gewissen Punkt immer wieder abgeblockt. Mehr als heftige Knutschereien und ein bisschen Gefummel waren bisher nicht drin gewesen, obwohl Lukas von Treffen zu Treffen immer mutiger geworden war und ab und zu sogar ihre Hand dorthin gelegt hatte, wo es sich für Hannelore vielleicht angenehm anfühlen musste. Ihre Finger hatten ihn dann zumeist ein paar Augenblicke lang spielerisch inspiziert, fast schon gedankenverloren, aber dann war sie wieder sittsam von ihm abgerückt. Mein Gott, Lukas, was mache ich hier bloß?

Doch Lukas hatte ihr Verhalten akzeptiert. Zwar nicht klaglos, sondern wie ein Gentleman. Er hatte noch nie gebettelt. Er war kein Drängler, sondern gab sich als junger und unerfahrener Mann, obwohl ihn ihre Zurückweisungen schmerzten.

Doch genau dieser Schmerz ist sein bestgehütetes Geheimnis: Der Schmerz erregt ihn und vermag seine Fantasie ins schier Unermessliche zu steigern, jeden Morgen, wenn er duscht. Hannelore beherrscht dieses Spiel, das er so mag, meisterhaft. Aber die ganze Zeit hatte das attraktive Luder nicht bemerkt, dass er derjenige war, der die Regeln bestimmte und den Takt angab.

Heute, an diesem heißen Samstag im Juli, ist Lukas sich sicher, dass es passieren wird.

Er weiß inzwischen, dass Hannelores Sohn Tobias, aus der Ehe mit ihrem früh verstorbenen Mann, in Tübingen Medizin studiert. Er weiß auch, dass sie gerade überlegt, sich von ihrem aktuellen Lebensgefährten zu trennen. Wobei dieser Günther Pfaffmann, der ebenfalls Tennis im Starnberger Club spielt, in Hannelores Kunststofffabrik als Vertriebschef eine Schlüsselposition besitzt und offenbar sehr gut in seinem Job ist. Das macht das Ganze für mich ja auch so schwierig, hatte sie Lukas gegenüber schon öfter geklagt.

Er kann sie gut verstehen. So gut. Doch Lukas hatte mit seiner Meinung von Günther Pfaffmann stets hinterm Berg gehalten, hatte lediglich ab und zu genickt oder den Kopf geschüttelt oder sich missbilligend geräuspert, wenn sie sich über ihn beschwert hatte. Soll sie doch selbst darauf kommen, dass es sich um ein grandioses Arschloch handelt. Wichtiger wäre es jedoch, wenn es Hannelore dann auch noch gelingen würde, aus dieser Erkenntnis die richtige Konsequenz zu ziehen und Günther Pfaffmann aus ihrem Leben zu verbannen.

Lukas hatte sich dann, am letzten Dienstagabend, doch noch weiter als bisher aus dem Fenster gelehnt und ihr brühwarm erzählt, dass ihr Günther ein echter Geizhals wäre. Dass er beispielsweise nach den Medenspielen seiner Herrenmannschaft mit einer Rundenbestellung immer so lange warten würde, bis höchstens noch drei Spieler anwesend waren. Bis dahin hatte er auf Kosten der anderen Tenniskameraden fleißig mitgetrunken, aber niemand würde nun behaupten können, dass Günther Pfaffmann keine Runden zahlte.

Jaja, Günther und das Geld, hatte Hannelore geseufzt. Da weiß ich inzwischen auch nicht mehr so recht, ob ich ihm trauen kann.

Dazu kann ich aber jetzt echt nichts sagen, hatte Lukas treuherzig entgegnet. Das geht mich nichts an. Ich bin hier nur Barmann und hab gerade viel zu viel gequatscht.

Red doch keinen Schmarrn, Luki! Ich sehe doch ganz genau, wer du in Wahrheit bist. Und zwar ein sehr talentierter und attraktiver junger Mann mit guten Manieren, der mit Sicherheit mehr zu bieten hat, als mit einer alten Schachtel wie mir zu poussieren – du Schlawiner, du!

Wenn du das sagst! Dabei habe ich das nicht mal gelernt, das Kellnern, meine ich. Es liegt mir halt. Ich bin da reingewachsen. Meine Eltern … Meine Eltern besitzen ein Hotel, weißt du? Gar nicht weit von hier, in Bad Tölz. Vielleicht kennst du es sogar, hatte Lukas herumgedruckst.

Ach so ist das? Ich habe mich schon öfter gefragt …

Es ist das Friedrich in Bad Tölz, sagt Lukas. Endlich ist es heraus, und Hannelore steigt voll darauf ein.

Nein, sag bloß: Das Hotel Friedrich! Natürlich, du heißt ja auch mit Nachnamen Friedrich! Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin! Aber dann verstehe ich nicht, dass du hier beim Schorsch arbeitest und nicht in eurem Hotel.

Seine Miene wird ernst. Hannelore, darüber möchte ich nicht so gerne reden. In unserer Familie haben wir leider massive Probleme. Das hat was mit dem Unfall meines Vaters zu tun, aber das geht niemanden was an.

Mein Gott, ich erinnere mich dunkel. Der Unfall deines Vaters stand damals in der Zeitung, nicht wahr? Das tut mir leid, Lukas. Wie lange ist das jetzt her?

Ich war drei Jahre alt, als er in Berchtesgaden mit meinem Großvater abgestürzt ist. Auf der Jagd. Ich habe beide kaum gekannt.

Wie furchtbar!

Kann ich komischerweise nicht sagen, Hannelore. Wie gesagt, ich war noch sehr klein, als sie starben.

Du weißt, dass ich meinen Ehemann ebenfalls sehr früh verloren habe? Lukas nickt. Verfluchter Krebs, sagt Hannelore leise, mit nicht mal vierzig! Gibst du mir noch eine Schorle?

Mit Eis?

Das weißt du doch, Luki. Immer mit Eis!

Er geht um den Tresen herum, nimmt ein frisches Weinglas, mixt die Weinschorle und serviert sie. Auch wenn du offenbar nur ungern darüber sprichst, Luki, ich bin nun einmal ein bisschen neugierig, jetzt, wo wir uns doch schon etwas näher kennengelernt haben, sagt Hannelore Plattner. Ich würde dich gerne einmal fragen, wie diese Probleme …

Lukas hatte unschlüssig hinter dem Tresen verharrt und dabei seinen Kopf gesenkt. Sie hatte ihren Fauxpas sofort bedauert und seine Hand genommen.

Verzeih mir, ich wollte dir nicht zu nahe treten!

Ist schon gut, Hannelore … Na gut, wenn du es genauer wissen willst: Da ist zum einen mein Stiefvater, dieses Ekelpaket. Genau genommen sind es sogar drei Probleme, denn da sind ja noch meine neurotische Mutter und mein Zwillingsbruder Ludwig, der behindert ist – also, in echt jetzt, ein schrecklicher Geburtsfehler. Ich bin wahrscheinlich der einzig Normale in unserer Familie, glaube ich jedenfalls. Und deshalb bin ich wohl auch das schwarze Schaf … Aber das alles darf wirklich niemand wissen.

Von mir erfährt doch niemand was, Luki, hatte Hannelore Plattner geflüstert! Pssst!

Was war eigentlich vorgestern auf dem Platz mit deinem Mann los? Lukas hatte beschlossen, das Thema zu wechseln.

Mit Günther? Hannelore hatte sofort die Augen verdreht und sich auf die Unterlippe gebissen. Erinnere mich bloß nicht daran!

Im Club war es bekannt, dass Hannelore und Günther sehr ehrgeizig waren. Günther Pfaffmanns Manko jedoch war, dass Hannelore besser spielte als er. Viel besser. Sie setzte seiner überlegenen Physis stets ihre gefühlvolle Technik entgegen, platzierte ihre Bälle mal links und mal rechts, meistens genau in die Ecken des Spielfelds, oder sie lockte ihn mit Stopps ans Netz, um ihn dann eiskalt zu passieren. An der Grundlinie war die Nummer eins der Ü-40-Damen eine lebende Gummiwand.

Günther Pfaffmann, der nach einer halben Stunde mit hochrotem Kopf über den Platz gekeucht war, hatte zunehmend auch leichte Bälle ins Aus gedroschen und war immer wütender geworden. Lukas hatte dann von der voll besetzten Terrasse des Clubhauses aus genau beobachten können, wie er versucht hatte, seine Lebensgefährtin aus wenigen Metern Entfernung abzuschießen, mit voller Absicht, als Hannelore sich einmal selbst ans Netz vorgewagt hatte. Zum Glück war die Kanonenkugel um wenige Zentimeter an ihrem Kopf vorbeigezischt. Sie hatte daraufhin das Match sofort abgebrochen und den Platz verlassen, war in ihren Porsche gestiegen und weggefahren. Der düpierte Günther Pfaffmann hatte den Platz abgezogen, war wie ein geprügelter Hund außen ums Clubhaus herum in die Herrenumkleide geschlichen und hatte sich im Clublokal nicht mehr blicken lassen. Dieses Match war im Club das Tagesgespräch gewesen.

So was tut man doch nicht, wenn man sich liebt! Lukas hatte seine Entrüstung nicht verborgen.

Liebt? Ich weiß es im Moment nicht so genau. Aber Günther hat auch seine guten Seiten.

Das musst du ja am besten wissen. Lukas hatte sich mit beiden Händen auf dem Tresen abgestützt, sich leicht zu ihr hinübergebeugt und ihr fest in die Augen gesehen. Ich weiß nur, dass du in letzter Zeit traurig wirkst, irgendwie bedrückt. Was fasziniert dich an ihm …? Entschuldige, darf ich das überhaupt fragen?

Sie hatte erneut ihre Hände auf seine gelegt. Nein, Lukas, du darfst nicht fragen, hatte sie gesagt. Das ist mir nun doch ein wenig zu intim. Aber du sollst wissen: Ich bin froh, dass Günther seit vergangenem Montag in Tschechien und Polen unterwegs ist. So habe ich noch mindestens eine Woche meine Ruhe.

Noch einen Absacker? Lukas hatte seine Hände zurückgezogen. Geht aufs Haus! Schorsch wird es nicht merken! Pssst!

Als sie sich eine Viertelstunde später auf dem dunklen Parkplatz, verborgen hinter einem dichten Rhododendron, voneinander verabschiedet hatten, war es zu einem langen, feuchten Kuss gekommen. Lukas hatte Hannelores Körper gestreichelt, überall. Sie hatte leise gestöhnt und sich bei ihm revanchiert, hatte ihre Hand zum ersten Mal in seine Hose geschoben und ihn massiert, bevor sie sich einmal mehr dazu entschlossen hatte, auf halber Strecke auszusteigen. Doch als sie in ihren Porsche geklettert war, hatte sie anders gelächelt als sonst. Er hatte Glanz in ihren Augen gesehen, und ihre Stimme hatte rau geklungen, ein wenig heiser: Heute geht es leider nicht, Luki. Tobias fährt erst am Freitagmorgen zurück nach Tübingen zu seiner Freundin. Aber – sie hatte eine lange Pause eingelegt – wir beide finden bestimmt noch zusammen, vielleicht ja schon am Wochenende? Ich bin schließlich Strohwitwe … Sie hatte gezwinkert. Ganz bezaubernd.

Das sollte doch klappen, hatte Lukas geantwortet. Was hätte er sonst sagen können? In seine Tutzinger Drecksbude, wo Eberhard in diesem Moment bestimmt wieder ein abgenudeltes Pornovideo guckte, konnte er sie ja schlecht einladen. Aber entscheidend war sowieso nur, dass Hannelore endgültig angebissen hatte. Dass sie bereit für ihn war.

Dann also bis bald, hatte sie gesagt und Gas gegeben. Der Motor hatte aufgebrüllt, die Hinterreifen hatten durchgedreht, und der Kies hatte gespritzt. Eigentlich hätte sie nicht mehr fahren dürfen.

***

So, Ebi, hier kannst mich jetzt rauslassen, sagt Lukas, als sie Hannelore Plattners Villa in der Possenhofener Straße erreichen. Ein Seegrundstück. Er setzt seine verspiegelte Sonnenbrille auf, kontrolliert den Sitz seiner Haare im Spiegel der Sonnenblende, greift nach hinten auf die Rückbank, schnappt sich die Sechser-Schachtel mit neuen Tennisbällen und öffnet die Beifahrertür, kaum dass der Kombi ruckelnd zum Stehen gekommen ist.

Wow, sagt Ebi. Wer wohnt denn hier?

Manno, Ebi! Ein Hirn wie ein Sieb! Hannelore Plattner. Du weißt doch, die Tennislady, von der ich dir erzählt hab! Ich sag dir, das ist eine Superhütte, mit Sauna, Whirlpool, Bootssteg und Bootshaus …

Wie geil. Eberhard stellt den Motor ab und löst seinen Gurt.

Lukas sieht ihn verwundert an. Was machst du da?

Ich denke, wir besuchen jemanden.

Lukas schüttelt den Kopf. Bist du narrisch, Ebi? Du besuchst garantiert niemanden, sondern du wartest hier. Ich muss erst mal checken, ob die Luft rein ist. Aber pass auf, hier! Lukas klaubt aus der Seitentasche seiner kakifarbenen Bermudashorts ein Bündel Scheine hervor und zählt fünf Zwanziger ab. Eberhard starrt ungläubig auf das Geld. Nun nimm schon, sagt Lukas gönnerhaft. Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, kannst du ins Strandbad fahren und Muschis gucken, bis du blind wirst. Wir sehen uns dann erst morgen Abend.

Ich soll also jetzt hier auf dich warten?

Ja. Und zwar genau eine halbe Stunde lang. Hast du es kapiert?

Klar doch. Wie willst du aber nach Tutzing zurückkommen?

Ebi, denk nach! Ich geh morgen von hier aus zur Arbeit in den Club. Du holst mich dann am Abend ab, wie immer. Ich ruf dich an, wenn ich weiß, wann ich Feierabend habe. Wird bestimmt nicht später als zehn.

Na gut, sagt Eberhard. Hast du vielleicht noch was zu rauchen?

Lukas reicht ihm seine halb volle Schachtel. Hier, nimm, ich habe noch eine!

Eberhard steckt den Daumen seiner rechten Hand zwischen Zeigefinger und Mittelfinger und grinst dabei. Zeig es ihr, Tiger!

Worauf du einen lassen kannst, sagt Lukas lachend. Er klopft ihm anerkennend auf die Schulter. Das tut er häufig. Bist echt ein Kumpel, Ebi! Dann steigt Lukas aus und sieht sich unauffällig um. Bis auf einen alten Mann, der in einiger Entfernung den schmalen Grünstreifen zwischen Bürgersteig und Gartenmauer mit einem Rechen harkt, haben sich die vernünftigen Menschen in den Schatten verkrochen.

Das automatische Gartentor ist offen. Na bitte. Lukas schlendert durch die breite Toreinfahrt auf die imposante weiße Walmdachvilla zu, die sich hinter einer dichten Ligusterhecke versteckt. Direkt hinter der Hecke erhebt sich zusätzlich noch ein zwei Meter hoher Zaun mit scharfen Spitzen. Aber es gibt keine Kameras. Hannelores Porsche-Cabrio parkt mit offenem Verdeck auf der gepflasterten Einfahrt vor der leeren Doppelgarage, die penibel aufgeräumt und sauber ist. Sogar der grau gestrichene Betonboden ist makellos.

Lukas hatte jedoch noch nie so etwas wie Ehrfurcht vor diesem Anwesen mit seinen bestimmt 400 bis 500 Quadratmetern Wohnfläche besessen. Denn in Bad Tölz war er in ähnlich großzügigen Verhältnissen aufgewachsen. Ohne Bootshaus natürlich, dafür aber besitzt seine Familie eine Alm mit einer luxuriösen Jagdhütte unter dem Watzmann-Massiv bei Berchtesgaden.

Schräg vor der überdachten zweiflügligen Haustür hatte Günther Pfaffmann eine mannshohe Vogeltränke aus Edelstahl aufstellen lassen. Die Installation eines Künstlers soll eine Pferdetränke darstellen, wie man sie aus amerikanischen Western kennt. Es stecken sogar ein paar stählerne Indianerpfeile darin, angeschweißt, Neureichenscheiß eben. Hannelore findet das Kunstwerk doof: totale Geldverschwendung. Typisch Günther!

Er klingelt, doch es dauert eine Weile, bis sie an die Tür kommt. Zuerst bewegt sich der Vorhang hinter dem schmalen Fenster zur rechten Seite der Haustür, und dann reißt sie auch schon die Tür auf, in einem weißen Frotteebademantel, der halb offen ist, barfuß, frisch geschminkt, mit leuchtend rot lackierten Fußnägeln. Sie ist überrascht. Lukas kann einen kurzen Blick auf ihren roten Spitzen-BH und das passende Höschen erhaschen. Auf ihr Dekolleté, in dem ein paar Falten zu viel auf zahllose intensive Sonnenbäder hinweisen. Hier bin ich, sagt Lukas. Er streckt ihr den Karton mit den Tennisbällen entgegen. Die sind für dich! Aber er merkt: Irgendwas stimmt nicht.

Denn Hannelore sieht alles andere als erfreut aus, und das irritiert Lukas in diesem Moment nun doch ein wenig. Sie zerrt ihn am Ärmel seines verwaschenen Polohemdes ins Haus hinein und schließt geräuschvoll die Eingangstür.

Was machst du hier, Luki? Am helllichten Tag!

Er stutzt. Du hast mich doch eingeladen.

Was habe ich? Sie tritt einen Schritt zurück und bindet ihren Bademantel zu.

Hallo? Am vergangenen Dienstag! Dein Sohn wäre ab Freitag in Tübingen und Günther in Tschechien und Polen unterwegs. Das hast du gesagt. Und dann hast du mich angefasst und ich dich, und es hat dir, glaube ich, gut gefallen, und dann hast du gesagt, dass du mich am Wochenende erwarten würdest …

Hannelore Plattner seufzt. Na ja, so explizit habe ich es zwar nicht ausgedrückt, aber gut, stimmt schon, sagt sie leise. Sie atmet tief ein. Doch das hätte nicht passieren dürfen. Sie nimmt ihm den Sechser-Karton Tennisbälle ab und legt ihn auf die Kommode. Neben ihre Handtasche. Wofür denn die Bälle?

Statt Blumen, sagt Lukas lächelnd. Ein paar Sekunden lang herrscht verlegene Stille. Es ist aber passiert, sagt er dann. Ich meine, deutlicher geht es doch nicht. Und jetzt bin ich hier.

Ja, schon, aber weißt du, Luki: Es haben sich ein paar Dinge verschoben.

Wie, verschoben?

Die Umstände ändern sich gerade. Hannelore Plattner weicht zurück, bis an den Fuß der Treppe, die nach oben in ihr Reich führt. Dorthin, wo Lukas bisher noch nicht gewesen ist. Über den Küchentresen und die Couch im Wohnzimmer sind sie noch nicht hinausgekommen. Sie wirkt auf einmal fahrig.

Verstehe ich jetzt nicht, sagt Lukas. Er fühlt Schmerz, nur fühlt der sich jetzt nicht gut an.

Es ist so, Lukas: Günther hat angerufen. Er kommt früher nach Hause. Schon heute Nacht … Und außerdem bin ich für den Abend schon verabredet.

Ja, genau. Mit mir, sagt Lukas selbstbewusst und reckt sich.

Nein, nicht mit dir. Aber das geht dich auch nichts an. Wir beide sehen uns am Dienstag im Club, und dann reden wir. Einverstanden?

Reden? Aus seinem Schmerz wird Zorn. Das fühlt er deutlich.

Hannelore Plattner lässt ihre Schultern hängen. Also gut, sagt sie, warte bitte kurz. Ich möchte mir nur rasch was anziehen. Aber ich habe wirklich nur ein paar Minuten Zeit.

Sie läuft flink die Treppe hinauf in den ersten Stock und verschwindet um eine Ecke. Lukas zögert keine Sekunde und folgt ihr. Auf dem dicken Wollteppich kann man keine Schritte hören.

Er überrascht sie in ihrem Schlafzimmer. Hannelore Plattner steht in ihrer roten Unterwäsche vor einem riesigen Kleiderschrank. Ihren Bademantel hat sie achtlos aufs Bett geworfen. Sie langt nach einem roten Sommerkleid mit Rosenmuster, aber es gelingt ihr nicht mehr, es vom Bügel herunterzunehmen und überzustreifen. Weil sie in diesem Moment von hinten umarmt und rücklings aufs Bett geworfen wird. Schon ist er über ihr.

Luki! Spinnst du?, ruft sie erschrocken.

Ich glaube eher, du spinnst, sagt er, und kniet sich auf ihre Oberarme. Wie früher, als er mit seinem Bruder im Garten so lange Muskelreiten gespielt hatte, bis Ludwig Rotz und Wasser geheult hatte. Danach hatte es von seiner Mutter regelmäßig Ohrfeigen gesetzt, Zimmerarrest und Fernsehverbot.

Was soll denn das werden? Aua, du tust mir weh.

Nach was sieht es für dich aus? Du verarschst mich heute jedenfalls nicht.

Wie redest du denn mit mir? Hör mal, Lukas: Ich schrei gleich die ganze Nachbarschaft zusammen, du Tschapperl …

Tschapperl nennst du mich? Er spricht ganz ruhig. Ich versteh dich einfach nicht, Hannelore. Du willst es doch auch. Er beugt sich hinunter und versucht, sie zu küssen. Sie presst ihre Lippen aufeinander. Als es ihm dennoch gelingt, seine Zunge zwischen ihre Lippen zu stecken, beißt sie zu. Lukas zuckt zurück. Herrgott, tut das weh. Aber er kann kein Blut schmecken.

Geh verdammt noch mal runter von mir! Dann ruft Hannelore Plattner um Hilfe, und Lukas kann sich nun davon überzeugen, dass sie wirklich laut schreien kann. Und dass sie erstaunlich viel Kraft besitzt.

Hör auf, sagt Lukas streng. Hör auf zu schreien. Du hast eh keine Chance! Hört dich doch niemand! Also, gib Ruhe! Er knetet mit seinen Knien ihre Oberarme, verstärkt den Druck. Hannelore Plattner jault vor Schmerzen auf, brüllt dann noch lauter um Hilfe und versucht gleichzeitig, Lukas mit allen Mitteln abzuwerfen. Sie denkt nicht daran, Ruhe zu geben. Sie ist eine Kämpferin, wie auf dem Tennisplatz. Ihr rechtes Knie trifft ihn in der Nierengegend. Das macht Lukas noch zorniger, vor allem aber ist es ihr elendes Gezappel, das ihn nervt. Einen Moment lang denkt er daran, ihr eine Ohrfeige zu verpassen, doch dann besinnt er sich eines Besseren, langt nach ihrem Kopfkissen und presst es mit aller Kraft auf ihr Gesicht. Halt endlich dein Scheißmaul! Das hält doch kein Mensch aus!

Hannelore Plattner windet sich unter seinem Gewicht wie eine Schlange. Stemmt ihr Becken hoch, versucht erfolglos eine Brücke, um dann ihre sehnigen, trainierten Beine von hinten über seinen Kopf zu bringen. Lukas macht einen krummen Rücken und presst das Kissen mit beiden Händen noch fester auf ihr Gesicht.

Auf einmal merkt er, dass ihre Widerstandskraft nachlässt. Ihre Beine sind ausgestreckt und zucken. Er wartet aber lieber noch ein wenig ab, lupft dann neugierig das Kissen, um nach ihr zu sehen. Hannelore Plattners Augen sind geschlossen. Sie scheint nicht mehr zu atmen. Ihr Make-up ist merkwürdigerweise kaum verschmiert. Lukas legt das Kissen zur Seite und tätschelt ihre Wangen. Hast du dich jetzt endlich beruhigt?

In diesem Moment reißt Hannelore Plattner ihre Augen auf und saugt gierig Luft in ihre Lungen ein. Es hört sich an wie das Krächzen einer Eisensäge, die sich mit stumpfen Zähnen durch Metall frisst. Dafür werde ich dich anzeigen, Lukas, du mieses Schwein! Sie hustet. Und jetzt geh verdammt noch mal runter von mir … Hau ab! Verschwinde! Raus aus meinem Haus! Ihre Stimme ist nur ein heiseres Röcheln.

Das wirst du bestimmt nicht tun, sagt er. Seine Stimme ist noch leiser geworden. Denn nur du bist schuld daran, dass das hier gerade ein bisschen eskaliert ist. Du allein! Sein Blick fällt auf ihren Bademantel, der neben dem Bett auf den Boden gerutscht ist.

Sie starrt ihn ungläubig an. Öffnet ihren Mund, um etwas zu sagen, aber ihre Stimme versagt endgültig.

Warum hast du alles kaputt gemacht zwischen uns? Aber ihre Antwort wäre ihm jetzt egal, denn er hat keine Lust mehr auf Diskussionen. Er bückt sich hinunter und zieht den Gürtel aus den Schlaufen des Bademantels heraus. Er muss ein wenig daran zerren, doch schließlich hält er ihn in den Händen. Als er wieder hochkommt, spürt er einen leichten Stich an seinem Kinn, so als ob er sich beim Rasieren geschnitten hätte. Hat sie etwa gerade versucht, ihn zu schlagen? Das muss man sich einmal vorstellen! Doch ihre Faust hat seine Wange nur ganz leicht gestreift. Mehr hast du nicht drauf, du blödes Miststück?

Lukas springt federnd auf, packt ihre Beine an den Knöcheln und zieht sie mit einem einzigen Ruck vom Bett auf den Boden hinunter. Ihr Kopf prallt mit einem dumpfen Laut auf den Teppichboden und fällt kraftlos zur Seite. Blöde Nutte! Er dreht die Wehrlose auf den Bauch, kniet sich auf ihren Rücken, schlingt den Frotteegürtel zweimal um ihren Hals und zieht dann an beiden Enden. Er zieht so lange, bis irgendwas in ihrem Hals knackt.

Ganz ruhig liegt Hannelore Plattner nun da. Kein Gekeife mehr. Kein Rumgezappel. Nur eine wunderbare Stille. Schon geht es ihm besser. Lukas schaut sich um, dann hinunter auf Hannelore Plattner. Vielleicht sollte er jetzt rasch ein wenig aufräumen.

***

Als Lukas seinen Chauffeur im dunkelblauen Kombi sitzen sieht, der brav auf ihn wartet, fällt es ihm ein, kurz auf seine Armbanduhr zu schauen. Nur 19 Minuten hat sein Besuch bei Hannelore gedauert, alles in allem.

Eberhard glotzt Lukas an, als die Beifahrertür auffliegt. Ich wollte gerade losfahren. Hast sie doch nicht flachgelegt?

Blöderweise ist was dazwischengekommen. Lukas gleitet auf den Beifahrersitz und schließt die Tür. Das glaubst du nicht, Ebi, sagt er entrüstet und winkt genervt ab, ihr bescheuerter Freund kommt heute schon von seiner Dienstreise zurück. Dieser Penner hat genau in dem Moment angerufen, als sie vor mir gekniet und meine Hose heruntergezogen hat.

Das gibt’s wirklich nicht, Luki, staunt Eberhard.

Lukas atmet tief durch. O doch, das gibt’s! Hose wieder hoch und servus, Papa … Versaut mir dieser Arsch doch tatsächlich den Fick des Jahrhunderts. Na ja. Lass uns mal besser von hier verschwinden. Ich möchte nicht, dass Hannelore meinetwegen noch Ärger mit ihrem Macker bekommt.

Versteh ich gut, sagt Eberhard und startet den Motor. Der Anlasser dreht ein paarmal durch, doch dann springt der Motor an. Scheißkarre.

Ich glaub, du brauchst langsam doch mal einen neuen. Lukas lächelt. Willst du eine Zigarette, Ebi?

Eberhard langt beherzt zu und steckt sich die Zigarette in den Mund, obwohl die halb volle Schachtel, die Lukas ihm vorhin großzügig überlassen hatte, vor ihm auf dem Armaturenbrett liegt. Und wohin fahren wir jetzt? Der Tag ist noch lang!

Gib mir erst mal meine hundert wieder, sagt Lukas streng. Er schnippt mit den Fingern. Als ihm Eberhard etwas widerstrebend die fünf Zwanziger hinhält, steckt Lukas die Scheine wortlos ein. Dann tippt er sich an die Stirn. Seine Miene hellt sich auf. Ebi, was hältst du davon: Wir fahren jetzt noch mal kurz ins Strandbad, danach lade ich dich zum Jugo ein, und hinterher gehen wir ins Luna.

Echt jetzt?

Na klar, sagt Lukas lachend und schlägt seinem Kumpel mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Scheiß auf die Weiber!

Genau! Alles Fotzen außer Mutti, ruft Eberhard. Sagst du doch immer!

So ist es. Wir Männer müssen zusammenhalten … Schau, da vorn in der Einfahrt, da kannst du wenden.

Der Alte von vorhin ist verschwunden. Die Possenhofener Straße ist menschenleer. Ist auch besser so, denkt Lukas. Und jetzt: einfach abhaken, die eingebildete Kuh. Hannelore Plattner ist Geschichte. Er freut sich auf eine Grillplatte für zwei.

Sonntag, 18. Juli 1993, 7.35 Uhr

Der Notruf aus der Possenhofener Straße geht um 7.35 Uhr in der Polizeidirektion Starnberg ein. Zwölf Minuten später, um 7.47 Uhr, fahren zwei Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht auf das Grundstück. Der Hausherr steht rauchend, in Unterhosen und T-Shirt, vor der geöffneten Haustür.

Vier Polizisten springen aus dem Streifenwagen. Herr Pfaffmann? Ich bin Hauptkommissar Peter Oberländer, sagt einer von ihnen.

Ja, ich hatte angerufen. Meine Lebensgefährtin! Hannelore … Günther Pfaffmann zittert. Sie ist tot. Kommen Sie schnell, bitte! Er geht ins Haus hinein. Die vier Polizisten folgen ihm die Treppe hoch.

Günther Pfaffmann bleibt vor der geöffneten Schlafzimmertür stehen. Ich habe Hannelore heute Morgen nach dem Aufwachen im Kleiderschrank gefunden … Hier, in unserem Schlafzimmer. Ich glaub, sie ist erwürgt worden.

Ist noch jemand im Haus?

Nein, ich bin allein. Er zeigt in den Raum hinein. Im Kleiderschrank.

Bleiben Sie hier stehen, Herr Pfaffmann, sagt Peter Oberländer. Gustl, pass du mir bitte auf den Herrn auf.

Ach du Scheiße, flüstert Oberländer, als sie Hannelore Plattners Leiche im Kleiderschrank sehen. Ihr Kopf steckt in einer Schlinge. Ein Elektrokabel ist an der Kleiderstange festgebunden und stramm gezogen. Eine ganz normale Verlängerungsschnur. Es sieht danach aus, als ob Hannelore Plattner sich erhängt hätte. Sie sitzt im Schrank, den Rücken an die linke Seitenwand gelehnt, die Beine flach ausgestreckt, wie ein großes L. Ihr Gesicht ruht auf ihrer Brust, ihre Zunge hängt halb aus dem Mund heraus. Es riecht schwach nach Urin. Typisch für einen Tod durch Strangulation. Oberländer streift sich Gummihandschuhe über und befühlt die Halsschlagader. Ihre Haut ist kalt. Nach wenigen Sekunden schüttelt er den Kopf. Gustl, führst du Herrn Pfaffmann bitte nach unten?

Hübsche Frau, flüstert Roland Ernst, der junge Polizeihauptwachtmeister.

Willst du vielleicht noch ihre Unterwäsche kommentieren, blafft ihn sein Vorgesetzter an.

’tschuldigung, Peter.

Schaut euch mal die Abschürfungen an, sagt Fritz Brunner, ebenfalls Hauptwachtmeister, aber schon älter und dementsprechend erfahren. Er knipst seine Taschenlampe an und leuchtet auf den Hals der Toten. Das Weiße da: Sind das nicht Stofffasern? Und die Haut ist aufgeschürft. Ich glaub nicht, dass es sich um einen Suizid handelt.

Könnte gut sein. Aber, Moment, sagt Oberländer, da ist noch was. Er öffnet die zweite Schranktür. Auf dem Boden des Kleiderschranks liegen ein zerknüllter weißer Bademantel und der dazu passende Gürtel. Offensichtlich achtlos hineingestopft.

Da hat es jemand eilig gehabt, konstatiert Brunner.

Und das Schlafzimmer ist definitiv der Tatort, fügt Oberländer hinzu und sieht sich um. Dabei fällt ihm das einseitig genutzte Doppelbett ins Auge. Darauf wird er den Herrn gleich ansprechen. Ich habe sie nach dem Aufwachen im Kleiderschrank gefunden, hatte er am Telefon gesagt. Jedenfalls dann, wenn Günther Pfaffmann in der Lage sein sollte, zu antworten. Also, nix anfassen, Leute, bis die KTU eintrifft, sagt Oberländer. Fritz, gib Folgendes an unsere Kollegen in FFB durch. Die sollen das große Besteck mitbringen. Und du, Roland, sicherst draußen das Grundstück ab.

FFB steht für Fürstenfeldbruck, Sitz der Kriminalpolizeiinspektion, zuständig für die vier Landkreise Dachau, Fürstenfeldbruck, Landsberg und Starnberg.

***

Wenig später sitzt Oberländer dem Zeugen Günther Pfaffmann am Küchentresen gegenüber. Der Hausherr hat sich einen Jogginganzug überstreifen dürfen. Pfaffmann stützt sein Kinn in die linke Hand. Sein Blick ist leer. Plötzlich blickt er den Hauptkommissar an. Kann ich mir einen Kaffee machen? Möchten Sie vielleicht auch einen? Ist nur ein Knopfdruck! Ich wollte mir ja vorhin einen machen, als …

Peter Oberländer runzelt die Stirn. Als was? Doch Günther Pfaffmann antwortet nicht auf seine Frage. Der Hauptkommissar weiß: Je frischer die Tat, desto mehr neigen Täter dazu, sich um Kopf und Kragen zu reden. Es ist eine alte Polizistenweisheit, und Oberländer hat nur noch fünf Jahre bis zu seiner Pensionierung.

Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, sagt Günther Pfaffmann. Er dreht sich Hilfe suchend zu seinem Bewacher um, der an der Arbeitsplatte lehnt. Rechts hinter ihnen steht die Kaffeemaschine. Gustl, nicht wahr? Also, Herr Gustl …

Haringer!

Entschuldigung. Herr Haringer: Könnten Sie die Maschine einschalten? Ich brauche jetzt unbedingt einen Kaffee.

Da explodiert aber nix, oder, Herr Pfaffmann?

Seh ich vielleicht wie ein Bombenleger aus? Günther Pfaffmann lächelt hilflos.

Das weiß man nie, entgegnet der Hauptkommissar. Er wendet sich an Haringer, den alle nur Gustl nennen. Schau in Gottes Namen nach – und wenn alles in Ordnung ist, machst du dem Herrn seinen Kaffee. Ich nehme inzwischen die Personalien auf.

Über der Kaffeemaschine ist ein Schrank. Darin befinden sich die Tassen, fügt Günther Pfaffmann hinzu. Oberländer kommt aus dem Staunen über die Selbstbeherrschung dieses Mannes nicht heraus.

Fünf Minuten später sind alle Personalien geklärt: Die Tote im Kleiderschrank heißt Hannelore Plattner, geborene Seemann, Alter 47, Inhaberin der KuSto GmbH in Wolfratshausen, einem Spezialbetrieb für Industriekunststoffe, verwitwet, Mutter eines erwachsenen Sohnes, Tobias, 22. Das vermeintliche Häufchen Elend gegenüber heißt Günther Pfaffmann, ist 43 Jahre alt und Lebensgefährte des Opfers, als Vertriebsleiter in der Firma der Getöteten beschäftigt. Beide sind ordnungsgemäß in der Possenhofener Straße in Starnberg gemeldet. Der Sohn studiert in Tübingen Medizin und wohnt nach den Angaben Günther Pfaffmanns im Josef-Unger-Haus, einem Studentenwohnheim, wo er sich seit vergangenem Freitag auch aufhalten soll.

Der Hausherr führt vorsichtig eine Tasse Kaffee zum Mund. Oberländer bemerkt, dass Günther Pfaffmanns Hände nicht mehr zittern.

Wir sind vorhin unterbrochen worden, Herr Pfaffmann. Sie sagten, als …

Als was?

Sie sagten, Sie hätten sich gerade einen Kaffee machen wollen, als …

Ja, als mir plötzlich einfiel, dass Hannelore im Kleiderschrank sein könnte.

Wie sind Sie denn darauf gekommen?, fragt der Hauptkommissar, beinahe amüsiert. Erzählen Sie, am besten von Anfang an. Lassen Sie sich Zeit. Jede Einzelheit könnte wichtig sein.

Da gibt es eigentlich gar nicht so viel zu erzählen. Ich war für unser Unternehmen, also Hannelores Firma, in Bratislava und in Prag und wollte eigentlich nach Polen, genauer, nach Krakau, weiterfahren. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, ich müsste zurück. Ich habe sie dann von unterwegs aus noch angerufen, und in Nürnberg habe ich ihr dann einen großen Strauß Rosen gekauft.

Wie meinen Sie das, Sie hatten das Gefühl, Sie müssten zurück?

Günther Pfaffmann stellt die Kaffeetasse ab. Wir hatten etwas stürmische Zeiten, wissen Sie.

Nein, das weiß ich nicht, sagt der Hauptkommissar. Aber ich weiß, dass es zu meinen Pflichten gehört, Sie jetzt noch einmal darauf hinzuweisen, dass alles, was Sie sagen, in einem Ermittlungs- oder Strafverfahren auch gegen Sie verwendet werden kann.

So ein Quatsch. Ich erzähle Ihnen alles genau so, wie es gewesen ist. Wie ich Hannelore gefunden habe. Günther Pfaffmann nimmt einen weiteren Schluck Kaffee. Stört es Sie, wenn ich rauche? Er zeigt auf eine Schachtel Marlboro light, die am anderen Ende des Tresens liegt. Daneben ein teures Gasfeuerzeug der Marke Dupont aus Gold und ein Aschenbecher.

Sie wohnen schließlich hier, sagt Oberländer und schiebt ihm das Ensemble herüber.

Vielen Dank, sagt Günther Pfaffmann höflich und zündet sich eine Zigarette an. Oberländer beobachtet jede seiner Bewegungen. Hannelore hat meine Raucherei gehasst, sagt Günther Pfaffmann nach einigen Zügen, obwohl ich von vierzig auf fünf runter bin und nur noch draußen auf der Terrasse qualme.

Oberländer und Haringer tauschen befremdete Blicke. Polizeihauptwachtmeister Brunner betritt die Küche: Die Kollegen sind in einer Viertelstunde da. Ach so, und draußen auf der Straße haben sich ein paar Nachbarn versammelt.

Dann schnapp dir den Roland, und fragt gleich mal herum, zweckdienliche Hinweise und so weiter. Aber haltet euch bitte bedeckt, denn wir wissen ja noch nix Genaues, sagt Oberländer. Er wendet sich wieder an Günther Pfaffmann. Entschuldigung. Erzählen Sie bitte weiter.

Ich bin kurz nach elf nach Hause gekommen.

Wann hatten Sie noch mal in Nürnberg die Rosen für Ihre Lebensgefährtin gekauft?

Das habe ich Ihnen doch noch gar nicht gesagt. Nur, dass ich einen Strauß Blumen in Nürnberg gekauft habe. Günther Pfaffmann überlegt. Kurz vor Ladenschluss war’s, also kurz vor 16 Uhr.

Und dann haben Sie noch sieben Stunden von Nürnberg bis hierher gebraucht?

Moment, Moment! Günther Pfaffmann hebt beschwichtigend die Hände. Ich weiß genau, was Sie mir damit unterstellen wollen. Aber am Kindinger Berg habe ich eine gute Stunde im Stau gestanden. Die Autobahn war wegen eines Lastwagenunfalls voll gesperrt. Dann war ich noch etwa zwei Stunden in unserer Firma, vielleicht sogar noch ein bisschen länger. Meine Sekretärin kann Ihnen das bestätigen. Ich bin dann von Wolfratshausen direkt in unser Stammlokal hier in Starnberg gefahren, um was zu essen. Ins Opatija.

Kenne ich. Schönes Lokal, sagt Oberländer. Wie heißt Ihre Sekretärin?

Carola Zeise. Soll ich Ihnen ihre Adresse und Telefonnummer geben?

Später. Und was haben Sie gegessen und getrunken?

Eine Grillplatte für eine Person, zwei kleine Bier, ein Sliwowitz, sagt Günther Pfaffmann.

Das werden wir alles überprüfen, warnt Oberländer.

Sicher werden Sie das. Günther Pfaffmann zündet sich eine weitere Zigarette an. Also, Hannelore hatte mir während unseres Telefonats gesagt, dass sie vermutlich nicht zu Hause sein werde, weil sie am Abend in München verabredet sei. Ich meine, sie hatte ja auch nicht damit gerechnet, dass ich meinen Reiseplan spontan ändern würde. Ich konnte mir also Zeit lassen.

Jetzt erst fällt Oberländer die Kristallvase mit dem Rosenstrauß auf. Sie steht neben der Spüle. Wissen Sie, mit wem sie sich in München treffen wollte?

Günther Pfaffmann presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Keine Ahnung, sagt er.

Mit einer Freundin?

Wohl eher nicht.

Oberländer merkt, dass es Günther Pfaffmann auf einmal schwerfällt, zu reden. Schon schwirrt in seinem Kopf eine Vermutung herum, wenn er an die Reizwäsche der Getöteten denkt. Mit einem Mann vielleicht?

Günther Pfaffmann nickt langsam. Wahrscheinlich. Aber ich weiß wirklich nicht, mit wem.

Können Sie mir das bitte einmal erklären?

Hannelore und ich haben eine ziemlich spezielle Beziehung geführt, sagt Günther Pfaffmann zögernd.

Aha, sagt der Hauptkommissar.

Ich bin nicht sicher, ob Sie das auf Anhieb verstehen werden.

Tue ich auch nicht. Mit spezieller Beziehung kann ich ohnehin nicht viel anfangen, sagt Oberländer.

Günther Pfaffmann nimmt einen tiefen Zug. Vielleicht hätte ich offene Beziehung sagen sollen. Hannelore ist, also, sie war sexuell sehr aktiv.

Moment: Und Sie haben das akzeptiert?

Um ehrlich zu sein: Im vergangenen Jahr hat unser Beziehungsmodell – wenn Sie es so nennen wollen – für mich an Attraktivität verloren. Für Hannelore vermutlich auch, aber sie war noch nicht so überzeugt davon wie ich.

Oberländer und Haringer sind sprachlos. Ein überzeugenderes Motiv haben sie selten gehört. Und Günther Pfaffmann sprudelt wie geschütteltes Sodawasser.

Ich habe jedenfalls das Gerücht gehört, da sei ein junger Mann, den Hannelore in den vergangenen drei Monaten wohl schon ein paarmal getroffen hat, sagt er. Der Barmann aus unserem Tennisverein, Lukas Friedrich. Und dann natürlich ihre Verabredung in München. Mehr weiß ich allerdings nicht. Wir haben uns niemals gegenseitig kontrolliert. Das war unsere Abmachung. Anders funktioniert so was nicht.

Oberländer merkt sich den Namen, Lukas Friedrich, und nimmt dann in diesem Moment bewusst einen Richtungswechsel vor: Halten Sie es für möglich, Herr Pfaffmann, dass Ihre Lebensgefährtin Suizid verübt hat?

Nein. Niemals. Dafür lege ich beide Hände ins Feuer. Hannelore hat das Leben geliebt. Sie besaß keinen Grund, sich selbst etwas anzutun. Günther Pfaffmann zündet sich die dritte Zigarette an der zweiten an. Auf seiner Stirn glänzen Schweißtropfen.

Das lasse ich erst mal so stehen, sagt Oberländer, der fleißig Stichworte notiert. Wie hieß der Kerl noch gleich? Genau, Lukas Friedrich. Doch wenn Ihre Lebensgefährtin das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist, dann muss sie ihren Mörder vermutlich gekannt haben. Jedenfalls sind uns bisher keine Einbruchsspuren aufgefallen.

Sie haben ja auch noch nicht überall nachgesehen … Aber Sie haben vermutlich recht.

Oberländer verschränkt die Arme vor seiner Brust und durchbohrt den Zeugen mit seinem Blick. Wir haben jedoch das als noch immer nicht geklärt, Herr Pfaffmann.

Ja, als ich nach Hause gekommen bin, stand Hannelores Auto vor der Garage, aber sie war nicht da. Ihre Handtasche lag auf der Kommode in der Eingangshalle, und das ganze Haus war dunkel. Ich habe nach ihr gerufen, habe dann das ganze Haus nach ihr abgesucht, vom Dachboden bis hinunter in den Keller. So viel zum Thema Einbruch … Dann bin ich raus in den Garten zum See hinunter, in unser Bootshaus. Aber keine Spur von ihr. Gegen ein Uhr morgens habe ich mich ins Bett gelegt und bin sofort eingeschlafen.

In Ihrem gemeinsamen Schlafzimmer?

Günther Pfaffmann nickt.

Sie haben in Ihrem Bett geschlafen, während Ihre Lebensgefährtin sich nur ein paar Meter von Ihnen entfernt tot im Kleiderschrank befunden hat?

Ja. Günther Pfaffmann schaudert.

Müssten Sie nicht von vorneherein gewusst haben, dass Ihre Lebensgefährtin zu Hause war, wo doch ihr Wagen auf dem Grundstück parkte?

Nein, nein, wenn Hannelore nach München fährt, nimmt sie lieber die S-Bahn, ganz gleich, ob sie von Starnberg oder von Wolfratshausen aus in die Stadt fährt.

Aber dann war da natürlich noch ihre Handtasche …

Sie würde niemals ohne Handtasche aus dem Haus gehen. Aber sie hat so einige, sehen Sie ruhig in ihrem Schrank nach. Günther Pfaffmann schließt erschöpft die Augen. Nein, es war der Bademantel, Herr Kommissar, murmelt er. Den legt sie immer zusammengefaltet auf ihr Bett. Es ist ein Ritual. Und als ich dann heute Morgen auf den Knopf der Kaffeemaschine drücken wollte, fiel mir plötzlich ein, dass auf ihrem Bett etwas fehlte – nämlich der Bademantel, und der Rest war Intuition.

Intuition?, unterbricht Oberländer und tauscht mit seinem Kollegen Haringer einen weiteren vielsagenden Blick. Beide Polizisten haben in diesem Moment auch eine Intuition. Und zwar eine gewaltige, dass sie nämlich Günther Pfaffmann besser kein Wort glauben sollten.

Sie glauben mir vermutlich kein Wort, nicht wahr, Herr Kommissar?, sagt Günther Pfaffmann ruhig.

Gedanken lesen kann er also auch noch. Oberländer räuspert sich. Ihre Geschichte klingt zumindest sehr ungewöhnlich.

Das weiß ich selbst. Aber daran kann ich nichts ändern. Günther Pfaffmann zuckt mit den Schultern. Genau so war’s.

Schritte in der Eingangshalle. Brunner steckt wieder seinen Kopf in die Küche. Die KTU ist jetzt da. Ich zeig den Kollegen mal den Weg.

Sehr gut, sagt sein Vorgesetzter und klappt sein Notizbuch zu. Ja. Das war’s fürs Erste, Herr Pfaffmann. Der Zeuge rauft sich die Haare. Oberländer bemerkt, dass Günther Pfaffmanns Augen feucht werden. Schon rinnt ihm eine Träne die Wange hinunter. Und dann beginnt er lautlos zu schluchzen. Hemmungslos. Dieser Mann ist ein Chamäleon, denkt Oberländer. Schlau wird er jedenfalls nicht aus ihm. Brauchen Sie ärztliche Hilfe, Herr Pfaffmann? Wollen Sie vielleicht jemanden anrufen?

Günther Pfaffmann blickt ihn aus wässrigen Augen an. Meinen Sie damit einen Anwalt?

Möchten Sie denn einen Anwalt anrufen?

Stehe ich denn unter Verdacht? Ich habe doch nichts getan … Ich habe Hannelore nicht umgebracht! Er zieht geräuschvoll seine Nase hoch und wischt sich mit dem Ärmel seines Jogginganzugs die Tränen aus dem Gesicht.

Ich würde Ihnen gerne glauben, Herr Pfaffmann, sagt Oberländer. Aber das ist geschwindelt. Für den Hauptkommissar ist dieser Fall so gut wie gelöst: eine typische Beziehungstat. Mord aus Eifersucht. Gefolgt von einem dilettantischen Versuch, einen Suizid vorzutäuschen und verräterische Spuren zu verwischen. Günther Pfaffmann hält sich vermutlich für einen Oberschlauen. Er wiederum hält ihn für aalglatt, geradezu gerissen und skrupellos. Tränen der Trauer wie auf Knopfdruck. Solche Verdächtige nennt er Burgschauspieler.

Keine Höflichkeiten mehr, keine Samthandschuhe. Passen Sie auf, Herr Pfaffmann, sagt Oberländer. Ich nehme Sie trotz Ihrer Geschichte vorläufig fest, wegen des Verdachts, Ihre Lebensgefährtin Hannelore Plattner getötet zu haben. Meine Kollegen werden Sie aufs Revier bringen. Sie können sich vorher noch was anderes anziehen, und ich gehe davon aus, dass Sie keine Schwierigkeiten machen werden.

Günther Pfaffmann schüttelt den Kopf. Nein, ich werde Ihnen bestimmt keine Schwierigkeiten machen, auch wenn Sie sich irren. Oberländer ignoriert Pfaffmanns Einspruch.

Strecken Sie bitte Ihre Hände vor. Der Tatverdächtige lässt die Schultern hängen und kommt seufzend der Aufforderung nach. Haringer will ihm die Handschellen anlegen.

Moment noch, bitte. So will ich nicht raus auf die Straße. In der Eingangshalle steht mein Koffer, sagt Günther Pfaffmann. Da sind frische Hemden und Hosen drin. Er wendet sich an den Hauptkommissar. Herr Oberländer?

Herr Pfaffmann?