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Der letzte Tee in Greetsiel Ein Ostfrieslandkrimi von Nele Nordmann Greetsiel im Herbst - der Hafen liegt still, der Wind trägt den Geruch von Salz und Teestaub durch die engen Gassen. Doch hinter der idyllischen Fassade verbirgt sich ein tödliches Geheimnis. Als Hinrich Steen, Spross einer alteingesessenen Teehändlerfamilie, tot in seinem Haus aufgefunden wird, ahnen Kommissarin Mareike Lottmann und ihr Kollege Hennje van Aken sofort, dass es kein natürlicher Tod war. Die Ermittlungen führen die beiden tief in das Herz des traditionsreichen Familienunternehmens, wo nicht alles so harmonisch ist, wie es nach außen scheint. Zwischen Tradition, Machtfragen und persönlichen Konflikten müssen Mareike und Hennje das Geflecht aus Schweigen und Halbwahrheiten entwirren, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ein atmosphärischer Ostfrieslandkrimi voller Spannung, Lokalkolorit und dunkler Geheimnisse. Die Greetsiel-Krimis - Zwischen Deich, Hafen und historischen Gassen ermitteln Kommissarin Mareike Lottmann und Hennje van Aken in mörderischen Fällen. Atmosphärisch, spannend und voller Ostfriesland-Flair.
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Seitenzahl: 127
Veröffentlichungsjahr: 2025
Der letzte Tee in Greetsiel
Autorin: [Nele Nordmann]
© 2025 [Nele Nordmann]
Alle Rechte vorbehalten.Dieses E - Book ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig.
Dieses Werk ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, realen Ereignissen oder tatsächlichen Orten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Covergestaltung: [Nele Nordmann]
Inhaltsverzeichnis
Der letzte Tee in Greetsiel
Vorwort
Kapitel 1 - Der letzte Aufguss
Kapitel 2 - Zwischen Akten und Assam
Kapitel 3 - Hafenlicht
Kapitel 4 - Fäden im Holz
Kapitel 5 - Bittere Noten
Kapitel 6 - Schatten in der Seitenstraße
Kapitel 7 - Unter der Haut
Kapitel 8 - Erste Risse im Gefüge
Kapitel 9 - Spuren im Schatten
Kapitel 10 - Der Wagen
Kapitel 11 - Verhöre im Zwielicht
Kapitel 12 - Hausdurchsuchung
Kapitel 14 - Die Wahrheit
Kapitel 15 - Nachklang
Epilog - Unter den Mühlen
Danksagung
Greetsiel - ein kleiner Ort an der Nordseeküste, geprägt von Wind, Wasser und der beständigen Ruhe, die in den Gassen liegt.
Wer hierherkommt, sieht die Zwillingsmühlen, den Hafen mit seinen Kuttern und die Teestuben, in denen seit Generationen dieselben Rituale gepflegt werden.
Es ist ein Ort, der Geborgenheit ausstrahlt - und gerade deshalb ein Ort, an dem jede Störung doppelt schwer wirkt.
Dieser Krimi nimmt Sie mit in ein Greetsiel, das beides trägt: die Schönheit des Alltags und die Schatten, die sich dahinter verbergen. Es geht um alte Geheimnisse, um Familienbande, die fester sind als jeder Deich, und um das, was geschieht, wenn diese Bande zu reißen drohen.
Die Figuren und Handlungen sind frei erfunden, doch die Schauplätze sind echt.
Ich lade Sie ein, bei einem Tee am Hafen oder einem Spaziergang entlang der Mühlen die Stimmung selbst aufzusaugen - vielleicht werden Sie dann spüren, warum dieser Ort so viele Geschichten trägt.
Ich wünsche Ihnen spannende Lesestunden in Greetsiel.
Nele Nordmann
Der Morgen in Greetsiel war klar und kühl, mit dieser besonderen Helligkeit, die der Oktober manchmal schenkt.
Die Luft trug bereits einen Hauch Schärfe, doch sie biss noch nicht.
Das Licht legte sich weich auf die Kanten der Klinkerhäuser und ließ ihre Farben still leuchten. Über den schmalen Giebeln zogen helle Wolkenfahnen, vom Hafen her kam der Geruch von Salz, Tang und einem Hauch Diesel.
Aus der Ferne klapperte ein loses Tau im Rhythmus der leichten Wellen gegen die Spundwand. Auf einem Dalben saß eine Möwe, sie rückte sich zurecht und wirkte, als müsse sie erst entscheiden, ob der Tag die Mühe wert war.
Mareike Lottmann schloss die Tür des kleinen Polizeigebäudes hinter sich und atmete tief ein. Die kühle Luft brachte ihr sofort die Klarheit zurück - dieses feine, wachsame Gefühl im Hinterkopf, das sich immer dann meldete, wenn etwas Unbenanntes auf sie wartete.
Sie schob die Hände in die Taschen ihrer Jacke und spürte die vertraute, leicht kratzige Wärme des dunkelblauen Wollpullovers darunter.
Er versprach nichts, gab ihr aber zuverlässig Halt.
Als sie um den Wagen bog, stand Hennje van Aken schon dort.
Die Schultern wirkten schmal in seinem abgetragenen Pullover, das graublonde Haar lag ordentlich zurück. Sein Blick war ruhig und offen, als hätte er den Ort wie ein Buch aufgeschlagen und bereits die ersten Seiten gelesen.
„Wir müssen zum Ferienhaus Steen.“
Auf dem Rücksitz lag Bolle auf seiner Wolldecke.
Der alte Dackel hatte die Schnauze auf den Pfoten, die Augen halb geschlossen, und doch war er wach genug, um jede Bewegung zu registrieren. Als Mareike die Tür öffnete, zuckte nur eine Augenbraue - wohl so viel wie: Ich habe verstanden, aber ich bleibe, bis du es wirklich willst.
„Hinrich?“ fragte sie, während sie den Gurt schloss.
„Hinrich“, bestätigte Hennje. Er stieg ein und hob den Deckel der kleinen Thermoskanne an, die auch als Becher diente. Ein leises Klicken, dann breitete sich der Duft von starkem Assam aus. Dunkel, malzig und vertraut. Mareike lächelte. Ein Mann, der Tee so trank, urteilte selten vorschnell und sprach noch seltener laut.
Sie fuhren an den Giebelhäusern vorbei, an Fensterläden, auf denen der Tau wie feiner Puder glänzte, und an Blumenkästen, in denen Erika und Astern ihre letzten Farben festhielten. Zwischen den Häusern blinkte immer wieder das Wasser im Licht auf.
Möwen drehten die Köpfe und ließen die Motorhaube mit gelassenem Gleichmut passieren. Greetsiel atmete ruhig, und doch fehlte an diesem Morgen in seinem Atem ein halber Ton.
Das Ferienhaus lag in einer kurzen Seitenstraße, roter Klinker unter einem Schieferdach, eine niedrige weiße Tür und davor war eine Kletterrose, die den Sommer noch nicht ganz aufgeben wollte.
Vor der Tür standen zwei Männer.
Der eine trug die gelbe Jacke der Post, er hielt seinen Scanner wie einen kleinen Talisman in der Hand.
Der andere hatte ein wettergegerbtes Gesicht und einen schwarzen Labrador an der Leine, der die Pflastersteine mit der Aufmerksamkeit eines Fachmanns absuchte, der seinen Job ernst nahm.
„Guten Morgen“, sagte der Postbote. Sein Blick glitt von Mareike zu Hennje und zurück, als wolle er sich vergewissern, dass nun die richtigen Leute vor ihm standen.
„Ich sollte ein Einschreiben für Herrn Steen abgeben. Ich habe geklingelt, aber es hat keiner geöffnet. Dann kam Herr Sander mit seinem Hund vorbei, und wir haben bemerkt, dass das Küchenfenster gekippt war. Und dann war da dieser Geruch… also haben wir reingeschaut, und da saß er. Ganz still und regungslos.“
Mareike nickte nur und ging seitlich am Haus entlang, wo das kleine Fenster einen Spalt offenstand.
Die warme Luft, die herausströmte, trug den vollen, runden Duft von Assam - und darunter lag etwas Trocken - Bitteres, das nicht in eine Küche gehörte, eher in eine Flasche mit einer zu langen, unleserlichen Bezeichnung.
„Die Tür?“ fragte Hennje über ihre Schulter.
„Abgeschlossen“, antwortete der Hundebesitzer Sander und hob den Schlüssel leicht an. „Frau Harms gegenüber hat den Ersatz. Ich habe ihn geholt, aber wir sind nicht hinein.“
„Gut so.“ Mareike nahm den Schlüssel mit einem Handschuh entgegen. Als das Schloss klackte, war es ein sachliches Geräusch, dem jede Dramatik fehlte.
Drinnen roch es dichter nach Tee, nach Holz und kalter Asche.
Irgendwo im Haus tickte eine Uhr, beharrlich und ungerührt, als ginge sie nichts an, was zwischen einem Schlag und dem nächsten geschah.
Die Küche war klein, mit Klinkerwänden und dunklen Balken.
Auf dem Fensterbrett lag eine alte Kräuterschere neben einem Topf Petersilie, der schon die Schultern hängen ließ.
Auf dem Tisch stand eine bauchige Kanne, ihr Deckel nur lose aufgelegt, die Tülle matt beschlagen vom Rest des Dampfes.
Daneben lag eine umgestürzte Tasse, aus deren Rand sich ein brauner Halbkreis über die Tischdecke zog, bevor er in zwei dunklen Tropfen am Saum endete.
Hinrich Steen saß an der kurzen Seite des Tisches, sein Rücken war nicht ganz an die Lehne gelehnt, und sein Kopf war schräg zur Seite gefallen.
Seine Hände ruhten auf der Platte, die Finger leicht gekrümmt, als hätten sie im letzten Moment versucht, einen Gedanken festzuhalten.
Mareike blieb im Türrahmen stehen und ließ den Blick über den Raum gleiten, ohne etwas zu berühren. Es war ein langsames Abtasten der Oberflächen, als wolle sie die Ordnung dieses Ortes erst in sich aufnehmen. Da war die Vitrine mit dem ostfriesischen Porzellan und das Hakenbrett mit den Zinnlöffeln. Die Schublade mit den Teefiltern stand einen Spalt offen, als hätte jemand die Bewegung nicht vollendet.
Erst als ihr die Dinge vertrauter erschienen, löste sie sich vom Türrahmen und trat näher.
Am Stuhl des Toten fiel ihr die zu glatte Haut auf und die Lippen, die einen Hauch zu weit geöffnet waren. Am Mundwinkel zeigte sich eine dünne, dunkle Spur, die nicht vom Tee stammen konnte. An der Innenseite seines rechten Unterarms, knapp unterhalb der Ellenbeuge, zeichnete sich eine feine Rötung ab - keine frische Verletzung, eher eine Irritation, die die Haut ein wenig anders glänzen ließ.
Hennje verharrte in der Tür, wie ein stiller Schatten an der Wand.
Bolle, der eigentlich am Wagen hatte warten sollen, war losgelaufen, als hätte ihn jemand leise gerufen. Jetzt hockte er an der Schwelle, die Nase dicht über dem Boden, als lese er Spuren, die für menschliche Sinne unsichtbar blieben.
Er drängte sich nicht in den Raum hinein, und Mareike dachte einmal mehr, dass Tiere ein feineres Gespür für jenen schmalen Bereich haben, in dem das Leben schon vergangen und der Tod noch nicht ganz angekommen ist.
„Dr. Thomßen“, sagte sie leise. „So schnell wie möglich.“
Hennje nickte, während er sich bereits das Telefon ans Ohr hob. Seine Stimme war knapp, die Worte kurz, doch in dieser sachlichen Klarheit lag genau die Art von Sprache, die Dinge in Bewegung setzte, ohne dass sie wie ein Befehl klang.
Mareike berührte nichts. Sie machte Fotos und schrieb in ihr abgegriffenes Notizbuch, dessen breite Ränder mehr Raum für Randbemerkungen boten als ein gewöhnlicher Block.
Von draußen drangen Schritte über das Pflaster herein, begleitet vom gedämpften Husten eines Nachbarn, der sich hinter dem Anschein zufälliger Neugier verbarg.
Dazu das leise Tropfen einer Regenrinne, die noch Spuren der Nacht in sich trug.
Eine knappe halbe Stunde später traf die Gerichtsmedizinerin Dr. Helga Thomßen aus Aurich ein. Sie war Ende fünfzig, eine schlanke Frau mit einem wachen, schnellen Blick.
Ihr schlichter Mantel wirkte an ihr wie eine Uniform ohne Abzeichen. Helga sprach beim Eintreten kaum ein Wort, nickte Mareike und Hennje knapp zu, trat an den Tisch heran und blieb zunächst eine Armlänge entfernt stehen, als wolle sie den Raum selbst befragen, bevor sie den Toten prüfte.
Erst dann beugte sie sich vor.
Ihre Bewegungen waren kurz und präzise, die Finger glitten über Lippen, Haut und Körperhaltung.
„Tee“, sagte sie sachlich. „Und etwas, das der Tee nicht verträgt.“
Ihre Augen waren schneller als ihre Hände, und die Hände schneller als die Worte.
Mit ruhiger Selbstverständlichkeit entnahm sie Proben von Tasse, Kanne und Tisch, nahm einen feinen Abstrich vom Mundwinkel, verschloss die Röhrchen und markierte sie sorgfältig. Als sie den Blick hob, lag darin keine Hast und keine Besorgnis - nur die konzentrierte Präzision einer Frau, die aus kleinsten Einzelheiten treffsicher ein Bild formte.
„Ich nehme ihn und die Kanne mit. Der Rest bleibt bis zur Spurensicherung. Bitte nichts verändern.“
Der Abtransport geschah leise, fast andächtig, ohne dass sich draußen Menschen sammelten. Mareike dankte dem Postboten und Herrn Sander, nahm ihre Kontaktdaten auf und hörte noch zwei, drei Sätze von Sander, der seit fünfzig Jahren dieselbe Hunderunde ging.
„Im Herbst hat er immer länger gesessen. Er mochte das Licht, wenn es so flach hereinfiel.“
Mareike schloss behutsam das Küchenfenster, nachdem sie am Rahmen eine letzte Spur vermerkt hatte. Als die Tür ins Schloss fiel und der Schlüssel in Frau Harms’ Handtasche verschwand, schien das Haus für einen Augenblick den Atem anzuhalten.
„Gehen wir?“ fragte Hennje leise.
„Ja“, sagte Mareike. „Aber nicht zurück ins Büro. Wenn er durch den Tee gestorben ist, dann liegt die Spur nicht hier, sondern dort, woher der Tee kommt.“
Hennje zog die Brauen ein Stück zusammen. „Der Hafen.“
„Genau. Die Steens lassen seit Generationen dort anliefern. Wenn etwas Ungewöhnliches in die Kannen gelangt ist, dann fangen wir dort an.“
Er antwortete nicht sofort, doch sein kurzes Nicken genügte.
An einem Morgen wie diesem durfte man sich weder hetzen noch zu lange verweilen.
Sie fuhren über den schmalen Weg neben dem Markt.
In der Bäckerei Rector zog man gerade das erste Blech Rosinenbrötchen aus dem Ofen, und der süße Duft rollte durch die offene Tür hinaus auf das Pflaster.
Herr Rector hob kurz den Kopf und nickte ihnen zu, so knapp, wie er es bei vertrauten Gesichtern tat.
Vor ihrer Teestube stand Insa Wreesmann.
Sie war Anfang sechzig, mit schmalem Gesicht und ruhigen Augen. Insa führte die Teestube seit vielen Jahren; im Ort sagte man, sie schenke den richtigen Tee zur richtigen Zeit ein.
Sie sprach selten, aber wenn, dann mit Gewicht, und sie sah mehr, als sie laut benannte. Langsam und bedächtig fegte sie ein paar gelbe Blätter von der Schwelle, als sei auch das Teil einer Ordnung, die sie bewahrte.
Sie hob kurz den Blick, als Mareike und Hennje vorbeifuhren.
Der Hafen lag an diesem Vormittag klar und offen vor ihnen.
Die Luft schmeckte salziger, als hätte der Wind auf Nordwest gedreht. Einige Kutter waren ausgelaufen, andere lagen ruhig an den Leinen, ihre Netze ordentlich aufgerollt, als warteten sie darauf, wieder in die Höhe gezogen zu werden.
Am Südpier standen zwei Männer in Gummistiefeln, die Hände tief in ölverschmierten Handschuhen, und wechselten gedämpfte Worte.
Sie sprachen nur das Nötigste; der Rest lag in ihren Blicken.
Als Hennje die Wagentür öffnete, sprang Bolle heraus. Es war kein freudiger Satz, eher ein entschlossener Sprung, die Nase sofort tief am Boden.
Mareike ließ ihn gewähren, denn sie wusste, der Hund las Orte schneller als jeder Mensch.
Er umrundete eine Kiste, schnupperte an einem Tau und setzte seinen Weg in kurzen Pausen fort, als fügte er Gerüche zu einer unsichtbaren Karte zusammen.
Schließlich blieb er an der Rampe eines alten Lagerhauses stehen.
Es war das Lager der Familie Steen. Der Name war noch immer, halb verwittert, in blassen Lettern über dem Tor zu erkennen.
Jahrzehntelang waren hier Kisten abgeladen worden - Jutesäcke voller Assam und Darjeeling, Mischungen aus Übersee, später auch modernere Kartons, doch stets mit demselben Inhalt.
Nun wirkte das Gebäude stillgelegt, und doch hing in den Fugen der Bohlen der dumpfe Geruch von Holz, Salz und altem Teestaub.
Die Bretterwände waren vom Salz ausgeblichen, an manchen Stellen platzte die Farbe in kleinen Schuppen ab.
Zwischen den Bohlen der Rampe klaffte ein schmaler Spalt, in dem sich das Wasser darunter dunkel spiegelte.
Bolle schob die Schnauze hinein, zog sie wieder zurück, schnaubte leise und setzte eine Pfote an genau dieselbe Stelle - kein Scharren, sondern ein stilles Zeichen.
Mareike kniete sich hin, zog ihre Handschuhe über und tastete zwischen den Bohlen, bis sie auf Stoff stieß.
Er war feucht, aber nicht durchnässt.
Vorsichtig zog sie ihn hervor: ein kleiner, beigefarbener Stoffbeutel, kaum größer als eine Faust. An einer Ecke war er ausgefranst, an der anderen dunkel verfärbt vom Wasser.
In der Naht haftete feiner Staub, der als matte Spur an ihren Handschuhen kleben blieb.
Sie öffnete den Knoten nur einen Spalt und schüttete ein paar Krümel auf die Innenfläche ihres Handschuhs. Sofort stieg der Geruch von Tee auf - dichter, konzentrierter als gewöhnliche Blätter aus dem Regal.
Assam, unverkennbar, und darunter ein hellerer, metallischer Ton, der nicht in eine gemütliche Stube passte. Mareike verschloss den Beutel wieder, füllte die Krümel in ein Probenröhrchen und ließ den Blick über das Lager gleiten, als könne die Antwort irgendwo zwischen den Brettern stehen.
„Das lag hier nicht seit Wochen“, sagte Hennje, ohne Frage in der Stimme. „Eher seit Gestern oder vorgestern.“
„Oder letzte Nacht“, erwiderte Mareike. Sie spürte, wie sich ein dünner Faden in ihr straffte. Dinge, die nicht im Buch stehen, verstecken sich gern zwischen den Zeilen.
Ihr Blick blieb an einem schmalen Blechstreifen am Tor hängen. Vier Magnetstreifen, jeder mit einem Namen. Auf dem dritten stand in kratziger Schrift: T. Steen.
Ein ungutes Gefühlt breitete sich in ihrem Magen aus.
„Spindplätze“, meinte Hennje.
„Oder nur Namenshalter“, sagte Mareike. Sie ließ es in der Luft stehen.
Ein zu früh ausgesprochener Verdacht lässt sich später nur schwer wieder zurücknehmen.
Sie rief die Spurensicherung, markierte die Stelle mit einem kleinen Stofffähnchen und stieg die Rampe hinab.
Der Hafen wirkte leiser, obwohl sich an den Geräuschen nichts verändert hatte.
