Mode-Atelier Rosen - Marie Lamballe - E-Book

Mode-Atelier Rosen E-Book

Marie Lamballe

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Beschreibung

Kassel, 1832. Es ist Frühling, und im Atelier Rosen herrscht reger Betrieb. Elise hat nach ihrer Rückkehr in die Marktgasse alle Hände voll zu tun, ein neues Lehrmädchen soll sie und die anderen Putzmacherinnen entlasten. Mutter Charlotte ist zunächst wenig angetan von den Bewerberinnen - schon gar nicht von der unscheinbaren Grete. Während Grete jedoch mit ungeahnten Talenten überrascht, fiebert Elise dem Besuch ihres Vaters entgegen. Als dieser in Kassel eintrifft, begleitet ihn ein lebensfroher Student, der besonderen Gefallen an der hübschen Elise findet. Doch seine Absichten erscheinen schon bald in zweifelhaftem Licht - und Elise gerät in große Bedrängnis ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Über das Buch

Kassel, 1832. Es ist Frühling, und im Atelier Rosen herrscht reger Betrieb. Elise hat nach ihrer Rückkehr in die Marktgasse alle Hände voll zu tun, ein neues Lehrmädchen soll sie und die anderen Putzmacherinnen entlasten. Mutter Charlotte ist zunächst wenig angetan von den Bewerberinnen – schon gar nicht von der unscheinbaren Grete. Während Grete jedoch mit ungeahnten Talenten überrascht, fiebert Elise dem Besuch ihres Vaters entgegen. Als dieser in Kassel eintrifft, begleitet ihn ein lebensfroher Student, der besonderen Gefallen an der hübschen Elise findet. Doch seine Absichten erscheinen schon bald in zweifelhaftem Licht – und Elise gerät in große Bedrängnis …

Über die Autorin

Marie Lamballe wuchs in Wiesbaden auf. Sie studierte Literatur und Sprachen und begann schon kurz nach dem Studium mit dem Schreiben von zunächst Kurzgeschichten, später Theaterstücken, Drehbüchern und Romanen. Inzwischen lebt sie als freie Autorin in der Nähe von Frankfurt am Main und hat unter verschiedenen Pseudonymen zahlreiche Romane – darunter mehrere Top-Ten-SPIEGEL-Bestseller – veröffentlicht.

Marie Lamballe

Mode-Atelier Rosen

Träume einer neuen Zeit

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergUmschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Illustrationen von © arcangel.com: Ildiko Neer, © mauritius-images.com: Stephan Schulz, © www.buerosued.deeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2100-4

luebbe.delesejury.de

Kapitel 1

März 1834

Der Frühling ließ auf sich warten. Gestern hatte es in Kassel geschneit, in der Nacht sorgte der Frost für glatte Straßen, und das Wasser der städtischen Brunnen bedeckte sich mit einer dünnen Eisschicht. Schon früh war Lärm in der Marktgasse gewesen, weil eine Dienstmagd, die am Brunnen in der Wildemannsgasse Wasser geholt hatte, auf dem vereisten Pflaster ausgeglitten und gestürzt war. Die Knie hatte sie sich aufgeschlagen, der Rock war nass geworden und der Inhalt der beiden hölzernen Eimer in die Rinne gelaufen. Hämisches Gelächter und lautes Schelten hatten den Sturz begleitet, Hunde kläfften, und die Goldschmiedin war in der Nachthaube am Fenster erschienen, um nachzuschauen, was geschehen war. Aber da die Straßenlaternen schon ausgebrannt waren, hatte sie in der frühen Morgendämmerung kaum etwas erkennen können.

Im Atelier Rosen hatte sich Charlotte nach einigem Zögern entschlossen, den Ofen anzuheizen. Das Holz war teuer, aber mit klammen Fingern konnten die Frauen nicht nähen, und die Kundinnen waren auch kauffreudiger, wenn es angenehm warm im Atelier war.

»Ich verstehe das nicht«, regte sich die Chefin des Ateliers auf. »Seit einigen Wochen hat unser Holzstapel die Schwindsucht, man könnte meinen, die Scheite flögen durch die Luft davon.«

»Mir scheint eher, sie hätten Beine bekommen und liefen einer nach dem anderen hinüber in den Weinladen«, versetzte Babette und rückte sich das Talglicht näher.

»Was willst du damit sagen?«, forschte Charlotte.

Sie wusste, dass ihre langjährige Näherin Babette immer für einen bösen Spruch gut war. Allerdings hatten Babettes Aussprüche meist einen wahren Kern.

»Oh, nichts …«, meinte Babette in harmlosem Ton. »Nur dass drüben in Liebermanns Weingeschäft den ganzen Tag über der Ofen geheizt wird.«

Elise, die Tochter von Charlotte Rosen, hatte sich eine der rüschenbesetzten Hauben vorgenommen, um noch einige Stoffblüten daranzunähen, die momentan groß in Mode waren. Jetzt beugte sie sich vor, um aus dem Fenster zu schauen, aber im Weingeschäft, das schräg gegenüber neben der Werkstatt von Schneidermeister Holzapfel lag, war noch kein Licht zu entdecken. Vor drei Wochen hatte ihr Ziehbruder Moritz seinen lange gehegten Traum wahr gemacht und ein Geschäft gemietet, in dem er Weine und Liköre verkaufte. Das Geld dazu hatte er sich von Elises adeliger Freundin Sybilla von Haynau geliehen. Elise hatte kein gutes Gefühl dabei gehabt und ihrer Freundin abgeraten, aber Sybilla hatte Moritz dennoch eine nicht geringe Summe anvertraut, denn sie war der Meinung, Elises Ziehbruder habe viel zu ihrem Eheglück beigetragen und sie schulde ihm Dank.

»Soweit ich weiß, hat Moritz eigenes Holz gekauft«, sagte Elise zu ihrer Mutter. »Er lebt momentan auf großem Fuß und hat es gewiss nicht nötig, unser Holz zu stehlen.«

Charlotte sagte nichts dazu, aber Babette zuckte die Schultern und meinte, dass man bei dem lieben Moritz immer auf eine Überraschung gefasst sein müsse. Womit sie nicht unrecht hatte.

Großmutter Anna öffnete die Küchentür und schaute aufgebracht ins Atelier.

»Schon wieder!«, rief sie. »Das Stückchen Speck ist fort und die Falle ist leer. Aber den Schinken haben sie angeknabbert und ein Loch in den Mehlsack genagt. So eine gerissene Mäusebrut hatten wir noch nie. Die Haare werden sie uns vom Kopf fressen!«

»Bitte, Mutter!«, sagte Charlotte mit gedämpfter Stimme. »Schrei nicht von Mäusen und angenagten Mehlsäcken durch das Atelier. Was macht das denn für einen Eindruck, wenn Kundschaft kommt!«

»Wir brauchen eine Katze!«, stellte Elise fest.

»Das Mädchen hat recht«, sagte die Großmutter. »Drüben die Krämerin hat junge Katzen zu vergeben. Vier Stück hat die grau Getigerte in ihrem Kleiderschrank geboren.«

»Wie niedlich!«, rief Elise begeistert. »Ein getigertes Kätzchen wäre genau richtig für uns.«

»Eine Katze kommt mir nicht ins Haus!«, sagte Charlotte mit Entschiedenheit.

»Dann kannst du dich heute Nacht höchstpersönlich in die Vorratskammer setzen und das diebische Gesindel einfangen«, schimpfte Großmutter Anna und schlug die Küchentür wieder zu.

Inzwischen war es draußen hell geworden, sodass man die stinkenden Talglichter löschen konnte. Elise stand auf, um die Tür für eine kurze Weile zu öffnen, damit frische Luft in den Laden zog.

Sie war ärgerlich. Seit Wochen lag sie der Mutter in den Ohren, sie solle eine kleine Katze anschaffen. Aber nein, Charlotte mochte keine Katzen, in ihren Augen waren das hinterhältige und beutegierige Gassenschleicher, die in der Küche die Würste stahlen und überall ihre Haare hinterließen.

In der Marktgasse waren jetzt allerlei Leute unterwegs. Jungen und Mädchen strebten mehr oder weniger freudig der Schule zu, Hausdiener führten die Hunde ihrer Herrschaft aus, Dienstmägde eilten mit ihren Körben zum Markt auf dem Königsplatz, und Beamte in dunklen Mänteln begaben sich gemessenen Schrittes zu ihrer Dienststelle. Zwei junge Offiziere des kurfürstlichen Regiments schlenderten vorbei und schauten wohlwollend zu der hübschen Putzmacherin Elise hinüber, die auf die Gasse hinausgetreten war, um das Schaufenster des Ateliers in Augenschein zu nehmen. Ach herrje, die Glasscheiben waren schon wieder blind vom Straßenschmutz, da würde sie putzen müssen. Und die Dekoration musste auch erneuert werden; diese nette Haube aus fliederfarbener Seide schien keiner Kundin zu gefallen. Sie würde mehrere Reihen von Rüschen daran nähen, obgleich sie selbst das scheußlich fand. Aber momentan waren die Kasseler Damen wie verrückt nach Schleifen, Blüten und Rüschen, sie konnten gar nicht genug davon bekommen.

»Wo bleibt nur Therese?«, hörte sie die unwillige Stimme der Mutter im Atelier. »Es geht auf zehn Uhr. Der Vormittag ist fast vorüber!«

Therese war als Näherin im Atelier Rosen angestellt, aber da ihr heiß geliebter einziger Sohn Moritz nun ein Weingeschäft eröffnet hatte, ging sie häufig zu ihm hinüber, um dort auszuhelfen.

»Wo wird sie sein?«, sagte Babette hämisch. »Im Keller des Weingeschäfts sitzt sie und klebt Etiketten auf die Flaschen. Weil ihr lieber Moritz keine Lust zu solch eintönigen Arbeiten hat.«

»So geht das nicht weiter«, schimpfte Charlotte aufgebracht. »Ich bezahle meine Näherin nicht dafür, dass sie drüben im Weingeschäft arbeitet. Thereses Affenliebe zu ihrem Söhnchen muss einmal ein Ende …«

»Leise, Mutter«, sagte Elise, die rasch in den Laden getreten war. »Drüben an der Sonnenapotheke steht die Hofrätin von Ochs mit ihrem Mädchen, gewiss werden sie gleich ins Atelier kommen.«

»Die Hofrätin?«, rief Charlotte erschrocken. »Hat Therese die Haube fertiggenäht?«

»Wann hätte sie das wohl tun sollen?«, bemerkte Babette. »Wo sie gestern stundenlang Flaschen geschrubbt hat?«

Charlotte kam nicht mehr dazu, ihrem Zorn Luft zu machen, denn schon war die Hofrätin durch das Fenster zu sehen, und man musste sie mit freundlichem Gesichte empfangen.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Hofrätin!«

»Meine liebe Frau Rosen«, stöhnte die Hofrätin und ließ sich auf dem rasch herbeigetragenen Stuhl nieder. »Ich bin ja nur ein Halm im Winde, seitdem mich diese böse Erkältung letzte Woche aufs Krankenlager geworfen hat. Kaum zehn Schritte, und ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Der Apotheker Wild hat mir einen Hustentee gemischt und Brustwickel empfohlen. Ach, dieser Winter will aber auch gar nicht weichen …«

Elise fragte sich, warum die Dame in der Stadt herumlief, wenn sie so krank war. Aber nun gut, die Hofrätin neigte zu Übertreibungen. Gleich würde sie nach der bestellten Haube fragen; Charlotte warf der Tochter einen Hilfe suchenden Blick zu.

»Haben Sie es schon mit einem heißen gewürzten Wein versucht, gnädige Frau?«, fragte Elise in mitfühlendem Ton. »Besonders der rote Wein soll in solchen Fällen Wunder wirken.«

Die Hofrätin zeigte sich interessiert. Sie sei ja keine Trinkerin, nur hie und da ein Gläschen Branntwein, das fördere die Verdauung, und an Feiertagen käme selbstverständlich Wein auf den Tisch, zumal wenn Gäste geladen seien.

»Aber Sie haben recht, Mamsell Rosen«, meinte sie lächelnd. »Der gewürzte Wein ist ein altes Hausmittel. Ich werde gleich drüben im Weingeschäft eine Flasche Roten besorgen. Schließlich muss ich an meine Gesundheit denken, nicht wahr?«

»Das vor allem, gnädige Frau«, bemerkte Elise und freute sich, dass sie Moritz eine Kundin verschafft hatte.

»Ihr Gatte befindet sich hoffentlich wohl?«, erkundigte sich Charlotte rasch, da sie sah, dass die Blicke der Kundin auf die ausgestellten Hauben gerichtet waren.

»Mein lieber Ehemann ist zum Glück vollständig gesund«, schwatzte die Hofrätin. »Er stöhnt jedoch oft über die langen Streitereien in der Ständevertretung, die völlig nutzlos sind und zu keinem Ergebnis führen. Es ist doch unsinnig, sagte er neulich, dass sich Bürger und Handwerker in das Geschäft des Regierens einmischen wollen. Schließlich ist seit Oktober unser hochverehrter Kurprinz Friedrich Wilhelm als Regent in Kassel eingezogen – wozu brauchen wir da noch eine Ständevertretung? Unser geliebter Fürst wird Kurhessen regieren, wie es sich gehört, und dabei das Wohl seiner Untertanen beständig im Auge haben …«

Elise musste sich auf die Lippe beißen, um keine unbedachte Antwort zu geben. Um die Verfassung und die Ständevertretung hatte die Kasseler Bürgerschaft hart mit dem Kurfürsten, dem Vater des jetzigen Regenten, gerungen und ihm beides vor vier Jahren glücklich abgetrotzt. Der junge Regent, Kurprinz Friedrich Wilhelm, der inzwischen die Herrschaft in Kurhessen übernommen hatte, schien jedoch ebenso wenig Sympathie für die Vertretung der Bürgerschaft aufzubringen wie sein Vater. Was man in den fortschrittlichen Kreisen der Stadt sehr bedauerte, da man große Hoffnungen in den Kurprinzen gesetzt hatte. Noch ärgerlicher war es, dass auch etliche Kasseler Hofbeamte die Ständevertretung für überflüssig hielten und gern zu einer absoluten Fürstenherrschaft zurückgekehrt wären.

»Gewiss, gnädige Frau«, bestätigte Charlotte die Hofrätin kopfnickend. »Ich weiß auch nicht, ob diese Ständevertretung ein Glück oder vielmehr ein Unglück für uns ist. Man hört ja, dass sogar ein Ständehaus erbaut werden soll, in dem die Versammlungen stattfinden werden.«

Das war ins rechte Horn geblasen, denn nun echauffierte sich die Hofrätin und fragte schnaufend vor Empörung, wozu für solch unnütze Bauten städtische Gelder fließen sollten.

»Damit sie dort Tag und Nacht sitzen und sich herumstreiten können, anstatt ihrem Tagwerk nachzugehen, wie es sich für anständige Bürger gehört? Ach, diese neumodischen Dummheiten, die über unser schönes Kassel hereinbrechen! Haben Sie gehört, liebe Frau Rosen, dass man eine Eisenbahngesellschaft gründen will? Stellen Sie sich nur vor: Sie wollen eine Eisenbahnstrecke von Thüringen über Kassel nach Westphalen bauen. Aber gottlob ist unser guter Staatsrat Scheffer strikt dagegen, denn Kurhessen ist ein ackerbauendes Land und benötigt keine Eisenbahn …«

Nun ereiferte sich auch Charlotte über diese schreckliche Erfindung der dampfbetriebenen Lokomotive, die doch nur Lärm und Dreck verbreite und die Lungen schädige. »Es ist längst bekannt, dass das Reisen in dieser Geschwindigkeit höchst ungesund ist«, behauptete sie. »Man bekommt Herzrasen davon, die Augen werden beeinträchtigt, und es hat Anfälle von Ohnmacht und Drehschwindel gegeben.«

»So ist es, liebe Frau Rosen. Die Gesundheit ist ein kostbares Gut, das ein vernünftiger Mensch nicht aufs Spiel setzen sollte. Ach ja, Ihr Rat mit dem gewürzten Wein gefällt mir. Dörte, hilf mir vom Stuhl auf, wir gehen hinüber ins Weingeschäft … Was wollte ich doch noch fragen? Ach ja – die bestellte Haube müsste fertig sein, nicht wahr?«

»Nächste Woche gewiss, gnädige Frau«, sagte Charlotte beklommen, da sie nun doch daraufgekommen war. »Leider habe ich die Seidenbänder in der passenden Farbe erst gestern erwerben können.«

Eine Notlüge war erlaubt und außerdem besaß die Hofrätin einen ganzen Schrank voller Hauben, sie würde nicht barhäuptig herumlaufen müssen.

»Erst nächste Woche?«, mäkelte die Kundin. »Wie ärgerlich, ich bekomme heute lieben Besuch von meinem Neffen mit Frau und Tochter. Da hätte ich gern die neue Haube aufgesetzt und das Atelier Rosen empfohlen, wo man solch kleidsamen Kopfschmuck anfertigen lassen kann. Nun ja … dann eben nicht. Gehaben Sie sich wohl, Frau Rosen. Ach Gott, da schlägt es schon elf von der Martinskirche, wie doch die Zeit verrinnt …«

Elise sprang auf, um der Hofrätin die Tür aufzuhalten, das Mädchen Dörte, das stumm neben dem Ofen gewartet hatte, folgte der Herrin mit einem Korb voller Einkäufe. Der Wind griff den Frauen unter die Mäntel und riss an ihren Hüten, doch wenigstens war jetzt die Sonne herausgekommen. Das Eis auf dem Straßenpflaster war geschmolzen, von den Dächern tropfte das Tauwasser auf die Hüte und Mäntel der Vorübergehenden. Drüben im Weingeschäft war Kundschaft; Elise konnte sehen, wie Moritz einem Dienstjungen den Korb mit Weinflaschen füllte. Sie freute sich darüber, denn sie hoffte sehr, dass Moritz mit seinem Geschäft Erfolg hatte und den Kredit zurückzahlen konnte. Jetzt betrat auch die Hofrätin mit ihrem Mädchen das Weingeschäft, und Moritz, der den beiden die Tür aufhielt, nahm die Gelegenheit wahr, Elise über die Gasse hinweg eine Kusshand zuzuwerfen.

»Was ist mit Therese?«, rief sie hinüber. »Die Mutter ist schon ärgerlich.«

Moritz machte eine Geste, die bedeutete, dass sich Charlotte nicht so anstellen solle, und verschwand in seinem Geschäft, um die Hofrätin zu bedienen. Gleich darauf erschien Therese, ein warmes Tuch um die Schultern gelegt, und eilte mit flatterndem Rock über die Gasse ins Atelier Rosen.

»Hab ich doch die Zeit vergessen«, seufzte sie. »Dreißig Flaschen Burgunderwein etikettieren, das war harte Arbeit. Weil der Kleister unten im feuchten Keller so gar nicht kleben will …«

Im Atelier überschüttete Charlotte ihre Näherin mit zornigen Vorwürfen. Besonders die Tatsache, dass die Hofrätin ihnen eine neue Kundin vermittelt hätte, wäre die Haube rechtzeitig fertig geworden, hatte die Mutter aufgebracht.

»So geht es nicht weiter, Therese! Niemand kann zwei Herren dienen – wenn du deine Anstellung bei mir behalten willst, dann will ich dich hier im Atelier an der Arbeit sehen!«

Zerknirscht schlich Therese auf ihren Platz am Fenster, machte sich mit der Sticknadel über eine Schärpe her, und ihre Miene, die ohnehin stets grämlich war, wurde noch um einige Nuancen trauriger.

»Recht hat sie«, meinte Babette, nachdem Charlotte ihre Predigt beendet hatte und hinüber in die Küche gegangen war.

»Fall du auch noch über mich her!«, jammerte Therese.

»Weil ich es nicht mitansehen mag, wie du dich von dem Faulpelz ausnutzen lässt.«

»Mein Moritz ist kein Faulpelz, Babette!«, regte sich Therese auf und wühlte in dem Kästchen, in dem sie das Stickgarn aufbewahrten. »Mein Moritz ist vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf den Füßen … Hast du das fliederfarbene Stickgarn gesehen, Elise? Ich finde es nicht mehr.«

»Das brauche ich selbst, Therese«, gab Elise zurück. »Außerdem sollst du unbedingt die Haube der Hofrätin fertigstellen; du weißt, sie war vorhin hier und hat danach gefragt.«

»Aber dazu benötige ich hellblaues Seidenband«, jammerte Therese. »Und davon ist kaum noch etwas da …«

Tatsächlich hatte Elise fast die ganze Rolle zu Schleifen und kleinen Röschen genäht.

»Da werde ich zum Krämer gehen müssen«, meinte sie und legte ihre Arbeit beiseite. »Die Spitzenborten gehen auch zur Neige.«

Die Mutter hatte indessen den Mäuseschaden in der Vorratskammer begutachtet, was ihre Laune nicht verbessert hatte. Sie tat einen ärgerlichen Seufzer, als Elise sie um Geld für den Einkauf bat, und schimpfte auf die neue Mode.

»Früher haben wir höchstens drei Schleifchen auf die Haube genäht und vielleicht noch einen kleinen Spitzenvolant. Heutzutage sehen die Hauben aus, als hätte jemand einen Korb voller Rüschen und Schleifen darüber ausgeschüttet. Und je hässlicher die Trägerin ist, desto üppiger muss die Haube sein …«

»Ich könnte bei dieser Gelegenheit Sybilla einen kurzen Besuch abstatten, Mutter. Sie wollte einen Spitzenkragen für das blaue Kleid und dazu eine passende Haube.«

Die Aussicht auf einen neuen Auftrag versöhnte Charlotte auf der Stelle. Sybilla von Haynau war eine gute Kundin, und vor allem zahlte sie prompt. Was man leider nicht von allen Kundinnen des Ateliers Rosen sagen konnte.

»Na schön … Aber halte dich nicht zu lange bei ihr auf, wir brauchen die Bänder und das Garn dringend.«

»Das weiß ich, Mutter.«

Elise setzte einen Hut auf und nahm ein warmes Tuch um die Schultern, griff einen Korb und lief auf die Marktgasse hinaus. Sie war nicht böse darüber, einen Gang durch die Stadt unternehmen zu können, statt im Atelier über einer langweiligen Näherei zu sitzen. Beim Krämer Weiß ging sie vorüber – die Bänder, die es dort zu kaufen gab, waren uralt und hatten schon die Farbe verloren, die sollte sich die Krämerin selber an die Haube nähen. Aber gleich bei der Martinskirche lag der Krämerladen von Frau Hartwig, die führte eine hervorragende Auswahl an Bändern und Spitzen – die allerdings ihren Preis hatten. Elise kaufte drei Rollen Seidenband in Blau, Grün und Gelb, dazu passendes Stickgarn, Seidenfäden und mehrere Ellen einer wunderhübschen Spitzenborte, die die Krämerin erst in der vergangenen Woche auf der Messe erworben hatte.

Mit gefülltem Korb und erleichterter Geldbörse trat Elise wieder auf die Gasse und beschloss, auf dem Weg zu Sybilla bei der Poststation auf dem Königsplatz vorbeizugehen und nachzufragen, ob vielleicht ein Brief für sie angekommen sei.

Der junge Postbeamte hatte glattes, fettiges Haar und einen roten Pickel auf der Stirn.

»Ach, die hübsche Mamsell Rosen«, sagte er mit anzüglichem Lächeln. »Der Brief aus Frankfurt liegt schon zwei Tage für Sie bereit.«

Die Putzmacherin Elise Rosen aus der Marktgasse war in Kassel keine Unbekannte. Vor nicht allzu langer Zeit war sie vom Kurfürsten unter der Anschuldigung der Hurerei aus der Stadt verbannt worden – zu Unrecht, wie sich später herausgestellt hatte. Aber die Sache gab immer noch Anlass zu Gerede, und so mancher Kasselaner dachte insgeheim, die hübsche Putzmacherin sei leicht zu haben. Elise war sich darüber im Klaren, dass sie vorsichtig sein musste. Sie bedankte sich höflich, legte den Brief in den Korb und ging mit kurzem Abschiedsgruß davon.

Der Brief war von ihrem Vater – sie würde ihn bei Sybilla lesen, das war einfacher, als das Schreiben zu Hause zu öffnen, denn ihre Mutter würde gleich wieder die Augen verdrehen, wenn sie die Handschrift erkannte. Es stand leider immer noch nicht gut zwischen ihren Eltern, denn die Mutter hatte es Charles François de LaTour nicht verzeihen können, dass er sie seinerzeit nach einer kurzen Liebschaft schnöde verlassen hatte. Es war Elise gewesen, die den verschwundenen Vater in Frankfurt aufspürte und ihn schließlich trotz allem lieb gewann. Nun war sie beständig bemüht, die Eltern miteinander zu versöhnen. Was keine einfache Aufgabe war, denn weder Charlotte Rosen noch Charles François de LaTour war an einer Annäherung interessiert.

Sie hatte es nun eilig, das Wohnhaus der adeligen Familie von Schönhoff zu erreichen, in dem Sybilla mit ihrem Ehemann und den Eltern lebte. Wie schüchtern hatte sie sich doch seinerzeit diesem herrschaftlichen Anwesen genähert, als man sie bestellt hatte, um die junge Sybilla von Schönhoff für einen Abend auszustatten! Heute empfing man sie mit offenen Armen als lieben Gast und Schwägerin der Tochter des Hauses, denn Sybilla hatte Elises Halbbruder Johann Georg von Haynau geheiratet. Im Sommer des vergangenen Jahres war die Hochzeit gewesen, und seit einigen Monaten wusste Sybilla, dass sie ein Kind erwartete.

»Seien Sie gegrüßt, liebe Mamsell Rosen«, rief der weißhaarige Hausdiener Baptiste, als sie eintrat. »Meine junge Herrin hat sich schon beklagt, dass Sie so selten zu Besuch kommen. Sie wissen ja – sie ist hin und wieder ein wenig unpässlich und braucht die Aufmunterung ihrer liebsten Freundin …«

Baptiste war lange Jahre in den Diensten derer von Schönhoff und hatte Sybilla aufwachsen sehen – er liebte seine junge Herrin mit großer Anhänglichkeit und hatte diese Zuneigung auch auf Elise übertragen.

»Es gibt viel zu tun im Atelier«, entschuldigte sich Elise, während Baptiste sie die Stiegen hinauf in die herrschaftlichen Räume führte.

Baptiste schüttelte bekümmert den Kopf. »Es ist bedauerlich, dass eine so liebenswerte junge Person wie Sie ihren Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit verdienen muss«, meinte er. »Aber ich bin sicher, dass Sie eines Tages durch eine adelige Heirat in den Stand versetzt werden, ein Leben zu führen, das Ihnen gemäß ist.«

Elise wusste, dass er es gut mit ihr meinte. Sie selbst war sehr zufrieden mit dem Beruf der Putzmacherin und wünschte sich keinesfalls, als adelige Dame in Abhängigkeit und konventionellen Schranken zu leben.

Sybilla befand sich wie meist in dem Kabinett mit den vielen Bücherschränken, das vor Zeiten ihr verstorbener Bruder bewohnt hatte. Man hatte den Sessel mit einem weichen Federkissen ausgepolstert, da sie in den letzten Wochen von Rückenschmerzen geplagt worden war. Elise fand die Freundin sehr blass und fast noch schmäler als früher, was kein Wunder war, denn während der ersten Monate ihrer Schwangerschaft hatte Sybilla kaum Nahrung zu sich nehmen können.

»Elise!«, rief sie und streckte ihr beide Arme entgegen. »Wie sehr hast du mir gefehlt, liebe Freundin. Ich wollte heute Baptiste zum Atelier schicken und um einen Besuch bitten! Aber setz dich zu mir und erzähle …«

Elise ließ sich nicht lange bitten und plauderte fröhlich drauflos, wobei sie sich bemühte, alles in harmlosem, heiterem Licht zu schildern, denn Sybilla neigte zur Melancholie. Tatsächlich erhellten sich die Züge der Freundin, während sie ihr zuhörte, ihre Augen gewannen an Glanz, und schließlich war ein zarter rötlicher Schein auf ihren Wangen zu erkennen.

»Eine Katze wäre gewiss eine gute Hilfe gegen die frechen Mäuslein in eurer Vorratskammer«, meinte sie lächelnd. »Wie schade, dass deine Mutter keine Katzen mag. Johann Georg liebt jegliches Getier, er denkt daran, zwei Jagdhunde anzuschaffen, und wird bei diesem Plan von meinem Vater unterstützt …«

Elise erfuhr nun, dass Johann Georg seit einiger Zeit häufig mit zwei Kameraden auf die Jagd ritt. Es gefiel ihr nicht. Als Leutnant im Garde du Corps des Kurprinzen hatte Johann Georg regelmäßig seinen Dienst zu tun; wenn er seine freie Zeit mit Jagdausflügen verbrachte, wann kümmerte er sich dann um seine junge Ehefrau?

Doch Sybilla erwähnte mit keinem Wort, dass sie sich vernachlässigt fühlte, sie erklärte im Gegenteil, wie froh sie darüber sei, dass ihr Ehemann solch eine neue Leidenschaft für sich entdeckt habe.

»Es tut ihm gut, Elise«, meinte sie. »Zumal ich momentan wenig an seinem Leben Anteil nehmen kann und auch keine besonders heitere Begleiterin bin. Ich habe mir die Schwangerschaft nicht ganz so anstrengend vorgestellt.«

Sie verbrachte ihre Zeit vor allem mit Lesen, wie sie es immer schon gern getan hatte. Manchmal versuchte sie sich an kleinen Handarbeiten, die jedoch so schlecht gelungen waren, dass sie sie Elise nicht zeigen wollte. Ihre Mutter wachte streng über sie, bestimmte ihren Speiseplan wie auch die Zeiten der Bettruhe und begleitete sie an den Sonntagen zur Kirche.

»Jetzt, da der Frühling bald einkehren wird, solltest du an die frische Luft gehen«, fand Elise. »Johann Georg kann mit dir hinunter zur Karlsaue fahren oder nach Wilhelmshöhe. Ein kleiner Spaziergang in der Natur wird dir guttun.«

»Wenn sein Dienst es zulässt – gewiss.«

Elise nahm sich vor, ihrem Halbbruder ins Gewissen zu reden. Sybilla war viel zu selbstlos und dachte nur an das Wohl ihres geliebten Ehemannes. Dabei brauchte sie gerade jetzt seine Zuneigung und seinen Beistand.

»Wenn es ein wenig wärmer wird, gehen wir beide am Sonntag nach dem Kirchgang in der Stadt spazieren«, schlug sie vor. »Am Fuldaufer ist es im Frühling wunderschön.«

Sie sah der Freundin an, dass ihr dieser Vorschlag sehr gefiel. Doch gleich schlug Sybilla wieder die Augen nieder und flüsterte: »Ich fürchte, die Mutter wird es nicht erlauben. Sie ist der Ansicht, eine Schwangere sollte sich so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit zeigen.«

»Ich sage es nicht zum ersten Mal, Sybilla: Deine Mutter ist mindestens so schwierig wie meine«, versetzte Elise ärgerlich. »Und das will etwas heißen!«

Sybilla musste lachen. Es tat der einsamen Adeligen gut, solche Dinge mit ihrer Freundin zu bereden. Sybillas Eltern lebten zurückgezogen, da Oberst von Schönhoff kränklich war, und auch ihre Heirat mit Johann Georg von Haynau hatte keine neuen Freundschaften gebracht.

»Überlass das mir«, meinte Elise entschlossen. »Ich werde mit deinem Vater sprechen – er wird mir zustimmen.«

»Oh, das ist ein guter Plan«, freute sich Sybilla. »Der könnte gelingen.«

Oberst von Schönhoff war ein kauziger Mensch, der manchem Gast schroff gegenübertrat. Aber die hübsche Putzmacherin Elise hatte von Anfang an sein Herz gewonnen, zumal sie bewiesen hatte, dass sie seiner Tochter eine treue und aufrichtige Freundin war.

»Wenn du erlaubst, würde ich gern ein Schreiben öffnen«, ging Elise nun zu ihrem Anliegen über. »Es ist von meinem Vater aus Frankfurt.«

Sybilla verstand sofort. »Aber natürlich, Elise. Soll ich hinübergehen, damit du ungestört bist?«

»Aber nein! Du weißt, dass ich keine Geheimnisse vor dir habe, liebste Sybilla.«

Während Elise nun den Brief hervorzog und das Siegel erbrach, wandte sich Sybilla wieder ihrem Buch zu und wartete geduldig ab, um der Freundin später mit Rat und beruhigenden Worten beizustehen.

Meine liebe, dickköpfige und ungetreue Tochter,

auch diesen Brief muss ich leider mit einer väterlichen Ermahnung beginnen, was mich umso härter ankommt, da ich dich nicht zum ersten Mal zur Ordnung rufe. Seit Monaten steht dein versprochener Besuch in Frankfurt aus, mehrfach habe ich ihn angemahnt, jedoch stets mit einer fadenscheinigen Ausrede vorliebnehmen müssen. Die viele Arbeit, der harte Winter, die teure Reise, die schwangere Freundin – die Liste dehnt sich ins Unendliche! Aber da ich dich, mein Kind, so sehr in mein altes Herz geschlossen habe, versuche ich es mit diesem Schreiben aufs Neue: Steig in die Postkutsche nach Frankfurt, das Haus meines Freundes Christian Daniel van Leuwen steht dir offen, und auch seine Frau Annette lässt dir ausrichten, dass sie große Sehnsucht nach dir hat.

Unglaublich, dachte Elise und hielt mit dem Lesen inne. Habe ich ihm nicht immer wieder geschrieben, dass ich hier in Kassel auf seinen Besuch warte? Und ist er auch nur ein einziges Mal auf meinen Wunsch in seinen Briefen eingegangen? Nein! Oh, ich weiß recht gut, warum er nicht nach Kassel reisen will. Weil er zu feige ist, meiner Mutter gegenüberzutreten.

Sie las weiter.

Gerade während der vergangenen Tage hättest du in Frankfurt allerlei Aufregendes und Lehrreiches erleben können. Wir hatten einen äußerst interessanten jungen Gast, einen Studenten aus Göttingen, der auf dem Anwesen meines Freundes Christian Daniel ein physikalisches Experiment durchgeführt hat, bei dem wir beide, Daniel und meine Wenigkeit, ihm hilfreich zur Seite standen.

Ein Student aus Göttingen? Wie kam Papa denn zu solch einer Bekanntschaft? Ach, da stand es ja:

Hans Christian Thiedemann ist der Sohn eines alten Freundes, bei dem ich in Göttingen logierte, als ich unsere Rieke im Januar zu einer Augenoperation bei dem berühmten Doktor Langenbeck begleitete …

In Göttingen war er also gewesen. Elise ärgerte sich. Da hätte er ohne Weiteres in Kassel Station machen können. Dass das Hausmädchen Rieke nun endlich operiert worden war, war eine gute Nachricht. Leider schrieb er nicht, ob die Operation erfolgreich verlaufen war. Stattdessen schilderte er ausführlich, wie sie im Park des Frankfurter Anwesens zu dritt lange Kupferdrähte zwischen den Gebäuden bis hinüber zum Pavillon gespannt hatten und mithilfe eines Magnetstabs und einer beweglichen Kupferspule Strom hindurchschickten, der schließlich auch am anderen Ende des Drahts angekommen war. Was für eine alberne Kinderei! Zwei erwachsene Männer in reifen Jahren und ein Student kletterten auf Dächer und Bäume, um eine Schnur zu befestigen. Christian Daniels Ehefrau Annette musste geglaubt haben, alle drei hätten den Verstand verloren.

Dieses Experiment hat der junge Thiedemann seinem Professor, dem Doktor Gauss, nachgemacht, der selbigen Versuch in Göttingen mit erstaunlichem Erfolg durchgeführt und wissenschaftlich beschrieben hat. Thiedemann ist der Ansicht, dass es möglich ist, auf diese Weise Nachrichten über eine größere Entfernung hinweg zu vermitteln, indem man ein Alphabet aus kurzen und langen Stromstößen entwickelt.

Was für eine Idee!, dachte Elise. Solange sie keinen Draht von Frankfurt bis Kassel spannen konnten, schien ihr die ganze Sache eher eine Spinnerei zu sein.

Unterdessen verblieb mir genügend Zeit, die Niederschrift meiner Lebenserinnerungen weiter voranzutreiben, die nun kurz vor der Vollendung steht. Thiedemann, der im Übrigen plant, einen Verlag zu gründen, zeigte sich an meinem Werk sehr interessiert und bat mich, es ihm zur Veröffentlichung zu überlassen. Was ich aus verschiedenen Gründen, die ich hier nicht aufzählen möchte, ablehnen musste.

Da ich vorhabe, den jungen Mann auf seiner Rückreise nach Göttingen zu begleiten, um daselbst einige Bücher zu erwerben, wäre es möglich, dir in Kassel einen Besuch abzustatten.

Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es meine Zeit gestattet.

Einstweilen verbleibe ich mit großer Zuneigung und Affektion

Dein zärtlicher Vater

Charles François de LaTour

Elise musste den letzten Absatz zweimal lesen, weil sie es kaum glauben konnte.

»Er kommt nach Kassel!«, rief sie so laut, dass Sybilla erschrocken das Buch sinken ließ.

»Wie schön!«, meinte Sybilla erfreut. »Das hast du dir doch immer gewünscht, nicht wahr?«

»Aber ja! Ich glaubte schon, er würde niemals hierherkommen, weil er meiner Mutter nicht gegenübertreten will.«

»Weißt du, Elise«, meinte Sybilla und zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Ich könnte mir vorstellen, dass dein Vater auch andere Gründe hat, unser schönes Kassel zu meiden. Gründe, die in der Vergangenheit liegen, aber nichts mit deiner Mutter zu tun haben.«

Verblüfft sah Elise zu ihr hinüber. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Kassel war damals die Hauptstadt des Königreichs Westphalen gewesen, das der französische Kaiser Napoléon im Zuge seiner Neuordnung der besiegten Länder geschaffen hatte. Sieben Jahre lang hatte der jüngste Bruder Napoléons, Jérôme, in Kassel die Herrschaft geführt, dann war das Kriegsglück des großen Franzosenkaisers gesunken, und infolge der Verhandlungen des Wiener Kongresses wurde Kassel wieder zur Residenz des Kurfürstentums Hessen-Kassel. Während dieser siebenjährigen Herrschaft des jungen König Jérôme war es bei Hofe lebhaft zugegangen, und Elises Vater hatte als Günstling des Königs Einblick in die Intrigen der Höflinge gehabt. Was ihm schließlich zum Verhängnis geworden war, denn wegen einer solchen Intrige hatte er über Nacht aus Kassel fliehen müssen.

»Aber das ist über zwanzig Jahre her«, meinte sie unsicher. »Und außerdem hat es sich am Hof des Franzosenkönigs abgespielt, der Kassel schon im Jahr 1813 verlassen musste.«

»Dennoch befinden sich etliche Kasselaner, die diese Zeit miterlebt haben, noch unter uns«, wandte Sybilla ein.

»Ach, Unsinn«, rief Elise aus. »Was auch immer damals gewesen ist – es ist vorbei, vergangen und vergessen!«

»Du wirst sicher recht haben, Elise«, meinte Sybilla mit schuldbewusstem Lächeln. »Ich bin nun einmal eine Kassandra, die überall nur Gefahren und Unheil sieht. Und das völlig ohne Grund.«

Kapitel 2

Elise hatte sich entschlossen, ihrer Mutter den bevorstehenden Besuch anzukündigen. Es war besser, wenn Charlotte vorbereitet war, sonst war es gut möglich, dass sie in Ohnmacht fiel, wenn Charles François de LaTour plötzlich im Atelier stand und sie mit »Bonjour, Madame« begrüßte. Also klopfte sie am frühen Morgen, noch bevor die Mutter aufgestanden war, an ihre Schlafkammertür.

»Bist du schon wach, Mutter? Ich würde gern einige Worte mit dir sprechen …«

Charlotte gelang es ausgezeichnet, ihren Schrecken über die Nachricht zu verbergen. In ihrem Bett sitzend blickte sie die Tochter mit starrer Miene an, schluckte zweimal und meinte: »Nun ja – wenn es sich nicht vermeiden lässt. Du kannst dich ja im Haus deiner Freundin Sybilla von Haynau mit ihm treffen.«

Das war kein guter Vorschlag, und die Mutter wusste es.

»Ich glaube kaum, dass er dort vorsprechen wird, Mutter. Du weißt ja, dass ihr Ehemann Johann Georg nichts mit seinem leiblichen Vater zu tun haben will.«

»Aus gutem Grund«, bemerkte Charlotte spitz.

»Das finde ich nicht. Immerhin ist er sein Vater, sein eigen Fleisch und Blut.«

Charlotte stieß ein künstliches Lachen aus. »Wenn ich recht verstanden habe, hat de LaTour seine Vaterschaft seinerzeit für eine ansehnliche Summe verkauft. War es nicht so?«

»Das geschah nur aus Rücksicht auf Johann Georgs Mutter, und es hat ihr eine glückliche Ehe mit Ernst Theodor von Haynau ermöglicht.«

Charlotte machte eine abschätzige Handbewegung. »Wie auch immer – dein Vater hat ein wildes Leben hinter sich und nun, da er alt ist, muss er die Folgen tragen. Mir kommt er nicht ins Haus!«

Damit hatte Elise gerechnet. Aber sie war entschlossen, sich in diesem Fall durchzusetzen.

»Du wohnst nicht allein hier, Mutter. Und außerdem gehört das Haus nicht dir, sondern der Großmutter.«

Das war ein gutes Argument, denn Großmutter Anna hatte sich schon mehrfach auf Elises Seite geschlagen.

»Warum bist du so unversöhnlich?«, hatte sie neulich erst zu Charlotte gesagt. »Schließlich hat er viel für Elise getan, das kannst du nicht abstreiten. Und wenn ich schon dabei bin, dir die Wahrheit zu sagen: Du selbst warst an der Geschichte damals nicht ganz unschuldig. Hast du auf meine Warnungen gehört? Nein, du musstest dich unbedingt mit dem schönen ›Chevalier du Croix Blanc‹ einlassen, und prompt …«

An dieser Stelle hatte die Mutter zornig mit der Hand auf den Tisch geschlagen, und die Großmutter war verstummt.

»Gut, ich will keine alten Geschichten aufwärmen«, murmelte sie.

Elise hatte dieses Gespräch noch in frischer Erinnerung, und daher wusste sie, dass das Verbot der Mutter auf wackeligen Füßen stand.

»Ich habe jetzt keine Zeit für solche Lappalien«, sagte Charlotte, da sie einsah, dass sie so nicht weiterkam. Hastig warf sie die Bettdecke zurück und stand auf, nestelte an den Bändern der Nachthaube und nahm ein frisches Hemd und lange Strümpfe aus dem Schrank.

»Spute dich«, rief sie der Tochter zu. »Nach dem Frühstück habe ich euch etwas zu verkünden.«

Zufrieden ging Elise hinüber in ihr Zimmer, das einmal das »schöne Zimmer« ihrer Mutter gewesen war und das sie seit über zwei Jahren allein bewohnte. Die Mutter würde nun über die Sache nachdenken und ihre starre Haltung hoffentlich aufgeben. Natürlich konnte man nicht erwarten, dass die beiden sich schon bei der ersten Wiederbegegnung miteinander aussprachen und versöhnten. Aber ein höfliches »Guten Morgen« musste doch möglich sein!

Unten in der warmen Küche hatten Babette und Therese am Tisch Platz genommen; auch Moritz war wie jeden Morgen erschienen, und Großmutter Anna goss den Kaffee in die Tassen. Das Brot war frisch und duftete verführerisch – Moritz war ausnahmsweise früh auf den Füßen gewesen und hatte beim Bäckermeister Wirt eingekauft.

»Guten Morgen, Lieschen«, grüßte ihr Ziehbruder sie fröhlich. »Du schaust blass aus der Wäsche – hast du wieder die halbe Nacht gelesen?«

Elises Leidenschaft für die schöne Literatur war allen bekannt, und Moritz, der nie in seinem Leben ein Buch in die Hand genommen hatte, zog sie gern damit auf. Da jetzt aber Charlotte mit Unheil verkündender Miene in die Küche trat, sparte sich Elise die Antwort.

Charlotte wünschte kurz angebunden einen guten Morgen, setzte sich dann auf ihren Platz und trank einen großen Schluck Kaffee. Das frische Brot und Moritz’ triumphierende Miene ignorierte sie.

»So geht es nicht weiter«, sagte sie, stellte die Tasse ab und blickte zuerst Therese und dann Moritz drohend an. »Die Arbeit im Atelier bleibt liegen, und die Kundinnen beschweren sich, Therese. Ich erwarte, dass du dich entscheidest, ob du bei Moritz oder bei mir angestellt sein willst.«

Therese fiel die angebissene Brotscheibe vor Entsetzen aus der Hand. Anstatt eine Antwort zu geben, fing sie bitterlich an zu schluchzen und zog schließlich die Schürze hoch, um damit die Tränen abzuwischen.

»Was ist denn heute in dich gefahren, Charlotte?«, fragte die Großmutter verwundert.

»Misch dich da nicht ein, Mutter«, gab Charlotte barsch zurück und wandte sich Moritz zu, der das Geschehen mit beklommener Miene verfolgte. »Und nun zu dir«, fuhr sie in ihrem Strafgericht fort. »Du hast ein Geschäft eröffnet, bedienst Kunden und nimmst Geld ein. Dessen ungeachtet nötigst du deine arme Mutter, ihre Arbeit zu vernachlässigen, um dir kostenlose Dienste zu erweisen. Und zu allem Überfluss sitzt du dreimal täglich zu den Mahlzeiten hier am Tisch und isst auf unsere Kosten …«

»Das ist nicht wahr!«, wehrte sich Moritz. »Ich habe das Brot zum Frühstück gekauft!«

»Das erste Mal seit Wochen«, bemerkte Charlotte ungerührt. »Und für die Kammer, die du oben bewohnst, hast du bisher auch noch keinen müden Pfennig gezahlt!«

Elise kämpfte mit ihrem schlechten Gewissen. Ganz sicher war die Mutter so streng mit den beiden, weil sie sich über das Gespräch vorhin geärgert hatte.

»Moritz hat das Geschäft erst vor ein paar Wochen eröffnet«, wandte sie vorsichtig ein. »Aller Anfang ist schwer, Mutter. In Zukunft wird er sicher einen kleinen Betrag für die Kammer zahlen können, und was das Essen anbelangt …«

»Genau das wollte ich gerade sagen«, fiel Moritz ihr ins Wort. »Mein Handel läuft inzwischen hervorragend, und da nun der Frühling naht, brauche ich auch kein Holz mehr …«

»Holz?«, unterbrach Charlotte und sah Babette scharf an, die schnell verlegen zur Seite blickte. »Ich dachte, du hast selbst Holz gekauft, Moritz!«

»Natürlich …«, sagte Moritz verlegen. »Aber dieser elende Ofen in meinem Laden frisst das Holz klafterweise, und da ich dich als eine großzügige und christlich gesinnte Frau kenne …«

»… hast du dich an unserem Holzstapel bedient«, vervollständigte Großmutter Anna den Satz. »Ich hätte es wissen müssen, so schnell konnte das Holz doch nicht schwinden.«

»Er war es nicht!«, schluchzte Therese. »Ich habe ab und zu ein paar Scheite unter der Schürze hinübergetragen. Weil sich mein Moritz doch nicht erkälten darf, wenn er den lieben langen Tag im Geschäft steht.«

»Schluss jetzt!«, rief Charlotte und schlug mit der Hand auf den Tisch, dass die Kaffeetassen erzitterten. »Wir haben keine Zeit zu langen Reden, das Atelier muss geöffnet werden, und die Näharbeiten erledigen sich nicht von selbst. Hört also zu, was ich beschlossen habe.«

Sie eröffnete Therese, dass sie ihr den Lohn kürzen würde, sie aber behalten wollte und ihr gestattete, einige Stunden am Tag für Moritz zu arbeiten. Dieser hatte für seine Kammer und drei Mahlzeiten am Tag zwei Albus in der Woche zu zahlen.

»Das ist zu viel«, wandte Moritz bedenklich ein. »Lieber stelle ich jede Woche eine Flasche guten Wein auf euren Tisch.«

»Gut. Dann ein Albus. Aber nur, wenn es ein anständiger Wein ist, der keine Kopfschmerzen macht.«

»Ich führe nur Weine von ausgezeichneter Qualität!«, rühmte sich Moritz, der jetzt mit den Bedingungen einverstanden war. Auch Therese schien sehr erleichtert, es tat ihr nur leid um das Geld, das sie ohnehin nicht für sich selbst verwendete, sondern ihrem Moritz gab.

»Im Übrigen habe ich vor, eine junge Person ins Atelier aufzunehmen, die das Handwerk erlernen will«, verkündete Charlotte zum Abschluss und nahm sich eine Brotscheibe, um noch rasch etwas in den Magen zu bekommen, bevor das Atelier für die Kundinnen geöffnet wurde.

»Du kannst gleich einen Zettel schreiben, den wir an die Tür hängen, Elise. Fleißig und anständig soll sie sein und keine Widerworte geben. Gute Augen muss sie haben und geschickte Finger.«

»Gern, Mutter«, beeilte sich Elise zu versichern. »Das ist eine gute Entscheidung. Ein junges Ding kann viel bei uns lernen und schon bald eine große Hilfe sein.«

»Manieren muss sie haben, und ein nettes Gesicht schadet auch nicht. Allzu hübsch sollte sie jedoch nicht sein, das bringt sie nur in Versuchung, mit jungen Männern anzubandeln. Mit den Kundinnen soll sie freundlich umgehen …«

»Das passt gar nicht alles auf den Zettel, Mutter.«

»Vor allem soll sie klug und gehorsam sein, der Rest ergibt sich von selbst«, fasste Charlotte ihre Bedingungen zusammen.

Bald hing an der Eingangstür des Ateliers ein Papier, in dem angekündigt wurde, dass man ein Lehrmädchen suche. Der Erfolg des Aushangs ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Noch am selben Vormittag betraten zwei Frauen das Geschäft, um nach der Stellung zu fragen. Die eine war eine junge Witwe, die zwei Kinder zu ernähren hatte, die andere eine ältere alleinstehende Person, die schon mehrere Jahre bei Schneidermeister Poppe genäht hatte und mit dem Lohn unzufrieden war.

»Bedaure«, sagte Charlotte. »Wir suchen eine junge Person, die wir anlernen. Ein Lehrgeld muss sie nicht zahlen, im ersten Jahr bekommt sie Kost und Logis, im zweiten Jahr erhält sie einen Lohn – allerdings nur bei guter Leistung.«

Das war nicht im Sinne der Anfragerinnen. Die Witwe ging enttäuscht davon, die andere versuchte hartnäckig, ihre Dienste als erfahrene Näherin anzubieten. Aber Charlotte blieb hart.

»Der Schneidermeister Poppe wird sie entlassen haben«, meinte sie, als die Frau endlich gegangen war. »Und ganz sicher nicht ohne Grund. Der steht die Unehrlichkeit doch ins Gesicht geschrieben!«

Da die Putzmacherinnen als reines Frauengewerbe keine Zunft bilden durften, bestand auch kein Regelwerk über die Arbeitsbedingungen der Lehrlinge. Jedes Atelier stellte eigene Regeln auf. Am Nachmittag fragten mehrere junge Mädchen nach der Lehrstelle, aber keine von ihnen fand Gnade vor den strengen Augen der Atelierchefin.

»Der sehe ich den Widerspruchsgeist doch an ihrer spitzen Nase an«, erklärte sie. »Und die andere hat Dreck unter den Fingernägeln. Pfui! Die dritte gar scheint mir eine ganz durchtriebene Person zu sein, das sieht man schon an ihrem lüsternen Blick und den aufgeworfenen Lippen. So eine hätte uns gerade noch gefehlt.«

Elise war zwar der Ansicht, dass mindestens zwei der Mädchen sehr nett und anstellig erschienen waren – aber sie ließ die Mutter gewähren. Babette war mit ihrem Urteil stets auf Charlottes Seite, und Therese sorgte sich, dass eines dieser jungen Dinger ihren armen Moritz verführen und ihm mit einem unehelichen Kind zur Last fallen könnte.

»So etwas ist schneller geschehen, als man denkt«, versicherte sie eifrig.

»Du musst es ja wissen«, bemerkte Babette bissig.

Womit sie darauf anspielte, dass auch Moritz unehelich zur Welt gekommen war.

Am Abend, als sie alle nach getaner Arbeit in der Küche saßen, wollte Großmutter Anna wissen, ob sich denn ein passendes Lehrmädchen gefunden hätte.

»Keine einzige«, erklärte Charlotte unzufrieden. »Entweder wollen sie Lohn haben, oder sie sind verlogen und faul, haben ein freches Mundwerk und Finger so dick wie Brühwürste.«

Großmutter Anna wendete den Blick ärgerlich zur Küchendecke und wetterte los: »Ja was für eine suchst du denn? Eine fromme Klosterschülerin, sanft wie eine Taube, stumm wie ein Fisch, und dazu soll sie feine Fingerchen haben, die Stroh zu Gold spinnen können? Nach so einer kannst du ein Leben lang suchen, die wirst du nirgendwo finden!«

»Ich hätte da einen Vorschlag«, meldete sich Babette zu Wort.

»Lass hören.«

»Ich habe eine junge Verwandte, die vielleicht …«

»Eine Verwandte?«, fiel ihr Charlotte ins Wort. »Sagst du nicht immer, du wärst ganz allein auf der Welt?«

»Nun ja«, meinte Babette und schob die leer gegessene Breischale von sich. »Sie ist das Kind einer Cousine der ersten Frau meines verstorbenen Bruders.«

»Ja so …«, äußerte Charlotte stirnrunzelnd.

»Ein recht kluges und braves Mädelchen.«

»Etwa noch ein Kind?«

»Als ich sie zuletzt sah, ging sie zur Schule. Das arme Wesen hat die Eltern früh verloren, eine Bauernfamilie hat sie angenommen und großgezogen.«

Charlotte schüttelte ablehnend den Kopf und meinte, ein Bauernmädel könne sie im Atelier nicht gebrauchen.

»Sie ist kein Bauernmädel, Frau Rosen«, widersprach Babette. »In der Dorfschule war sie allen anderen weit voraus. Die Lehrerin hat mir damals gesagt, das Gretchen sei zu schade für den Acker. Zumal sie eine schiefe Hüfte hat und zu keiner harten Arbeit taugt.«

»Eine schiefe Hüfte hat sie also. Vielleicht ist sie auch halb blind und hat steife Finger?«

»O nein, Frau Rosen! Sie hat gute Augen und ist in allen Dingen außerordentlich geschickt.«

»So so … und wie alt ist sie inzwischen?«

Babette zuckte die Schultern und dachte kurz nach. »Sie könnte um die zwanzig Jahre sein …«

»Das ist viel zu alt!«

»Aber sie ist klug, fleißig und stellt gewiss keine Ansprüche. Sie wird froh sein, von dem geizigen Bauern fortzukommen. Wir könnten ihr einen Boten ins Dorf schicken …«

»Einen Boten!«, rief Charlotte entsetzt. »Soll ich den etwa bezahlen, wenn ich das Mädel ohnehin nicht brauchen kann?«

Babette erklärte, den Boten aus eigener Tasche zahlen zu wollen und ihm auch Reisegeld für das Gretchen mitzugeben.

»Übernachten kann sie bei mir in der Kammer. Und wenn Sie das Mädelchen partout nicht einstellen wollen, schicken wir sie halt in ihr Dorf zurück.«

Charlotte hielt nichts davon, aber da Babette beharrlich an ihrem Vorhaben festhielt und sogar die Kosten tragen wollte, erklärte sie sich schließlich einverstanden.

Während der folgenden Tage saß Elise wie auf glühenden Kohlen, denn sie hoffte inständig, ihr Vater würde seinen angekündigten Besuch in Kassel wahr machen. Was leider keineswegs sicher war – aber sie wollte vorbereitet sein. In harten Redegefechten hatte sie der Mutter die Erlaubnis abgerungen, Charles François de LaTour oben in ihrem Zimmer empfangen zu dürfen; Charlotte selbst wollte allerdings dem Herrn nicht begegnen, sie würde sich im Fall seiner Ankunft in die Küche begeben und erst nach seinem Fortgehen ins Atelier zurückkehren. Logieren sollte er keinesfalls im Hause Rosen – er konnte sich ja in einem Gasthof einmieten. Elise beließ es vorerst dabei und dachte, dass erwachsene Menschen sich doch mitunter furchtbar lächerlich benehmen konnten.

»Was hast du erwartet, Lieschen?«, meinte Moritz, als sie ihn bei der Rückkehr von einer Kundin vor seinem Laden stehend antraf. »Schließlich hat er sich noch vor deiner Geburt ohne Abschied davongemacht. So etwas nimmt eine Frau nun einmal übel.«

»Er ist ja nicht freiwillig aus Kassel fortgegangen«, widersprach sie. »Wäre diese unglückliche Giftaffäre nicht gewesen – er hätte meine Mutter bestimmt nicht so schnöde verlassen.«

»Kann sein – kann nicht sein«, meinte er und wiegte den Kopf. »Auf jeden Fall ist er all die Jahre über nicht mehr in Kassel aufgetaucht.«

Das konnte Elise nicht leugnen. Trotzdem hoffte sie auf eine späte Versöhnung ihrer Eltern, denn sie liebte sie alle beide sehr.

Der Winter wollte auch Ende März nicht dem Frühling das Feld überlassen. Schnee fiel in dichten Flocken vom grauen Himmel, aus den Schornsteinen der Häuser stiegen die Rauchsäulen empor, und auf dem Königsplatz war die Equipage des Obergerichtsdirektors Wiederhold in einen Schneehaufen gefahren und umgestürzt. Man hatte mit Mühe die verschreckten Pferde festhalten und zur Ruhe bringen können; danach half man den unglückseligen Insassen aus der beschädigten Kutsche. Die Obergerichtsdirektorin hatte eine Platzwunde an der Schläfe davongetragen und ihr Mädchen den Arm gebrochen, Hofrat Völkel, der sich ebenfalls in der Equipage befunden hatte, war mit ein paar blauen Flecken davongekommen.

Um die Mittagszeit eines kalten Tages zeigte sich eine vermummte Gestalt vor dem Atelier Rosen, die eine verblichene Reisetasche in der Hand hielt. Sie stand ein Weilchen vor dem Schaufenster und schien die ausgestellten Hüte und Hauben zu betrachten, dann trat sie zurück, schaute am Haus empor und musterte den schmalen Ausschnitt des verhangenen, schneeträchtigen Himmels. Schließlich bewegte sie sich auf den Eingang zu und öffnete die Ladentüre.

»Sie wünschen?«, fragte Charlotte mit hochgezogenen Brauen, da die Eintretende kaum eine Kundin sein konnte.

»Einen schönen guten Tag, Frau Rosen«, sagte die vermummte Person und zog das wollene Tuch vom Kopf. »Ich komme wegen einer Anstellung. Man hat mir mitgeteilt, dass Sie ein Mädchen suchen, die das Handwerk der Putzmacherin erlernen will.«

»Bist du es, Gretchen?«, rief Babette und legte die Stickerei beiseite. »Das ist recht, dass du nach Kassel gekommen bist. Kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin deine Tante Babette.«

Sie war also tatsächlich aus ihrem Dörfchen hierher nach Kassel gereist. Charlotte blickte abschätzig auf das wenig hübsche Gesicht der jungen Person, die mit einer knolligen Nase, schmalen Lippen und kleinen, hellen Augen alles andere als eine Schönheit war. Auch das dünne rötliche Haar und der kurze Hals konnten nicht gefallen, aber immerhin hatte sie eine angenehme Stimme und konnte sich mit Worten ausdrücken.

»Tante Babette!«, sagte sie jetzt und lächelte die Näherin erfreut an, die aufstand, um sie zu begrüßen. »Ich kann mich entsinnen, dass du einmal bei uns im Dorf gewesen bist. Im Sommer ist es gewesen, und du hast mir eine Münze geschenkt. Die habe ich aufgehoben und besitze sie heute noch.«

»Aufgehoben hast du den Reichstaler?«, staunte Babette. »Das ist klug, denn ich hatte ihn für deine Aussteuer gedacht. Da sehen Sie, Frau Rosen, wie sorgsam das Mädchen mit dem Geld umgeht.«

Auch Elise musterte Babettes Nichte aufmerksam und fand, dass ihre Züge sehr gewannen, wenn sie lächelte.

»Kannst du denn mit Nadel und Faden umgehen, Grete?«, wollte Charlotte nun mit kritischer Miene wissen.

»Ich bin keine gelernte Näherin«, sagte Babettes Nichte freimütig. »Aber ich habe Kleider und Schürzen genäht, auch wollene Blusen und Strümpfe gestrickt. Ich kann Wolle und Flachs spinnen, und manchmal habe ich eine einfache Stickerei zustande gebracht. Solch feine Arbeiten wie die hübschen Hauben oder die zarten Spitzenkragen, die in Ihrem Schaufenster zu sehen sind, habe ich freilich noch nie angefertigt.«

Die Antwort gefiel Charlotte, denn sie klang ehrlich. Das Mädchen brüstete sich nicht mit angeblichen Fähigkeiten und Talenten, die sich später als Schall und Rauch erwiesen. Dennoch war die Chefin des Ateliers wenig begeistert von Babettes Schützling, vor allem, als sie nun das wollene Tuch von den Schultern nahm und man die ärmliche Kleidung sah, die aus grobem Tuch genäht war, wie es die Bauersleute gebrauchten.

»Da du die weite Reise getan hast, will ich dich nicht wieder fortschicken«, meinte sie. »Meinetwegen kannst du einige Tage bleiben und zur Probe arbeiten, dann werden wir sehen, ob du als Lehrmädchen für mein Atelier geeignet bist. Allerdings nicht in diesem Kleid und schon gar nicht in Holzschuhen. Hast du nichts Besseres anzuziehen?«

»Leider nicht, Frau Rosen«, gab Grete beklommen zu. »Ich habe für die Reise meine besten Sachen angelegt.«

Charlotte tat einen ärgerlichen Seufzer und blickte Babette vorwurfsvoll an. Da sprang Elise ein, der das arme Mädchen leidtat, die nicht einmal ein anständiges Kleid besaß.

»Vielleicht passt ihr eines von meinen Kleidern, Mutter«, schlug sie vor. »Komm mit mir hinauf, Grete, wir probieren, ob wir etwas Hübsches für dich finden.«

Es polterte ordentlich, als Grete hinter ihr die Stiege hinaufging, was nicht nur an ihren Holzschuhen lag, sondern auch an ihrem mühsamen, unregelmäßigen Gang. Wegen ihrer schief gewachsenen Hüfte setzte sie den linken Fuß fester auf als den rechten und wiegte den Körper dabei auf seltsame Weise hin und her.

»Heilige Maria!«, sagte sie staunend, als Elise die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. »Wie schön! Wie kostbar! Das ist ja gerade wie in einem Schloss!«

Elise freute sich über diese kindliche Begeisterung. Nachdem der Franzosenkönig Jérôme Kassel verlassen hatte und niemand mehr etwas von der französischen Herrschaft wissen wollte, hatte ihre Mutter die altmodischen, aber schönen Möbel günstig erworben. Vor drei Jahren hatte sie der Tochter das Mobiliar zum Geschenk gemacht. Auch ein großes, mit Stoffvorhängen versehenes Bett gehörte dazu, in dem Elise nun schlafen durfte.

»Tritt ein und zier dich nicht, Grete«, ermunterte sie das Mädchen. »Lass dich einmal anschauen – ich glaube, du bist recht schmal um die Taille.«

Sie öffnete ihren Kleiderschrank und wählte ein Kleid, das am Saum geflickt war, da der Stoff dort mit der Zeit brüchig geworden war. Sie hatte die Flickarbeit zwar so geschickt ausgeführt, dass man es kaum sehen konnte, aber da Sybilla ihr später mehrere ihrer abgelegten Kleider geschenkt hatte, war dieses im Schrank geblieben.

»Versuch es einmal«, meinte sie. »Und hier ist ein Paar Schuhe, die ich nicht mehr benötige.«

Mit dem Kleid ging es recht gut, es war nur ein Stück zu lang, aber diesem Übel konnte leicht abgeholfen werden. Über Gretes Unterröcke, die aus grobem Leinen genäht und so gar nicht städtisch waren, konnte Elise freilich nur den Kopf schütteln. Die Schuhe waren leider viel zu eng. Grete hatte breite, kurze Füße, wobei der linke Fuß um einiges dicker als der rechte war. Sie würde also vorerst in ihren Holzpantinen gehen müssen.

»Schon viel besser«, lobte Elise trotzdem. »Jetzt noch eine nette Haube – und schon siehst du aus wie eine Kasselanerin.«

Grete besah sich lange und mit großem Staunen in dem gerahmten Spiegel, der über der Kommode an der Wand angebracht war. »Auf dem Bauernhof gab es so etwas nicht«, gestand sie verlegen. »Wer sein eigenes Gesicht sehen wollte, der musste bei Sonnenschein in den Brunnen schauen. Oder in den Bach, aber da schwankte das Bild.«

»Wenn eine zu oft in den Spiegel schaut, dann wird sie eitel und hochmütig«, meinte Elise heiter. »Zumindest hat mir das die Mutter immer gesagt.«

»Da ist bei mir gewiss keine Gefahr«, gab Grete traurig zurück und trat einen Schritt näher zum Spiegel, um ihre Nase genau zu besehen. »Ich bin wohl recht hässlich.«

Sie tat Elise leid, denn auch mit der spitzenbesetzten Haube wirkte ihr Gesicht grob und wenig anziehend.

»Jede von uns hat ihre Licht- und Schattenseiten«, tröstete sie. »Die eine ist hübsch, die andere hat geschickte Finger, eine dritte ist klug im Kopf, und die vierte hat ein sonniges Gemüt. Außerdem muss ich dir sagen, dass es nicht immer praktisch ist, ein hübsches Gesicht zu haben. Vor allem nicht für eine Putzmacherin.«

»Wieso gerade nicht für eine Putzmacherin?«, wunderte sich Grete.

»Weil es in unserem Beruf besser ist, ledig zu bleiben«, belehrte Elise sie. »Als Ehefrau darfst du kein Geschäft führen, weil du in allem deinem Ehemann untertan bist. Eine ledige Frau aber, vor allem wenn sie hübsch ist, steht leicht in dem Ruf, eine liederliche Person zu sein. Vor allem hier in der Stadt, wo die Soldaten und Offiziere des kurfürstlichen Regiments stationiert sind.«

Grete nahm die Belehrung mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis und fragte dann, ob sie das Kleid und die Haube behalten dürfe, sie wolle auch dafür bezahlen.

»Ich habe noch einen Reichstaler …«

»Den spare dir für wichtigere Dinge auf«, meinte Elise gerührt. »Wenn dir die Sachen gefallen, schenke ich sie dir. Und nun komm mit hinunter, die Mutter wird schon ungeduldig sein.«

Grete ging mit Eifer, aber bedächtig zu Werke. Brav saß sie neben Babette am Fenster über die Nähprobe gebeugt, die Charlotte ihr auferlegt hatte. Sie hatte ein gebrauchtes Stück Stoff erhalten und sollte verschiedene Nähte in unterschiedlicher Stichweise ausführen. Alles musste in kleinen Stichen und gleichmäßig gearbeitet werden, die Fäden sauber verwahrt, auch durfte sich der Stoff nicht verziehen. Grete begriff rasch und stellte die Probearbeit zwar nicht glänzend, aber zufriedenstellend fertig. Auffallend war nur, dass sie häufig bei der Arbeit innehielt und seltsame Vorschläge machte.

»Es ginge doch rascher, wenn ich die Naht zuerst von der einen Seite in einfachen Stichen nähte, sie dann umwendete und in ebensolchen Stichen zurücknähte …«

»Versuche um Himmels willen nicht, uns das Nähen beizubringen, Gretchen«, versetzte Babette ärgerlich.

»Aber es geht so schneller und hält genauso gut …«

»Tu, was dir gesagt wird!«

Charlotte besah sich die Probearbeit sehr gründlich auf beiden Seiten und war fürs Erste zufrieden. Ein Vorteil war, dass Babette sich große Mühe gab, ihre Nichte anzulernen, und ihre Arbeit beständig überwachte. Grete machte keine Fehler, nur fiel es ihr schwer, die Stiche klein und gleichmäßig zu setzen, aber das würde mit der Zeit besser werden, wie Babette eifrig versicherte. Beim Zuschneiden der neuen Hauben erwies sich sogar, dass Grete einen guten Blick hatte und kaum ein Stückchen des teuren Stoffes abfiel.

»Daran kannst du dir ein Beispiel nehmen, Therese«, meinte Charlotte. »Wir haben fast eine halbe Elle eingespart.«

Therese war über das neue Lehrmädchen wenig froh; sie sprach kein Wort mit Grete und war beleidigt, weil sie ihren Stuhl zur Seite rücken musste, da man nun zu viert beim Fenster saß. Wenn sie die Gelegenheit hatte, legte sie Schere und Garnrollen so, dass Grete sie nicht erreichen konnte. Da sie dabei jedoch häufig von Babette erwischt wurde, handelte sie sich Ärger ein, denn Babette ließ in solchen Dingen nicht mit sich spaßen.

»Wenn du die Schere für dich allein haben willst, dann kauf dir selber eine!«, knurrte sie Therese an.

»Ich war in Gedanken …«

»Bei deinem Moritz und seinen Weinfässern, wie?«

»Ganz recht«, wehrte sich Therese, die sich in Gretes Gegenwart gern mit ihrem tüchtigen Sohn spreizte. »Der Franzosenwein, den mein Moritz gestern geliefert bekam, ist ganz ausgezeichnet, sogar der Küfermeister des Kurprinzen hat zehn Flaschen davon bestellt.«

»Wohl bekomm’s«, meinte Babette unverdrossen. »Von dem kurhessischen Gewächs haben wir neulich alle den flotten August bekommen. Da bleibt zu hoffen, dass der Franzose von besserer Qualität ist.«

Therese würdigte sie keiner Antwort und schaute stattdessen zum Fenster auf die Gasse hinaus. Dort konnte man sehen, wie Moritz mit dem erhobenen Besen mehrere Lausbuben verscheuchte, die vor dem Weingeschäft eine Schlitterbahn im frisch gefallenen Schnee angelegt hatten. Der Winter hielt das Land immer noch in hartem, eisigem Griff.

Der Vater wird sicher warten, bis sich das Wetter gebessert hat, dachte Elise bekümmert. Bei dieser Kälte zu reisen ist wirklich kein Vergnügen.

Doch insgeheim fürchtete sie, dass Charles François de LaTour wohl gar nicht nach Kassel kommen würde. Wenn es meine Zeit erlaubt, hatte er geschrieben. Damit hatte er sich eine prächtige Hintertür offen gelassen.

Kapitel 3

Auch am folgenden Tag stellten sich mehrere Mädchen im Atelier vor, die das Handwerk der Putzmacherin erlernen wollten, und Babette verfolgte die Verhandlungen mit besorgtem Blick. Doch Charlotte war ebenso mäkelig wie zuvor, nur zwei davon bat sie, in ein paar Tagen noch einmal vorzusprechen, alle anderen schickte sie gleich wieder fort.

»Da siehst du, welches Glück du gehabt hast«, flüsterte Babette ihrem Schützling zu, die mit gesenktem Kopf über ihrer Näharbeit saß. »Streng dich also an und mach mir keine Schande.«

»Ja, Tante Babette«, sagte Grete und rieb sich die klammen Finger.

Inzwischen war der Holzstapel bis auf einen Rest geschwunden, der für die Küche gebraucht wurde, und da Charlotte nicht bereit war, das zurzeit überteuerte Brennmaterial einzukaufen, war es empfindlich kalt im Atelier.

»Das Osterfest naht«, meinte sie hoffnungsvoll. »Und wenn wir erst die Auferstehung des Herrn gefeiert haben, wird auch der Frühling einkehren.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Elise, die ein wollenes Tuch um die Schultern gelegt hatte. »Aber die Hofrätin von Ochs, die vorhin den neuen Hut probierte, hat dreimal niesen müssen, während sie bei uns saß.«

»Wenn die Dame endlich die ausstehenden Rechnungen bezahlen würde, könnte ich auch Holz für den Ofen kaufen«, versetzte Charlotte ärgerlich.

Die Zahlungsmoral einiger Kundinnen hatte sich in letzter Zeit sehr zum Schlechteren gewendet. Durch den Anschluss Kurhessens an das preußische Zollsystem waren viele Waren wohlfeiler und in größerer Menge als früher zu haben, die Krämerläden boten allerlei welschen Tand an, und auf dem Markt wurden Seefische, südländisches Obst, Gemüse und englische Tuche gehandelt. Da kaufte so manche Bürgerin mehr ein, als ihr Geldbeutel vertrug, und die Folge war, dass man im Atelier Rosen anschreiben ließ.

Die Unterhaltung stockte, weil jetzt die Ladentür geöffnet wurde und das Mädchen des Fräuleins von Eschen eintrat.

»Einen schönen Gruß von meiner Herrin soll ich ausrichten«, sagte sie und knickste vor Charlotte. »Sie bittet um einen Besuch gegen drei Uhr, um einen Hut neu dekorieren zu lassen. Auch benötigt sie einen Kragen und Handschuhe aus feiner Spitze.«

Sie sagte ihren Spruch auf wie eine Schülerin, die ihn auswendig gelernt hatte. Vermutlich hatte Frau von Eschen sie den Auftrag mehrfach wiederholen lassen, bevor sie sie losschickte.

»Sag deiner Herrin, dass meine Tochter um drei Uhr mit dem Gewünschten bei ihr sein wird«, gab Charlotte erfreut zurück.

Das Mädchen hatte die ausgestellten Rüschenhauben, Spitzenhandschuhe und frühlingshaft dekorierten Hüte mit begehrlichen Augen angestarrt, jetzt knickste sie aufs Neue, warf noch einen verwunderten Blick auf Grete, die sie hier noch nie gesehen hatte, und trat auf die Gasse hinaus.

»Sieh zu, dass sie gleich bezahlt«, riet Charlotte ihrer Tochter. »Und nimm die teuren Kragen und Handschuhe mit. Fräulein von Eschen muss man die beste Qualität anbieten, sie ist anspruchsvoll.«