Der Leuchtturm auf den Klippen - Marie Lamballe - E-Book
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Der Leuchtturm auf den Klippen E-Book

Marie Lamballe

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Beschreibung

Nach einem Autounfall hat Susanne vorübergehend ihr Gedächtnis verloren. In ihrer Manteltasche findet sie eine Einladung in die Bretagne, adressiert an eine Anne-Marie LeBars. In der Annahme, sie sei jene Anne-Marie, reist Susanne in die Bretagne. Ihr Ziel ist ein malerischer Ort oberhalb steiler Felsklippen, der nur aus einigen Fischerhäuschen und einem Leuchtturm besteht. Im Haus des Leuchtturmwärters trifft Susanne auf eine warmherzige, alte Dame, die glaubt, nun endlich ihrer Enkelin Anne-Marie gegenüberzustehen ...


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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

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Epilog

Über die Autorin

Marie Lamballe wurde in Hannover geboren. Ihre Liebe zu Frankreich entdeckte sie bereits früh; sie studierte Französisch und begann schon kurz nach dem Studium mit dem Schreiben. Inzwischen lebt die Mutter zweier erwachsener Kinder in der Nähe von Frankfurt. Ihre Ideen kann sie am besten in ihrem Lieblingscafé entwickeln.

Marie Lamballe

Der Leuchtturm auf den Klippen

Ein Bretagne-Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergTitelillustration: © shutterstock/haraldmuc; © Trevillion Images/Nikaa; © shutterstock/dabjola; © shutterstock/fotohunter; © shutterstock/Rolf E. StaerkUmschlaggestaltung: Kirstin OsenauE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2315-3

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Prolog

Im Nebel war das Leuchtturmfeuer ein matter, rötlicher Kreis, der in regelmäßigen Abständen aufglomm und wieder verging. Nur schwach erkannte man darunter die Konturen der Felsen, hier und da tauchten Seevögel wie graue Schatten aus dem Nebel und verschwanden wieder. Ihre langgezogenen Schreie hatten Ähnlichkeit mit menschlichen Klagerufen. Alan stapfte über angeschwemmten Tang, Muscheln knackten unter seinen Schuhen, neben einem Felsbrocken fand er ein Stück Holz mit Resten eines blauen Anstrichs. Er bückte sich und hob es auf, drehte es in den Händen und warf es in das auflaufende Wasser. Erinnerungen, die man nicht loswurde. Ein Leben lang nicht mehr.

Das Haus des Leuchtturmwärters stand auf einer felsigen Landzunge, gleich neben dem rot und weiß angemalten Turm. Es war aus grauem Granit gebaut, niedrig, im Nebel kaum zu finden. Er folgte dem Strand, bis er auf die Felsen traf, kletterte die Böschung hinauf und nahm den schmalen Pfad, der durch Ginster und Heidekraut zum Haus führte. Bei Flut war dies der einzige Weg zum Leuchtturm. Oft schnitt das Wasser auch diese Verbindung ab, überschwemmte die Heide und machte die Landzunge zur Insel. Alan steckte die Hände in die Jackentaschen und beugte sich vor, um dem Wind zu begegnen. Die Luft roch nach den tiefen Wassern des Ozeans – wohl möglich, dass ihm die Flut heute Nacht den Rückweg abschnitt. Und wenn schon. Er war es ihm schuldig.

Als er näher kam, sah er, dass zwei Fenster erleuchtet waren. Der Lichtschein war gelblich und vom Nebel verzerrt, ein Geisterlicht, für den Fährmann angezündet, der mit seinem dunklen Boot hier anlegen würde, um seine Passagiere hinüber zur Insel zu fahren. Zu jener Insel, wo auch Elaine jetzt auf ihn wartete. Elaine, die den kleinen Jannik und die blonde Mari in den Armen hielt. An Tagen wie diesem war seine Sehnsucht nach ihnen so groß, dass er kaum wusste, wie er weiterleben sollte.

Die alte Gaëlle öffnete ihm die Tür. Sie lächelte, als sie ihn erkannte, und auf einmal war er ungeheuer froh, trotz Nebel und Flut den Weg hierher gemacht zu haben. Er hatte Gaëlle von Anfang an in sein Herz geschlossen. Eine aufrechte Person, kantig, ehrlich und doch voller Wärme. Sie hatte es nicht leicht gehabt mit ihrem Loan. Im Leben nicht und auch nicht jetzt, da es mit ihm zu Ende ging.

»Wie schön, dass du kommst, Alan. Wir dachten, du wärst zurück nach Rennes gefahren …«

»Morgen früh …«

Drinnen war es stickig. Sie hatte Holz und Gezweig im Kamin angezündet, aber der Wind stand ungünstig und der Schornstein zog nicht gut. An dem langen Tisch vor dem Kamin hatten früher vier Kinder und die Eltern gesessen, oft auch Verwandte aus dem Dorf und junge Gäste. Auch jetzt standen dort noch drei Tassen und eine Schale mit Gebäck, daneben lag Gaëlles Strickzeug. Unter dem Tisch hatte Bri-Bri, der schwarz-braune Hund, den Kopf auf die Pfoten gelegt. Sonst begrüßte er Alan immer freudig – heute regte er sich nicht.

»Ich mach dir einen Kaffee, Alan. Willst du auch Kekse?«

Er starrte auf den leeren Lehnstuhl am Fenster. Dort hatte Loan am Abend immer gesessen, in einem Buch geblättert und seine Pfeife geraucht. Vor allem aber hatte er das Leuchtturmfeuer im Blick gehabt. Loan traute der Elektrifizierung nicht, und er hatte allen Grund dazu.

»Er ist drüben«, sagte Gaëlle, die seinem Blick gefolgt war. »Starrköpfig wie ein Maultier. Wollte nicht nach Brest in die Klinik. ›Ich will hier in meinem Hause sterben‹, hat er zu Dr. Picollec gesagt. ›Als ein freier Mann will ich in die andere Welt gehen. Nicht wie ein willenloses Stück Fleisch, an hundert Schläuche angeschlossen.‹«

Sie hantierte am Herd herum, stellte den Wasserkessel auf und füllte Kaffeebohnen in die Handmühle.

Alan nickte. Loan war kein einfacher Mensch, ein Eigenbrötler, der Frau und Kindern mit seinem Jähzorn oft das Leben schwergemacht hatte. Aber seine letzte Entscheidung forderte Alan Respekt ab.

»Kann ich …?«

»Geh nur. Die Tür ist angelehnt.«

Komisch, dachte er. Da sitzt sie hier am Tisch und trinkt Kaffee, während er drüben sein Leben aushaucht. Was auch immer zwischen ihnen war – sollte sie jetzt nicht neben ihm ausharren?

»Das Wasser läuft auf«, sagte Gaëlle hinter ihm leise, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Da kann er nicht sterben. An der Küste stirbt niemand bei Flut.«

Richtig, das hatte er ganz vergessen. Eine der vielen abergläubischen Geschichten hierzulande. Bei Flut wurden die Kinder geboren, die Ebbe nahm die Seelen der Sterbenden mit sich ins Meer. Vielleicht stimmte es ja sogar. Alan hatte lange genug hier gelebt, um an solche Geschichten zu glauben.

Er hatte die Schlafkammer der LeBars noch nie zuvor betreten und staunte jetzt, wie eng und armselig sie war. Loan lag in dem schmalen Ehebett unter dem Fenster, mit einem altersschweren Federbett bis zur Hüfte zugedeckt, sein Kopf ruhte auf einem weißen Kissen mit Spitzenrand. Er kam Alan sehr klein und gebrechlich vor, die Nase spitz, die eingefallenen Wangen mit weißem Flaum bedeckt. Die graue Wolljacke, die Gaëlle vor Jahren für ihn gestrickt hatte, schien ihm jetzt viel zu groß. Seine Brust hob und senkte sich rasch, aber regelmäßig.

»Alan!«

Der Gast trat näher, beugte sich zu dem alten Mann hinunter und stieß sich dabei den Ellbogen am Kleiderschrank.

»Hallo, Loan. Was machst du für Sachen?«

Der alte Mann blinzelte ihn an. Seine Augen waren von hellem, durchsichtigem Blau, die Lider zuckten, vermutlich hatte er Schmerzen.

»Zeit für mich, Alan. Ancou, der schwarze Kerl, nähert sich mit seinem Boot … Ich fürchte ihn nicht …«

Er hob mühsam den Arm, und Alan nahm seine Hand. Sie war kalt und hart, die Finger knotig von der Arthrose.

»Hat dir der Doktor nichts gegen die Schmerzen gegeben?«

Loan beachtete die Frage nicht. Er starrte in das Licht der Deckenlampe, die sich in seinen Pupillen spiegelte.

»War ein Unding damals, Alan«, flüsterte er. »Ein Störfall. Defekt in der Elektronik. Passiert einmal in hundert Jahren, haben sie gesagt. Idioten! Zwanzig Jahre hab ich meinen Dienst getan, und kein einziges Mal …«

Er musste husten, und Alan konnte kaum mit ansehen, wie er sich dabei quälte. »Es ist das Herz«, hatte Gaëlle ihm am Telefon gesagt. »Es tut weh bei jedem Atemzug.«

»Rede nicht so viel … Leg dich ruhig hin … Ich deck dich ein wenig zu …«

»Kein einziges Mal hab ich versäumt, das Feuer im Turm anzuzünden. Kein einziges Mal in zwanzig Jahren. Und kaum ist das Licht elektrisch, da …«

»Ist ja gut, Loan. Ich weiß es doch. Wärst du noch im Dienst gewesen, dann wäre alles anders gekommen …«

Der Sterbende nickte befriedigt und wehrte sich nicht, als Alan ihm das Federbett bis über die Brust hochzog. Es war kalt, der Wind rüttelte an den Fensterläden.

»Es war nicht deine Schuld, Alan. Das Leuchtfeuer war aus, deshalb …«

Er keuchte und musste erschöpft schweigen. Alan zog vorsichtig seine Hand zurück. Die Finger des Kranken waren jetzt kraftlos, schienen nichts mehr zu spüren. Alan fühlte sich hilflos.

»Ich danke dir für alles, Loan. Für deine Freundschaft. So oft haben wir früher bei euch am Tisch gesessen, Elaine, die Kinder und ich …«

Er bekam keine Antwort. Wie es schien, war der alte Mann eingeschlafen. Alan starrte eine Weile auf das eingefallene Gesicht, das Kinn, das leicht zitterte. Dann erhob er sich langsam.

»Adieu … Gute Reise, alter Freund …«

Drüben stellte Gaëlle ihm eine Tasse heißen Kaffee vor die Nase. »Trink rasch, Alan. Die Flut steigt heute, sie wird bald den Weg überschwemmen …«

»Soll ich nicht lieber hierbleiben?«

Sie lächelte. Eine Frau über siebzig, weißhaarig, mit glattem Gesicht und blau geäderten Händen. Mutig war sie und stolz. Es bekümmerte ihn, dass weder ihre Töchter noch die Frauen aus dem Dorf hier bei ihr saßen.

»Gott segne dich für deinen guten Willen, Alan. Aber ich hab auch Anne und Swana heimgeschickt. Diese Nacht will ich mit Loan allein verbringen. Nur wir beide, die Flut und der Fährmann …«

Er nickte und war erleichtert. Schleppte ihr noch einen Korb Holzscheite hinein, damit sie es warm hatte, dann machte er sich auf den Weg. Der Wind heulte um den Turm, pfiff ein schrilles Totenlied. Als er durch die Heide zum Land hinüberging, schwappten schon die ersten Wellen über seine Füße. Noch waren sie sanft, leckten leicht über den Sand, streichelten den Fels und zogen sich mit leisem Glucksen wieder zurück.

Der Wind hatte den Nebel zerstreut, man sah die heranrollenden grauen Wellen, die sich zischend im Sand verschäumten. Weiter südlich schlugen sie donnernd gegen die Felsküste, reckten sich hoch auf und wurden zu Gischt. Er stand eine Weile, die Hände frierend in den Jackentaschen vergraben, und starrte auf das Schauspiel der heranstürmenden Flut. Das Meer. Es hatte ihm alles genommen, was ihm lieb und teuer gewesen war. Seine Frau, seine beiden Kinder. Sieben Jahre war das nun her, aber der Schmerz war so frisch wie damals, als er in der Klinik zu sich gekommen war und begriff, dass er allein das Kentern des Bootes überlebt hatte.

Er hasste das Meer. Und doch kam er nicht von ihm los. Es hielt ihn fest, zwang ihn, immer wieder an diesen Ort zurückzukehren. Vielleicht waren es die Seelen seiner Lieben, die ihn nicht gehen ließen …

1

Mozart. Türkischer Marsch. Düdeldüdeldütt, Düdeldüdeldütt … Wolfgang Amadeus. Immer wieder von vorn. Türkischer Marsch. Düdeldüdeldütt …

Sie fingerte nach dem Handy, ohne die Augen zu öffnen. Fand es unter dem Kopfkissen und blinzelte auf das Display. Bevor sie etwas erkennen konnte, rutschte ihr das Teil aus der Hand, schlug gegen den Nachttisch und glitt unter das Bett.

Düdeldüdeldütt …

Verdammt! Stöhnend robbte sie zur Bettkante und angelte den Störenfried unter dem Bett hervor. Auch das noch. Es war Mama.

»Hallo?«

Ihre Stimme klang heiser, sie räusperte sich und wusste sofort, was Mama jetzt fragen würde.

»Du liebe Güte, Kind! Bist du krank? Du hörst dich ja furchtbar an.«

»Nein, nein … Nur ein wenig … belegt. Alles in Ordnung, Mama …«

Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen und schloss die Augen. Sie fühlte sich tatsächlich krank. Irgendwie ausgehöhlt. Zittrig.

»Na, Gott sei Dank. Du kannst dir jetzt auf keinen Fall leisten, krank zu werden, das weißt du ja. Nimm am besten gleich prophylaktisch Grippostad ein, bei diesem kalten Herbstwetter hat man sich schnell eine Erkältung eingehandelt …«

»Ja, Mama …«

Durch die Jalousie fiel mattes Tageslicht – wie viel Uhr war es eigentlich? Ach du Schreck – schon zehn nach neun. Das Seminar bei Professor Grossier konnte sie vergessen. Wieso hatte Paul sie nicht geweckt, als er zur Arbeit ging?

»Ich bin auf dem Sprung zur Monet-Ausstellung im Grand Palais. Weißt du, sie haben ein paar Werke aus privatem Besitz ergattert, die man sonst nicht zu sehen bekommt. Ich werde Josephine und ein paar Freunde treffen …«

Susanne schaltete das Handy auf Lautsprecher und legte es auf die Bettdecke. O Gott – sie hatte das Seminar verpasst, schon zum zweiten Mal. Sie musste sich eine glaubhafte Ausrede einfallen lassen und natürlich nacharbeiten. Es war einfach nicht zu schaffen. Sie war rettungslos im Rückstand, und dabei hatte sie bis gegen sechs Uhr morgens am Schreibtisch gesessen. Dann hatte sich ihr Kopf geweigert, weitere Informationen aufzunehmen, und sie war ins Bett gefallen … Ach, es war Paul, der alles durcheinanderbrachte. Ihr Studium, ihre Wohnung, ihren Hormonspiegel, ihre Gefühlswelt … ihr ganzes Dasein. Paul, die Liebe ihres Lebens.

»… auf einen kleinen Kaffee … In zehn Minuten kann ich bei dir sein …«

Sie hatte den Berichten ihrer Mutter nur mit halbem Ohr zugehört, und jetzt fuhr sie erschrocken zusammen. O Gott – Mama war in Paris!

»Hier bei mir? Ach … das geht schlecht, Mama …«

Ihre Mutter durfte auf keinen Fall Pauls Sachen sehen, die überall herumlagen. Susanne hatte Paul nur einmal ganz am Rande erwähnt; dass er inzwischen bei ihr wohnte, durften ihre Eltern nicht wissen.

»Wieso? Hast du etwa … Besuch?«

»Ich? Besuch? Aber nein. Anne-Marie, meine Putzhilfe kommt gleich, um hier alles auf den Kopf zu stellen …«

Das war eine glatte Lüge. Eine Notlüge, ebenso verwerflich wie notwendig.

»Ach, wie schade. Dann vielleicht heute Nachmittag? Ich hätte Zeit zwischen …«

»Oh, das tut mir wirklich leid, Mama, aber da bin ich an der Uni.«

»Natürlich. Wie dumm von mir …«

Susanne war im vorletzten Semester, bereitete sich auf den Master vor. Ein deutsch-französischer Studiengang im Bereich »Management International«, aufgeteilt zwischen den Universitäten Paris und Berlin. Sie hatte ihre Schulzeit in einem Schweizer Internat verbracht und sprach Französisch so flüssig wie ihre Muttersprache. Wenn sie das Studium mit dem »Master of Arts« abgeschlossen hatte, standen ihr alle Türen offen.

»Lass uns im ›Chez Kelly‹ einen netten kleinen Kaffee trinken, Mama. In einer halben Stunde?«

Mama schien nicht gerade begeistert, doch sie akzeptierte. Wo das sei? Ach so, im Quartier. Rue de la Harpe? Nein? Nun, sie würde sich ein Taxi nehmen.

Susanne schaltete das Gespräch aus und tat einen tiefen Seufzer. Damit waren ihre Pläne endgültig dahin. Eigentlich hatte sie zu Grossier gehen wollen, dann noch ein wenig schlafen, danach mit Paul den Nachmittag verbringen und in der Nacht für das Studium arbeiten. Nachdem Punkt eins, die Veranstaltung an der Uni, schon einmal ausgefallen war, würde sie jetzt also mit Mama Kaffee trinken. Danach – das wusste sie aus Erfahrung – würde sie nicht schlafen können. Höchstens mit einem Beruhigungsmittel, aber sie mochte das Zeug nicht, es machte sie schwindelig, und ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft. Sie brauchte aber ein wenig Schlaf, sonst würde sie in der Nacht nicht arbeiten können … Panik ergriff sie. Was, wenn sie durch das Examen fiel? Susanne Meyer-Schildt, die bisher alle Prüfungen mit Auszeichnung bestanden hatte, verpasste den Master. Das konnte sie ihrer Familie nicht antun …

Als sie unter der Dusche stand, fühlte sie sich etwas besser. Was regte sie sich auf? Sie hatte noch nie Probleme mit dem Studium gehabt, es würde schon klappen. Vielleicht nicht gerade mit Auszeichnung, wie die Eltern es erwarteten. Aber sie würde durchkommen. Seitdem sie Paul kannte, fand sie es längst nicht mehr so wichtig, immer und überall die Beste zu sein. Die steile Karriere, die ihre Eltern für sie geplant hatten, machte ihr jetzt eher Angst. Sie föhnte das nasse Haar und betrachtete sich dabei im Spiegel. Blass war sie, übernächtigt, waren das Falten in den Augenwinkeln? Alles in allem hatte sie schon besser ausgesehen. Gesünder vor allem. Dabei war sie eigentlich sehr glücklich, seitdem sie mit Paul zusammen war. Er stellte ihr Leben auf den Kopf, und das war wundervoll.

Sie steckte einen Finger zwischen zwei Lamellen der Jalousie und schaute durch den Spalt nach draußen. Bedeckter Himmel, Wind zerrte an Mänteln und Jacken der Passanten, Nieselregen. So richtig ekliges Herbstwetter, passend zu ihrer Stimmung. Sie zog Jeans und Pulli an, den Sommermantel darüber, das Haar war noch nicht ganz trocken – egal. Es wurde im Regen sowieso wieder feucht. Hunger hatte sie jetzt auch, hoffentlich hatten sie bei »Chez Kelly« noch Croissants. Die Pasteten mochte sie nicht, sie waren ihr zu trocken.

Sie hastete die Treppen hinunter und wäre unten im Hausflur beinahe mit dem Briefträger zusammengestoßen.

»Bonjour, Monsieur!«

Er war nicht böse. Riet ihr nur, langsam zu machen, sonst würde sie sich noch die Beine brechen. Vermutlich hätte es ihm sogar gefallen, wenn sie in seinen Armen gelandet wäre. Paul hatte neulich behauptet, sie würde alle Männer über vierzig becircen. Eine Frechheit, aber er sagte es mit einem so spitzbübischen Grinsen, dass man ihm einfach nichts übelnehmen konnte.

Mama saß bereits im Bistro, hatte sogar einen Tisch am Fenster mit Blick auf die Straße erobert und eine Tasse Café au Lait vor sich stehen. Mit ihrem eleganten Kostüm und dem frisch ondulierten Haar wirkte sie wie ein Fremdkörper zwischen den nachlässig gekleideten Studenten. Mamas Haar war schulterlang und hellblond gefärbt, angeblich in ihrer ehemaligen Naturfarbe. Das waldgrüne Kostüm hatte sie in München in einem Trachtengeschäft erworben, auch das Hütchen stammte von dort. Ihre Eltern liebten Trachtenmode, sie hatte etwas von Landadel und Gutsherrentradition an sich. Insgeheim hatte Mama immer gehofft, dass wenigstens eines ihrer drei Kinder einmal in adelige Kreise einheiraten würde. Julia und Christopher hatten sie in dieser Hinsicht leider enttäuscht – nun blieb nur noch die Jüngste. Susanne spürte den prüfenden Blick aus mütterlichen Augen und wappnete sich.

»Wie schön, dich zu sehen, mein Schatz! Blass bist du! Bekommst du zu wenig Schlaf? Die Wohnung ist doch ruhig gelegen, oder?«

»Ja, sehr ruhig … Ich habe viel Arbeit, Mama. Die Veranstaltungen an der Uni. Und gleichzeitig muss ich ja schon die Masterarbeit vorbereiten …«

»Du weißt ja, dass du dich jederzeit an Papa wenden kannst – falls es Fragen gibt, meine ich.«

»Das weiß ich, Mama.«

Jean-Pierre kam zu ihrem Tisch und nahm die Bestellung auf. Susanne fürchtete einen Moment, er könnte eine Bemerkung machen wie: »Heute mal ohne Paul?«, aber er sagte nur »Salut« und grinste nicht einmal. Möglich, dass Mamas Anblick ihn einschüchterte. Drüben unter der Reproduktion von Chagalls Liebespaar mit Hahn hatten sich jetzt zwei weitere Kommilitonen niedergelassen, Ben und Solange. Sie grüßte hinüber und wandte sich dann demonstrativ ihrer Mutter zu. Die beiden verstanden und ließen sie in Ruhe.

»Freunde von dir?«

»Man kennt sich … Wie geht es Julia? Hat Henriette die Masern gut überstanden?«

Mama konnte unglaublich kommunikativ sein, wenn sie wollte. Es hätte gerade noch gefehlt, dass sie Ben und Solange an ihren Tisch bat und ein Gespräch zu viert begann. Aber zum Glück ging sie auf Susannes Fragen ein. Ja, die Nichte sei wieder gesund, nur leider habe sie die kleine Schwester angesteckt. Und alles nur, weil Julia die Mädchen nicht gegen die Masern impfen ließ, sie sei da leider unbelehrbar. Die Firma laufe weiterhin hervorragend, vor allem drüben in den neuen Bundesländern habe Julia viel zu tun …

»Wie schön!«

Die ältere Schwester war immer Susannes großes Vorbild gewesen. Julia hatte alles im Leben geschafft, was sie sich vorgenommen hatte. Mit achtzehn Abitur, mit dreiundzwanzig den Master an einem privaten Wirtschaftsinstitut, eine Position im oberen Management der Bahn AG, Heirat, zwei Kinder, Gründung einer eigenen Firma. Julia kaufte marode Betriebe auf, brachte sie wieder auf Zack und verkaufte sie an internationale Interessenten. Alle waren stolz auf sie, nicht zuletzt ihr Mann Dennis, der selbst als Unternehmensberater tätig war. Nur Paul hatte neulich gelästert, dass die deutsche Wirtschaft in wenigen Jahren sowieso in chinesischer Hand sein würde und dass Leute wie ihre Schwester diesen Prozess noch beschleunigten.

»Stell dir vor, Susanne: Christopher bekommt sein Forschungsprojekt genehmigt. Er hat jetzt ein ganzes Jahr Zeit, seine Versuchsreihen durchzuführen. Und wer weiß, vielleicht gelingt ihm ja der Durchbruch.«

Sie sprach es nicht aus, aber Susanne wusste, dass die Eltern von einem Nobelpreis im Bereich Medizin träumten. Ihr Bruder Christopher arbeitete im gleichen Konzern wie Papa, es ging um die Erprobung eines neuen Medikaments, das die Altersdemenz verhindern oder zumindest verzögern sollte. Eine wichtige Aufgabe in einer Gesellschaft, in der die durchschnittliche Lebenserwartung jährlich anstieg.

»Das ist eine wundervolle Nachricht, Mama. Ich freue mich sehr für Chrisy …«

Susanne rührte in ihrem Milchkaffee und nahm sich das zweite Croissant. Die familiären Erfolgsmeldungen gingen ihr langsam auf die Nerven. Vermutlich hatte Papa bei dieser Geschichte ein wenig nachgeholfen, schließlich saß er im Aufsichtsrat des Unternehmens und konnte an etlichen Knöpfchen drehen. Nun ja. Christopher war ein großartiger Wissenschaftler, er hatte die Chance verdient. Was wohl Sybille dazu sagte? Bisher war sie seine Chefin gewesen – das würde sich jetzt wohl ändern.

Mama beugte sich über den Tisch, damit keine Blätterteigkrümel auf ihr Kostüm fielen, während sie von der Pastete naschte. Danach wischte sie sich die Finger an der Papierserviette ab.

»Übrigens wäre es schön, wenn wir Weihnachten alle zusammen feiern könnten, findest du nicht? Papa hat die Option auf eine große Wohnung auf der Upper West Side für zwei Wochen – Weihnachten ist in New York ein wundervolles, buntes Kulturereignis. Julia und Dennis haben zugesagt, bei Christopher ist es noch nicht sicher, er muss sich mit Sybille absprechen. Was ist mit dir, Susanne?«

Sie zuckte die Schultern. Was für eine Frage! Natürlich würde sie die Festtage wie immer bei den Eltern verbringen. Wenn es sein musste, auch in New York.

»Wir freuen uns auch sehr, wenn du einen Gast mitbringst. Du weißt ja, unsere Familie ist stets offen für gute Freunde und liebe Bekannte.«

Aha – damit war es heraus. Mütter hatten einen unglaublich feinen Instinkt. Jetzt war Susanne auch klar, weshalb sie hier in Paris war. Nicht etwa wegen dieser Monet-Ausstellung, die war nur ein Vorwand. Mama wollte spionieren.

»Das weiß ich, Mama. Ich denke allerdings, dass ich allein kommen werde …«

Paul im Kreise ihrer Familie – ein Unding. Zwei Worte, und er würde mit allen im Streit liegen. Mit Schwager Dennis zuerst, der war besonders empfindlich. Dann mit Konstanze. Schließlich würde Papa ihn sich vornehmen, und sein Urteil über Paul glaubte Susanne bereits jetzt zu kennen: Intellektueller mit zersetzenden Ansichten. Passte nicht in die Familie.

Vermutlich hatte er sogar recht. Paul hatte nichts mit den strebsamen, ehrgeizigen Meyer-Schildts gemein. Er war ein Zyniker. Ein Spieler. Ein Freigeist. Paul hatte sie gelehrt, das Leben mit anderen Augen zu sehen. Er hatte ihr die Freiheit geschenkt, und darum liebte sie ihn. Darum – und aus tausend anderen Gründen.

Wie sie diesen Konflikt lösen würde, lag noch völlig im Dunklen. Aber sie würde das schaffen. Ihren Master machen, Paul heiraten und ihre Familie dazu bringen, ihn zu akzeptieren. In dieser Reihenfolge.

»Trinkst du deinen Kaffee nicht? Du rührst seit mindestens zehn Minuten darin herum, Kind …«

Sie fuhr zusammen und sah, dass ihre Mutter sie über den Tisch hinweg genau beobachtete. Dieser prüfende Mutterblick, der durch Kleidung und Poren ins Herz drang. Mama hatte sie niemals gestraft, doch wenn ihre Kinder schlechte Noten nach Hause brachten, wurde sie traurig. Und nichts war schlimmer, als Mama traurig zu machen. Susanne setzte ein zerstreutes Lächeln auf und meinte, sie sei tatsächlich ein wenig müde.

»Ich habe wenig geschlafen, Mama. Hab die Nacht drangehängt. Grossier ist ziemlich anspruchsvoll, und dann dieser juristische Kram … Vor allen Dingen England, da ist die Rechtslage völlig anders als bei uns …«

Doch der Mutterblick ließ sich nicht bestechen. Mamas Miene blieb besorgt, vermutlich hatte sie Pauls ketzerische Gedanken im Hirn ihrer Tochter erspürt. Zumindest aber würde sie die dunklen Schatten um ihre Augen als Spuren ausgedehnter Liebesnächte deuten. Was sie zum Teil ja auch waren.

»Du bist unsere Begabteste, Susanne. Ich sage das nicht, damit du eitel wirst. Ich sage es, damit du weißt, dass wir große Hoffnungen auf dich setzen. Papa hat schon seine Fühler ausgestreckt, es könnte sein, dass er dich in der Tochterfirma in den USA unterbringt. Da könntest du gleich ganz oben anfangen …«

Was für eine Nachricht. Einige Kommilitonen hätten sich die Finger nach solch einer Chance geleckt. Susanne hatte eher das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»Ach, Mama … Eigentlich würde ich es gern allein schaffen. Verstehst du? Aus eigener Kraft. So wie Papa. Und nicht durch Protektion …«

Ihre Mutter schüttelte lächelnd den Kopf und senkte die Stimme. Protektion, das sei ein böses Wort. Es ginge auch nicht darum, anderen den Platz wegzunehmen. Es ginge darum, junge, begabte Kräfte nach vorn zu bringen. Ein Unternehmen sei schließlich kein Beamtenstaat, in dem man sich hochdiente. Hier käme es auf Elan, auf Kreativität und unternehmerischen Instinkt an …

»Ja, Mama … Ich weiß …«

Sie fühlte sich schlecht. Ihre Eltern taten so viel für sie. Während andere sich ihr Studium mit verschiedenen Jobs selbst finanzieren mussten, lebte sie in einer Zweizimmerwohnung im Quartier Latin, hatte Internetanschluss, Laptop, Handy – wenn sie gewollt hätte, auch ein Auto. Sie beschäftigte eine Reinemachfrau, um mehr Zeit für ihr Studium zu haben, und bevor sie Paul kannte, hatte sie nicht einmal gewusst, wie der Herd in ihrer Küche funktionierte. Sie war essen gegangen.

»Nun ja – erst einmal der Master. Ich weiß, dass du uns nicht enttäuschen wirst …«

Ihre Mutter streichelte ihren Arm. Eine liebevolle Geste, gewiss. Nur war sich Susanne darüber klar, dass man mütterliche Liebe mit Fleiß und Erfolg verdienen musste. Momentan verdiente sie sie nicht.

»Ich muss jetzt los, Mama …«

»Lass dich nicht aufhalten, mein Kind.«

»Schön, dich gesehen zu haben, Mama …«

Sie ging um den Tisch herum und küsste ihre Mutter zum Abschied auf beide Wangen. Eine Geste, die in Frankreich allgemein üblich war und die Mama daher nicht als das deuten würde, was sie in Wirklichkeit war: Ausdruck ihres schlechten Gewissens.

»Leb wohl, mein Schatz. Ich kümmere mich um die Flugtickets – alles Weitere per E-Mail. Und – nicht wahr, Susanne – du weißt, was auf dem Spiel steht? Du lässt dich nicht etwa … ablenken?«

Susanne zog den Gürtel enger und schlug den Mantelkragen hoch. »Wie kommst du denn darauf?«

»Mir kam es so vor, als wärest du mit den Gedanken woanders …«

»Ich bin mit den Gedanken bei meiner Arbeit, Mama!«

»Dann ist es ja gut, meine Kleine …«

An der Tür strömte ihr eine Gruppe Kommilitonen entgegen, die aus Grossiers Seminar kamen. Als sie Susanne erkannten, blieben sie verblüfft stehen.

»Eh, Susanne! Wo bist du gewesen? Grossier hat nach dir gefragt.«

»Später … Hab es eilig.«

»Sag Paul, er schuldet uns noch eine Runde …«

Sie drängte sich hastig an ihnen vorbei aus der Tür, ohne eine Antwort zu geben. Mamas Französisch war nicht besonders gut, wenn sie Glück hatte, war der letzte Satz an ihr vorübergegangen …

2

Draußen blies ihr der Herbstwind den kalten Nieselregen ins Gesicht. Feuchtes Laub lag an den Straßenrändern, die Gesichter der Vorübergehenden waren ebenso grau wie der schwer herabhängende Himmel. Susanne stemmte sich fröstelnd gegen den Wind und spürte, dass sich ein ziehender Schmerz in ihrer linken Schläfe breitmachte. Kein Wunder: Ihr fehlte der Schlaf. Sie musste jetzt unbedingt ein paar Stunden schlafen, sonst hielt sie die Nacht nicht durch. Also doch Schlafpillen. Warum nicht, Julia nahm das Zeug auch gelegentlich. Nein, das konnte sie ihren Eltern nicht antun. Sie musste den Master unbedingt bestehen. Das würde Paul einsehen. Ach, er liebte sie doch. Er würde es schon verstehen.

Sie hatten sich im Spätsommer in einem Schnellrestaurant kennengelernt. Es war schrecklich unromantisch gewesen. Sie hatte Pommes, Salat und Fisch gegessen und Paul balancierte sein Tablett durch das voll besetzte Restaurant auf der Suche nach einem freien Platz.

»Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«

»Bitte sehr …«

Sie hatte kaum aufgeschaut, war damit beschäftigt, die Gräten aus ihrem Backfisch zu pulen. Erst als sie die Zitronenscheibe ausdrückte und der Saft über den Tisch spritzte, stellte sie fest, dass er sie grinsend beobachtete.

»Tut mir leid …«

»Ein widerlicher Fraß, wie?«

Er hatte etwas Spitzbübisches an sich, wenn er so etwas sagte. Und außerdem sah er unverschämt gut aus – dunkelblaue Augen und schwarzes Haar. Eine Kombination, bei der sie schon öfter schwach geworden war.

»Geht so … Ist ja auch nicht teuer …«

»Dafür, dass auf Ihrem Teller mehr Gräten als Fisch liegen, ist es viel zu teuer …«

Er war amüsant. Erklärte ihr, wie man einen guten Fisch zubereitete, schwatzte über das Wetter, die Börsenkurse und fragte, ob sie Studentin sei. Man fühlte sich leicht und angenehm in seiner Nähe. Im Nu hatte sie ihm viel mehr über sich erzählt, als sie vorgehabt hatte.

Sie trennten sich vor dem Restaurant, und sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken. Wie schade, dachte sie. Was für ein netter Typ. Eine Woche später traf sie ihn wieder, als sie in der Bank Geld abhob. Angeblich hatte er sie ganz zufällig gesehen und er habe das als einen Wink des Himmels betrachtet.

»Ich habe oft an Sie denken müssen, Susanne.«

Sogar ihren Namen hatte er sich gemerkt. Er arbeitete hier in der BNP Paribas, allerdings »weiter oben«, wie er schmunzelnd erklärte, im dritten Stock, wo die Anlagengeschäfte getätigt wurden. Und ob sie heute Abend Zeit habe …

Eigentlich hatte sie keine Zeit, das Wintersemester würde bald beginnen und sie recherchierte schon für ihre Masterarbeit. Aber natürlich ging sie trotzdem mit ihm aus. Obgleich sie sich keine Illusionen machte. Er war ganz sicher ein Womanizer, so wie er aussah, wie er sich gab. Sie merkte doch, dass die Frauen ihm nachschauten. Und sie hatte nach zwei kurzen, unerfreulichen Beziehungen wenig Lust, ein weiteres Mal enttäuscht zu werden.

Doch dieser Abend mit Paul änderte alles. Stundenlang saßen sie in einem kleinen Restaurant an der Seine, redeten, lachten, stritten, erzählten und phantasierten. Später streiften sie Hand in Hand durch die abendliche Stadt, spürten die Wärme des Pflasters, den Duft der Platanen, hörten einem Straßenmusiker zu, der traurige Melodien auf seiner Geige spielte. Um Mitternacht fanden sie sich auf den Treppen von Sacré-Cœur wieder, wo Touristen und Taschendiebe flanierten. Dort hockten sie auf einer Stufe, flüsterten, lachten und küssten sich.

Sie nahmen ein Taxi zu ihrer Wohnung, doch Paul kam nicht mit hinauf. Er ließ sich Zeit. Sie telefonierten, trafen sich im Restaurant, besuchten Ausstellungen, gingen Hand in Hand durch den Bois de Boulogne und redeten. Nie zuvor war sie einem Menschen begegnet, der auf solch charmante Weise alles in Frage stellte, woran sie bisher geglaubt hatte. Er beharrte nicht auf seiner Meinung, er hatte Spaß daran, Argumente zu finden, sie zu verblüffen, ihre Position ins Wanken zu bringen. Ihre Redegefechte wurden vehement ausgetragen, doch stets mit Korken auf den Florettspitzen. Immer ließ er ihr die Möglichkeit, sich ehrenvoll zurückzuziehen.

Er stellte die freie Markwirtschaft in Frage und behauptete, die wirklich großen Geschäfte würden hinter den Kulissen gemacht. Die Geldgeschäfte der Banken seien nur Illusionen. Zahlen, die hin und her geschoben würden. Millionen, Milliarden, Billionen, Billiarden … ganz gleich. Es gäbe dieses Geld gar nicht. Nur die Zahlen im Computer. Es sei einfach nur ein Spiel.

»Wie kannst du mit solch einer Einstellung bei einer Bank angestellt sein?«

»Wo sonst?«

Er war ein Zyniker. Einer, der sich über Dinge lustig machte, die für andere Leben oder Sterben bedeuteten. Ein Spieler, der nichts ernst nehmen wollte. Nach drei Wochen stand er unverhofft vor ihrer Wohnungstür, einen Koffer und eine Reisetasche neben sich.

»Nur für ein paar Tage … Wenn es dir recht ist …«

Sie hatte solche Sehnsucht nach seinem Körper gehabt, dass sie diese überraschende Wende kaum fassen konnte. Er gehörte ihr – endlich. Sie würde ihn nie wieder gehen lassen. Und tatsächlich hatte er auch gar nicht vor, zu gehen. Stattdessen breitete er sich in ihrer Wohnung und in ihrem Leben aus.

Die schwerblütige Lebenseinstellung ihrer Familie, das verbissene Karrierestreben, die Angst, den Anschluss zu verpassen – das alles war ihm fremd. Heute ackerte er wie ein Verrückter, um irgendein Geschäft zustande zu bringen, morgen nahm er Urlaub und fuhr mit ihr in den Süden, brachte ihr das Surfen bei. Er lobte sie über den grünen Klee, weil es ihr leichtfiel, auf dem schmalen Brett die Balance zu halten, mit dem Wind zu fahren.

»Natürlich kommt das daher, weil du so dünn wie ein Junge bist, meine süße Fee …«

Er behauptete, verrückt nach ihr zu sein, und er bewies es ihr immer wieder. Er war nicht ihr erster Liebhaber, aber der phantasievollste. Vor allem, was die Umgebung betraf. Sie hatten Sex in einer Umkleidekabine im Kaufhaus. In der Tiefgarage der Bank. In seinem Büro. Im Aufzug eines Hotels. Im Urlaub lagen sie nachts am Strand, wo die kleinen Wellen über ihre nackten Körper schwappten. Er war nicht besonders zärtlich, manchmal tat er ihr weh, aber seine Leidenschaft machte alles wieder wett. Sie war hingerissen, solche Gefühle in ihm auszulösen.

»Eines Tages drehe ich durch und fliege mit dir davon …«, murmelte er.

Es war seine Wärme. Seine Fähigkeit, sie in den Arm zu nehmen und ihr das Gefühl zu geben, zu Hause zu sein. Sie mit ein paar Worten glücklich zu machen. Er liebte sie, ohne etwas von ihr zu fordern, einfach nur, weil sie da war.

»Abitur – Studium – eine Position im oberen Management – und was kommt dann?«

Sie behauptete, es gäbe viele Möglichkeiten.

»Vielleicht eine politische Karriere? Bringt nicht viel Geld – aber es könnten sich Türen öffnen.«

»Was ist daran schlecht? Unser Land braucht fähige Politiker …«

»Gewiss. Danach ein Sprung zurück in die Wirtschaft. Aufsichtsrat. Stiftung. Immobilien. Große Aktienfonds …«

Sie wappnete sich. »Worauf willst du hinaus?«

Fast immer täuschte er sie. Machte eine Kehrtwendung, mit der sie nicht gerechnet hatte.

»Nun – das ist großartig. Ein erfolgreiches Leben. Voller Arbeit. Etwas, worauf man stolz sein kann…«

»So ist es.«

»Aber vielleicht ein bisschen … langweilig?«

Er setzte ihr blitzschnell die Spitze des Floretts auf die Brust. Der Korken kitzelte. »Ein Leben aus der Retorte. Durchgestylt vom Steckkissen an. Stufe um Stufe – ganz nach Plan. Wie eine Raupe, die einen Zweig hinaufklettert und immer wieder verschnaufen muss. Dann schaut sie nach unten und ist stolz, wie hoch sie schon geklettert ist …«

»Das ist ein alberner Vergleich.«

Er lachte sie aus und räumte ein, dass sie recht habe. »Was ich sagen will, ist dies: Das Leben ist verplant. Kein Raum für Überraschungen, Abenteuer, unentdecktes Land. Wer an der Spitze seiner Karriere angekommen ist, dem bleiben ein paar schöne Jahre, Luxus, Reisen, gute Taten für die Unglücklichen dieser Welt. Danach ein Seniorendomizil unter Palmen, Blick aufs Meer, das Sauerstoffzelt in Reichweite. Und schließlich ein lauschiges Plätzchen im Friedwald in einer umweltgerechten, weil selbstauflösenden Urne.«

Sie fand seine Ausführungen unmöglich. Ob denn Erfolg so verachtenswert sei. Und was er selbst von seinem Leben erwarte.

»Ich?« Er zog sie an sich und strich ihr das lange Haar zurück. Küsste sie zart auf die Stirn, auf die Wangen, näherte sich ihrem Mund. Lächelte, weil er spürte, wie er sie erregte. »Wildnis erwarte ich. Blühende Träume. Niemals wissen, was morgen geschehen kann. Den Augenblick feiern. Das Glück fassen, wenn es sich bietet, und es halten, solange die Kraft reicht …«

Sie schwieg verwirrt. Meinte er das ernst? Oder war das wieder eines seiner Spiele? »Wer könnte so leben?«

»Wir beide, meine kleine Fee …«

Es erschien ihr verrückt und faszinierend zugleich.

Eines war sicher: Wenn sie ihn heiratete, würde es eine aufregende Ehe werden. Aber sie wollte es so. Nicht, dass sie tatsächlich nach seiner Fasson hätte leben wollen – nur musste man es mit der Lebensplanung auch nicht übertreiben. Raum für Überraschungen lassen. Für Abenteuer. Für Glück.

Ein Haus irgendwo am Meer. Ein Garten, von einer dichten Hecke umgeben und voller Blumenbeete. Paul und sie, die miteinander am Strand entlangliefen, über niedrige Felsen kletterten, am Horizont die Silhouetten großer Schiffe erspähten. Ein blonder Hund, der Stöckchen aus den Wellen apportierte. Sie trug ein weites Baumwollkleid, das im Wind flatterte. Sie war schwanger. Ein kleines Wesen wuchs in ihr, dem sie und Paul all ihre Liebe schenken würden. Ohne Bedingungen. Ohne Forderungen. Nur weil es zu ihnen gehörte, ihr Kind war.

Zugegeben, das alles war sehr vage. Eine romantische Träumerei, die sie sich früher niemals gestattet hätte. In ihrer Familie gab es durchaus Ansichten über Liebe und Familienglück, aber die standen auf den sicheren Beinen der Vernunft. Julia hatte ihren Dennis seinerzeit mit Bedacht ausgewählt; sie war anspruchsvoll und hätte niemals einfach nur aus Liebe geheiratet. Es gehörte mehr dazu, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, man musste übereinstimmende Interessen haben, beruflichen Ehrgeiz, Verantwortungsbewusstsein, Ziele. Kinder plante man gemeinsam und bestimmte den Zeitpunkt, damit keine beruflichen Nachteile daraus erwuchsen. Julia beschäftigte eine Hausangestellte, eine Putzhilfe und einen Gärtner. Früher auch ein Kindermädchen. Am Wochenende unternahmen Eltern und Kinder Ausflüge, im Sommer verbrachte man zwei Wochen in einer Ferienanlage in der Provence, wo die Mädchen mit Spiel und Sport unterhalten wurden und die Eltern Zeit hatten, sich zu erholen.

Nein, Paul hatte schon recht – ein solches Leben war spießig, banal und fürchterlich langweilig.

Sie war schon vor dem Hauseingang angekommen, da entdeckte sie am Straßenrand seinen Peugeot. Das schwarze Sportcoupé wirkte ziemlich elitär zwischen den parkenden Studentenkarossen, zumal es nagelneu war. Er hatte es erst vor zwei Tagen von einem Freund gekauft. Ein Schnäppchen, wie er grinsend behauptete. Er hatte extra einen Stellplatz in einer Tiefgarage gemietet, damit sein Schätzchen in der Nacht keinen Schaden nahm. Im Quartier Latin konnte man nie wissen …

Susanne freute sich, dass er die Mittagspause bei ihr verbringen wollte. Bestimmt hatte er Kaffee gekocht, vielleicht sogar frisches Brot mitgebracht, Käse und Marmelade waren noch im Kühlschrank. Bei einem gemütlichen zweiten Frühstück würde sie ihm von Mamas überraschendem Besuch erzählen und ihm dann vorsichtig klarmachen, dass sie sich von nun an ganz und gar auf ihr Studium konzentrieren wollte.

Im Eingangsflur hingen die Briefkästen der Mieter, insgesamt zwanzig graue Metallkästchen, in Viererreihen angeordnet, mit weißem Namensschild und einem Schlitz an der Oberseite. Ihrer befand sich in der dritten Reihe von oben. Ein schwarz gerandeter Umschlag ragte heraus. Ein Trauerfall, dachte sie beklommen. Jemand aus unserer Familie? Kaum, sonst hätte Mama ihr doch davon erzählt. Sie zerrte den Schlüssel aus der Handtasche und öffnete das graue Türchen. Drei Briefe an M. Paul Charnier, die Paris Match, mehrere Reklameblätter und eben dieser Trauerumschlag. Sie öffnete ihn hastig, riss ihn dabei fast entzwei und fand die Todesanzeige eines völlig unbekannten Menschen. Ach du lieber Gott, der Brief war gar nicht an sie gerichtet, sondern an Marie-Anne Dupin, ihre Putzhilfe. Unglaublich – jetzt ließ sich Marie-Anne schon die Post hierher schicken. Sie versuchte, die Karte wieder in den zerrissenen Umschlag zu schieben, war aber zu ungeduldig und steckte beides in ihre Manteltasche. Freitag kam Anne-Marie zum Putzen, da würde sie ihr die Post geben und die Angelegenheit mit ihr klären. Die Reklameblättchen warf sie in den Müllcontainer, die Zeitschrift und Pauls Briefe trug sie in der Hand. Roch es da nicht schon nach Kaffee? Sie schnupperte fröhlich und lief die Treppen hinauf. Im zweiten Stock standen zwei Paar bunte Kinderstiefel neben der Tür – da würde sich die Nachbarin wieder über die Unordnung aufregen. Im dritten Stock war ihre kleine Wohnung: zwei Zimmer, Küche, Bad, Balkon. Momentan leider nicht aufgeräumt, aber trotzdem sehr gemütlich. Liebesnest, Arbeitsplatz, Kuschelbude, Wolkenkuckucksheim.

»Paul? Wo steckst du? In der Küche?«

Sie bekam keine Antwort, doch sie hörte ihn im Wohnzimmer sprechen. Ah – er telefonierte. Da ging sie besser in die Küche, er mochte es nicht, wenn sie seine geschäftlichen Telefonate mitanhörte, und es interessierte sie auch nicht. Sie legte die Post und die Zeitung auf die Flurkommode, zog den Mantel aus und fuhr sich rasch mit dem Kamm durch das feuchte Haar. In der Küche war keine Rede von Kaffee oder frischem Baguette, stattdessen stand das benutzte Geschirr der vergangenen Tage überall herum und auf einer der Herdplatten klebte noch die übergelaufene Milch. Sie öffnete das Fenster einen Spaltbreit, um wenigstens frische Luft hereinzulassen, dann entschloss sie sich mit einem Seufzer, die Spülmaschine einzuräumen. Eigentlich war das ja Marie-Annes Arbeit, aber bis Freitag brauchten sie ein paar saubere Tassen und Teller. Sie kippte Brotkrümel und Käserinden in den Mülleimer, kratzte an einem eingetrockneten Klecks Senf herum und fand die leicht verschimmelten Reste eines Risottos in einem Kochtopf. Hu – wann hatte Paul denn dieses Zeug gekocht? Irgendwann in der vergangenen Woche, er hatte zu viel Parmesan hineingegeben …

»Du bist ja schon zurück!«

Er trug einen der schicken dunkelblauen Anzüge, die er nur zur Arbeit im Büro anzog, den Schlips hatte er abgelegt und die oberen Hemdknöpfe geöffnet.

»Ja, ich war nur für ein halbes Stündchen im ›Chez Kelly‹. Stell dir vor, meine Mutter rief an. Sie ist in Paris und wollte sich mit mir treffen …«

»Deine Mutter?« Er wirkte heute irgendwie zerstreut, fand sie. Sah auch blass aus. Ob er vielleicht Ärger in der Bank hatte?

»Ja, wir haben ein wenig geplaudert. Magst du einen Kaffee, Schatz? Ich laufe rasch hinüber zum Bäcker und …«

Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das dunkle Haar und schien unschlüssig. »Nein, lass. Wir frühstücken unterwegs. Pack ein paar Sachen zusammen. Wir machen Urlaub …«

Sie stellte die dreckigen Teller zurück auf den Tisch und musste lachen. Das war echt Paul. Urlaub machen. So ganz plötzlich, nur weil er gerade dazu Lust hatte.

»Das geht nicht, Liebster. Ich bin mitten im Semester. Du weißt doch …«

»Komm schon, Susanne. Nur ein paar Tage. Ich gehe sonst hier noch vor die Hunde …«

Mitleidig sah sie ihn an. Ja, es musste ihm etwas heftig danebengegangen sein. Aber er konnte seine Wunden schließlich auch daheim lecken. Bei guter Pflege …

»Es geht nicht, Paul. Bitte versteh mich. Ich darf auf keinen Fall durch das Examen fallen. Meine Eltern …

»Sie würden dich nicht mehr lieben, wenn du durchfällst. Ist es das?«

Er machte sein zynisches Gesicht und legte den Kopf schräg. Meist musste sie dann lachen, dieses Mal aber ärgerte sie sich ein wenig. Sie hatte mehr Verständnis erwartet.

»Sie haben viel für mich getan, es wäre nicht fair, sie jetzt zu enttäuschen. Außerdem würde es auch mir nicht gefallen, mit einem abgebrochenen Studium dazustehen …«

Er tat einen langen Seufzer und ging zum Fenster, starrte eine Weile auf den verregneten Hinterhof, während sie das Geschirr zusammenräumte.

»Drei Tage nur, Schatz … Ich brauche es wirklich!«

Sie schwieg. Natürlich konnte sie vorschlagen, er solle doch allein fahren. Aber das wollte sie nicht. Wenn es ihm tatsächlich nicht gut ging, wollte sie bei ihm sein.

»Zwei …«

Er drehte sich zu ihr um. Seine Miene zeigte heitere Resignation. Na gut, er gab nach. Zwei Tage. Wenn sie darauf bestand.

»Und wohin?«

So richtig schien er sich nicht auf den Urlaub zu freuen. Er war eher fahrig, griff nach der Wasserflasche und hätte dabei fast einen Becher umgestoßen.

»In die Bretagne. Meer, Felsen, Einsamkeit. Nimm meinetwegen deine Bücher und dein Laptop mit.«

Jetzt grinste er sie an, verschmitzt wie ein Lausbub.

»In die … Aber doch nicht jetzt im Herbst! Im Frühling oder im Sommer ist die Bretagne ein gutes Reiseziel.«

»Für Spießer und Wasserscheue. Echte Genießer fahren im Herbst. Komm schon, mein Elfenkind. Pack Jeans und Pulli ein. Gummistiefel kaufen wir uns dort. Und Regenjacken auch. Ich will den Wind spüren. Mit dir zusammen gegen die Brandung anrennen …«

»Du bist ein Verrückter …«

Sie küsste ihn. Einen Augenblick lang hielt er sie an sich gedrückt, und sie spürte die Hitze in seinem Körper, seinen raschen Herzschlag.

»Ich liebe dich, meine kleine Fee …«

»Ich liebe dich auch, mein Kater …«

3

Praktisch fand sie solch ein Sportcoupé eigentlich nicht. Viel zu eng und kaum Platz für Gepäck. Ihr Bruder hatte mal einen Mercedes 230 CLK gefahren, das war gleich nach dem Abitur gewesen, später hatte er es als »pubertäre Spinnerei« abgetan. Aber Paul liebte schnelle Wagen. Vor diesem Peugeot hatte er einen italienischen Flitzer besessen, den hatte er jedoch wieder verkauft, weil der Motor im Winter immer zickte.

»Im Stadtverkehr merkt man den Unterschied natürlich nicht. Aber warte, bis wir auf der Autobahn sind, dann heben wir ab …«

Sie rutschte auf dem Beifahrersitz herum und betätigte verschiedene Schalter, um bequem zu sitzen.

»Die Person, die du heute früh befördert hast, war langbeinig, steif im Rücken, und sie hatte kurze, blonde Haare …«

Ausnahmsweise war er für einen Moment verblüfft, dann bemerkte er, sie hätte eine steile Karriere als Kriminalkommissarin vor sich.

»Nichts für mich. Ich will heiraten und einen Haufen Kinder großziehen …«

Er gab keine Antwort, war ganz und gar auf den Verkehr konzentriert. Es regnete jetzt in Strömen, der Scheibenwischer tanzte auf der Frontscheibe, von der Straße spritzten graue Wassernebel auf. Man sah nur wenige Regenschirme, da der Wind zu heftig war, die meisten Passanten gingen dicht an den Häusern entlang und vergruben sich in ihre Mäntel.

Warum will er jetzt unbedingt in die Bretagne?, dachte Susanne. Dort ist es ganz sicher kalt und stürmisch.

»Wollen wir nicht lieber nach Italien fahren? Spanien? Portugal? He – wir waren noch nie in Lissabon …«

Er schien die Frage nicht gehört zu haben, bog jetzt in eine Seitenstraße ein, fuhr einmal um den Block und hielt vor einem Papierwarengeschäft.

»Was willst du denn hier?«

»Ich hol mal eben eine Zeitung … Bleib sitzen, ich bin gleich wieder da.«

Sie sah zu, wie er mit offenem Mantel durch den Regen lief und in dem Laden verschwand. Heute war er wirklich komisch. Die Zeitung hätten sie doch auch in einer Raststätte kaufen können, wenn sie dort einen Kaffee tranken. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Sie sollte jetzt etwas essen, wenn sie mit leerem Magen im Auto saß, wurde ihr leicht schlecht. Wieso brauchte er so lange, um diese dumme Zeitung zu kaufen? Sie konnte ihn in dem beleuchteten Laden sehen, er stand mit dem Rücken zum Schaufenster, das Handy am Ohr.

Widerwillig entschloss sie sich, auszusteigen, um in dem Lebensmittelladen nebenan einzukaufen. Sie ließ sich zwei Baguette mit Salami einpacken, dazu Äpfel, Pfirsiche und eine Tafel Schokolade. Für den schlimmsten Hunger würde das reichen. Sie nahm noch eine Flasche Wasser und eine Cola mit, dann stellte sie den Kragen hoch und kämpfte sich mit ihren Vorräten zurück zum Wagen. Fast hätte sie Paul übersehen. Er stand gebückt am Straßenrand und schien etwas vom Boden aufzuheben. Gleich neben dem Gully, in dem ein gurgelnder Strom Regenwasser versickerte. O Schreck! Waren ihm etwa die Autoschlüssel in den Gully gefallen? Aber nein, jetzt richtete er sich wieder auf und lief eilig zum Wagen, sie sah den Schlüsselanhänger in seiner Hand, ein kleiner Elefant aus Silber, den sie ihm geschenkt hatte. Ein Glücksbringer, wie ihr der afrikanische Verkäufer gesagt hatte.

»Wo läufst du denn herum?«, fragte er, als sie beide wieder im Wagen saßen und Susanne sich bemühte, ihre Einkäufe auf dem winzigen Rücksitz zu verstauen. »Wir können doch später irgendwo was essen …«

Er wischte sich kurz mit dem Ärmel über das nasse Haar, ließ den Motor an und warf die Zeitung nachlässig nach hinten. Der Wagen schoss förmlich aus der Parklücke. Susanne, die sich noch nicht angeschnallt hatte, wurde in den Sitz gedrückt, die Wasserflasche rutschte ihr aus der Hand.

»Was ist los mit dir, Paul? Sind wir auf der Flucht oder wollen wir Urlaub machen?«

»Ach, der Stadtverkehr geht mir auf den Geist …«

»Magst du was essen?«

»Später …«

Schweigen. Sie nahm sich ein Baguette vor, kaute genussvoll und bemühte sich, möglichst wenig Krümel zu machen. Paul war zwar in der Wohnung ziemlich schlampig, sein Auto hielt er aber innen und außen peinlich sauber. Sie kannte das schon, ihr Bruder und ihr Vater waren genauso, einer ihrer Ex-Freunde hatte sogar einen Staubsauger mit Batterie im Wagen liegen, und wenn es regnete, hatte sie die Jacke ausziehen müssen, bevor sie sich in sein heiliges Auto setzte. Wegen der Ledersitze.

Endlich hatten sie die Ringstraße erreicht und bogen bei Neuilly sur Seine in Richtung Rouen, Rennes, Brest ab. Er wollte tatsächlich in die Bretagne. Zahlte die Maut für die nächsten hundert Kilometer, pumpte sie um Kleingeld an, weil er es nicht passend hatte, und fuhr dann in erstaunlich gemäßigtem Tempo gen Westen. Mit Fliegen hatte das nicht viel zu tun, aber möglicherweise fürchtete er, der neue Wagen könne auf der nassen Autobahn außer Kontrolle geraten. Sie nahm sich vor, keine Bemerkung dazu zu machen. Schließlich war es nur vernünftig, dass er auf ihre Sicherheit bedacht war. Stattdessen fingerte sie an dem Bordcomputer herum, um das Navi einzustellen.

»Lass doch, Susi. Wir brauchen es nicht …«

»Aber ich möchte wissen, wo wir sind …«

»Lass dich einfach überraschen. Fahrt ins Blaue. Mach die Augen zu oder schau in den Himmel …«

Sie lachte ihn aus. Der Himmel hing voller Regenwolken, viel Blau war da nicht zu sehen.

»Heute Nachmittag soll es besser werden.«

»In Paris vielleicht. In der Bretagne verschwinden wir im Nebel …«

»Umso besser …«

Sein Grinsen war ironisch. Sie betrachtete sein Profil und stellte fest, dass seine Nase ein klein wenig krumm war, der Mund sehr sinnlich, das Kinn vorgeschoben und schlecht rasiert. Sie liebte besonders seine Augen. Schmal, dunkelblau und von dichten, schwarzen Wimpern umrandet. Im Sonnenlicht erschien seine Iris heller, fast durchsichtig, jetzt im diffusen Licht des Regentages war sie matt und dunkel. Wenn ein Wagen dicht hinter ihnen fuhr und der Rückspiegel das Scheinwerferlicht reflektierte, zog Paul die Augen zusammen. Dann sah er aus, als habe er Schmerzen.

»Gab es Ärger in der Bank?«

»Nicht der Rede wert …«

Er tätschelte kurz ihr Knie und meinte, sie sei ein Schatz. Danach kam nichts mehr. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass er nur selten über seine Arbeit redete. Und wenn er es tat, dann ziemlich allgemein. Dass man in diesem Job höchstens zehn Jahre hätte, dann würde man ausgetauscht. Dass selbst die Banker die meisten Transaktionen nicht vorausberechnen könnten. Es würde halt funktionieren oder nicht. Man müsse ein »Feeling« dafür besitzen. Einen sechsten Sinn. Manche hätten ein Maskottchen, andere glaubten an Erdströme oder biologische Wellen. Die meisten vertrauten einfach nur auf ihr Glück.

»Alles in Ordnung mit dir, Kater?«

Er lächelte. Unbefangen und herzlich, wie es seine Art war. Nur kürzer. »Machst du dir Sorgen, kleine Fee? Das brauchst du nicht.«

Nachdem sie Nanterre passiert hatten, wurde sie schläfrig. Der Sitz war ungemein bequem, man lag mehr, als dass man saß, es war wie in dem Märchen von diesem kleinen Jungen, der in seinem Gitterbettchen über den Himmel fuhr. Wie hieß er doch noch? Der kleine Häwelmann. Nur der dumme Regen störte, dafür wirkte das gleichmäßige Rauschen und Sausen der Autobahn wie ein Schlaflied. Die Augen fielen ihr zu, und sie tauchte ein in die Bilderwelt ihrer Phantasie. Eine saftig grüne Wiese, kleine Büsche, niedrige braune Mäuerchen. Auf dem grünen Gras weideten weiße Schäfchen. Rundlich, wollig, niedlich, wie mit dem Pinsel hingetupft. Sie hüpften durcheinander, sprangen über einen Bach, standen auf den kleinen Mauern. Sie meckerten und blökten, einige bellten. Schafe können nicht bellen, sagte sie im Traum. Ein hellbrauner Hund kam angelaufen, der Wind wühlte in seinem langen Fell, seine Ohren flatterten. Er trug etwas in seinem Maul, das aussah wie eine glänzende CD. Vorsicht, rief sie im Traum. Zerbeiß es nicht, es gehört Paul. Der Hund setzte sich vor sie hin und spuckte die Scheibe vor ihre Füße. Doch als sie sie aufheben wollte, glitt sie ihr aus den Händen und fiel in den Bach. Das Wasser trug das silbrige Plastikteil davon, sie lief am Ufer entlang und versuchte es zu greifen, doch bevor sie es erwischte, versickerte der Bach in einem Gully. Die Scheibe rutschte durch den Schlitz und verschwand in der Dunkelheit. »Verloren«, sagte der Hund. Die Wiese war jetzt ein graues Meer, die Schäfchen hatten sich in Segelboote verwandelt, die von den unruhigen Wellen hin und her geworfen wurden. Auch sie selbst saß in einem Boot, das mächtig schaukelte, sie musste sich an der Reling festhalten, um nicht hinauszufallen. »Pass gut auf«, sagte der Hund. »Der Sturm bläst von Nordwest …«

Etwas drückte ihr den Magen ab, sie musste würgen. Dann schlug ihr Hinterkopf gegen die Kopfstütze des Wagens und sie war hellwach. Das Auto raste über eine schmale Landstraße, Felder und Wiesen, ein kleines Gehöft, sie überholten einen Lastwagen, das Auto schlingerte auf der nassen Fahrbahn.

»Bist du verrückt geworden?«

Pauls Gesicht war fremd, der Mund verzerrt, die Augen zusammengezogen. Er drosselte die Geschwindigkeit und bog in einen Feldweg ein, der Wagen rutschte über den matschigen Boden, schien zu schwimmen. Äpfel und Pfirsiche rollten zwischen den Sitzen herum. Paul fluchte. Sie hatte ihn noch niemals fluchen gehört.

»Bitte halt an. Mir ist schlecht …«

»Hör zu, Susanne …« Er sprach gepresst und atemlos. Schaute immer wieder in den Rückspiegel. »Du steigst dort drüben aus dem Wagen und bleibst in diesem Wäldchen. Versteck dich im Unterholz …«

»Was redest du da? Spinnst du? Ich soll bei diesem Wetter …«

Es musste ein Traum sein. Ganz sicher. Sie war noch nicht aufgewacht. Gleich würde irgendwo ein blökendes Schaf auftauchen. Oder ein bellendes.

»Tu jetzt, was ich dir sage. Ich erkläre dir alles später.«

»Nein! Auf keinen Fall!«

Sie spürte seine Hand, die sich für einen Moment auf ihre Schulter legte und dann abwärts glitt, um ihren Gurt zu lösen.

»Ich hole dich so bald wie …«

Ein gewaltiger Schlag zerriss seine Rede, dumpf, überlaut, von einem umherschwirrenden Glashagel begleitet. Gras, Steine, Unterholz, schmale Baumstämme schossen an ihr vorbei. Dann ein Knall wie von einer Explosion und eine rote Feuersäule. Zuletzt nichts mehr. Schwärze. Alle Daten gelöscht. Vollkommene Leere.

4

»Du hast echt Glück gehabt. Okay, die meisten von uns sind in Ordnung, gute Kerle. Aber es gibt auch ein paar Typen, zu denen sollte sich ein Mädel nicht ins Fahrerhaus setzen. Höchstens, wenn sie daran Spaß hat …«

Roxane schaute die junge Mitfahrerin prüfend von der Seite an, dann sah sie wieder nach vorn. Ein Laster blockierte die mittlere Spur, wollte einen Kollegen überholen, aber der machte sich einen Spaß daraus, dagegenzuhalten.

»Aber so eine bist du nicht, oder?«

Die junge Frau neben ihr machte eine verneinende Geste. Sie schaute schlimm aus. Eine dicke Beule an der Stirn, Schrammen an Wangen und Händen. Wahrscheinlich war da noch mehr, unter der Kleidung. Armes Ding. Der Typ hatte sie geschlagen und aus dem Wagen geworfen. Ihr Freund – hatte sie gesagt. Was eine so »Freund« nannte … Ein brutaler Dreckskerl.

Vorn kämpften die beiden Laster immer noch miteinander. Roxane fluchte leise. Was für Idioten. Hinter ihnen stauten sich die PKW auf der mittleren Spur, einige scherten auf die rechte Spur aus, dort wurde es jetzt auch dicht.

»Kraftspielchen … Hauptsache, es macht Spaß. Ist ja egal, wenn es gleich rumst. So einen würde mein Chef rausschmeißen …«

Die Mitfahrerin starrte auf die Fahrbahn, schien aber kaum etwas mitzubekommen. War wahrscheinlich noch unter Schock. Nass war sie, wie aus dem Wasser gezogen. Der Mantel dreckig, als hätte sie drei Nächte im Wald gelegen. Von den Schuhen gar nicht zu reden. Mist, sie versaute ihr den Sitz und den Boden. Das hatte sie jetzt von ihrer Gutmütigkeit.

»Haste Hunger? Hinter dir ist eine Tüte mit Käse und Baguette. Chips sind auch da. Kannst mir rasch ’ne Cola rübergeben …«

Die Kleine reagierte nicht gleich, und Roxane dachte schon, sie sei total neben der Spur. Aber dann drehte sie sich um und suchte im Dunklen.

»Da ist ein Lichtschalter.«

»Danke.«

Nein, sie war wohl ganz in Ordnung. Schraubte sogar den Verschluss der Colaflasche ab, bevor sie ihr das Teil reichte, dachte also mit. Brach ein Stück Baguette ab, schnitt Käse und fragte dann, ob Roxane etwas wollte.

»Nee … Iss du nur. Aber mach keine Krümel, ja?«

»Ich pass schon auf …«

Hinten dröhnten die Hupen von drei weiteren Lastern. Der Typ vor ihr gab endlich auf und ließ den anderen vorbei. Sie konnte sehen, wie der Überholer die Faust hob, der andere zeigte nur den Mittelfinger. Es war Polu, sie konnte ihn jetzt im Seitenspiegel erkennen. Der war schon immer ein Arschloch gewesen.

»Wie lang warst du denn mit dem Typ zusammen?«

Die Kleine kaute eifrig, sie musste verdammt hungrig sein. Roxane konnte die Schramme auf ihrer Wange deutlich sehen. Sie zog sich bis hoch an die Schläfe.

»Ein paar Monate …«

»Man kann nie vorsichtig genug sein. Manche Typen sind zuerst sanft wie die Lämmer, hängen sich dran, stellen sich, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Sind oft gerade die harmlosen, die hinterher brutal werden …«

Sie bekam keine Antwort, brauchte auch keine. Polu blinkte und ordnete sich rechts ein, wollte bei der Raststätte rausfahren. Wahrscheinlich musste er tanken. Sie hatte noch Sprit bis Rouen. Schade, dass die Kleine so schweigsam war, sie hörte gern zu, wenn jemand aus seinem Leben erzählte. Besonders, wenn sie nachts fuhr. Da hatte sie schon die tollsten Sachen erfahren, unglaublich, was den Leuten alles passierte. Konnte sich kein Schriftsteller ausdenken, was das Leben so schrieb …

»Ich hatte früher auch so einen Macker. Dem hat die Spedition gehört, für die ich gearbeitet hab, da hab ich gedacht, was für ein toller Kerl, und hab mich verknallt. Da machste ja alles mit, wenn du so verrückt nach einem Typ bist …«

Sie erzählte, wie sie geheiratet hatten. Eine Tochter hatte sie, die war jetzt bei ihren Eltern. Dann hatte es nur noch Streit gegeben. Zuerst hatte er ihr gedroht, sie könne sich gleich beim Sozialamt anmelden. Aber sie hatte die Scheidung durchgezogen, und jetzt war sie bei der Konkurrenz angestellt.

»Die Corinne, meine Tochter, die hat’s drauf. Die wird mal studieren. Braucht sich nicht so plagen. Aber mir gefällt’s so. Hab meine Freiheit …«

Die junge Frau hörte ihr zu, aß Baguette mit Käse und sammelte sorgfältig die Krümel auf. Sie war nicht hässlich, nur ziemlich dünn. Langes, dunkelblondes Haar, braune Augen, schmaler Mund. Mit den Kratzern und der Beule sah ihr Gesicht schlimm aus.

»Brauchste ’ne Kopfwehtablette? Da vorn im Handschuhfach sind welche.«

»Danke. Ich glaube, in meinem Kopf ist ein Specht …«

Sie schaute gar nicht hin, was sie einnahm, schluckte es einfach mit Cola runter und lehnte sich dann aufatmend zurück.

»Soll ich dich in Rouen absetzen? Oder willst du mit nach Le Havre?«

Sie schien zu überlegen. Wahrscheinlich war das eine so schlecht wie das andere für sie. Sie hatte keine Handtasche dabei, die musste der Kerl behalten haben. Roxane überlegte, ob sie ihr eine kleine Geldsumme anbieten sollte, entschied sich aber, es nicht zu tun. Schließlich brauchte sie ihre Kohle selber, musste den Eltern etwas für die Betreuung der Enkeltochter geben, und dann legte sie immer was auf die Seite. Für Corinne. Wenn sie mal studierte.

»Ich würde gern bis Rouen mitfahren. Wenn ich darf …«

»Klar. Wenn du müde bist, kannst du dich auch nach hinten legen. Ich mach dann das Radio laut. Damit ich nicht einpenne, verstehst du?«

»Das stört mich nicht … Vielen Dank …«

Roxane verzog das Gesicht. Es störte sie nicht, na wunderbar! War schon eine ziemlich verwöhnte Göre. Und wie sie redete! »Ich würde gern … Wenn ich darf …« Die war was Besseres, eine Gebildete, vielleicht sogar eine Studierte. Auf die Idee, sich fürs Mitfahren erkenntlich zu zeigen, kam sie nicht. Ging ja nicht um Geld. Gute Stimmung war gefragt. Nette Gespräche, ein paar Witze. Im Sommer hatte einer mal seine Gitarre dabeigehabt und gesungen. Aber die da versaute ihr das Fahrerhaus, fraß ihr Baguette und legte sich dann schlafen. Auf ihre gute Wolldecke, die war hinterher wahrscheinlich auch dreckig.

Als die Kleine jetzt in die Schlafkoje kletterte, zuckte sie ein paarmal zusammen und stöhnte. Nun tat sie Roxane schon wieder leid. Hatte sie übel zugerichtet, der Kerl. Sie sollte ihn bei der Polizei anzeigen. Aber dazu fehlte ihr wohl der Mut. War ja oft so. Manche Frauen ließen sich durchprügeln und hingen trotzdem an dem Typen.

»Stört es, wenn ich das Licht anlasse?«

»Nee. Aber zieh den Vorhang zu.«

Hatte die Angst vor der Dunkelheit? Konnte schon sein nach dem Schrecken, den sie ausgestanden hatte. Überhaupt brauchte die Kleine dringend trockene Sachen. Hier im Fahrerhaus war es warm, aber wenn sie um Mitternacht in Rouen ausstieg, würde sie sich ganz schön wundern.

Ich bin nicht ihre Mutter, dachte Roxane. Um Himmels willen, dafür würde die sich auch bedanken. Wie die mich angestarrt hat, als ich neben ihr anhielt. Hat wohl noch nie eine Truckerin gesehen.

Die junge Frau hatte einsam im Regen auf dem Grünstreifen der Raststätte gesessen. In der Abenddämmerung war sie Roxane wie ein kleines Mädchen erschienen, und sie hatte gleich an Corinne denken müssen. Wahrscheinlich hatte sie deshalb angehalten und gefragt, ob sie mitwolle. Sie hatte sofort Ja gesagt und gar nicht gefragt, wohin. Eine komische Person. Entweder stand sie komplett unter Schock oder sie hatte ihr ein Märchen erzählt. War vielleicht aus der Klapse abgehauen, die Kleine.

»Wie heißt du überhaupt?«

Die Frau in der Schlafkoje räusperte sich ausgiebig, bevor sie antwortete. Dann war Roxane abgelenkt, weil auf der Gegenfahrbahn ein Unfall geschehen war. Man sah das zuckende Blaulicht der Polizei, einen Krankenwagen mit hellen Scheinwerfern, auch ein Notarzt war schon dort. Ein PKW