Dieses entsetzliche Glück - Annette Mingels - E-Book
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Dieses entsetzliche Glück E-Book

Annette Mingels

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Beschreibung

Über unsere Neigung, einander misszuverstehen, und das schwierig-schöne Miteinander, das Leben heißt

Hollyhock, eine Kleinstadt irgendwo in Virginia, ist die Heimat von fünfzehn Menschen, deren Leben miteinander verbunden sind: Robert und Amy, die vereinbart haben, dass sie beide mit anderen schlafen dürfen, was Robert gar nicht will. Aiko, die glücklich sein könnte mit Alex, denn er strahlt eine Zuversicht aus, die sie von ihrem Bruder Kenji kennt. Doch das Glück will sich nicht einstellen. Dan, dessen Ehe in die Brüche ging und der ahnt, dass auch die seiner Schwester Amy auf der Kippe steht ... Mit großer Wärme und heiterer Melancholie erzählt Annette Mingels von Menschen auf der Durchreise in ihrem eigenen Leben. »Das Buch ist psychologisch ganz fein gestrickt. (…) Sehr unterhaltend zu lesen.« Elke Heidenreich, WDR

  • Über unsere Neigung, einander misszuverstehen, und das schwierig-schöne Miteinander, das Leben heißt
  • Für Leserinnen und Leser von Alice Munro, Elizabeth Strout und Peter Stamm
  • »Annette Mingels ist eine Meisterin des Episodenromans. ›Dieses entsetzliche Glück‹ erzählt von der Melancholie der Mittelklasse und ist ihr bestes Buch.« Ursula März, DIE ZEIT

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Seitenzahl: 490

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Buch

Irgendwo im ländlichen Virginia liegt sie, die Kleinstadt Hollyhock. Man kennt einander, und doch weiß man wenig über den anderen. Da sind Robert und Amy, die vor einem Jahr eine Vereinbarung getroffen haben: sie dürfen beide mit anderen schlafen, was Robert gar nicht will. Da ist Aiko, die glücklich sein könnte mit Alex, der eine Zuversicht ausstrahlt, die sie von ihrem Bruder Kenji kennt, doch das Glück will sich nicht einstellen. Da ist Dan, dessen Ehe in die Brüche ging und der ahnt, dass auch die seiner Schwester Amy auf der Kippe steht. Da ist Kenji, der sich in New York als Schriftsteller versucht, und Lucy, die sich zu ihrer eigenen Überraschung in eine Frau verliebt. Und da ist Basil, der ein Geheimnis mit sich trägt, von dem in Hollyhock niemand etwas ahnt.Fünfzehn Leben, fünfzehn Geschichten fügt Annette Mingels zum Roman über Heimat, Liebe und Freundschaft. Ungeschützt vor den Zumutungen der Welt, zeigt uns jede von ihnen, was Leben heißt.

Autorin

Annette Mingels wurde 1971 in Köln geboren. Sie studierte Germanistik und Soziologie und schloss mit einer germanistischen Dissertation ab. Für ihr literarisches Schreiben erhielt sie verschiedene Auszeichnungen, zuletzt 2017 für den Roman »Was alles war« den Buchpreis der Ravensburger Stiftung. Von 1997 bis 2009 lebte Annette Mingels in der Schweiz, danach in den USA und Hamburg. Seit 2018 lebt sie in San Francisco.

»Konkretion ist die Stärke der Autorin, es wird eben nicht nur Gefühlen nachgeforscht, sondern sehr plastisch von Menschen, Orten, Dingen erzählt.« Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, über Romantiker

»Eine Meisterin der Einfühlung und des Stils.« Martin Ebel, Tages-Anzeiger, über Was alles war

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Annette Mingels

DIESES ENTSETZLICHE GLÜCK

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Abdruck des Mottos erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages:Alice Munro, Zu viel GlückIn der Übersetzung von Heidi Zerning© 2011, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werdenhier unter Lizenz benutzt.Copyright © 2020 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Favoritbüro

Umschlagabbildung: © Austrian Archives/Imagno/picturedesk.com/Spiel der Wellen: Stoffmuster-Entwurf von Kolo Moser für Backhausen & Söhne, Wien

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24451-4V004

www.penguin-verlag.de

Für meine Nichten und Neffen Andrina, Kyra, Renja, Lena und Christian. In Erinnerung an Florian.

In unserem Leben gibt es einige wenige Orte oder vielleicht nur den einen Ort, wo etwas geschah, und dann gibt es noch all die anderen Orte.

Alice Munro

1RETTER

Ziemlich genau vor einem Jahr hatten Robert und Amy eine Vereinbarung getroffen: sie durften beide mit anderen schlafen. Das Problem war nur, dass Robert das gar nicht wollte.

Vielleicht war es auch so, dass niemand mit ihm schlafen wollte, dachte er jetzt, als er den Zug bestieg, um die einstündige Heimfahrt anzutreten. Aber dann fiel ihm wieder die Praktikantin aus der Anzeigenabteilung ein, die einige Wochen lang Interesse signalisiert hatte. Das erste Mal war es ihm am Weihnachtsfest der Firma aufgefallen, und vielleicht wäre damals sogar etwas passiert, hätte er ihre Blicke, Komplimente und ihr Lachen, sobald er auch nur ansatzweise geistreich war, nicht als übertriebene Höflichkeit gedeutet. Die Vorstellung, dass er mit ihr hätte schlafen können, war berauschend. Gleichzeitig wusste er, dass er es nicht getan hätte. Das Mädchen war gerade mal drei Jahre älter als seine eigene Tochter, er dagegen fünfzig, und er sah keinen Tag jünger aus. Jedem war nur ein bestimmtes Maß an Selbstverleugnung gegeben, und seines war nicht besonders groß.

Sie hätten bestimmt, dachte er, als er die zweite Klasse in Richtung erster durchschritt, ein anderes Projekt finden können. Eine Weltreise vielleicht. Ein Umzug. Irgendein gemeinsames Hobby. Aber als sich Amys Adoptionspläne zerschlagen hatten – um genau zu sein, hatte Robert dies durch seinen Rückzieher getan –, schien ihr das einzige Mittel zur Rettung ihrer Ehe fremdzugehen.

Er hatte es eine ganze Zeit lang nicht gemerkt, und genau das, sagte Amy später, war bezeichnend. Tatsächlich war er darauf gekommen, weil sie neue Ohrringe trug, winzige farblose Diamanten, die man zwischen ihren dunklen Haaren nur sehen konnte, wenn das Licht sich in ihnen verfing. Sie hatte sofort gestanden, dass sie sie von Liam bekommen hatte, der mit ihr in der Stadtverwaltung arbeitete und dem Robert ein paar Mal dort begegnet war. »Warum sollte er dir Ohrringe schenken?«, fragte Robert verwirrt. Amy sah ihn nur gelangweilt an. Immerhin: es war keine große Liebe zwischen den beiden entbrannt. Es war einfach so, dass es sich als angenehmer Zeitvertreib erwiesen hatte, mit Liam zu schlafen und ihn auf diese Art ganz neu kennenzulernen. Glaubte man Amy, verbarg sich hinter dem harmlosen Aussehen Liams – seinem schwarzen Haar, das er immer mit zu viel Gel nach hinten kämmte, seiner dunklen Hornbrille, dem grau werdenden Bart und der behäbigen Figur eines ehemaligen Ringers – ein durchaus interessanter Mann. »Er ist fürsorglich«, sagte sie, »und er hat Humor.« »Dann soll er dir einen Kaffee und einen Witz servieren«, sagte Robert, und Amy erwiderte spitz: »Das tut er auch. Nach dem Sex.« Robert war sich nicht sicher, was schlimmer war: betrogen zu werden oder verspottet.

Es hatte einige unschöne Szenen gegeben. Sie hatten sich angeschrien, wie sie es nur in der allerersten Zeit ihrer Beziehung getan hatten. Als sie einander nach Tagen des Streitens und Schmollens versicherten, dass sie sich immer noch liebten, schien das Schlimmste überstanden. An diesem Tag gingen sie zusammen ins Bett, und Robert verdrängte die Bilder, die sich in seinem Kopf zusammenballten. Amy in den Armen von Liam, er über ihr, sie auf ihm. Wahrscheinlich erging es Amy ähnlich. Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, schien für einen Moment alles möglich, und als Amy in die Stille hinein sagte, dass sie trotzdem noch mit Liam schlafen wolle – mit Liam oder vielleicht auch einem anderen –, war Robert für einen Moment so erschöpft und befriedigt, dass er, tu das, sagte: »Dann tu das.«

Die eigentlichen Verhandlungen begannen am nächsten Tag, als sie sich – wie früher zu einer ihrer Familienkonferenzen – am Küchentisch zusammensetzten und auf einem Blatt Papier die neuen Regeln und Pflichten festlegten. »Was machen wir jetzt mit dem Zettel?«, fragte Robert. »Sollen wir ihn an die Küchenwand hängen, wie früher die von Anna?« Zu seiner Erleichterung fing Amy an zu lachen. Dann lachten sie beide, und als sie damit fertig waren, schliefen sie noch einmal miteinander.

Das Problem an ihrer Vereinbarung war seither, dass sie einseitig ausgeführt wurde. Offenbar war es so, dass sich Amy mühelos Gelegenheiten boten, und Robert war ihr heimlich dankbar, dass sie immerhin die ersten zwanzig Jahre ihrer Ehe auf so vieles verzichtet hatte. Trotzdem schmerzte es, sie bei einem anderen zu wissen. Eine ihrer Regeln war Diskretion – sowohl nach außen als auch im Umgang miteinander, und so wusste er zwar, wenn sie zu einem anderen Mann ging, aber mehr als seinen Vornamen verriet sie ihm nicht. In letzter Zeit war es ohnehin nur Liam gewesen.

Er hatte sich angewöhnt, sich mit Sport abzulenken. In Hollyhock hatte ein neues Sportstudio aufgemacht, und es war ihm wie ein Wink des Schicksals erschienen, als ihm eine junge, blond gelockte Frau einen Flyer in die Hand drückte, der einen kostenlosen Probemonat anpries. Als einer der ersten Kunden fand er sich in dem riesigen, von Spiegeln und blank polierten Maschinen funkelnden Raum ein, und als einer der Ersten meldete er sich für ein ganzes Jahr an. Dreimal die Woche mühte er sich nun an den Maschinen ab, und das Bild, das sich ihm bot, wenn er sich dabei in den Spiegeln beobachtete, wurde von Woche zu Woche erträglicher.

Vor dem Zugfenster zog die flache Landschaft Virginias vorbei, Wiesen, Wälder und Felder wechselten einander ab. Zwischen den Wipfeln der Bäume ragte der Wasserturm von Albemarle auf, dessen ovaler Speicher Robert immer an ein Ufo erinnerte. Das Korn war grün und kaum kniehoch, es würde noch Wochen brauchen, um zu reifen. Als Kind hatte er manchmal mit seinen Brüdern zwischen den Ähren gespielt, stets auf der Hut vor den Bauern, die wütend wurden, wenn sie die Eindringlinge entdeckten.

Auf der Sitzbank gegenüber hatte eine junge Frau mit drei kleinen Kindern Platz genommen. In ihrem Schoß lag ein Buch, aus dem sie den Kindern vorlas. Das Jüngste bohrte selbstvergessen in der Nase, die Augen auf die Bilder im Buch gerichtet. Das Älteste, ein dünnes, etwa zehnjähriges Mädchen mit wirren blonden Haaren und hellblauen Augen, sah manchmal zu Robert hin, als gelte es, ihn im Blick zu behalten. Die Mutter konnte höchstens Ende zwanzig sein, und Robert fragte sich, wie sie so früh so viele Kinder hatte bekommen können. Es musste einfach so geschehen sein, dachte er, ohne viel Aufhebens, dem Gesetz der Fortpflanzung gehorchend. Weil man sich liebte, weil es alle so machten, weil sich nichts Besseres bot. Bevor Amy schwanger wurde, hatten sie eine ganze Reihe von Gesprächen geführt, in denen sie die Vor- und Nachteile gegeneinander abwogen, und die, kaum war Anna geboren, absurd schienen. Trotzdem war es bei dem einen Kind geblieben – es hatte sich keine weitere Schwangerschaft ergeben, und sie hatten sich nicht ernsthaft darum bemüht. Erst als Anna zum College gegangen war, hatten sie noch einmal über Kinder gesprochen, aber da war es zu spät gewesen.

Vom vorderen Teil des Waggons näherte sich der Schaffner, der die Tickets kontrollierte. Robert hielt ihm seine Monatskarte hin, und der Schaffner nickte kurz. Dann wandte er sich der jungen Mutter zu, die begonnen hatte, in ihrer Tasche zu wühlen. Das Buch hatte sie vor sich auf den Tisch gelegt, die Kinder saßen und standen um sie herum und beobachteten interessiert ihre zunehmend nervöse Suche. Der Schaffner wandte den Blick nicht von ihr ab. Es war, als schauten sie alle einem Schauspiel zu, als führe die junge Frau hier etwas auf, von dem jeder bereits das Ende kannte, und die einzige Frage war, wie gut ihr die Vorstellung gelingen würde.

»Keine Panik«, sagte der Schaffner nun mit einer überraschend tiefen Stimme. »Ich komm dann noch mal zurück.«

Die Frau nickte und hielt sich die Hand vor den Mund, als müsse sie sich daran hindern aufzuschluchzen. Das kleinste der drei Kinder drängte sich an ihr Bein, und als die Mutter es mit einer unwilligen Bewegung wegschob, legte das größere Mädchen ihm beide Hände auf die Schultern. Keines der Kinder sagte ein Wort. Auf alle hatte sich eine unheimliche Stille gesenkt, in der das raschelnde Geräusch, mit dem die Frau ihre Tasche durchwühlte, ungebührlich laut schien.

Als der Schaffner zurückkam, hatte die Frau schon länger aufgehört zu suchen. Sie hatte sich das kleinste der Kinder auf den Schoß gezogen und ihren Kopf an seinen Rücken gelehnt, als wollte sie sich dahinter verstecken.

»Meine Geldbörse ist nicht da«, sagte sie tonlos, als der Schaffner neben ihr stand. »Ich weiß nicht, ob sie gestohlen wurde oder ob ich sie verloren habe – aber sie ist nicht da, und in der Geldbörse waren die Tickets.«

»Wohin fahren Sie?«, fragte der Schaffner. Er konnte nicht viel älter als sie sein, hatte aber ein breites, biederes Gesicht, das wahrscheinlich nie wirklich jugendlich ausgesehen hatte. »Nach Hollyhock?«

»Ja.« Die Frau nickte, und Robert hatte das Gefühl, dass sie zu jedem Ort ja gesagt hätte.

»Und wie alt sind die Kleinen?«

Offensichtlich versuchte der Schaffner, Ordnung in das Geschehen zu bringen, und Robert bewunderte ihn insgeheim für seine Redlichkeit.

»Vier«, sagte die Mutter und deutete auf das kleine Mädchen. »Sechs.« Sie legte die Hand auf die Schulter des Jungen, der grimmig auf den Boden schaute. »Und meine Älteste ist neun.«

Sie sah ernst und unglücklich aus und vermied es sorgsam, Robert oder einen anderen der Passagiere anzusehen. Auch den Schaffner lächelte sie nicht an, und doch schien es, als begebe sie sich vertrauensvoll in seine Obhut.

Nein, dachte Robert, nicht vertrauensvoll. Eher resigniert.

Der Schaffner holte eine kleine Maschine hervor und tippte darauf herum.

»Das wären neunundsechzig Dollar«, verkündete er schließlich.

»Tja.« Jetzt lächelte die Frau, aber es war kein freundliches Lächeln. »Wie gesagt. Ich habe keine Geldbörse.«

»Aber doch bestimmt einen Ausweis«, sagte der Schaffner.

Die Frau zuckte mit den Schultern. »Alles in der Geldbörse.«

Sie sah den Schaffner jetzt mit einem herausfordernden Blick an, und Robert fühlte sich an die Zeit erinnert, als seine Tochter in die Highschool ging und manchmal Freundinnen mit nach Hause brachte. Auf den ersten Blick schienen sie alle wohlerzogen, doch bei manchen spürte Robert, dass die Höflichkeit nur aufgesetzt war und direkt darunter eine durch nichts zu beeindruckende Verachtung lauerte – für ihn, für Amy und, was am schlimmsten war, für Anna.

Der Schaffner hob die Augenbrauen und sah auf sein Gerät, als könnte es ihm verraten, was zu tun sei. Der Junge hatte seinen grimmigen Blick jetzt auf ihn gerichtet.

»Ich komm gleich wieder«, sagte der Schaffner und ging mit schaukelnden Schritten aus dem Waggon. Die Geräusche kehrten zurück, ein Zeitungsrascheln hier, leise Gespräche dort, ein Telefon, das die Melodie von Star Wars spielte. Der Junge nahm das Buch auf, die Mutter seufzte und begann wieder zu lesen. Ihr Haar war wellig und braun wie Maisbart, oberhalb der Stirn schien es feucht von Schweiß zu sein. Die braunen Augen standen so weit auseinander, dass sie unter den schmalen Brauen schutzlos aussahen, während die breite Unterlippe ihrem Gesicht etwas Aufmüpfiges verlieh. Ihre Schönheit, dachte Robert, musste sie irgendwann selbst überrascht haben, und wahrscheinlich würde sie in einigen Jahren erkennen, dass sie ihr weniger gebracht hatte als erhofft.

Als der Schaffner zurückkam, las die Frau den Satz zu Ende und klappte dann das Buch zu. Sie richtete ihren Blick auf den Schaffner, als wäre es an ihm, sich zu erklären.

»Also«, sagte er. »Irgendwas haben Sie sicher dabei, um sich auszuweisen. Irgendwas, wo Ihr Name draufsteht.«

Die Frau legte ihre Stirn unwillig in Falten. »Was denn?«, fragte sie. »Namensschildchen in meinen Kleidern, oder was?«

Das ältere Mädchen prustete los und legte sich sofort eine Hand vor den Mund. Die Mutter warf ihr einen tadelnden und gleichzeitig amüsierten Blick zu, und das Mädchen nahm die Hand vom Mund und grinste breit.

»Gucken Sie halt mal nach.«

Die Stimme des Schaffners klang jetzt nicht mehr freundlich. Vielleicht war ihm klar geworden, dass er sich hier in der besseren Position befand. Die Frau schob das Kind von ihrem Schoß und angelte nach ihrer Tasche, die auf dem Boden lag. Dann holte sie nacheinander und immer wieder mit hochgezogenen Brauen zum Schaffner blickend sämtliche Utensilien aus ihrer Tasche: eine aufgerissene Tüte Lifesavers, ein Handy in einer gelben Kunstlederhülle, zwei Matchboxautos, eine kleine Kosmetiktasche, einen Teebeutel in bunter Papierverpackung, ein Paar Kindersocken, ein Buch über die Pflege und Aufzucht von Chinchillas, vier Zahnbürsten und eine Tube Zahnpasta, ein Päckchen Zigaretten, ein grellpinkes Feuerzeug, eine Plastikdose mit Schmerztabletten.

Der Schaffner musterte die Habseligkeiten.

»Haben Sie gar kein Gepäck dabei?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir fahren am Abend wieder zurück«, sagte sie und sah den Schaffner mit einem spöttischen Lächeln an. »Ein Familienausflug, verstehen Sie? Nur ein kleiner Familienausflug.«

Wieder prustete die ältere Tochter los, aber diesmal brachte ihre Mutter sie mit einem strengen Blick zum Schweigen.

»Okay«, sagte der Schaffner. Er klang wütend. »Dann müssen wir halt die Polizei verständigen.«

Er kramte das Telefon aus seiner Hosentasche, während die Frau ihn feindselig ansah. Der Junge begann zu weinen, und seine Mutter streichelte ihm über den Rücken. Der Schaffner blickte auf den Jungen und hatte plötzlich etwas Zerknirschtes an sich. Trotzdem begann er eine Nummer einzutippen.

»Einen Moment«, sagte Robert und war selbst erstaunt, dass er sich zu Wort meldete. Es hatte etwas Ungeheuerliches an sich, fast als würde er eine Bühne betreten, während dort noch gespielt wurde. »Ich muss auch nach Hollyhock.« Er räusperte sich. »Ich kann gern für die junge Dame bezahlen. Und natürlich für die Kinder.« Er holte sein Portemonnaie heraus und zählte einen Fünfzig- und zwei Zehndollarscheine ab. »Neunundsechzig, nicht wahr?«

Der Schaffner nickte und steckte das Handy wieder in seine Hosentasche. Robert hielt ihm die glatt gestrichenen Scheine hin und winkte ab, als der Schaffner ihm das Rückgeld geben wollte. Achselzuckend steckte der Schaffner das Geld ein, druckte mit seiner kleinen Maschine vier Tickets aus und hielt sie Robert hin. Robert machte eine auffordernde Handbewegung zur Frau hin, und die Frau nahm die Tickets und sah ihn zum ersten Mal an. Ihr Blick war abschätzend und auf unbestimmte Weise belustigt.

»Danke«, sagte sie. »Sehr freundlich von Ihnen.«

Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch dann lächelte sie nur kurz und schwieg.

Robert nickte ein paar Mal. »Schon gut. Nicht der Rede wert.«

Er holte aus seiner Tasche die Zeitung, die er heute Morgen schon gelesen hatte, und nickte der Frau noch einmal zu. Dann schlug er die Zeitung auf und begann zu lesen.

Hollyhock Station war ein eingeschossiger, lang gestreckter Bau mit weiß gerahmten Bogenfenstern. Im letzten Jahr war das Gebäude rot gestrichen worden und hatte ein Dach aus Zink bekommen, das jetzt die späte Nachmittagssonne reflektierte. Früher war Robert an den Wochenenden gerne mit Anna hierherspaziert, um die ein- und abfahrenden Züge zu beobachten. Anna hatte den Passagieren zugewunken, und viele von ihnen hatten zurückgewunken. Natürlich hatte Amy recht gehabt, wenn sie vermutete, dass es weniger Anna als er selbst war, der die Züge anschauen wollte, doch auch heute noch gehörten die gemeinsamen Spaziergänge und das friedliche Warten am Bahnhof zu seinen schönsten Erinnerungen an Annas Kindheit, und er hoffte, dass es Anna ähnlich erging.

Robert überquerte die kleine Holzbrücke, die über die Gleise führte. Am Fuß der Treppe stand die junge Frau. Die Kinder waren vorausgelaufen, drängten sich nun vor einem Getränkeautomaten und überlegten laut, was sie auswählen würden, wenn sie könnten. Als Robert nach unten kam, drehte sich die Frau zu ihm um. Sie schien nicht überrascht, ihn zu sehen, und lächelte.

»Da sind Sie ja.«

Sie sagte es so, als hätten sie eine Verabredung, zu der er eine entschuldbare Viertelstunde zu spät kam.

»Ja.« Er erwiderte ihr Lächeln und fragte besorgt: »Was machen Sie jetzt? So ohne Geld, meine ich.«

Die Frau schlenderte zum Getränkeautomaten und begann in ihrer Jackentasche zu kramen. Als sie ihre Hand herauszog, hatte sie etliche Quarters darin, die sie ihren Kindern hinhielt. Wie gierige Vögel stürzten sie sich darauf und steckten sie in den Automaten.

»So ganz ohne Geld bin ich ja nicht«, sagte die Frau. Die erste Dose fiel polternd in das Ausgabefach, dann die zweite. »Obwohl. Jetzt schon so ungefähr.« Sie blickte Robert an. »Wohnen Sie hier? In – «, sie drehte sich zu dem Stationsschild um und las: »Hollyhock?«

Robert nickte.

»Mit Frau und zwei reizenden Kindern?«

Sie legte den Kopf ein wenig schief. Zwischen ihren Vorderzähnen befand sich eine kleine Lücke, die sie noch jünger wirken ließ. Robert spürte eine flatternde Aufregung in seiner Brust.

»Mit einem reizenden Kind«, sagte er. »Und das ist auch schon im College.«

»Wie praktisch.« Die Frau seufzte in gespielter oder echter Erschöpfung. »Das dauert bei meinen leider noch.«

Die Kinder hatten angefangen, ihre Limonaden zu trinken. Das ältere Mädchen brachte der Mutter die restlichen Münzen.

»Müssen Sie auch da lang?«, fragte Robert und deutete auf die von hohen Laubbäumen gesäumte Straße, die vom Bahnhof wegführte.

»Ich muss gar nichts. Ist das nicht großartig?«, sagte die Frau und reckte ihr Kinn ein wenig vor. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann drehte sie sich zu ihren Kindern um und rief sie zu sich.

»Wir gehen einfach ein Stück mit Ihnen, okay?« Sie klang jetzt fast schüchtern. »Und schauen uns Hollyhock an.«

»Klar«, sagte Robert. »Warum nicht.«

Im Gehen wandte er sich ihr zu. »Ich heiße übrigens Robert.«

»Julie«, sagte die Frau. »Und diese Entchen hier sind Stacey, Leo und Coco.«

»Kommen Sie aus Washington?«

»Ursprünglich aus Maryland«, erklärte Julie. »Aber ja, heute, und seit einigen Jahren: aus Washington.« Sie kickte eine Dose, die auf dem Weg lag, so mit dem Fuß an, dass sie im Gebüsch am Rand verschwand. »War übrigens nett von Ihnen, uns zu helfen.«

»Kein Problem.«

Sie waren an einer Kreuzung angekommen, und Robert deutete nach links.

»Am besten gehen Sie hier entlang. Ich komme noch ein bisschen mit, dann muss ich abbiegen. Das ist das Stadtzentrum. Es gibt da ein paar nette Geschäfte und Restaurants.« Er hielt inne. »Ach herrje, Sie haben ja gar kein Geld.«

»Schon okay«, sagte Julie. Sie hatte ihre Hände in die Taschen gesteckt und sah ihn nicht an. Der Junge lehnte sich an sie, das ältere Mädchen drückte immer wieder auf den Knopf der Fußgängerampel. Kaum, dass es Grün wurde, rannte sie vorneweg über die Straße und hüpfte auf der anderen Seite ungeduldig auf der Stelle, bis die anderen auch da waren.

»Werden Sie denn heute noch nach Washington zurückfahren?«, fragte Robert. Es schien ihm plötzlich alles schrecklich verworren und planlos.

Die Frau zuckte mit den Schultern. »Mal sehen.«

Robert blieb stehen. Sie auch.

»Hören Sie«, sagte er. »Es geht mich alles nichts an, aber was machen Sie hier? Sie wollten doch gar nicht nach Hollyhock, oder?«

Zu seinem Schrecken sah er, wie sich die Augen der Frau mit Tränen füllten. Eilig wischte sie mit beiden Händen darüber.

»Blitzmerker«, sagte sie trotzig. Sie hatte jetzt etwas so Unfertiges an sich, dass sie die Schwester ihrer Kinder hätte sein können. Wie auf ihren Leitwolf warteten die drei einige Meter entfernt. Der Junge und das kleinere der Mädchen hatten sich auf eine niedrige Mauer gesetzt, während die Größere neben ihren Geschwistern stand, als gelte es Wache zu halten.

»Ich musste weg«, erklärte Julie. »Davie, mein Freund, hatte einen seiner Aussetzer.«

»Ist das der Vater der Kinder?«, fragte Robert.

»Von Coco.« Julie sah ihn von unten herauf an und zog die Nase hoch. »Hören Sie, ich weiß, was Sie denken. Und ich weiß selbst, dass ich peinlich bin. Drei Kinder von drei Männern, als hätte ich kein anderes Hobby, ich weiß schon.« Sie wischte sich mit dem Handballen unter der Nase entlang. »Aber so ist es halt, ich kann’s nicht mehr ändern.«

»Davie schlägt Sie, ja, ist es das?« Robert sah sie eindringlich an.

»Na ja.« Julie stampfte mit der Ferse des rechten Fußes ein paar Mal leicht auf den Boden. Dann tippte sie die Schuhspitze auf wie eine Tänzerin. »Mich. Die Kinder. Den Hund. Kommt vor.«

»Und Sie haben niemanden, zu dem Sie gehen können?«

»Doch.« Julie sah ihn an und holte tief Luft. »Meine Mutter. Sie wohnt in Raleigh, drei Stunden weiter südlich.«

»Aber Ihr Portemonnaie wurde gestohlen«, resümierte Robert.

Julie schüttelte den Kopf.

»Nein.« Sie fasste in ihre Hosentasche und zog eine flachgedrückte orangefarbene Geldbörse heraus. »Ich habe mein Portemonnaie«, sagte sie. »Es ist nur nichts drin.«

Wie zum Beweis hielt sie es ihm geöffnet hin. Er blickte kurz hinein und sah zwei Dollarscheine, eine Bankkarte und eine Safeway-Mitgliedskarte.

Sie hatte gelogen. Aber das war nicht wichtig. Trotzdem: irgendetwas irritierte ihn.

»Und auf dem Bankkonto ist auch nichts.«

Julie nickte. »Stimmt genau, Sir.«

»Okay.«

Er blickte zu den Kindern hinüber, die nun alle auf der Mauer saßen. Sie unterhielten sich nicht, warteten nur geduldig auf das, was kommen würde. Es war nicht das erste Mal, dass sie fliehen mussten, erkannte Robert plötzlich. Vielmehr war es etwas, das sie schon gewohnt waren: die überstürzten Abreisen, die Lügen, die ungewisse Zukunft wie eine raue Brandung, darin ihre raffinierte, unbeständige, ratlose Mutter als einziger Halt. Er dachte kurz an Amy, dann schob er diesen Gedanken beiseite. Julie sah ihn unverwandt an.

»Okay«, wiederholte er. »Es gibt hier ein nettes kleines Hotel, da besorgen wir Ihnen und den Kindern ein Zimmer, und dann gebe ich Ihnen Geld, damit Sie morgen weiter zu Ihrer Mutter fahren können. Einverstanden?«

Zu seiner Verwunderung sah er, dass Julie verlegen wurde.

»Ich weiß nicht.« Sie schien nachzudenken. »Ich kenne Sie ja kaum.«

»Ja«, sagte er und bemühte sich um einen leichten Ton. »Und das wird wohl auch so bleiben. Nehmen Sie es als gute Tat eines Fremden.«

Sie schien immer noch skeptisch, und plötzlich verstand Robert. Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.

»Nein«, sagte er rasch und wie ertappt, »ich verlange nichts dafür. Das ist doch absurd. Sehe ich etwa so aus?«

Julie sah ihn jetzt aufmerksam an. »Nein.« Sie lächelte. »Nein, eigentlich sehen Sie nicht so aus.«

Das Hotelzimmer war klein und sauber. Ein breites Bett mit hölzernem Kopfteil nahm fast den ganzen Raum ein. Auf den beiden Nachttischchen stand je eine Lampe mit geblümtem Schirm und gusseisernem Fuß. Von dem Zimmer ging eine Verbindungstür zu einem zweiten Zimmer ab, in dem zwei Einzelbetten standen. Die Kinder stürmten sofort hinein und begannen auf den Betten zu hüpfen.

»Zieht gefälligst die Schuhe aus!«, rief Julie und trat ans Fenster, um hinauszuschauen. Auf der anderen Straßenseite war eine Pizzeria, die behauptete, die beste Pizza der Stadt zu servieren.

»Da isst man ganz gut«, sagte Robert und deutete aus dem Fenster. Dann wandte er sich zu Julie um. »Das Hotelzimmer ist schon bezahlt«, erklärte er. »Und dann lass ich Ihnen noch Geld hier. Ich muss es nur rasch am Automaten besorgen.«

Sie setzte sich aufs Bett und sah ihn von unten herauf dankbar an.

»Ich würde es Ihnen gerne zurückgeben«, sagte sie, aber er wehrte ab. »Lassen Sie mal. Schon gut.«

Er nahm seine Tasche wieder zur Hand. »Ich hinterlege das Geld für Sie an der Rezeption, okay? Ich schreibe Ihnen meine Handynummer dazu. Rufen Sie an, wenn irgendwas ist.«

Sie folgte ihm an die Tür.

»Danke nochmals.« Sie wandte sich zu den Kindern um. »Kinder, sagt danke und tschüss zu Robert.«

Vom anderen Zimmer aus hörte Robert die Rufe der Kinder.

»Schlaft gut!«, rief er, dann nickte er Julie zu. »Alles Gute für Sie.«

Sie machte einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. »Vielen Dank.«

»Klar«, sagte er und nahm ihre Hand. »Kein Problem.«

Am Ende der Straße war eine Bank. Robert steckte seine Karte in den Geldautomaten. Ich handle aus Mitleid, dachte er, es ist, als ob ich eine Spende tätige, statt für mittellose Mitbürger dieses Jahr eben für Julie und ihre Kinder. Er würde es Amy erklären können. Er sah Julies Gesicht vor sich, ihren Körper, wie er sich unter der hellen Bluse, den Jeans abgezeichnet hatte, und ein unwillkommener, beinahe schmerzhafter Stich des Begehrens durchfuhr ihn. Rasch steckte er das Geld in seine Tasche und ging zurück zum Hotel.

An der Rezeption ließ er sich einen Briefumschlag und einen Stift geben, notierte seine Telefonnummer auf dem Umschlag, schrieb einen kurzen Gruß dazu, steckte das Geld in den Umschlag und verschloss ihn sorgfältig.

Statt direkt nach Hause zu gehen, lief Robert weiter durch die Innenstadt. Die Restaurants waren gut besucht, manche hatten Tische und Stühle auf die Bürgersteige gestellt, es hatte fast etwas Mediterranes an sich. Ein Paar kam ihm Hand in Hand entgegen, und er meinte für einen Moment, Dan, den Bruder seiner Frau, zu erkennen, aber als er sich umdrehte, waren die beiden schon nicht mehr zu sehen. Im Zoogeschäft stand ein hell erleuchtetes Aquarium, in dem einige Fische auf der Stelle schwebten wie bunte Sterne. Er ging näher an die Scheibe heran, die Fische schienen mit weit geöffneten Augen zu schlafen. Aus einem französischen Restaurant, in dem er noch nie gewesen war, kamen die Klänge einer Jazzband, und er blieb kurz stehen, um den Musikern – drei Männern und einer Frau – zuzusehen. Er fühlte eine Leichtigkeit, wie er sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Es war, als habe er die ganze Zeit eine Last mit sich herumgetragen, die sich plötzlich in Nichts auflöste.

Sie hatte ihn gebraucht. Wie eine Liedzeile kreiste dieser Satz in seinem Kopf. Sie hatte ihn gebraucht, und er war zur Stelle gewesen. Wie damals, vor so vielen Jahren, als Amy ihn gebraucht hatte. Nicht wegen seines Geldes – er besaß, als sie sich am staatlichen College in Williamsburg begegnet waren, ebenso wenig wie sie –, sondern wegen dem, was er für sie war. Die Liebe meines Lebens, so hatte sie ihn wirklich einmal genannt. Es war an dem Wochenende gewesen, als sie ihre Familie das erste Mal besuchten und ein anstrengendes Abendessen hinter sich brachten, bei dem Amy mit ihrer Schwester in Streit geriet und ihre Eltern, zwei schmächtige, graugesichtige Leute, so unbeholfen vermittelten, dass sich der Unmut der Schwestern schließlich gegen sie richtete. Robert war unbehaglich zumute gewesen in dem kleinen Haus, das es inzwischen schon lange nicht mehr gab. Er hatte im Gästezimmer im Keller schlafen müssen, in einem nach kaltem Moder riechenden Raum mit einem schmalen Bett und zwei, drei offensichtlich ausrangierten Möbelstücken. Amy war nachts zu ihm gekommen, nicht um mit ihm zu schlafen, sondern nur um ihm das zu sagen. Die Liebe meines Lebens. Ihr ernstes Gesicht, wie sie da im Türrahmen lehnte, als wage sie nicht, in den Raum zu treten. Ihr Geständnis wie eine unausgesprochene Bitte, sie nicht zu verlassen, und er war dieser Bitte nachgekommen, auch dann noch, als Liam auftauchte und er am liebsten abgehauen wäre.

Es war dunkel geworden, als er sich auf den Heimweg machte. Die Straßenlaternen mit ihren würdevoll geschwungenen Masten – wie die Hälse von Schwänen, dachte Robert – beschienen die überquellenden Blumenampeln und malten Lichtflecken auf den Boden. Der Feierabendverkehr hatte sich aufgelöst. Als er in seine Straße einbog, sah er sein Haus. Sämtliche Fenster im Erdgeschoss waren erleuchtet, und auch im Obergeschoss brannte ein Licht. Eine Sehnsucht überkam ihn, nach der Geborgenheit, die dieses Haus – sein Zuhause – einmal für ihn gehabt hatte. Es war seine Zuflucht gewesen vor der Welt, doch jetzt hatten er und Amy die Welt hineingelassen. Wie ein stoischer Gast machte sie sich in ihrem Haus breit und forderte ihren Anteil an seinen Bewohnern.

Hinter dem Küchenfenster konnte er Amy sehen. Sie stand an der Arbeitsfläche, mit dem Gesicht zum Fenster. Die dunklen Haare fielen offen über ihre Schultern, und ihr Gesichtsausdruck war prüfend. Als sie lächelte, erwiderte er ihr Lächeln, doch sie hatte ihn nicht gesehen: sie hatte ihrem eigenen Spiegelbild zugelächelt. Er blieb stehen und sah sie an. Sie war immer noch schön, er stellte das mit Verwunderung fest. Wenn andere, Fremde, ihr Komplimente machten, berichtete sie ihm davon, und er ertappte sich manchmal bei der Vermutung, sie müsse sich verhört haben. Sie kannten einander seit mehr als dreißig Jahren, und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er seit Langem aufgehört hatte, sie schön zu finden. Nicht dass er ihr Aussehen nicht mochte. Es war ihm einfach gleichgültig geworden. Er hatte ihr von Zeit zu Zeit gesagt, dass er sie liebte – zumindest hoffte er das. Aber so wenig er sich schön fand, so wenig fand er sie schön. Es war ihm nicht mehr wichtig gewesen, und vielleicht, dachte er jetzt, war das ein Fehler.

Sie verließ die Küche, und Robert ging unentdeckt zur Tür, schloss auf und rief, dass er da sei. Sie antwortete ihm aus den Tiefen des Hauses, und nachdem er die Tasche abgestellt und die Jacke aufgehängt hatte, fand er sie im Schlafzimmer. Sie saß auf dem Bett und war dabei, sich ihr Nachthemd anzuziehen.

»Gehst du nicht mehr raus, heute Abend?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf, und er konnte sehen, dass sie unglücklich war. In den letzten Tagen war sie nie weggegangen, um sich mit Liam zu treffen. Vielleicht war er verreist. Oder sie hatten Probleme. Er hätte sie gern gefragt, aber er fühlte sich dazu nicht in der Lage. Ohnehin hätte er sie nicht trösten können. Er hasste Liam. Ja, sicher, es hatte andere gegeben, zwei, drei Vornamen, an die er sich erinnerte, aber keiner von ihnen war lange geblieben. Nur Liam war immer wieder aufgetaucht, wie ein dummer, treuer, zugelaufener Hund.

»Ich habe dich vorhin am Fenster gesehen«, sagte Robert.

Amy sah ihn unwillig an.

»Du sahst schön aus.«

Sie schnaubte spöttisch. »So aus der Entfernung, was?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »So habe ich das nicht gemeint.«

»Schon gut.« Er konnte sehen, wie sie sich ein Lächeln abrang. »Komm, lass uns eine Flasche Wein öffnen und uns betrinken.«

Im Nachthemd ging sie vor ihm her in die Küche, holte eine Flasche Wein und einen Korkenzieher, ließ ihn öffnen.

»Ich frag jetzt nicht, wie war dein Tag. Aber wie war er denn?«

Robert lachte. Er mochte es, wenn sie ironisch war, auch wenn er meistens das Opfer ihrer Witze war.

»Mir ist was Seltsames passiert«, sagte er, und dann erzählte er ihr von Julie und den Kindern und ihrer Zugfahrt ohne Ticket. Auch von dem Hotel erzählte er ihr, und dass er Julie Geld gegeben habe für die Weiterfahrt.

»Zweihundert Dollar?« Amy sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Bist du verrückt geworden?«

»Sieh es doch als unsere jährliche Spende. Diesmal halt für eine Person, die wir kennen. Also ich zumindest.«

Der Gedanke, der vorhin noch so überzeugend gewesen war, klang, als er ihn jetzt aussprach, nicht mehr ganz so bezwingend.

»Muss sie denn wieder erster Klasse fahren? Fühlt sie sich sonst nicht wohl?«

Das war es gewesen, dachte er. Das war es, was ihn irritiert hatte. Nicht, dass sie schwarzgefahren war, aber dass sie es in der ersten Klasse getan hatte.

»Nein, sicher nicht«, sagte er lahm. »Ich hatte nur den Eindruck, dass sie etwas in Reserve braucht.«

»Okay.« Amy hatte die Knie angezogen und ihr Weinglas darauf abgestellt, hielt es aber mit einer Hand fest. Sie sprach jetzt zu ihrem Glas. »Und sie ist hübsch, sagtest du?«

Robert konnte sich nicht erinnern, das gesagt zu haben.

»Weiß nicht.« Er sah sie unschlüssig an. »Sie sieht ein bisschen aus wie du.«

»Wie ich vor zwanzig Jahren, schätze ich mal.«

Amy legte den Kopf schief, als ob sie mit einem begriffsstutzigen Kind spräche, und Robert erkannte, dass sie sich gegen seine Antwort wappnete.

»Du bist immer noch schön«, sagte er. »Wirklich.«

Er nahm einen Schluck von seinem Wein, dann stellte er das Glas auf den niedrigen Tisch. »Ich sag’s vielleicht nicht oft genug. Aber es stimmt.«

Amy sah kurz zu ihm hin, dann wieder zu ihrem Glas.

»Danke«, sagte sie. »Auch wenn ich jetzt vielleicht ein bisschen zu sehr darum betteln musste.« Sie blickte auf, ihm in die Augen. Der Spott in ihrem Gesicht verschwand und ließ es geradezu nackt zurück.

»Wollen wir schlafen gehen?« Sie hielt ihm die Hand hin, und er nahm sie und erhob sich vom Sofa.

Sein Telefon klingelte.

»Geh schon vor«, sagte er. »Ich komme gleich.«

Es war Julie. Ihre Stimme klang anders als vorhin. Sie schien dem Weinen nahe zu sein.

»Ich wollte nicht stören.« Sie machte eine Pause, und Robert versicherte ihr, dass sie das nicht tue.

»Es ist nur.« Sie seufzte. »Ich fühle mich so verloren. Ich trau mich nicht mal, was essen zu gehen.«

Robert hatte das Telefon mit ins Bad genommen und die Tür hinter sich zugezogen. Er saß auf dem Wannenrand und sah auf die Wand vor sich. In den weißen Kacheln spiegelte sich das Deckenlicht, kleine weiße Sprenkel überall.

»Warum nicht?«, fragte er.

»Weiß auch nicht.« Sie schniefte leise wie ein Kind.

»Haben Sie denn alle nichts gegessen?«

»Doch. Die Kinder schon. Ich habe ihnen eine Pizza geholt, und sie haben Fernsehen geschaut und dabei Pizza in sich reingestopft.« Ihre Stimme klang jetzt gereizt. »Den Kindern geht’s gut, nur mir halt nicht.«

»Ach so.«

Er stand auf und betrachtete sich im Spiegel. Seine Haare ragten drahtig über der Stirn auf, in das Braun mischten sich schon seit Längerem graue Strähnen, und seine leicht hervorquellenden Augen waren umgeben von einem Kranz kleiner Fältchen. Er war nie der Typ Mann gewesen, den die Frauen attraktiv fanden, aber zumindest konnte man sagen, dass das Alter ihm nicht schadete. Wenn überhaupt, machte es ihn interessanter, stellte er jetzt fest.

»Kann ich denn irgendwas tun?«, fragte er.

»Ja.« Sie machte eine Pause, dann sagte sie: »Wir könnten vielleicht zusammen essen gehen.«

Er würde zu ihr gehen. Die Erkenntnis, dass er dazu fähig war, erschreckte ihn. Doch er würde ihr nur helfen, indem er bei ihr war. Mehr würde nicht sein. Bloß diese Art des Beistands.

Er fuhr sich mit der Hand über sein Kinn, das nach der Rasur am Morgen schon wieder rau war.

»Okay. Ich bin in zehn Minuten da.«

Er steckte das Telefon ein, beugte sich über das Waschbecken, ließ kaltes Wasser in die Schale seiner Hände laufen und tauchte sein Gesicht hinein. In sich spürte er eine Aufregung, es war, als müsste er losrennen, in riesigen Schritten und ohne jemals müde zu werden, durch die Stadt und über das Land hinweg, als ob er flöge.

»Ich muss noch mal weg!«, rief er. »Kann ein bisschen dauern.«

Er hörte Amys Stimme aus dem Schlafzimmer, aber er war schon halb aus der Tür hinaus.

»Warte nicht auf mich!«

Dann schloss er die Tür hinter sich.

»Ich bin’s.«

Nach dem ersten leisen Klopfen öffnete Julie die Tür, als habe sie direkt dahinter gewartet.

»Das sehe ich.«

Sie lächelte, und die kleine Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen betonte die Makellosigkeit ihres Gesichts. Sie musste ihre Haare lange gebürstet haben, sie glänzten im Licht der Nachttischlampe.

»Wollen wir zur Pizzeria gegenüber gehen?« Sie deutete mit einer Bewegung des Kopfes zum Fenster.

»Und was ist mit den Kindern?«

»Die schlafen tief und fest. Und wir sind ja nicht lange weg. Wenn die Kleinen wach werden, wecken sie Stacey, und die kann sie dann beruhigen.«

Robert nickte ein paar Mal. Ihre Formulierung ging ihm nicht aus dem Kopf: wir sind ja nicht lange weg. Als ob es ein Wir gäbe, das nachher zusammen zurückkommen würde. Um was zu tun? Eine Schwäche erfasste ihn, kurz das Gefühl zu taumeln.

»Gut«, sagte er, »dann lass uns gehen.«

Ohne zu überlegen, hielt er ihr seine Hand hin, und sie nahm sie.

Der Kellner brachte sie zu ihrem Tisch, einem Zweiertisch nahe der Bar. Julie warf nur einen kurzen Blick auf die Speisekarte und legte sie dann weg.

»Ich nehme das Gleiche wie du«, sagte sie.

»Egal, was es ist?«

Sie sah ihn ernst an. »Ganz egal.«

Erst als er angefangen hatte zu essen, merkte er, wie hungrig er war. Er hatte Lachs bestellt auf einem Spinatbett, und sie hatte sich gefreut, als sie seine Bestellung gehört hatte. Vielleicht, dachte er, war Lachs eine der Sachen, die sie nicht oft aß.

Es war erstaunlich, wie einfach es war, mit ihr zu sprechen. Noch bevor er seine Sätze beendete, schien sie zu wissen, was er sagen wollte, und obwohl sie mehr als zwanzig Jahre jünger war als er – sie hatte ihm verraten, dass sie siebenundzwanzig war und ihn nicht nach seinem Alter gefragt –, verstanden sie einander vollständig. Sie erzählte ihm von ihrer Kindheit, vom ersten Stiefvater, dem zweiten, dann dem dritten, über den sie Andeutungen machte, die nur den einen Schluss zuließen, aber immerhin hatte ihre Mutter ihn verlassen, als sie mitbekommen hatte, dass er vorzugsweise dann ins Bad musste, wenn seine zwölfjährige Stieftochter duschte. Mitleid überkam Robert, wenn er sich ihre Bedrängnis vorstellte. Er hatte ihr von dem seltsamen Arrangement seiner Ehe erzählt, von Liam, der nicht verschwinden wollte, und von den anderen, und dass er selbst bisher nie den Wunsch verspürt hatte, es seiner Frau gleichzutun.

»Bisher?«, fragte sie, und er zögerte kurz und wiederholte dann im festen Ton: »Bisher.«

Als er aufblickte, sah er, dass Nicole Clarkson und ihr Mann Paul an der Bar Platz genommen hatten. Er kannte die beiden aus der Zeit, als ihre Töchter gemeinsam auf die Hollyhock High gegangen waren. An etlichen Elternabenden hatten er und Amy neben ihnen gesessen und den Anliegen der Lehrer gelauscht. Damals war ihnen das alles so wichtig erschienen: die anstehende Klassenfahrt, die Neugestaltung des Campus, die Frage, ob es am Schulkiosk Süßigkeiten zu kaufen geben sollte oder nicht. Es hatte einige erbitterte Auseinandersetzungen zwischen den Eltern gegeben, und Robert erinnerte sich, dass er und Paul zumeist einer Meinung gewesen waren. Er hatte ihn immer gemocht, seine Beflissenheit und Freundlichkeit, die, wenn auch etwas forciert, doch angenehmer war als die Angriffslust seiner Frau. Jetzt winkte er ihm kurz zu, als er sich auf seinem Barstuhl umdrehte, und auch Paul hob grüßend die Hand und lächelte freundschaftlich.

Der Kellner brachte die Rechnung, und Robert bezahlte.

»Ich bring dich zu deinem Hotel«, sagte er.

»Das hoffe ich doch.«

Julie lachte leise und hielt ihm ihre offene Handfläche auf dem Tisch entgegen, als wollte sie ein Pferd füttern, und er wusste, es war falsch, aber er konnte nichts dagegen tun: er musste sein Gesicht in diese Hand legen und sie küssen.

Das Hotel war dunkel, nur das Licht über dem Eingang sprang an, als sie sich näherten.

»Hier.« Sie gab ihm den Schlüssel. »Ich bin zu nervös, um aufzuschließen.«

Er beugte sich über das Türschloss, während sie ihn von hinten umarmte und ihre Hände nach vorne wandern ließ, über seine Hüften zum Bauch. Er merkte, wie er zitterte. Schließlich hatte er die Tür geöffnet, und sie gingen, einander ungelenk umarmend, die Treppe zum ersten Stock hoch. Die Zimmertür war nicht abgeschlossen, und sie drängten sich gemeinsam hinein, als dürften sie keine Sekunde voneinander lassen.

»Komm«, sagte sie. »Komm her.«

Sie klang lockend und atemlos, und Robert ließ sich von ihr zum Bett ziehen, bereit, in ihr, in all dem hier, für immer zu versinken. Sie öffnete ihre Bluse und zog sie aus, ohne den Blick von Robert zu nehmen.

»Mama?« Aus dem anderen Zimmer klang ein Ruf herüber. »Bist du das, Mama?«

Julie setzte sich auf. Im schwachen Licht der Laterne sah sie wie eine Statue aus: das ebenmäßige Profil, die feste Kontur ihrer Schulter, ihrer Brust.

»Ja, Stacey, ich bin es. Schlaf jetzt weiter.«

Robert lag auf die Ellenbogen gestützt vor Julie und machte sich am obersten Knopf ihrer Jeans zu schaffen. Von drüben war jetzt ein Weinen zu hören, und Julie schob seufzend seine Hände zur Seite und stand auf. Er sah ihr hinterher, wie sie mit nacktem Oberkörper zur Verbindungstür ging und sie ein Stück weit öffnete. Ihre Stimme war ungeduldig, aber sie bemühte sich um einen freundlichen Ton.

»Was ist los, Stacey? Hast du schlecht geträumt?«

Stacey wimmerte weiter, dann zog sie die Nase hoch und sagte: »Coco ist weg, Mama. Ich wurde wach, und sie war weg.«

Sie suchten das gesamte Hotel ab. Stacey war angewiesen worden, im Zimmer zu bleiben, falls ihr Bruder aufwachen oder ihre Schwester zurückkommen würde, und sie hatte unglücklich zugestimmt. Robert und Julie hatten sich aufgeteilt: Julie würde im Erdgeschoss und ersten Stock suchen, Robert im zweiten, dritten und vierten Stock.

Nach dem ersten Schreck hatten sie beide versucht, Stacey, einander und sich selbst zu beruhigen, und als sie mit der Suche begannen, waren sie zuversichtlich gewesen, Coco bald zu finden. Doch als sie vor dem Hotelzimmer wieder zusammentrafen, war die Zuversicht verschwunden. Er konnte es an Julies Gesicht sehen, in dem sich eine namenlose Angst spiegelte. Alles war jetzt möglich, jede Zimmertür ein vernichtendes Schicksal, und wenn es Coco gelungen war, mit ihren kleinen Händen die schwere Eingangstür aufzuziehen, irrte sie vielleicht in diesem Moment in einer Stadt umher, die sie nicht kannte.

»Hast du im Erdgeschoss alles abgesucht, bist du sicher?«

»Ich weiß nicht. Ja, doch.«

Julies Stimme war schrill, es schien, als müsste sie darum kämpfen, Luft zu bekommen, und Robert erinnerte sich, wie er einmal Anna verloren hatte. Sie musste damals drei oder vier Jahre alt gewesen sein, nicht viel jünger als Coco jetzt. Sie war aus einem Schuhgeschäft gerannt, während er ein Paar Turnschuhe anprobiert hatte. Im einen Moment hatte er ihr die Turnschuhe gezeigt, im nächsten war sie fort gewesen. Er erinnerte sich an das Gefühl einer Übelkeit erregenden Angst; das Unheil war über ihn hergefallen, bereit, ihn und sein bisheriges Leben zu zerstören, und er war aus dem Laden gestürzt und hatte Annas Namen geschrien. Eine Verkäuferin aus dem benachbarten Kleidergeschäft hatte sie schließlich gefunden – sie hatte sich in einer Umkleidekabine versteckt, stolz auf ihr gelungenes Spiel.

»Ganz ruhig«, sagte Robert und legte einen Arm um Julies Schulter. »Wir finden sie, versprochen. Ich geh noch mal nach unten.«

Die Rezeption lag verlassen. Rechts davon, hinter einer Glastür, war der Frühstücksraum. Robert ging hinein und lief zwischen den ordentlich eingedeckten Tischen umher. Vom Frühstücksraum aus führte eine Schwingtür in die Küche. Ein grün leuchtendes Schild über einer anderen Tür wies den Weg zum Notausgang. Wie unberührt lag die Küche in ihrem matten Glanz. Robert schaltete die Deckenlampe ein, und im grellen Licht konnte er die Abnutzungen am hellgrauen Kachelboden sehen und die Striemen auf der Chromfläche hinter dem Herd. In der hintersten Ecke gab es eine weitere Tür, und Robert ging zu ihr hin und stieß sie auf. Es war der Pausenraum der Angestellten, ein karges rechteckiges Zimmer mit einer Reihe von Spinden wie in einer Turnhalle. Er betätigte den Schalter neben der Tür, aber statt einer Lampe ging mit surrendem Geräusch der Ventilator an und zeichnete einen weißen Lichtkreis über seinem Kopf. Hinter den Spinden stand ein Süßigkeitenautomat. Im fahlen Licht nahm Robert eine Bewegung wahr.

»Coco?« Er bemühte sich, sanft zu klingen, sang fast ihren Namen. Ein Schluchzen antwortete ihm.

»Coco.«

Sie hatte sich hinter dem Automaten versteckt, jetzt trat sie hervor, eine kleine geisterhafte Erscheinung, in Unterhose und Unterhemd.

»Wolltest du dir Süßigkeiten holen?«

Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie ihre Mutter gesucht und war, zufällig oder weil er ihr in ihrer Verlassenheit tröstlich schien, vor diesem Automaten gestrandet.

»Möchtest du welche?«

Sie nickte, und Robert fischte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche und ließ sie eine Rolle Kaubonbons aussuchen. Dann erlaubte sie ihm, sie auf den Arm zu nehmen und nach oben, zu ihrer Mutter zu bringen. Ihr dünner Arm um seine Schulter, das geringe Gewicht des kleinen, angespannten Körpers, ihr fruchtig süßer Atem. Das Gefühl, noch mal davongekommen zu sein. Er würde später immer wieder daran denken müssen, wie er sie die Treppen hochgetragen hatte in dieser Nacht.

Es ging auf Mitternacht zu, als er nach Hause kam. Amy hatte im Wohnzimmer ein Licht für ihn brennen lassen, und er zog sich leise aus und ging ins Bad, um die Zähne zu putzen. Vor dem Schlafzimmerfenster hing der Vollmond wie eine fleckige Scheibe aus Perlmutt und füllte den Raum mit einer seltsamen Helligkeit. Er roch den leicht stickigen, zimtigen Geruch des Zimmers. Ein Fremder, der ihr Haus zum ersten Mal betrat, würde diesen Geruch sofort wahrnehmen. Sie selbst bemerkten ihn schon lange nicht mehr.

Amy lag auf ihrer Bettseite, das Gesicht seitlich auf dem weißen Kissen. Robert beugte sich über sie. Sie hatte geweint, er konnte es sehen: die zarte Schwellung unter den Augen.

»Ich bin zurück«, flüsterte er, und als ihre Augenlider flatterten, legte er sich dicht neben sie, einen Arm um sie geschlungen, als könnte er sie beide auf diese Weise retten.

2 GÄSTE

Der Schlüssel passte nicht.

Es war ein Samstagmorgen, Ende Mai, kurz vor zehn, und Susan war spät dran. Für halb elf hatte sie einen Termin vereinbart, um einer Familie das Haus in der Great Bridge Lane zu zeigen. Eines ihrer Lieblingshäuser, ein breiter, rot verklinkerter Bau mit zwei Giebeldächern und einer kleinen Veranda, auf der an Ketten eine Hollywoodschaukel befestigt war. Die leicht abfallende Rasenfläche erstreckte sich vom Haus bis zum Bürgersteig, und vor der Veranda stand in einem Rondell eine Linde, sodass man, wenn man auf der Schaukel saß, vor Blicken geschützt war. Im Inneren gab es vier große Schlafzimmer und ebenso viele Bäder, außerdem ein Wohn- und Esszimmer, ein Büro und eine Art Empfangsraum, der mit den zwei hellen Ledersofas an der Wand tatsächlich ein wenig an ein Wartezimmer erinnerte. Susan hatte die Besitzer – ein Paar in den frühen Siebzigern, deren Kinder schon vor Langem ausgezogen waren – überreden können, einen Teil ihrer Möbel vorerst im Haus zu lassen. Die fehlenden Lampen, Vorhänge, Bilder und Pflanzen hatte sie von der Staging-Agentur ersetzen lassen, mit der sie schon so lange zusammenarbeitete, dass ihr fast jeder der Gegenstände schon einmal in einem anderen Haus begegnet war. Ihr Plan war es gewesen, die Heizung und einige der Lichter einzuschalten. Das Beste war immer, wenn es ihr gelang, so pünktlich da zu sein, dass sie all das tun konnte und dann noch Zeit hatte, sich selbst in Ordnung zu bringen. Die perfekte Gastgeberin. Sobald es klingelte, würde sie die Haustür öffnen und die Besucher ins Warme bitten.

Sie überlegte, ob sie John anrufen sollte. Aber er hasste es, wenn er beim Arbeiten gestört wurde. Seit er sich im Frühling sein Büro im kleinen Gästezimmer unterm Dach eingerichtet hatte, hatte sie sich angewöhnt, besonders leise zu sein, wenn sie zu Hause war. Er war Steuerberater. Um genau zu sein, war er ihr Steuerberater gewesen, bevor aus ihnen ein Paar wurde, und die erste Zeit hatte Susan es als Nachteil empfunden, dass er bereits so viele Informationen über sie besaß, während sie von ihm so gut wie nichts wusste. Er kannte ihr Alter, dreiundfünfzig, und ihren vollständigen Namen – Susan Wichita Satran –, und er wusste, dass sie nach ihrem texanischen Geburtsort benannt worden war, an dem sie auch die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Er wusste, dass sie schon zweimal verheiratet gewesen war und keine Kinder hatte – wenn er auch nicht wusste, dass sie einmal ein Kind bekommen hatte, ein Mädchen, das eine knappe Stunde nach seiner Geburt in ihren Armen gestorben war. Er wusste nicht, dass das der Grund für das Scheitern ihrer zweiten Ehe gewesen war, und er wusste nicht, dass sie danach nie mehr versucht hatte, schwanger zu werden, weil es einfach unmöglich schien, diesen Schmerz noch einmal aushalten zu können.

Was sie über ihn erfuhr, waren Bruchstücke. Es schien ihm Spaß zu machen, ihr die Informationen zu seiner Person in kleinen Häppchen zu liefern. Er war in Kentucky aufgewachsen und mit Ende zwanzig nach Hollyhock gekommen. Damals war er verheiratet gewesen mit einer Lehrerin, die an der örtlichen Highschool Sozialkunde und Spanisch unterrichtete. Wenn Susan richtig kombiniert hatte, war es die Lehrerin gewesen, die die Beziehung nach mehr als achtzehn Jahren beendet hatte, aber was er danach getrieben hatte, verlor sich im Dunkeln. Manchmal tauchten Frauennamen auf, und Susan hatte sich im Kopf eine Liste angelegt mit den vorherrschenden Eigenschaften der Frauen: L., die Sportliche, S., die Kluge, G., die Unternehmungslustige. Je weniger sie über die Frauen wusste, desto strahlender erschienen sie ihr, und sie musste sich manchmal daran erinnern, dass sie auch ohne ihn ganz gut zurechtgekommen war. Er war nicht eigentlich schön – jahrelanges Hockeyspielen hatte seinen Tribut gefordert und sein Nasenbein war nicht nur durch mehrere Brüche breiter, sondern auch krumm geworden –, aber das immer noch dichte blonde Haar und die hellgrünen Augen entschädigten dafür. Außerdem war er groß und muskulös, und sobald er einen Bauchansatz bei sich bemerkte, machte er jeden Abend hundert Sit-ups, wozu er anfangs auch Susan einlud. »Vergiss es«, hatte sie nach den ersten Versuchen gesagt und sich wie zum Trotz ein Glas Wein geholt. Er hatte sie seitdem nicht mehr zu überreden versucht, auch das rechnete sie ihm an.

Während sie von der Great Bridge Lane auf die Hauptstraße einbog, überschlug sie, wie lang sie wohl brauchen würde. Mit etwas Glück konnte sie die Fahrt in zehn Minuten schaffen, ins Haus rennen, den Schlüssel holen und in zehn Minuten zurückfahren. Sie wusste, wo der richtige war: in der Holzschale im Flur, in die sie immer alle Schlüssel hineinwarf. Kein Wunder, dachte sie. Aber sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie nichts ändern würde. Sie würde den richtigen herausfischen und den falschen genau wie bisher in die Schale werfen, auf haarsträubende Weise optimistisch, dass sich der Fehler nicht wiederholen würde.

Sie fuhr an der Southgate Mall und an Gold’s Gym vorbei. Hier hatte sie im letzten Jahr ein Abo gebucht, von dem sie John nie etwas erzählt hatte. Die ersten Wochen war sie regelmäßig hingegangen und hatte das Programm, das ihr die deprimierend gut gelaunte Fitnesstrainerin erstellt hatte, getreulich ausgeführt. Dann war sie krank geworden – kaum mehr als eine starke Erkältung, doch sie hatte die Pause als Gelegenheit genommen, das Training nicht nur zu unterbrechen, sondern zu beenden. Zweimal hatte das Studio sie angerufen, und zweimal hatte sie versprochen, bald wieder zu kommen. Danach hatte sie den Hörer nicht mehr abgehoben, wenn sie die Nummer erkannte. Manchmal stellte sie sich vor, der Trainerin in der Stadt zu begegnen. Sie wusste, sie würde sie nicht ignorieren können, und befürchtete, mit Floskeln und vorauseilenden Selbstbezichtigungen zu reagieren. Sie hasste sich dafür, so schwach zu sein: zu undiszipliniert, um das Training wenigstens für die Zeit fortzuführen, die sie notgedrungen bezahlen musste, und zu unsicher, um zu ihrer Entscheidung zu stehen. So war sie schon immer gewesen, und allmählich gab sie die Hoffnung auf, mit zunehmendem Alter irgendeine Form von Souveränität zu erlangen. Ob es den anderen auch so ging? Dass sie immer älter wurden, sich aber innerlich, abgesehen von einer zunehmenden Müdigkeit und Ernüchterung, genauso unfertig fühlten wie als Jugendliche?

Als sie neben dem Jewel Music Store an der Ampel anhielt, sah sie Dan Kulinski aus der Tür treten. In der Hand trug er eine Tüte. Sie erinnerte sich, dass sie einmal ein Gespräch über Musik mit ihm geführt hatte. Es war an einem Sommer- oder Frühlingsfest gewesen, und sie hatte hinter ihm in der Schlange gewartet, um sich einen Hotdog zu kaufen. Neben ihm hatte eine zierliche Frau gestanden, mit grell bemalten Fingernägeln und braunem, kurz geschnittenem Haar. Sie schien in seinem Alter zu sein – Ende vierzig –, aber sie trug einen Minirock, der nur bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte, und dazu ein gelbes, trägerloses Top, das sie immer wieder zurechtzupfen musste. Susan hatte verschiedene Male mit Dan gearbeitet. Er war Handwerker und auf Renovierungen spezialisiert, und sie hatte ihn als verlässlich und fleißig erlebt. Als Dan sie erkannte, stellte er die Frau neben ihm vor. Ihr Name war Danielle, und sie stand kurz davor, seine Ehefrau zu werden, nachdem ihn ein Jahr zuvor seine erste Frau von heute auf morgen verlassen hatte.

»Danielle und Dan«, stellte Susan fest. »Das muss wohl Schicksal sein«, und Danielle lachte und sagte, das habe sie sich auch gedacht.

»Aber eigentlich heißt er Dariusz«, fuhr sie fort. »Wussten Sie das?«

»Hat mich nur nie jemand so genannt«, sagte Dan und zog ein Gesicht. »Gute Musik, nicht wahr?«, wechselte er brüsk das Thema und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Jazzband, die auf einer kleinen, improvisierten Holzbühne stand und Freejazz spielte, der eher in eine Bar als auf dieses Fest passte.

»Zu ambitioniert für mich«, gestand Susan, und Dan sagte: »Reine Übungssache. Man muss sich erst an das Unmelodische gewöhnen. Danach scheint einem alles andere seicht.«

Er zuckte mit den Achseln, wie um eine Angeberei abzuschwächen, und Susan sagte: »Ist bestimmt so.«

Als sie, Monate später, wieder einmal mit ihm zusammenarbeitete, erzählte er ihr, dass er selbst Musik mache. Nichts Tolles, versicherte er, einfach mit Freunden ein bisschen rumschrammeln. Auf ihre Frage, wo man sie denn mal hören könne, gestand er mit einem verschämten Lächeln, in seinem Keller, das sei der Übungsraum. Ihr fiel auf, dass er keinen Ehering trug. Vielleicht hatte die Trauung mit Danielle noch nicht stattgefunden, oder er hatte auf einen Ring verzichtet.

Jetzt winkte sie ihm zu, und Dan, der aus den Augenwinkeln die Bewegung hinter der Autoscheibe bemerkt haben musste, winkte zurück. Die Ampel hatte auf Grün gewechselt, und Susan bog in die Turney Avenue ein. Sie schaute auf die Uhr im Armaturenbrett. Zehn Uhr acht. Wenn alles gut ging, würde sie rechtzeitig zurück sein. Als sie an der Davis Street vorbeikam, überlegte sie, ob genügend Zeit bliebe, rasch bei Knakal’s Bakery vorbeizugehen. Sie hatte am Morgen nichts gefrühstückt, nur einen schnellen Kaffee im Stehen getrunken, während John sich sein Müsli aus Haferflocken, geraspelten Äpfeln, selbst gemahlenen Mandeln, Rosinen und Magerjoghurt zubereitet hatte. Was sie nicht verstand, war, dass er alle Zutaten auf der kleinen Küchenwaage abwog, die er bei seinem Einzug mitgebracht hatte. Konnte er nicht einfach die immer gleichen Zutaten zusammenrühren? Warum kam es auf jedes Gramm an? Es musste ein Bedürfnis dahinterstecken, entschied sie, ein Bedürfnis danach, die Kontrolle zu behalten, den Überblick.

Es war nicht so, dass sie dieses Bedürfnis nicht kannte. Als John zu ihr zog – ein gutes Jahr war das jetzt her –, hatte sie in einer Nacht kurz vor seinem Einzug wach gelegen. In Wellen war die Angst über sie gekommen, hatte sie dunkel und heiß unter sich begraben, und erst wenn sie, mit klopfendem Herzen und am ganzen Körper zitternd, tief einatmete, löste sich das Dunkel auf, nur um sie kurz darauf wieder gefangen zu nehmen. Irgendwann war sie aufgestanden und in die Küche gegangen. Das grelle Licht schmerzte in den Augen, doch nach ein, zwei Minuten hatte sie sich daran gewöhnt. Sie machte sich einen Becher Milch warm, tat Honig hinein. Warum bloß ließ sie sich noch einmal darauf ein, mit einem Mann zusammenzuleben? Warum war sie bereit, ihr Haus, ihr Refugium, aufzugeben und mit jemandem zu teilen? Das ganze Vorhaben erschien ihr mit einem Mal vollkommen abwegig und einzig und allein auf der Annahme gegründet, dass sie, sollte sie Johns Idee nicht zustimmen (denn es war seine Idee gewesen, zu ihr zu ziehen), den Rest ihres Lebens allein verbringen müsse.

Als sie am nächsten Morgen auf dem Sofa erwachte, war die Angst wie ein nächtlicher Spuk verschwunden, und die Aussicht auf ein Leben mit einem klugen, manchmal witzigen, wenn auch etwas schwer zu durchschauenden Mann erschien ihr wieder reizvoll.

Sie hatte das schmale, zweigeschossige Holzhaus vor fünfzehn Jahren gekauft, als sie, mit den druckfrischen Scheidungsunterlagen und der soeben erworbenen Maklerlizenz in der Tasche, von Clarksburg nach Hollyhock gezogen war, entschlossen, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen und noch einmal von vorn zu beginnen.