Der letzte Liebende - Annette Mingels - E-Book

Der letzte Liebende E-Book

Annette Mingels

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Beschreibung

Annette Mingels‘ großer Roman übers Älterwerden und das Schwinden aller Sicherheiten

Carl Kruger ist einsam. Fast sechzig Jahre war der emeritierte Chemieprofessor mit Helen verheiratet. Obwohl die Ehe schon lange zerrüttet war, trifft Helens Tod ihn bis ins Mark. Darum willigt er ein, als seine Tochter Lisa ihn zu einer Reise in die alte Heimat überredet. Doch der Besuch in Ostdeutschland und Polen verläuft anders, als der Wahlamerikaner erwartet. Konfrontiert mit einer Welt im Umbruch, stellt sich Carl die Frage: ist er, der »alte weiße Mann«, überhaupt angekommen in diesem Jahrhundert?

Annette Mingels' so kluger wie berührender Roman erzählt vom Schwinden aller Sicherheiten am Ende eines langen Lebens und von sehr heutigen Konflikten zwischen den Generationen. Psychologisch genau, mit virtuoser Leichtigkeit und meisterhaft im Ton.

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Seitenzahl: 370

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Carl Kruger ist einsam. Fast sechzig Jahre war der emeritierte Chemieprofessor mit Helen verheiratet. Obwohl die Ehe schon lange zerrüttet war, trifft Helens Tod ihn bis ins Mark. Darum willigt er ein, als seine Tochter Lisa ihn zu einer Reise in die alte Heimat überredet. Doch der Besuch in Ostdeutschland und Polen verläuft anders, als der Wahlamerikaner erwartet. Konfrontiert mit einer Welt im Umbruch stellt sich ihm die Frage: Ist er, der »alte weiße Mann«, überhaupt angekommen in diesem Jahrhundert?

Annette Mingels’ so kluger wie berührender Roman erzählt vom Schwinden aller Sicherheiten am Ende eines langen Lebens und von sehr heutigen Konflikten zwischen den Generationen. Psychologisch genau, mit virtuoser Leichtigkeit und meisterhaft im Ton.

Annette Mingels, geboren 1971, studierte Germanistik und schloss mit einer Promotion ab. 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem fünf weitere und ein Erzählband folgten. Für »Was alles war« erhielt sie 2017 den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag. Nach Jahren in der Schweiz, in Montclair (USA), Hamburg und San Francisco lebt Annette Mingels seit 2021 mit ihrer Familie bei Berlin.

Die Presse über Mingels’ Roman »Dieses entsetzliche Glück«:

»Mingels entwirft genaue Paarbilder und Familientableaus, in denen es stets um das Bedürfnis nach Nähe und Vertrauen geht.«   Manuela Reichart, Deutschlandfunk

»Das Buch ist psychologisch ganz fein gestrickt (…). Sehr unterhaltend zu lesen!«   Elke Heidenreich, WDR4

»Der typische Mingels-Satz entfaltet seinen Zauber, seine Lebensklugheit und psychologische Präzision im leicht verzögerten Nachhall – dann aber umso stärker.«   Ursula März, Die Zeit

www.penguin-verlag.de

ANNETTE MINGELS

DER LETZTE LIEBENDE

ROMAN

Das Motto [>>] stammt aus einem Interview in SPIEGEL 46/2022.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Favoritbuero, München

Covermotiv: © Michael Trevillion/Trevillion Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30337-2V002

www.penguin-verlag.de

Für Tina.Und für Daniel (im goldenen Jackett).

»Du kannst dich mehrfach häuten, aber wirst immer dieselbe verdammte Schlange bleiben.«

Nick Cave

ERSTER TEIL

Dezember – Juni

Dezember

Seit einiger Zeit hatte Carl Kruger am Morgen das Gefühl, aufgeben zu müssen, obwohl das eigentlich nicht seine Art war. Vom Bett aus sah er zu, wie es draußen langsam hell wurde, die Straßengeräusche drangen zu ihm herauf, und ihm fiel nichts ein, wofür es sich aufzustehen lohnte.

Manchmal ertappte er sich dabei, dass er seine Frau beneidete. Seit sie vor etwas mehr als einem halben Jahr die Diagnose erhalten hatte, besaß jeder ihrer Tage eine Struktur. Man hatte nicht operiert – diese Möglichkeit war von Anfang an ausgeschlossen worden –, aber in den ersten Wochen hatte sie Bestrahlungen erhalten und danach vier Runden Chemotherapie, die sie zunächst gut und dann gar nicht mehr vertragen hatte. An den Tagen, an denen Helen ins Krankenhaus musste, hatte Lisa sie morgens abgeholt und zum Mountainside Medical Center gefahren. Sie hatte dort mit ihrer Mutter gewartet, während die Lösung aus dem durchsichtigen Beutel in den Infusionsschlauch und schließlich in Helens Arm geträufelt war. Er stellte sich vor, wie Lisa auf einem Klappstuhl neben der Liege saß. Wie sie plauderten, vertraut und immer dann derselben Auffassung, wenn es um ihn ging. Nach Meinung seiner Tochter war er ein hoffnungsloser Fall. Er war der Grund für das jahrzehntelange Unglück ihrer Mutter, das sich wie Gift in die feinsten Verästelungen der Familie ausgebreitet hatte – er war vielleicht sogar der Grund für das hier: ihre Krankheit, auf jeden Fall jedoch für das Scheitern von Lisas eigener Ehe. Und spätestens seit der Geschichte mit Renee stimmte Helen ihrer Tochter in allen Punkten zu.

In der Küche nahm er den Wasserkocher, füllte ihn zur Hälfte, hängte einen Teebeutel in die Tasse mit den Rosen, dann stellte er sich ans Fenster und wartete darauf, dass das Wasser kochte. Vom Küchenfenster aus sah er auf die Front des MC Hotel. Er war ein einziges Mal, kurz nach der Eröffnung vor drei Jahren, hineingegangen. Damals waren sie gerade erst aus ihrem Haus in der Myrtle Lane in diesen Wohnblock gezogen, wo sie eine Maisonettewohnung gekauft hatten. Der Eingang zum Hotel lag an der Ecke Bloomfield Avenue und Church Street, ein siebenstöckiger halbrunder Turm, von dem aus sich rund dreißig Meter lang die Sandsteinfassade des Hotels hinzog. Er hatte sich die Lobby, die Bar und das Restaurant angesehen und sich vorgenommen, bald einmal mit Helen hier essen zu gehen. Dann war er bei der nächsten – seiner ersten – Eigentümerversammlung Renee begegnet und hatte sein Vorhaben vergessen.

Das Wasser kochte, er goss es in die Tasse, stellte sie auf ein Tablett und legte einen Keks daneben, den er auf dem Weg nach oben selbst aß. Die Tür zu Helens Zimmer war geschlossen, und er hielt kurz inne, um zu hören, ob Lisa bei ihr war. In letzter Zeit schien seine Tochter ihm auszuweichen – war sie am Anfang von Helens Erkrankung immer zuerst ins Wohnzimmer gekommen, um ihn zu begrüßen, hatte sie irgendwann nur noch von der Tür aus einen Gruß gerufen und war dann rasch die Treppe hoch in die obere Etage gelaufen. Inzwischen nutzte sie meistens die Möglichkeit, mit dem Aufzug direkt in die obere Etage zu fahren, um ihn so nicht einmal ignorieren zu müssen.

Die hellen Vorhänge waren zugezogen und tauchten das Zimmer in fahles Licht. Helen hatte die Augen geschlossen. Das Tablett war zu groß für den Nachttisch. Mit einer Hand schob Carl die Bücher und Zeitschriften zur Seite und stellte die Tasse auf das Holz, dann blickte er sich nach etwas um, das er unterlegen könnte. Weil er nichts fand, nahm er die Tasse nochmals auf und wischte ihre Unterseite an seinem Ärmel ab, bevor er sie wieder abstellte. Als er aufblickte, sah Helen ihn mit weit geöffneten Augen an.

»Danke«, sagte sie. »Du hast mich geweckt.«

»Aha«, sagte er. Dann fügte er hinzu: »Tut mir leid.«

Helen seufzte. »Schon okay.« Sie sah auf die Tasse. »Kein Keks heute?«

»Du isst ihn doch nie«, sagte Carl. »Aber ich kann dir gern einen holen.«

»Nein, nein.« Helen machte eine unbestimmte Handbewegung: ein Wedeln vor ihrem Gesicht, als wollte sie alles – und ganz besonders ihn – verscheuchen. »Ich will eh keinen.«

Er sah sich nach einem Stuhl um, dann ließ er es bleiben.

»Wie geht’s dir?«

»Wie soll’s mir gehen?«

»Ist dir übel? Hast du Schmerzen?«

»Nein, nein«, sagte Helen wieder, in einem so leichten Ton, dass es fast ironisch klang. »Alles wunderbar.«

»Brauchst du noch etwas?«

Sie sah ihn von unten herauf an, und für einen Moment meinte Carl Hass in ihrem Blick zu erkennen. Aber vielleicht war es auch nur Ungeduld: die Ungeduld der Kranken mit dem Gesunden. Sie wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf.

»Dann bin ich unten. Ruf einfach, wenn du etwas brauchst.«

Seine Stimme hatte einen unnatürlich fröhlichen Klang, er hörte es selbst und spürte die Hitze, die ihm den Hals heraufkroch. Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er zur Tür und zog sie sorgfältig hinter sich ins Schloss.

Vor Kurzem hatte er im New Yorker ein Interview mit dem Schauspieler Matthew McConaughey gelesen. McConaughey hatte gesagt, er glaube, dass die Zeit für eine neue Männlichkeit gekommen sei. Dass beides möglich sei. Verletzlichkeit und großes Ego, Verantwortung und Freiheit. Engel sein, hatte der allen Ernstes gesagt, und Teufel. Lächerlich, hatte Carl gedacht. Aber es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Auf der Straße schoben sich die Autos langsam voran, während rechts und links auf dem Bürgersteig Passanten mit Taschen und Tüten schlenderten. Direkt nach Thanksgiving war die Weihnachtsbeleuchtung angebracht worden, Tannengirlanden, mit Lichterketten umwickelt, rot und weiß gestreifte Plastikstangen, goldene Kugeln. Der Antiquitätenladen, der im Souterrain der Unitarierkirche lag und auch von dieser betrieben wurde, hatte einen großen rostigen Elch auf dem Gehweg platziert, bei dem nicht ganz klar war, ob er Dekoration war oder zum Verkauf stand. Gestern war Carl vor ihm stehen geblieben und hatte das rostige Tier genau betrachtet, das Geweih, die leeren Augen – ausgestanzte Löcher im Metall –, die auf eine große, ebenfalls verrostete Platte geschraubten Beine. Im Schaufenster hatte er eine Kette liegen sehen, himmelblaue Topase, Helens Lieblingsstein. Er hatte überlegt, in den Laden zu gehen – er hatte sich das Innere des Ladens schon vorgestellt: das leicht Muffige der Kleider und Teppiche, die alten Möbel und Kronleuchter, die stockfleckigen Bücher und Gemälde. Dann hatte er die Treppe vom Gehweg zum Eingang angeschaut – fünf steile Stufen – und hatte sich dagegen entschieden. Vor etlichen Jahren hatten Helen und er in dem Laden zwei gepolsterte Hocker gekauft, mit einem festen Webstoff bespannt, der im Laufe der Jahre von sattem Ocker zu blassem Hellgelb verblichen war. Bei ihrem Umzug von der Myrtle Lane in die Bloomfield Avenue hatten sie sie aussortiert und vors Haus gestellt. Es hatte fast eine Woche gebraucht, bis jemand sich ihrer erbarmte, und während dieser Woche hatte Carl der Anblick der beiden Hocker jeden Tag ein bisschen mehr betrübt.

Er ging die Bloomfield Avenue hinunter in Richtung Süden. Passanten kamen ihm entgegen, etliche Tische in den Cafés waren besetzt. Er erinnerte sich daran, wie leer hier alles im Lockdown gewesen war. Fast zwei Jahre war das jetzt her. Er hatte vom Küchenfenster im dritten Stock hinabgesehen; die Leere unter ihm hatte etwas von einem Feiertag an sich und etwas vom Ende der Welt. Wenige Wochen zuvor hatte Renee ihn verlassen, und so fand er sich damals plötzlich in einer Zwangsgemeinschaft mit Helen wieder, die diese nicht wollte und nicht gewährte. Erst im letzten Frühjahr, als sich die allgemeine Lage etwas entspannt hatte, nahm Carl seine vormittägliche Runde durch die Stadt wieder auf.

Sein erster Weg führte ihn immer in die Drogerie, auch wenn er keine Medikamente holen musste. Er lief zwischen den Gängen entlang, von der Abteilung mit Süßigkeiten zu den Regalen voller Vitaminpräparate, Kopfschmerztabletten und Schlafmittel, dann ging er zu den Zeitschriften und von da aus zur Spielzeugabteilung. Auf einem Drehgestell standen VW-Käfer, Chevrolets, LKWs und Feuerwehrautos in Bonbonfarben, die Stoßstangen altmodisch silbern, die Fenster aus durchsichtigem Plastik. Wenn Carl früher Collin mit in die Drogerie genommen hatte, hatte er ihn bei den Autos abgesetzt und in der Zwischenzeit seine Besorgungen erledigt. Collin hatte die Autos vor sich aufgereiht und sie sehr vorsichtig eins nach dem anderen zurückgezogen, um sie ein oder zwei Meter fahren zu lassen. Carl konnte sich nicht erinnern, dass Lisa das je gemacht hatte – er ahnte, dass er es ihr wohl auch nicht erlaubt hätte. Er war nie so nachsichtig mit seiner Tochter gewesen wie mit seinem Enkel. Vielleicht war das der Grund dafür, dass Collin ein besseres Verhältnis zu ihm hatte als Lisa.

Bei ihrem letzten Spaziergang hatte er Carl gestanden, dass er gern so wäre wie er.

»Wie denn?«, hatte Carl gefragt. »Alt, klapprig und kurz vorm Exitus?«

Collin hatte gelacht und Nein gesagt. Das nicht. Aber erfolgreich in dem, was er tat. Und vor allem: das tuend, was er tun wollte.

»Du warst Kult«, sagte er. »Also, deine Vorlesungen waren Kult.«

»Na ja«, sagte Carl. Er wusste, dass Collin recht hatte, auch wenn er es nicht so ausgedrückt hätte. Fast immer waren bei seinen Vorlesungen die größten Säle bis auf den letzten Platz besetzt gewesen, und zahlreiche Studenten mussten auf der Treppe zwischen den Stuhlreihen sitzen. Er hatte das Unterrichten geliebt; zu seiner eigenen Überraschung fiel es ihm leicht. Wenn er zu Anfang jeder Vorlesung einen seiner Versuche vorbereitete, brauchte es nur eine Handbewegung, um Ruhe herzustellen. Das Abstrakte anschaulich machen, bei aller Komplexität unterhaltsam bleiben, das konnte er. Trotzdem war er pünktlich mit fünfundsechzig emeritiert worden, sein Nachfolger scharrte schon mit den Hufen. Dabei hätte Carl gerne noch weiter an der Montclair State University unterrichtet, an die er dreißig Jahre zuvor berufen worden war.

»Willst du denn nicht beim Militär bleiben?«, fragte er seinen Enkel. Collin schüttelte nur den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die kurz geschorenen Haare. Nach drei Jahren bei der Armee, zu der er nach dem College so dringend hatte gehen wollen, schien er genug davon zu haben, und Carl ließ sich nicht anmerken, wie erleichtert er war.

Er legte eine Packung Tee in den roten Plastikkorb, dazu eine Tafel Schokolade. Für die großen Einkäufe war er nicht zuständig. Als die Diagnose ihrer Mutter feststand, hatte Lisa sofort eine Haushaltshilfe engagiert. Julka war polnischer Herkunft, eine robuste Frau in den Fünfzigern, die erst seit Kurzem in Amerika lebte (eine gescheiterte Ehe hinter sich, erwachsene Kinder, die sie nicht mehr brauchten, vielleicht auch einfach der Wunsch, neu anzufangen) und Englisch mit weniger Akzent sprach als Carl. Einmal hatte er sie gebeten, etwas auf Polnisch zu sagen, und er hatte es ihr hoch angerechnet, dass sie, ohne zu fragen, sofort ein paar Sätze für ihn formulierte. »Najpierw zrobię kuchnię, potem łazienkę. Wtedy zajmę się twoją żoną.« Er hatte sich setzen müssen. Es war verblüffend, wie er allein durch den Klang ihrer Worte in der Zeit zurückgeschickt wurde. Polnisch war nicht die Sprache seiner Eltern gewesen, aber sie hatten polnische Freunde in Zoppot gehabt – einige davon ehemalige Kollegen aus dem Krankenhaus seines Vaters –, von denen manche auch noch Jahre später Kontakt zu seiner Mutter hielten. Vor allem aber war es Ewa, an die Carl sich erinnerte. Sie, die schon in Zoppot im Haushalt geholfen hatte, war mit ihnen aus Polen geflohen, und wenn sie in Windisch einmal die Woche kam, um seiner Mutter mit der Wäsche zu helfen, erzählte sie Carl beim Bügeln Geschichten in einer Mischung aus Polnisch und pommerschem Platt, die allesamt tragisch endeten.

Die schwarze Frau an der Kasse war neu hier, Carl war sich fast sicher. Sie nickte ihm kurz zu. »Haben Sie alles gefunden?«, und Carl sagte: »Ja, danke.« Trotz des frostigen Wetters trug sie nichts über dem kurzen roten Poloshirt. Die kräftigen Oberarme waren von einem dunklen Braun, ihr ganzer Körper muskulös und ausladend, die Haare in feucht glänzende Wellen gelegt. Er erinnerte sich, dass Lisa ihre Haare auch manchmal so frisiert hatte: aufgewickelt über Nacht, sodass sie am nächsten Morgen in großen Wellen bis zur Mitte ihres Rückens fielen. Aber ihr Haar war zu schwer, bereits am Mittag war von den Wellen fast nichts mehr zu sehen gewesen. Inzwischen hatte sie es kurz geschnitten, immer noch war es dicht und fast vollkommen schwarz.

Das Raymond’s war leer um diese Zeit. Es war das älteste und kleinste Café in der Straße. Raymond selbst war vor einigen Jahren gestorben, seitdem führte sein Sohn Ian das Lokal weiter. Carl konnte sich an Ian erinnern, wie er als Kind auf dem Boden zwischen den Tischen mit seinen Actionfiguren gespielt hatte. Eine Zeit lang war er mit Lisa in dieselbe Klasse der Mount Hebron Middleschool gegangen, doch nach Lisas Schulwechsel war er aus Carls Blickfeld verschwunden, und Raymond hatte nur abgewunken, wenn Carl sich nach ihm erkundigte. Erst bei Raymonds Beerdigung, zu der mitzukommen Helen sich geweigert hatte, war er Ian wieder begegnet. Ian war damals Mitte vierzig gewesen. Unter dem schwarzen Anzug hatte er ein hellgrünes indisches Hemd getragen, eine Tatsache, die Carl fast ebenso verwirrte wie die Tätowierungen, die er an ihm entdeckte: zwei zum Beten gefaltete Hände mit dem Wort »family« unterhalb des rechten Ohres, und der Schriftzug »Don’t be evil« an den Händen, je ein Buchstabe auf jedem Finger. Es hatte für Carl nicht so ausgesehen, als wäre in Ians Leben alles glattgelaufen. Aber seitdem er das Café übernommen hatte, unterhielt Carl sich manchmal mit ihm, und zu seiner Überraschung schien Ian ganz und gar unversehrt. Über seine Vergangenheit sprach er allerdings kaum, und so war es durchaus möglich, dass das Gerücht, Ian habe die Jahre seiner Abwesenheit in der Geborgenheit eines ebenso obskuren wie harmlosen Ordens verbracht, bloß wilde Spekulation war.

»Hallo, Carl«, grüßte Ian, der nach der Helligkeit draußen im Halbdunkel hinter der Theke kaum auszumachen war. »Earl Grey und ein Croissant?«

»Ja«, sagte Carl. »Danke.«

Er steuerte den Tisch in der Fensternische an. Hier saß er immer, den Blick auf die Church Street mit ihren Blumenkübeln und Geschäften gerichtet. Im Sommer unterhielten sich die Leute bis spätabends draußen an den Tischen, und wenn Carl ein Fenster in seiner Wohnung öffnete, konnte er manchmal die Geräusche bis in den dritten Stock hören. Der Umstand, dass man in den meisten Restaurants die alkoholischen Getränke selbst mitbringen musste (offensichtlich waren die Lizenzen so teuer, dass sie sich für die Restaurantbesitzer nicht lohnten), hatte Carl immer gewundert, und die Beflissenheit, mit der die Kellner einen Kühler für den im Supermarkt gekauften Weißwein bereitstellten, erschien ihm ebenso freundlich wie unverständlich.

Auch im Raymond’s gab es keinen Alkohol, und etwas in Ians Auftreten – etwas Geläutertes vielleicht – ließ Carl vermuten, dass dies nicht nur an der teuren Ausschanklizenz lag.

Ian brachte den Tee und ein Croissant zu Carl und stützte beide Hände auf den Tisch. »Alles klar bei dir?«

»Alles perfekt, danke.«

Carl zog Teller und Tasse zu sich heran. Auf der Untertasse lag ein Zitronenschnitz in einer kleinen silbernen Presse, ein Relikt aus der Vergangenheit, das ihn immer ein wenig an ein Zahnarztutensil erinnerte und das gut zu der geblümten Tapete passte. Es war seltsam, dass es hier früher moderner ausgesehen hatte: Während Raymond dem Café trotz des Tudorstils ein zeitgemäßes Interieur gegeben hatte, war Ian hinter den Geschmack seines Vaters zurückgegangen. Die futuristischen Plastikmöbel der Siebzigerjahre, die erst modern, dann unmöglich und schließlich wieder modern gewesen waren, hatte er durch Holzmöbel im Landhausstil ersetzt und getrocknete Kräutersträuße in blaue Tonkrüge gestopft. In verschnörkelter Schrift stand in fünf verschiedenen Sprachen »Guten Appetit« an einer der Wände.

Carl presste die Zitrone in seinen Tee, dann blickte er zu Ian hoch. »Bei dir auch?«

»Klar doch.« Ian lächelte ihn an. »Kaum zu glauben, dass es nur noch vier Tage bis Weihnachten sind. Ich bin noch gar nicht in Festtagsstimmung.« Er sah von Carl nach draußen, und Carl folgte seinem Blick auf die Straße, an deren Rändern sich die letzten Reste des Schnees zu kleinen Placken gesammelt hatten.

»Na ja«, Ian wandte sich wieder Carl zu. »Wahrscheinlich wird’s jedes Jahr weniger aufregend, bis Weihnachten dann irgendwann einfach ein Tag wie jeder andere ist.« In seiner Stimme hatte eine Frage mitgeschwungen, und Carl trank einen Schluck Tee und antwortete: »Genau so ist es, Ian. Ganz genau so.«

Ein Paar betrat das Café, und Ian richtete sich auf und grüßte die Gäste. Der Mann war groß und massig, nicht eigentlich dick, dachte Carl, aber an der Schwelle dazu. Er selbst war immer sehr schlank und nicht allzu groß gewesen (ein Meter achtundsiebzig, aber er hatte ein Meter achtzig in seinen Pass schreiben lassen), und durch das Alter war er in den letzten Jahren kleiner geworden und eher dünn als schlank. Das Paar setzte sich an einen Nebentisch, beide nickten ihm zu, und Carl nickte auch. Der Mann musste bereits in den Dreißigern sein, die Frau schien gut zehn Jahre jünger, aber vielleicht täuschte das. Seit einiger Zeit schien Carl zunehmend die Fähigkeit einzubüßen, das Alter anderer Menschen richtig einzuschätzen. Vielleicht hing das damit zusammen, dass er sich selbst fremd wurde. Es war nicht Erschrecken, mit dem er sich im Spiegel sah, eher Verwunderung und der unerschütterliche Glaube daran, dass er nicht wirklich so alt aussehen konnte. Gott sei Dank war sein Spiegelbild leicht zu manipulieren. Er musste nur das Kinn etwas nach oben recken und statt der Deckenleuchte die Lampen rechts und links des Spiegels anmachen. Wenn er Helen anschaute, schien es ihm manchmal unglaublich, dass sie seine Frau war – seine Frau! Mehr als sein Spiegelbild war sie es, die ihm sein Alter bewusst machte. Im nächsten Jahr würde er achtzig, er wusste das natürlich, aber er konnte es nicht empfinden: Es war, als hätten sein Körper und sein Geist seit Längerem unterschiedliche Wege eingeschlagen und liefen nun jeder auf seiner eigenen Spur weiter, um irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, gemeinsam unterzugehen. Während er seinen Tee trank und das Croissant aß, dessen Kruste in köstlichen Sprenkeln abblätterte, sah er durchs Fenster nach draußen, gleichzeitig lauschte er dem Gespräch des Paares am Nebentisch. Es war offensichtlich, dass die beiden nicht verheiratet waren. Man hörte es ihrem Geplauder an, das ziellos mal diese, mal jene Richtung einschlug – es ging um irgendeinen Harrington, den sie beide kannten und nicht mochten; um ihre Schwester, die bevorstehenden Feiertage –, aber eigentlich ging es bei all dem nur darum, miteinander zu reden und immer wieder zu entdecken, wie ähnlich sie einander waren und dass sie ein geradezu verblüffendes Glück gehabt hatten, als sie sich begegneten.

Carl erinnerte sich an einen Aprilnachmittag vor vielen Jahren. Er war damals noch ein gutes Stück von der Pensionierung entfernt, auch wenn sie sich schon am Horizont abzeichnete, und sie – Sheila – war die letzte Studentin, die ihn an diesem Nachmittag in seinem Büro aufsuchte. Der kleine Raum mit dem Panoramafenster, das den Blick auf den Campus freigab, war von der Sonne aufgewärmt, die nach Wochen mit Schnee und Kälte überraschend kraftvoll hervorgebrochen war. Sheila hatte kein anderes Anliegen, als ihm zu sagen, wie sehr sie seine Vorlesung gemocht hatte; zum ersten Mal habe sie verstanden, was es mit den Stoffeigenschaften der Alkanole auf sich habe. Sie hatte etwas Schwärmerisches an sich, wenn sie davon sprach. Als sie vorschlug, sich einmal in der Bibliothek zu treffen, wo Tische mit Schachbrettern standen – denn sie sei sicher, sagte sie, dass sie mit ihm endlich auch das Schachspielen begreifen würde –, willigte er sofort ein. Bereits am nächsten Nachmittag trafen sie sich, und die ersten zwei Stunden spielten sie tatsächlich Schach. Sie schlug sich redlich, verlor zwar jedes Mal, aber alles in allem war sie keine komplette Anfängerin. Sie lächelte. Nein, natürlich sei das keine Ausrede gewesen, um ihn zu treffen. Sie sah ihn dabei an, und er sah sie an, und (so sagte er es später zu Helen, die das allerdings nicht als Entschuldigung gelten ließ) die Liebe brach über sie herein. Sie schauten einander an und konnten nicht wegschauen und auch nichts dagegen tun, dass mit ihnen geschah, was geschah.

Drei Jahre hielt ihre Beziehung. Einmal fuhren sie sogar zusammen in Urlaub, nach Mexiko, wo sie als Mr. und Mrs. Ridley auftraten und sich zum ersten Mal stritten. Was hatte Helen während dieser Zeit gemacht? Carl fragte sich das erst einige Monate später, nachdem Sheila ihn wegen eines Chirurgen verlassen hatte, der ihr beim Skilaufen begegnet war. Ihre Trennung war so unausweichlich wie der Beginn ihrer Beziehung, Carl hatte sich fügen müssen. Es war ihm schwergefallen, und doch war die Trennung auch eine Erleichterung: ein Ende der Lügen und Auseinandersetzungen mit Helen, die sich darüber indes weniger freute, als er gehofft hatte.

»Noch einen Tee, Carl?«, fragte Ian, der unbemerkt an den Tisch gekommen war. Carl zuckte zusammen. Ian legte eine Hand auf seinen Arm. »Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Nein, nein, schon in Ordnung.« Carl nickte ein paarmal, dann hatte er sich wieder gefangen. Er war immer schon schreckhaft gewesen. Wer sich erschrickt, hat ein schlechtes Gewissen, hatte seine Mutter einmal zu ihm gesagt, und obwohl es mehr als siebzig Jahre her sein musste, erinnerte sich Carl an das Gefühl der Verlassenheit, das ihn damals befallen hatte.

Er sah aus dem Fenster. Weiß und schwer lag der Himmel über der Stadt und auf den kahlen Ästen der Bäume. Seitdem sie ihr Haus verkauft hatten, blieb ihnen das Laubrechen im Herbst erspart, das feuerfarbene Blättermeer, durch das sie sich Wochenende für Wochenende pflügen mussten. Einmal hatte Carl für Lisa ein Labyrinth durch die Blätter gezogen, aber sie war damals, in ihrem ersten Jahr hier in Montclair, schon sechs oder sieben gewesen und nur ihm zuliebe ein einziges Mal den Bahnen nachgelaufen.

Während er langsam den heißen Tee trank, machte das Paar am Nebentisch sich zum Aufbruch bereit. Der Mann rief nach Ian, um zu zahlen, die Frau hatte ihre Handtasche auf den Tisch gelegt und wühlte darin. Carl hörte sie sagen: »Du hast das Parkticket, oder?« Und die Stimme des Mannes: »Nein, du hast es gehabt.«

»Du bist doch gefahren.«

»Aber ich habe dir das Ticket gegeben.«

»Bist du sicher?«

»Natürlich.« Der Mann klang streng. »Absolut sicher.«

Carl drehte sich zu dem Paar um. Die Frau fuhr sich mit beiden Händen in die Manteltaschen, während ihr Freund danebenstand und sie abwartend ansah, die Lippen zusammengepresst, die Brauen hochgezogen. Carl hätte ihm gerne gesagt, dass das der falsche Weg war. Das Schlimmste war, dass der Mann ihn an sich selbst erinnerte. Wie oft war er ungeduldig mit Helen gewesen! Und wie sehr hatte sie das jedes Mal verunsichert!

Ein energischer junger Mann war er gewesen, als sie sich Anfang der Sechzigerjahre ineinander verliebt hatten. Und sie? Eine anschmiegsame junge Frau, die ihm zeitlebens dankbar dafür sein würde, dass er sie heiratete, obwohl sie keine Kinder bekommen konnte. Das waren die Rollenmodelle, die sie übernommen hatten – sie hatten keine anderen gekannt, und als sie feststellten, dass es andere gab, hatte nur er sich die Freiheit erlaubt, sie auszuprobieren. Während Helen, plötzlich allein in ihrer Ehe, sich in eine Liebe zu Lisa hineinsteigerte, die ihn ausschloss. Wie also sollte ausgerechnet er irgendwem etwas erklären können? Er, dessen Frau zu Hause lag und darauf wartete zu sterben, die sich vielleicht sogar danach sehnte, dass sie all das – die Schmerzen, die Angst, ihren Mann – hinter sich lassen konnte. Herrje, dachte er, wie hatte er es nur so vermasseln können? Trotz fast sechzig Jahren Ehe und zahlreicher Affären war er, was die Liebe anging, ein Anfänger, und es war anzunehmen, dass sich daran auch nichts mehr ändern würde.

Er hob den Arm und suchte Ians Blick, und Ian sah ihn sofort und nickte. Während Carl bezahlte, kam ihm ein Gedanke – so überraschend und unerwartet, dass er das Gefühl hatte, ihn festhalten zu müssen wie einen zappelnden Fisch. War es, dachte er, nicht vielleicht doch noch möglich, ein besserer Mensch zu werden? Kein großartiger, Gott bewahre, aber ein etwas besserer?

Der Antiquitätenladen war überheizt und schien bis auf die Verkäuferin, die aus einem angrenzenden Raum rief, dass sie gleich komme, leer zu sein. Carl war froh, dass ihn niemand beobachtet hatte, wie er die Treppe hinuntergestiegen war, langsam und den Handlauf umklammernd. Zwischen Bildern, Kleiderständern und Möbeln standen zwei Vitrinen mit Schmuckstücken, aber Carl warf nur einen kurzen Blick in beide, dann ging er Richtung Schaufenster. Eine Kommode aus glänzendem Nussbaumholz versperrte den Weg, und Carl setzte sich auf einen Armstuhl, der mit einem gestreiften, an mehreren Stellen fadenscheinigen Samtstoff bezogen war. Über ihm hing ein Kronleuchter mit zahllosen Glassteinen, die an langen Ketten aufgereiht waren. Wenn er den Kopf zurücklehnte und die Augen halb schloss, wurde aus dem Leuchten ein Funkeln.

»Kann ich Ihnen helfen?«, hörte er die Stimme der Verkäuferin.

Er richtete sich auf und sah sie an. Dunkle Flecken tanzten vor seinen Augen, dann verschwanden sie, und er erkannte, dass es sich bei der Verkäuferin um eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, handelte. Blondes Haar fiel auf ihre Schultern, es sah aus, als flösse ein Licht um sie herum, als ginge ein Strahlen von ihr aus: Ihre Haut schien zu leuchten, ihre hellen Augen auch. Sie war auf so entschiedene Weise schön, dass es sich wie ein Angriff anfühlte, auf den er in keiner Weise vorbereitet war.

Er räusperte sich. »Die Kette mit den Topasen«, sagte er und deutete Richtung Schaufenster.

Das Mädchen ging zur Nussbaumkommode, schob sich seitlich daran vorbei, beugte sich ins Schaufenster und kehrte gleich darauf mit der Kette zu ihm zurück.

»Die ist toll«, sagte sie schwärmerisch. »Sie ist ganz neu reingekommen. Ich hatte sie auch schon in der Hand.«

»Aber?«, fragte Carl.

Das Mädchen sah ihn irritiert an. »Was aber?«

»Na ja.« Carl lächelte und ließ seinen Blick durch das Geschäft gleiten. Die Bleistiftzeichnung eines Kinderkopfes an der Wand, ein Ölbild mit Seerosen à la Monet, das Wasser übertrieben blau, ein Biedermeierschrank, poliert und prächtig und wie aus der Zeit gefallen. In einem riesigen silbergerahmten Spiegel begegnete er seinem eigenen Bild, der komische Alte und das Mädchen, er sah ganz verhutzelt aus neben ihr, es war zum Fürchten. »Sie mochten die Kette, aber Sie kauften sie sich nicht selbst.«

Das Mädchen lachte kurz auf. »Das stimmt.« Sie setzte schlicht hinzu: »Zu teuer für mich.«

»Ah ja.« Carl nickte. »Ich verstehe.«

Er ließ sich von ihr die zarte Goldkette geben. In regelmäßigen Abständen waren die Topase aufgereiht, jeder einzeln in einer goldenen Fassung. Das kleine Papierschildchen, das mit einem Faden befestigt war, zeigte einen Preis, der überraschend hoch war. Das Mädchen beobachtete ihn.

»Nicht wirklich ein Schnäppchen, ich weiß.« Sie krauste leicht die Stirn und lächelte ihn an. Wie musste er für sie aussehen? Krumm und alt, eine echte Antiquität, dachte er, und etwas an diesem Gedanken brachte ihn fast zum Lachen.

»Würden Sie sie für mich anprobieren?«, fragte er, und zu seiner Überraschung sagte das Mädchen sofort: »Klar«, und nahm ihm die Kette vorsichtig aus der Hand. Mit einer Hand schob sie sich die Haare aus dem Nacken, dann legte sie die Kette um ihren Hals und versuchte sie zu schließen.

»Soll ich helfen?«, fragte Carl, und nach einem fast unmerklichen Zögern sagte das Mädchen: »Ja, bitte«, und drehte ihm den Rücken zu. Er nahm die Kette in beide Hände, wenn er jetzt zitterte, würde er sie nicht schließen können. Er achtete darauf, das Mädchen nicht zu berühren, er wagte kaum zu atmen. Er wollte sich nichts erschleichen, nicht ihre Nähe, nicht einmal ihren Geruch, er wollte nur diese Kette an ihr sehen.

Das Mädchen ging ein paar Schritte zum Spiegel. Mit einer Hand befühlte sie die Steine, dann lächelte sie ihm im Spiegel zu. Eine Aufregung ergriff ihn, eine Art Beben. Er lächelte zurück.

»Hat Ihre Frau auch blaue Augen?«

Fast hätte er gesagt: Ist doch egal. Dann räusperte er sich.

»Grün. Sie hat hellgrüne Augen.«

»Passen Sie auf«, sagte das Mädchen. »Mit der Kette werden ihre Augen etwas Blaues bekommen, das ist seltsam.« Sie fasste mit beiden Händen in ihren Nacken, und diesmal brauchte sie keine Hilfe. Sie ging auf ihn zu, hielt ihm die Kette hin, und er nahm sie, ein Gewicht wie das eines Schmetterlings, kaum mehr.

»Ich kann Ihnen sonst gern auch noch ein paar andere Ketten zeigen«, sagte sie. »Oder diese Kette für einen Tag zurücklegen, wenn Sie noch überlegen wollen.« Sie ging zum Tresen, auf dem eine altmodische Registrierkasse stand und ein Drehgestell mit Metallautos in grellen Bonbonfarben, genau solche wie die in der Drogerie.

»Die sind aber nicht alt«, sagte Carl und deutete mit einem Kopfnicken auf das Drehgestell.

»Nein«, sagte das Mädchen, und ihre Stimme wurde um einen Hauch kühler. »Die sind neu, aber schön altmodisch.«

Sie machte sich an einem Regal unterhalb des Tresens zu schaffen, er konnte nicht sehen, was sie tat. Als sie wieder hochkam, hatte sie einen Karton in der Hand, aus dem sie Schleifen und Geschenkpapier holte und in einen flachen breiten Korb einräumte. Carl sah sich auf sie zugehen, er sah sich sagen: Nehmen Sie die Kette, ich schenke sie Ihnen. Er würde keine weitere Erklärung abgeben, nur dies: Nehmen Sie die Kette. Und er würde nichts dafür wollen, keinen Dank, keine Verabredung, keine Berührung, Gott bewahre. Er wusste, dass das vor zwanzig, dreißig Jahren anders gewesen wäre und dass womöglich auch ihre Reaktion eine andere gewesen wäre (denn er war eine Zeit lang das gewesen, was man gut aussehend nannte, und er hatte es gewusst und ausgenutzt). Die Erkenntnis, dass all das vorbei sein sollte, fühlte sich immer noch an wie ein Sturz ins Nichts.

Das Klingeln der Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Zwei Männer traten ein, der eine hatte eine Mütze mit Ohrenklappen auf, von Schnee gesprenkelt – es musste, während Carl hier unten war, angefangen haben zu schneien. Die Verkäuferin lächelte den Besuchern zu, und Carl meinte, das kurze Erstaunen in den Blicken der Männer zu erkennen und zu sehen, wie sie sich zu voller Größe aufrichteten. Es erinnerte ihn an den Irish Setter, den Helen und er einige Jahre lang gehabt hatten, der sich immer, wenn ein Weibchen in der Nähe war, in die Brust warf und in einen tänzelnden Schritt fiel.

»Ich nehme die Kette«, hörte er sich sagen, und das Mädchen wandte ihm wieder ihre Aufmerksamkeit zu und sagte: »Glück für Ihre Frau.«

»Komm rein«, rief Helen, nachdem er geklopft hatte.

Sie lächelte ihm entgegen, kurz nur, aber es war eindeutig ein freundliches Lächeln.

»War Lisa hier?«, fragte Carl.

Seine Frau schüttelte den Kopf. »Heute noch nicht.« Sie richtete sich ein wenig auf, und Carl beugte sich zu ihr hinab, um ihr mit dem Kopfkissen zu helfen.

»Aber Julka war hier«, sagte Helen. »Sie hat mir Essen mitgebracht, chinesisches, und dann hat sie zugeschaut, wie ich die Suppe löffelte. Es war schrecklich, aber auch nett.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und sie hat erzählt, dass sie an Weihnachten allein sein wird. Stell dir vor, ganz allein. Eigentlich hatte ihr Sohn aus Polen kommen wollen, aber das geht jetzt nicht, und ihre Freundinnen – sie hat da zwei, drei erwähnt – sind bei ihren Familien.« Mit einer Hand strich sie ein paarmal über die Bettdecke, als wollte sie unsichtbare Krümel beseitigen. »Und darum habe ich sie eingeladen. Nicht für Heiligabend, aber für den ersten Weihnachtstag. Sie wollte erst nicht, aber ich konnte sie dann doch überreden.« Helen sah Carl an, sie wirkte plötzlich unsicher. »Ist das okay?«, fragte sie. »Ich hätte dich vielleicht erst fragen sollen.«

»Nein, nein«, sagte Carl.

Nachdem er bezahlt hatte, hatte die Verkäuferin die Kette genommen und sie in eine kleine, mit Samt ausgepolsterte Schachtel gelegt, für einen Moment hatten sie beide das helle Blau der Topase und das Gold auf dem Samt betrachtet. Um die Schachtel hatte sie eine der Schleifen gebunden und die Schachtel dann in eine kleine Papiertüte gesteckt. Wenn er jetzt seine Manteltasche berührte, konnte er das Knistern hören, und etwas daran schien den Sturz ins Nichts noch für kurze Zeit aufzuhalten. Er wusste nicht, ob es am Mädchen lag, an der Kette oder einfach daran, dass ihm an diesem grauen Dezembermorgen unerwartet etwas so Schönes begegnet war.

»Nein«, wiederholte er. »Alles okay. Ich freu mich sogar.«

Januar

»Kommen Sie, kommen Sie!«, rief Carl, die Tür weit geöffnet, und als die Ärztin vor ihm stand, eine Maske über dem unteren Teil ihres Gesichts, sodass er nur ihre Augen sehen konnte – asiatische Augen, wie die von Lisa –, sagte er, statt einer Begrüßung: »Geht’s Ihnen gut?« Aber er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern fuhr gleich fort: »Ihr geht es schlecht, die Nacht war furchtbar.«

Die Ärztin nickte und legte Carl beruhigend eine Hand auf den Arm, dann sagte sie leise: »Ich schau mal nach ihr«, schob sich an ihm vorbei und ging die Wendeltreppe nach oben. Carl sah ihr hinterher. Die Treppe schien ihm plötzlich unüberwindlich hoch, als müsste er steile, eng gewundene Serpentinen emporklettern. Was hatten sie sich bloß dabei gedacht, als sie diese Wohnung gekauft hatten, beide schon weit in den Siebzigern? Ja, klar, man konnte mit dem Aufzug bis in den vierten Stock fahren und von dort aus die obere – Helens – Etage der Wohnung betreten. Aber als sie hier eingezogen waren, hatten sie in diesen Kategorien noch gar nicht gedacht: Helens Etage. Seine. Es war eine der guten Phasen in ihrer Ehe gewesen, ein Aufbruch, der wie alle Aufbrüche das Versprechen mit sich brachte, Schlechtes hinter sich zu lassen. Es diesmal nicht zu verpatzen. Dabei hätten sie im selben Gebäude eine Wohnung kaufen können, die die gleiche Grundfläche – gut hundert Quadratmeter – auf einer Ebene gehabt hätte. Aber sie hatten beide die Idee reizvoll gefunden, weiter auf zwei Etagen zu leben, sodass sie wie bisher den Wohnbereich vom Schlafbereich trennen könnten.

»Wie geht es ihr?«, fragte Carl, als die Ärztin die Treppe wieder herunterkam. Noch immer hatte sie die Maske auf, und bevor sie antworten konnte, fragte Carl: »Wollen Sie, dass ich auch eine anziehe? Kann ich gerne machen.« Er deutete vage auf die Kommode, auf der eine offene Schachtel stand. Im frühen Herbst war die Maskenpflicht im ganzen Bundesstaat ausgesetzt worden, aber seit zwei, drei Wochen wurde darüber diskutiert, sie wieder einzuführen. In Newark und Morristown musste man bereits seit letzter Woche wieder welche tragen, und Montclair würde wahrscheinlich auch bald folgen.

Die Ärztin zuckte mit den Schultern und winkte mit beiden Händen ab. Ihre Augen sahen aus, als ob sie lächelte. »Schon okay«, sagte sie. Dann fragte sie: »Können wir uns einen Moment hinsetzen? Ginge das?«

»Natürlich.« Carl machte eine einladende Geste in Richtung Esszimmer. »Hier entlang, bitte.«

Er ließ die Ärztin vorangehen. Sie trug keinen Arztkittel, einfach eine weiße Hose, darüber einen langen Wollpullover in Hellgelb. Als sie gekommen war, hatte sie einen gefütterten Anorak angehabt, der sie dicker erscheinen ließ. Jetzt sah Carl, dass sie zierlich war, die weite Hose schlackerte beim Gehen um ihre Beine. Er schätzte sie auf Mitte dreißig, aber sie konnte auch älter sein, bei Asiatinnen war er sich immer unsicher. Außerdem sah er ja nur einen Teil ihres Gesichts. In den letzten zwei Jahren hatte ihn das oft verblüfft: wie falsch die Vorstellung von einem Gesicht sein konnte, wenn man nur die obere Hälfte davon sah.

»Geht es ihr schon länger so schlecht?« Die Ärztin hatte sich auf den Stuhl gesetzt, der – als er und Helen noch zusammen gegessen hatten – seiner gewesen war. Sie hatte die Hände vor sich auf den Tisch gelegt, schmale lange Finger mit kurz geschnittenen Fingernägeln, die überraschend breit waren. Wie kleine Schaufelblätter, ging es Carl durch den Kopf.

»Nicht immer«, sagte er.

Die letzte Nacht war besonders schlimm gewesen. Er hatte sie stöhnen hören, und einmal – es musste bereits gegen Morgen gewesen sein, denn von der Straße waren die Geräusche und das orangefarbene Licht der Müllabfuhr durch die Vorhänge gedrungen – war er von ihren Schreien aufgewacht. »Ich kann nicht mehr, o Gott, ich kann nicht mehr!« Sie schrie es immer wieder, aber als er zu ihr ins Zimmer gelaufen war, hatte sie ihn mit einem so wütenden Blick bedacht, dass er sich hinter die angelehnte Tür zurückgezogen und von da aus gefragt hatte, ob er etwas tun könne. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?« Sie hatte nicht geantwortet, und er hatte gesagt: »Lass mich einen Arzt holen!«, und dann noch »Komm schon, Helen, bitte« hinzugesetzt, aber sie hatte ihm nicht geantwortet und auch nicht mehr geschrien. Den Rest der Nacht hatte er wach im Bett gelegen, und am Morgen hatte er Helen einen Tee gebracht. Sie war blass gewesen, und sie sah gleichzeitig fassungslos und sehr konzentriert aus. Es war offensichtlich, dass sie ihn weder anschauen noch mit ihm reden oder den Tee trinken würde. Er rief Lisa an und fragte nach der Nummer von Helens Ärztin, und Lisa hatte sie ihm dreimal diktieren müssen, weil er immer wieder durcheinandergekommen war.

»Das Problem ist natürlich«, sagte die Ärztin – Dr. Tran oder Dr. Pham –, »dass sich das alles nicht mehr bessern wird.«

Carl nickte mehrmals, ohne sie anzusehen.

»Es wird im Gegenteil sogar schlimmer, sie wird immer schwächer werden, immer seltener wach sein, und sie wird – leider – auch immer mehr Schmerzen haben.«

Sie hielt inne, als erwartete sie eine Reaktion, und Carl gab ein zustimmendes Geräusch von sich.

»Aber wenigstens dagegen kann man etwas tun«, sagte die Ärztin. Carl erinnerte sich plötzlich an ihren Namen: Lin Pham. Und ihm fiel auch wieder ein, wie er es sich hatte merken wollen: Lin Pham ist infam. Obwohl das natürlich Unsinn war.

Er fragte: »Sie meinen Morphium?«, und die Ärztin nickte. »Morphium, Opiate, es gibt, Gott sei Dank, inzwischen sehr gute Mittel, um den Schmerz in den Griff zu bekommen. Sie machen alle stark abhängig, aber immerhin darum müssen wir uns jetzt nicht mehr sorgen.« Sie zögerte kurz. »Allerdings wird sie dann immer weniger ansprechbar sein.« Sie zog jetzt die Maske herunter, und Carl konnte sehen, dass er sich getäuscht hatte: Rechts und links ihres Mundes verlief je eine tiefe Falte. »Was ich damit sagen will …« Sie zögerte kurz, dann beugte sie sich ein wenig vor und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. »Sie sollten bald klären, was Sie klären wollen. Je früher, desto besser.«

»Da gibt es nichts zu klären«, sagte Carl, und mit Blick auf Lin Pham – auf ihr argloses Lächeln –, fügte er hinzu: »Es ist alles schon so lange zerrüttet, dass sich nichts mehr kitten lässt.«

Gegen Mittag kam Lisa. Er hatte sie angerufen, kaum dass die Ärztin gegangen war, und Lisa hatte gesagt: Okay, klar, sie komme, aber sie sei gerade in Eile. Carl hatte im Hintergrund Stimmen gehört, und etwas klirrte, als ob zwei Metallstücke zusammenstießen; es hatte ihn verwirrt.

Sie klingelte bei ihm, statt direkt nach oben zu fahren – sie hatte für beide Etagen Schlüssel. Bevor sie zu ihrer Mutter hochging, setzte sie sich mit ihm ins Wohnzimmer und ließ ihn erzählen, von der Nacht und den letzten zwei Tagen.

»Sie will mich nicht bei sich haben«, klagte Carl, und Lisa war so freundlich, nichts zu erwidern, sondern nur zu nicken. Ihr kurzes Haar war fedrig geschnitten, mit kleinen abstehenden Fransen über den Ohren, wodurch ihr Gesicht noch breiter wirkte. Gut möglich, dass sie sich selbst die Haare schnitt. Er stellte sich vor, wie sie vor dem Spiegel stand und Strähne um Strähne kürzte, bis ihr Haar wie eine schwarze ausgefranste Haube auf ihrem Kopf thronte. Welch Kontrast zu damals, als sie von ihnen verlangt hatte, sie zu einer japanischen Friseurin in Jersey City zu bringen, die auf asiatische Haare spezialisiert war. »Ihr denkt immer nur an euch!«, hatte sie geschrien, als Helen ihr vorgeschlagen hatte, sie mit zu ihrer eigenen Friseurin zu nehmen. Heute hätte sie eine dieser reizlosen Krankenschwestern sein können, die von Patient zu Patient eilten und nie die Übersicht verloren.

»Wie geht’s denn dir?«, fragte sie.

Carl dachte daran, wie die meisten seiner Tage aussahen: die Besorgungen am Morgen, die immer gleiche Runde, von der Drogerie zu Raymond’s Café, wo er manchmal einem seiner wenigen verbliebenen Bekannten begegnete. Ian, mit dem er ein paar Worte wechselte. Ein- oder zweimal die Woche ging er weiter zur Bibliothek, die seit letztem Sommer wieder geöffnet hatte. An manchen Vormittagen lag dort ein Hund auf der Treppe, die zur Eingangstür führte, ein großer schwarzer, mit so viel Fell, dass man genau hinschauen musste, um zu sehen, wo vorne und hinten war. Der Hund gehörte einer der Bibliothekarinnen, die stundenweise dort arbeitete, eine nicht mehr ganz junge, blonde Frau mit dem Akzent einer Schwedin oder Holländerin. Einige Male hatte er mitbekommen, wie sie auf ihren Hund angesprochen worden war. Er hatte gehört, wie ihr erklärt wurde, dass es in Amerika nicht üblich sei, seinen Hund vor einem Gebäude anzubinden.

»Und warum bitte nicht?«, hatte die Frau mit einem Stirnrunzeln gefragt. Der Hund könne entführt werden, beschied man ihr. Oder vergiftet.

»Glaub ich kaum«, hatte die Bibliothekarin erwidert.

Aber tatsächlich hatte er den Hund danach für zwei oder drei Wochen nicht gesehen, bevor dieser dann wieder auf den Stufen lag, als wäre nichts geschehen.

Carl hatte ein paarmal versucht, Blickkontakt mit der Bibliothekarin herzustellen; er wäre sofort bereit gewesen, ihr beizustehen. Aber es schien fast, als wäre er unsichtbar für sie. Keine wirklich neue Erfahrung: Schon seit etlichen Jahren hatte er das Gefühl, dass er kaum noch gesehen wurde. Als wäre das Alter eine Tarnkappe, wie sie in Märchen vorkam, nur dass es keine war, die man freiwillig aufsetzte. Er war zur Überzeugung gelangt, dass die Menschen durch ihn hindurchsahen, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen, und es war verblüffend, wie sehr diese Erkenntnis schmerzte. Sie stieß ihn in eine Einsamkeit, die sich wie ein nächtlicher See schwarz und tief um ihn ausbreitete.

Es kam ihm nicht in den Sinn, seiner Tochter davon zu erzählen. Neben ihrer Mutter wäre sie die Letzte, die ihn bemitleiden würde.

»Ganz gut«, sagte er. »Und bei dir und Collin? Alles okay?«