Der letzte Tag des vorigen Lebens - Andrés Barba - E-Book

Der letzte Tag des vorigen Lebens E-Book

Andrés Barba

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Immobilienmaklerin, die die Vergangenheit von Häusern aufspürt - und auf eine merkwürdige Familiengeschichte stößt. Für Leser*innen von Isabel Allende, Clarice Lispector und Otessa Moshfegh. »Sollten Sie aus der großen Buchmessen-Ernte nur einen einzigen spanischen Roman lesen, es sollte dieser sein.« Paul Ingendaay, FAZ über »Die leuchtende Republik«

Sie ist eine Immobilienmaklerin mittleren Alters, Tochter eines Friseurs, seit zwei Jahren verheiratet mit einem älteren Mann, zu dem sie sich nicht mehr hingezogen fühlt. Sie übt ihren Beruf mit Leidenschaft aus. Mit einer solchen Hingabe, dass es für sie eine Kunst, eine Art Poesie ist, für jedes Haus den perfekten Besitzer zu finden. Sie ist stolz darauf, Häuser zu ertasten und ihre Vergangenheit zu erspüren. Eines Tages, als sie eine leer stehende Villa für die Besichtigung vorbereitet, stößt sie auf einen achtjährigen Jungen in einer braunen Schuluniform, der nicht blinzelt. Er scheint aus einer anderen Zeit zu kommen, gefangen an diesem Ort wie ein Insekt in einem Glas. Das Kind erwartet etwas von ihr, das spürt sie. Nach und nach entwickelt sich zwischen ihnen eine verstörende Abhängigkeit, die das Leben der Frau für immer verändern wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Sie ist eine Immobilienmaklerin mittleren Alters, Tochter eines Friseurs, seit zwei Jahren verheiratet mit einem älteren Mann, zu dem sie sich nicht mehr hingezogen fühlt. Sie übt ihren Beruf mit Leidenschaft aus. Mit einer solchen Hingabe, dass es für sie eine Kunst, eine Art Poesie ist, für jedes Haus den perfekten Besitzer zu finden. Sie ist stolz darauf, Häuser zu ertasten und ihre Vergangenheit zu erspüren. Eines Tages, als sie eine leerstehende Villa für die Besichtigung vorbereitet, stößt sie auf einen achtjährigen Jungen in einer braunen Schuluniform, der nicht blinzelt. Er scheint aus einer anderen Zeit zu kommen, gefangen an diesem Ort wie ein Insekt in einem Glas. Das Kind erwartet etwas von ihr, das spürt sie. Nach und nach entwickelt sich zwischen ihnen eine verstörende Abhängigkeit, die das Leben der Frau für immer verändern wird.

Zum Autor

Andrés Barba, 1975 in Madrid geboren, ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Spaniens. Sein Werk ist mehrfach preisgekrönt: Für den Roman Die leuchtende Republik erhielt er den renommierten Premio Herralde de Novela. Der letzte Tag des vorigen Lebens wurde mit dem Premio Finestres de Narrativa ausgezeichnet. Andrés Barba hat Autoren wie Herman Melville, Henry James, Joseph Conrad und Thomas De Quincey übersetzt. Er lebt in Argentinien.

Zur Übersetzerin

Susanne Lange gilt als eine der renommiertesten Übersetzerinnen aus dem Spanischen. Sie übertrug u. a. Octavio Paz, Federico García Lorca und Miguel de Cervantes Saavedra ins Deutsche und wurde mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet.

ANDRÉS BARBA

DER LETZTE TAG DES VORIGEN LEBENS

Roman

Aus dem Spanischen von Susanne Lange

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »El último día de la vida anterior« bei Editorial Anagrama, Barcelona.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Erstveröffentlichung August 2025

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Copyright © 2023 Andrés Barba (vermittelt durch Casanovas & Lynch Agencia Literaria)

Copyright © der deutschen Ausgabe 2025 btb Verlag, München

Umschlaggestaltung: buxdesign/Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/Arnaud Tudoret

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

KLÜ – Herstellung: kh

ISBN 978-3-641-30935-0V001

www.btb-verlag.de

facebook.com/penguinbuecher

Für Charo, die genau im richtigen Moment kam

»Wie lange ist für immer?«, fragte Alice.

»Manchmal nur eine Sekunde«, antwortete das weiße Kaninchen.

nach Lewis Carroll

EINS

ESGESCHIEHTSO: Sie sieht den Jungen am ersten Tag, den das Haus zum Verkauf steht, als sie zwischen zwei Besichtigungsterminen die Küche wischt. Sie öffnet den Wasserhahn, um den Lappen auszuspülen, und als sie ihn wieder schließt und sich umdreht, sitzt er auf einem der Stühle. Er ist etwa sieben, hat eine verwunderte Miene und eine braune Schuluniform. Es ist kein Trugbild, der Körper ist so real wie das Wandbrett oder das Spülbecken. Auf den ersten Blick erweckt er bei ihr diese leichte Abneigung, die sie schon immer gegen reiche Leute empfunden hat, gegen ihre manierierten Posen, hier allerdings abgemildert durch das Kindliche. Seine Hände ruhen auf den Knien, er trägt schwarze Boots ohne Strümpfe, und der Pony fällt ihm säuberlich kühl über die Stirn. Er wirkt wie ein Dieb, ein kleiner Dieb, der insgeheim dazugehören will, auch wenn er sich nicht im Geringsten bemüht, Sympathie zu erwecken oder sich zu entschuldigen. Nach der ersten Überraschung kann sie noch immer nicht ausmachen, was so seltsam an ihm ist, und konzentriert sich auf seinen Blick. Der Junge scheint so vertraut mit der Umgebung, dass die Frage, wo er hergekommen ist, absurd klänge; er ist eine natürliche Absonderung der Wände, dieser Luft, in der goldfarbener Staub schwebt. Er rührt sich nicht einmal, als wartete er dort seit einer Ewigkeit auf seinen Nachmittagsimbiss. Sie verspürt keine Furcht, nur einen leichten Schauder. Eine Sommerhummel stößt von innen gegen das Fenster, und ein paar Sekunden lang gibt es nichts weiter als das: die Hartnäckigkeit der Hummel, eine leere Küche in einem leeren Haus, die Überraschung einer Maklerin von sechsunddreißig Jahren über einen siebenjährigen Jungen, der sie beobachtet. Einen Jungen, der bis jetzt, wie ihr auffällt, kein einziges Mal geblinzelt hat.

Sie hält es für ein Zeichen, dass dieses Haus nie verkauft werden wird. Es ist wie der Junge: zu fein, zu unpraktisch, ein Haus für jene Reichen Mitte des 20. Jahrhunderts, die eine rationale Architektur der Bequemlichkeit und dem Protz vorgezogen haben. Heute wäre niemand mehr bereit, so viel Geld für ein Haus auszugeben, das weder bequem ist noch unverkennbar zeigt, wie viel es gekostet hat. Das hatte sie dem Chef der Immobilienagentur bei ihrer ersten Besichtigung gleich prophezeit: Das Haus sei ein harter Brocken, monatelang würden sie es Architekturliebhabern zeigen und am Ende doch als unverkäuflich aufgeben müssen. Und nachdem sie eingehend das Dossier des Architekten studiert und eine Woche lang die beiden Stockwerke hat herrichten lassen, ebenso Garage und Garten, nachdem sie es von den Malern hat herausputzen lassen – nun das. Sie hat nicht übel Lust, loszulachen, aber etwas im Blick des Jungen hindert sie daran. Es ist nicht nur seine anachronistische Kleidung, nein, das fehlende Blinzeln neutralisiert seinen Blick, als würde alles, was diese Augen erfassen, sogleich von etwas Nacktem ergriffen und auf sein Grundgerüst reduziert. Und obwohl er durchaus unheimlich sein könnte, wirkt er nicht so, wie auch eine allzu realistische Puppe nicht unheimlich ist, solange man sie mit dem verwechselt, was sie zu sein vorgibt, dagegen sehr wohl, wenn man entdeckt, was man da vor sich hat. Schon sein Erscheinungsbild, so körperlich real es sein mag, hat etwas Diffuses. Auch ihre Gefühle ihm gegenüber sind diffus. Derlei erlebt sie zum ersten Mal, doch löst es paradoxerweise nicht die Unruhe in ihr aus, die sie erwartet hätte. Jahrelang hatte sie in leeren Häusern manchmal das Gefühl, beobachtet zu werden, und musste mit klopfendem Herzen die Tür suchen, und jetzt sieht dieser Junge sie an, ohne zu blinzeln, und sie verspürt keine Furcht, nur eine vage Ablehnung wegen der Privilegien, die er zu verkörpern scheint.

»Was willst du?«, fragt sie. Und da der Junge nicht antwortet, fragt sie noch einmal, fast gereizt: »Was willst du?«

Da macht er Anstalten, aufzustehen, und sie weicht einen Schritt zurück. Ihre Hände stecken noch immer in den Gummihandschuhen, mit denen sie die Küche gewischt hat, und so wirkt sie wie eine Mischung aus Büro- und Hausangestellter, was den Jungen zum Lächeln bringt, zumindest hat sie diesen Eindruck.

»Hör mal«, fährt sie etwas widersinnig fort, als spräche sie mit einem Hund, »hier darfst du nicht sein, verstehst du? Gleich kommen Leute.«

Sie denkt, dass sie ihn zwar vor sich sieht, doch die Distanz zwischen ihnen durchaus unendlich sein könnte, und das verschafft ihr eine gewisse Erleichterung. Es gibt viele Wege, keine Verantwortung übernehmen zu müssen, und dieser scheint ihr nicht der schlechteste zu sein. Doch der Junge reagiert tatsächlich. Er steht auf und hebt zum Abschied die Hand. Sie tut es ihm nach. Und in diesem letzten Augenblick, in der kurzen Spanne, während der er sich umdreht, Richtung Flur geht und ihrem Blick entschwindet, hat sie das Gefühl, dass in diesem kleinen Körper eine animalische Angst steckt, eine fast unerträgliche Angst.

NIEHATSIEGERNNACHGEFORSCHT, geschnüffelt, Erklärungen verlangt. Sie mag ihre Arbeit in der Immobilienagentur, sonst sehr wenig. Sie hat dafür eine Art Begabung, wie andere sie für den Sport haben oder für die Musik. Seit ihrer frühen Jugend steuert ein automatischer Reflex ihre Wahrnehmung von Häusern und Wohnungen, sie muss nur einen Fuß hineinsetzen und weiß sofort, wie sie sind. Wo die meisten Menschen bloß Zement oder Ziegelstein sehen, da sieht sie Körper, Charakter, intimes, formbares Gewebe. Im Unterschied zu den Häusern empfindet sie die Menschen, die darin leben, ihre Gefühle und Gesichter, fast immer als unwirklich, unzugänglich. Vielleicht sind die Häuser, wie sie bisweilen denkt, nur ein Mittel zum Zweck, ein Werkzeug, über das sie zu fassen bekommt, was sie bei den Menschen nicht fassen kann. Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass sie Häuser mag und ein Talent dafür hat, sie herzurichten, zu verkaufen, zu vermieten, dass sie sich wie eine Brücke zwischen Wesen fühlt, die einander nicht kennen, jedoch suchen. Auf diesem Terrain hat sie, schlecht und recht, ihren Platz in der Welt gefunden. Sie macht sich keine weiteren Gedanken darüber. Selbst keine Emotionen zu zeigen, animiert letztlich die anderen dazu, es zu tun. Was sie nicht haben kann, vermisst sie kaum. Hinter dieser Fassade hat sie sich mit einer Teilnahmslosigkeit abgefunden, die angeboren sein mag. Halb im Ernst, halb im Scherz sagt sie sich, dass man ihren Charakter fast mit den Lügen der Werbung und ihrer Wortwäsche beschreiben könnte: »in tadellosem Zustand«, »lichtdurchflutet«, »frisch renoviert«, diese Schlagwörter, denen man nur mit Leichtgläubigkeit oder Zynismus begegnen kann und die sich als wahr oder falsch erweisen mögen, und zwar nicht wegen der wirklichen Helligkeit oder der mehr oder weniger sichtbaren Renovierung, sondern weil man sich das Licht herbeisehnt und alles wie neu sein soll. Letztlich ist all das, wie sie oft bestätigt sieht, eine Frage des Wunschdenkens. Wer Haus oder Wohnung sucht, sieht nur, was er sehen will.

Vielleicht verstört sie deshalb der Vorfall mit dem Jungen. Was soll sie mit dieser unbewältigten Energie anfangen? Die jahrelange Furcht, dergleichen könnte geschehen, hat den Wunsch danach erst auf den Weg gebracht, und seine Verwirklichung ist nun fast beleidigend.

Sie war versucht, es ihrem Chef zu erzählen, als sie am Ende des Tages die Schlüssel in der Immobilienagentur abgegeben hat, und auch jetzt, als sie nach Hause kommt, empfindet sie das Bedürfnis, es dem Mann zu erzählen, mit dem sie lebt, doch sie tut es nicht. Im Geist zu wiederholen, dass sie in einem leeren Haus einen Jungen gesehen hat, der nicht blinzelt, gleicht einer Bestätigung, doch ebenso dem Beharren auf etwas, was nicht geschehen ist. Der Junge hat sich kein zweites Mal gezeigt, obwohl sie während ihrer fast drei Stunden dort auf ihn gewartet hat. Als der Mann, mit dem sie lebt, sie nach ihrem Tag fragt, antwortet sie vielleicht deswegen: normal, und spricht dann von dem Haus, einem Haus für jene Reichen Mitte des 20. Jahrhunderts, die die Architektur der Bequemlichkeit und dem Protz vorgezogen hätten, und davon, dass heute niemand mehr bereit sei, so viel Geld für ein Haus auszugeben, das weder bequem sei noch unverkennbar zeige, wie viel es gekostet habe. Obwohl es dem eben Gesagten teils widerspricht, erzählt sie dann, zwei Pärchen hätten es sich heute angesehen, das eine habe sie zwar sofort aussortiert, bei dem anderen sei ein Kauf jedoch nicht ausgeschlossen.

So oft hat sie diese Dynamik beobachtet, dass sie fast lächeln muss: Sie oder er ist stark, er oder sie ist schwächer, einer beharrt, der andere sträubt sich. Eine Partei gewinnt am Ende, fast nie die absehbare, fast immer die logischere. Der Mann, mit dem sie lebt, fragt nach der Raumaufteilung, und sie antwortet, zwei Stockwerke, vier Schlafzimmer, drei Bäder, ein Wohn- und Esszimmer und eine Bibliothek verteilten sich über fast dreihundert Quadratmeter, hinter dem Haus gebe es sogar einen Garten mit einem kleinen Swimmingpool. Allerdings sei es so verwinkelt geschnitten, dass man sich überall beengt fühle, egal, wo man sei. Ganz zu schweigen vom Licht, das dort aus unerfindlichem Grund nicht zu existieren scheine, trotz all der Fensterfronten.

Der Gedanke kommt ihr erst jetzt. So geht es ihr immer: Sie hat das Gefühl, die Dinge erst beim Erklären zu verstehen. Nun begreift sie, dass das Haus freundlich wirkt, solange man es durchstreift, aber nicht, wenn man innehält. Und sobald sie das ausgesprochen hat, muss sie wieder an den Jungen denken, an diese Augen mit den reglosen Wimpern, daran, wie er die Küche verlassen und sich zum Flur gewandt hat, als machte er sich zu einem gewohnten Rundgang auf, unendliche Male wiederholt, unermüdlich.

»Ich verstehe«, sagt der Mann, mit dem sie lebt.

Sie nickt, sieht ihn an und denkt, dass es eigentlich nichts zu verstehen gibt, doch er lächelt, und sie lächelt zurück.

Sie liebt ihn nicht, doch das ist eben ihre Art, ihn zu lieben. Der Mann, mit dem sie lebt, ist wuchtig, allzu wuchtig vielleicht. Er wirkte anziehend auf sie, als sie ihn vor zwei Jahren kennengelernt hatte, bei der Besichtigung ebendieser Wohnung, in die sie schließlich gemeinsam gezogen waren. Ihr gefiel sein Körper und auch, dass sein Herz von einer anderen Bindung erschöpft war, ihr gefiel diese Mischung aus verbeamtetem Dozenten und sentimentalem Gemüt. Zu Beginn ihrer Beziehung wusste sie von ihm kaum mehr, als dass er an der Universität Biologie unterrichtete und ein Buch über das entlegene Thema Pilze geschrieben hatte. Nach der Wohnungsbesichtigung hatte der Mann sie auf ein Glas eingeladen, und sie hatte gespürt, dass sie am Ende zusammenleben würden. Er sprach von Pilzen mit Namen, die unmöglich zu behalten waren, Crepidotus, Mycena interrupta, Marasmius, und zeigte ihr auf dem Handy Fotos von Lebewesen einer anderen Welt, schön und unheilvoll wie Hautirritationen, und sie stellte sich vor, dass sich in seinem Innern alles gemächlich bewegte.

Anfangs hatte sie ihn fast reflexartig geliebt. Zum ersten Mal in ihrem Leben beschloss sie, das von ihr Erwartete zu tun, nur um zu sehen, ob sie das Erwartete dann auch empfand. Sie ging davon aus, dass sie ihn früher oder später verlassen, dass er leiden würde, vielleicht auch sie, doch auf eine milde Art. Sie mochte seine Bildung, das Schmerzliche seiner früheren Ehe, die bei ihm eine verletzliche Härte hinterlassen hatte. Sie war neugierig, bis zu welchem Punkt sie in diesen Knochen eindringen konnte. Und außerdem: Noch nie hatte sie mit jemandem zusammengelebt. Er schien der ideale Kandidat dafür zu sein, bei diesem Versuch scheitern zu können.

Dann war das Zusammenleben wider Erwarten geschmeidig, durchsetzt mit Momenten des Nichtstuns. Der Mann, mit dem sie lebt, hatte ebenso wie die Pilze, die er studiert, langsam Sporen ausgebildet, die sich als zart erwiesen, und sie hatte sich darauf eingestellt.

Als er ins Bett kommt, spürt sie, wie der Lattenrost unter seinem Gewicht nachgibt, dann löscht der Mann das Licht. Im Dunkeln kann sie sich besser erinnern: der Junge. Die Uniform ist nicht wirklich braun, sondern beige, das Haar nicht wirklich schwarz, sondern dunkelbraun. Er wirkt etwas pummelig, aber es ist ein gutmütiges Übergewicht ohne Komplexe. Die Augen unter dem Pony sind auffallend klein, allzu lichtempfindlich. Er zeigt keine Anzeichen von Schüchternheit, eher so etwas wie Neugier. Leicht fehl am Platz ist auch die Art, wie er sie ansieht, oder eher, wie sein Blick glasig, ohne zu blinzeln, über ihren Körper wandert und nach und nach jedes einzelne ihrer Merkmale erfasst.

»Heute habe ich einen Jungen im Haus gesehen«, flüstert sie in die Dunkelheit.

Der Mann, mit dem sie lebt, rührt sich nicht.

»Und?«, fragt er nach ein paar Sekunden.

»Nichts weiter.«

»Du hast einen Jungen im Haus gesehen und nichts weiter?«

»Ja«, antwortet sie.

Als der Mann sich umdreht, sieht sie zwei Brunnen, in denen wässrig ein Schimmer von Verblüffung glänzt. Eine Sekunde später lacht er schallend. Auch sie lacht. Vor Erleichterung. Dass er hier ist. Aber vor allem: dass sie noch nichts erzählt hat.

AMNÄCHSTENTAGHOLTSIE um acht Uhr morgens in der Immobilienagentur die Schlüssel ab. Meist kommt sie etwas früher als ihre Kollegen, setzt sich neben die Kaffeemaschine und geht auf dem Handy die Besichtigungstermine des Tages durch, bestätigt sie den Paaren, die sich die Häuser und Wohnungen ansehen wollen, geht im Geist durch, wie lange sie von einem Ort zum nächsten braucht, ob Zeit zum Mittagessen bleibt oder ob sie unterwegs ein Sandwich hinunterschlingen muss, ob der Hund des Chefs in der Toilette, so alt und krank, dass er ihn tagsüber in die Immobilienagentur mitnimmt, sie mit seinem Stöhnen wird arbeiten lassen.

Ein Arbeitstag will gebändigt werden. Manchmal isst sie mittags in den Immobilien, die sie verkauft, setzt sich dort auf den Boden und stellt sich das Leben vor, das dort stattgefunden hat. Für sie ist die Sinnlichkeit der Räume ein ernstes Thema, eigentlich das einzig ernste. Von den Häusern hat sie eine höhere Meinung als von den Menschen, die sie bewohnen. Letztlich geht es weniger um die Existenz als um das Fortexistieren. Die Häuser – erklärt sie manchmal gern – lachen gewiss über die Illusion ihrer Eigentümer, sie zu besitzen. Daran muss sie vor allem denken, wenn sie ein jüngst leer geräumtes betritt, wenn die Bewohner gerade erst fort sind, der Abglanz ihres Lebens aber noch zu sehen ist, wenn Schatten zeigen, wo die Bilder hingen oder die Möbel standen, auf welcher Seite man den Korridor am liebsten durchquert hat, welche Kachel im Bad ständig abgefallen ist. Sie muss nur ins Schlafzimmer sehen und weiß, welche Bettseite immer Morgensonne hatte, muss ein Haus nur betreten, um etwas Verstörendes in der Diele wahrzunehmen, die man jedoch durchqueren muss, um in die Küche zu gelangen. Wer hier gelebt hat, war unglücklich. Warum? Weil das Parkett unter dem Wohnzimmerfenster nicht ausgeblichen ist, ein Zeichen, dass niemand diesen Vorhang je geöffnet hat. Wer hier gelebt hat, war glücklich. Warum? Weil auf dem abgenutzten Herd nach Herzenslust gekocht wurde. Sie mag sich irren, es spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass sie die Menschen zwar in ihrem wirklichen Leben nicht zu fassen vermag, dafür jedoch in diesen Zwischenstadien, in den Überresten eines Geruchs, in den Wänden, zwischen denen jemandem vor einer Auswahlprüfung der Kopf rauchte, im Badezimmer, wo ein junges Mädchen weinte, im Schattenfleck, wo jahrelang ein Schopf beim Schlafen ruhte. Und wenn sie diese Leben spürt, hat sie nicht einmal das Bedürfnis, sich länger mit ihnen zu beschäftigen. Sie sind winzig wie das ihre, und es ist diese Verschwörung der Variablen, die ihr gefällt. Sie spürt, dass es reicht, sie zu streifen.