Der Lippenstift meiner Mutter - Artur Becker - E-Book

Der Lippenstift meiner Mutter E-Book

Artur Becker

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Beschreibung

Der Lippenstift meiner Mutter katapultiert uns mitten hinein in das Herz von Masuren, in die kleine Stadt Dolina; und zu ihren Bewohnern: die rosen- kranzbetenden Großmütterchen und die verruchte Dorfschönheit, der ehemalige Wehrmachtssoldat und die prügelnden Väter, eine stalinistische Dichterin, der warmherzige Schuster Kronek und natürlich die rebellierende Jugend, die verbo- tene Platten hört und Pläne für eine Revolution ausbrütet. Das beschauliche Dolina Roz steht aber schlagartig Kopf, als unvermittelt Barteks Großvater, ein melancholischer und geheimnisumwitterter Eisenbahner, von allen bloß "Franzose" genannt, aus dem Ausland zurückkehrt. In dem sich rasch entspinnenden Chaos muss der junge Bartek seinen Platz finden. Keine leichte Aufgabe, schließlich hat Bartek vor allem Augen für seine unsichtbare Geliebte Meryl Streep sowie den Lippenstift seiner Mutter. Mit Bartek hat Artur Becker eine wunderbare Romanfigur erschaffen: Ein polnischer Holden Caulfield, ein - wie sein amerikanisches Pendant - nicht besonders guter Schüler, ein Eigenbrötler, Träumer und Rebell, ein junger Kerl in der bizarren Welt der "Großen", einer der abhauen will, um dem Spießertum zu entkommen und um endlich sein Mädchen zu finden.

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Artur Becker

Der Lippenstift meiner Mutter

Roman

Der Lippenstift meiner Mutter

Für Magdalena

Inhalt

Kapitel 1: Der Stepptanz und »Die Geliebte des französischen Leutnants«

Kapitel 2: Die Schule, die sieben Gangarten und die brennenden Kühe

Kapitel 3: Die Hure, das Café Wenecja und die quälenden Gedanken von Quasimodo

Kapitel 4: Opa Franzose und die Werkstatt von Herrn Lupicki

Kapitel 5: Der Besuch im orangefarbenen Haus und die Stalinistin Natalia Kwiatkowska

Kapitel 6: Der Lippenstift meiner Mutter

Kapitel 7: »The Dark Side of the Moon« und die Frage »Nofe?«

Kapitel 8: »Ihr seid das Salz der Erde!« und »The Wall«

Kapitel 9: »Ummagumma« und »Unde malum«

Kapitel 10: »Die unheimliche Begegnung der dritten Art«

Kapitel 11: »Autobiografia«

Kapitel 12: Die Rückkehr der Astronomie, »Stummes Kino« und poczekalnia

Kapitel 13: Die Kreuzigung

Kapitel 14: Verführung und Rache

Kapitel 15: Das Mahl des Ziegenbocks, die litauischen Sänger und Monte Cassinos neue Beine

Kapitel 16: Die Flucht

Glossar

Dies ist kein autobiographischer

Roman, obwohl man lebende

und verstorbene Personen aus

der Umgebung des Autors in

diesem Buch wiedererkennen

mag.

Ein Glossar polnischer und

anderer Namen und Begriffe

befindet sich auf den letzten

Seiten des Buches.

Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein.

Matthäus 10, 34 – 36

Der Ort soll vor seiner jetzigen Benennung den Namen Rosenthal geführt haben. Gewiß ist, daß der Ort schon vor Erhaltung seines Privilegiums zu einiger Bedeutung gelangt war, weil in demselben jährliche Abgaben von Brodbänken, Fleischbänken, Schuhbänken und Fischbänken die schon erbaut sind (iam constructis) vestgesetzt werden, welches wohl von einem unbedeutenden Orte nicht hätte können gesagt werden.

Johann Gottlob Behnisch, 1836

All that is now

All that is gone

All that’s to come

and everything under the sun is in tune

but the sun is eclipsed by the moon.

Pink Floyd »The Dark Side of the Moon« (1973)

Kapitel 1: Der Stepptanz und»Die Geliebte des französischen Leutnants«

Die sichelförmigen Absatzeisen, deren unermüdliches und unüberhörbares Klappern auf den Straßen von Dolina Róż erst in den langen und schneereichen Wintern fast gänzlich zum Verstummen kam, waren bei Herrn Lupicki, dem einzigen Schuster des Städtchens, der Verkaufsschlager. Damit würde Herr Lupicki zwar nie reich werden, und das wusste er, der seinen Beruf seit mehr als vierzig Jahren ausübte, wohl am besten, doch was sollte er machen. Alle Männer und Halbwüchsigen ließen bei ihm ihre Schuhe regelmäßig mit diesen hauchdünnen Absatzeisen veredeln. Sechs Nägel reichten, um die halbmondartigen und etwa sieben Zentimeter langen Eisen aufzuschlagen, und schon war selbst der letzte Armleuchter ein gemachter Mann. Keiner der Männer und heranwachsenden Jungen mochte auf das metallische Klappern auf den Bürgersteigen und Straßen – den hörbaren Beweis für die Männlichkeit oder Gerissenheit eines Kerls – verzichten. Ja, selbst die Pfarrer, die Milizionäre und Barteks Lehrer griffen zu diesem altbewährten Köder, der alte Weiber, widerspenstige Töchter und begehrenswerte Schülerinnen vom Gymnasium oder von der Nähschule davon überzeugen sollte, dass sie es nicht mit irgendwelchen Angsthasen und dahergelaufenen Hunden zu tun hätten, sondern vielmehr mit echten Helden, die zu jedem Schritt bereit seien − buchstäblich. Und den zahlreichen Mitbewerbern wurde signalisiert, sich warm anzuziehen, denn je lauter das metallische Klappern, dieser tägliche chaotische Stepptanz von Dolina Róż, war, desto wichtiger kamen sich die Träger der durch Herrn Lupicki persönlich aufgerüsteten Schuhe vor.

An diesem Stepptanz im Städtchen fand auch Bartek großen Gefallen, obwohl er erst fünfzehn Jahre alt war. Sein wichtigster Feind Schtschurek − die Ratte − ging sogar so weit, dass er sich selbst seine Turnschuhe mit Eisen, die er im Übrigen ständig verlor, beschlagen ließ. Doch jeder wusste, dass Schtschurek ein Idiot war und nur eines im Sinn hatte: solchen Muttersöhnchen, wie seiner Meinung nach Bartek eines war, bei passender Gelegenheit die Nase zu polieren. Schtschurek hasste Kinder, deren Mütter beliebte, hübsche und schwarzhaarige Lehrerinnen waren, da seine eigene Mutter, die an der Flasche hing, nicht einmal für knauserige Freier vom Lande ein Objekt der Begierde darstellte. Schtschureks Vater war zudem Totengräber, und man erzählte sich in der Werkstatt von Herrn Lupicki, dass der Totengräber Biurkowski ein mieser betrügerischer Grabhändler sei. Er würde nämlich die besten Liegeplätze des alten Friedhofs an der Luna für teures Geld an die Reichen verhökern, und die Armen hätten wieder einmal das Nachsehen und müssten ihre Angehörigen an den Randzonen bestatten, wo man noch hier und da alte Gräber mit Skelettresten und Schädeln aus deutschen Zeiten vermutete oder gar zu erkennen glaubte. Die von Efeu, Sträuchern und Gräsern überwucherten Gräber ähnelten riesigen Ameisenhaufen. Herr Lupicki sagte bloß: »Was ärgert ihr euch über dieses Stinktier Biurkowski! Ihr würdet an seiner Stelle genauso handeln! Der Gute will mit seiner Familie doch auch nur überleben!«

Jedenfalls versuchte Bartek, seinem größten Feind aus dem Weg zu gehen, nicht deshalb etwa, weil er dessen Arschtritte fürchtete. Nein, Schtschurek tat ihm sogar leid, zumal das Gesicht seines Erzfeinds tatsächlich der spitzen Schnauze einer ausgehungerten Ratte ähnelte. Diese Schnauze war der wahre Grund für Barteks Fluchten vor Schtschureks Verfolgungsjagden. Barteks Opa Monte Cassino väterlicherseits, der mit zwei Beinstümpfen im Rollstuhl saß, weil ihm im Krieg die Beine amputiert worden waren, und der in der Werkstatt von Herrn Lupicki als Aushilfe arbeitete, hatte nämlich seinen Enkel schon mehrmals gewarnt, Schtschurek nicht ins Gesicht zu sehen, vor allem nicht in seine Augen, denn das Böse sei eine Krankheit, die sich durch direkten Blickkontakt automatisch vermehren würde. Er wisse, wovon er spreche, so Opa Monte Cassino, er habe schließlich den Krieg an allen denkbaren Fronten mitgemacht – von Monte Cassino bis nach Afrika. Böse Augen seien stärker als die eines Normalsterblichen, mahnte er seinen Enkel, wenn dieser wieder einmal in die Fänge Schtschureks geraten war, und selbst Heilige zögen den Kürzeren, wenn sie von Angesicht zu Angesicht vor einem Bösewicht stünden.

Da Bartek nach der Schule so gut wie nie direkt nach Hause ging, wo ihn ohnehin niemand erwartete − außer seinem jüngeren Bruder Quecksilber vielleicht, der weinerlich und kränklich war, regelmäßig gläserne Fieberthermometer zerbiss und nach dem täglichen Schulunterricht meistens von Oma Olcia umsorgt wurde −, trieb er sich bis zum Abend auf den Straßen von Dolina Róż herum. Immer wieder suchte er die Werkstatt von Herrn Lupicki auf, um sich vor dem Regen oder einem Schneesturm zu verstecken oder, ganz einfach, um den neuesten Klatsch zu erfahren. Dann saß er stundenlang am Tresen, machte dort seine Hausaufgaben, hörte den Schustergesprächen und der eintönigen Musik zu, welche die Schuster mit ihren Hämmern und Feilen und Schleif- und Nähmaschinen erzeugten, oder er unterhielt sich mit der jungen Meryl Streep, von der er glaubte, sie wäre sein Mädchen, seine erste große Liebe! Er hatte im Kino Zryw den Film »Die Geliebte des französischen Leutnants« mit der Streep in einer Doppelhauptrolle gesehen, und seitdem war er wie ausgewechselt. Er begriff, dass er sich verliebt hatte, und obwohl seine Geliebte nur auf der Leinwand zu sehen war, beschloss er, der rothaarigen Meryl treu zu sein – bis er eines Tages eine echte Meryl treffen würde: eine aus Fleisch und Blut. Bartek machte sich da zwar keine allzu großen Hoffnungen, aber das Wichtigste war für ihn, dass er ein hübsches Mädchen liebte, das begehrenswerter war als die Schülerinnen vom Gymnasium oder von der Nähschule.

Zu Hause zu sitzen bedeutete für Bartek, dass er keine einzige ruhige Minute hatte, denn seine Eltern ließen ihn gern kleine Botengänge erledigen: »Bartek, renn schnell los und kauf bitte für den Papa eine Schachtel Zigaretten!« Oder: »Hol bitte für die Mama den neuen Schminkstift ab! Ich hab ihn bei Frau Żuławska unter dem Ladentisch gekauft!«, sagte Stasia gelegentlich, Barteks schwarzhaarige Mutter. Sie ist eine Hexe, eine ganz ausgebuffte Hexe, dachte er oft, mit ihren schwarzen Haaren fängt sie die Männer wie mit einem Kescher und stopft ihnen ihren schwarzen Schopf in den Mund, damit sie an ihrer Hexenschönheit ersticken.

Am schlimmsten war es jedoch am frühen Morgen oder am frühen Abend, wenn etwas Wichtiges fehlte, und es fehlte immer etwas Wichtiges: Zigaretten zum Beispiel. Warum kauft sich der Vater nie selbst Zigaretten?, fragte sich Bartek jedes Mal, wenn er wieder zum Kiosk gehen musste, um Popularne, Sporty oder Klubowe zu besorgen. Warum muss ich ständig seine Zigaretten kaufen? Und das Brot – entweder war es verschimmelt oder vertrocknet, und Bartek musste wieder los und einen Laib Brot, einen Liter Milch und ein Kilo Zucker und kostkę masła, ein Stück Butter, kaufen. Manchmal dachte er, seine Eltern hätten ihn lediglich deshalb gezeugt, um einen guten und gehorsamen Diener zu haben, den fleißigen Hermes. Sie saßen im Wohnzimmer auf dem Kanapee, sahen fern und erteilten ihm Befehle, während der Fernseher Neptun − eine alte polnische Schabracke, wie sich sein Vater Krzysiek auszudrücken pflegte − laut aufgedreht war, aber nur dann, wenn keine Konzerte mit klassischer Musik übertragen wurden. Chopin, Debussy und der Pianist Krystian Zimerman machten den Vater wahnsinnig, er fasste sich an den Kopf und schrie: »Bartek! Stell diesen fürchterlichen Krach aus! Diese Musik ist krank!«

Zum Glück stand der Fernseher auf vier dünnen Beinen, und zu Barteks Freude – Schadenfreude − war es ganz leicht, ihn im Vorbeigehen umzustoßen. Er landete immer auf dem Rücken, sodass der Bildschirm nie zu Bruch ging. Aber Stasia verteidigte ihren Sohn nicht, weil sie Angst vor ihrem Mann hatte, Angst vor seinen cholerischen Wutattacken, wenn sein Adamsapfel wieder einmal zu zittern begann, die Augäpfel sich mit roten Äderchen bedeckten, weshalb er von Sekunde zu Sekunde geistesabwesender und wutentbrannter wirkte. Diese Väter waren keine Freunde der Menschheit. Im ganzen Haus, auf jeder Etage des orange gestrichenen Wohnblocks im Plattenbauquartier, in dem Bartek mit seinen Eltern und seinem Bruder Quecksilber wohnte, waren sie anzutreffen, und einmal in der Woche zogen diese unberechenbaren Väter ihre von Herrn Lupicki gelochten Ledergürtel genüsslich aus der Hose, um ihre Söhne zu verprügeln. Ja, solche Weltmeister der cholerischen und alkoholgesteuerten Wutattacken bewohnten ganze Plattenbausiedlungen, und Bartek sorgte sich, eines Tages auch so ein unberechenbarer Weltmeister der Wut zu werden. Daher beschloss er für sich schon früh, nie Kinder zu zeugen. Manchmal fragte er seine Geliebte, der er fast jeden Tag einen neuen Namen gab: »Und, willst du mit mir Kinder haben?« − »Nein, mein Liebster! Du weißt doch, was sie ihren Kindern antun! Sie bilden sie zu Butlern aus und schicken sie jeden Sonntag in die Kirche zur Heiligen Messe, um ein reines Gewissen zu haben, oder sie lassen sie bei ihren alkoholischen Sexorgien in Ungewissheit taumeln, ob es da im benachbarten Wohnzimmer, aus dem seltsame Geräusche und Stimmen kommen, wirklich mit rechten Dingen zugeht …« − »Ach meine Liebe! Du musst jetzt schlafen gehen, ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen.« Und dann verschwand seine Meryl Streep, die so gut wie jeden Tag anders hieß und die noch nie jemand gesehen hatte, weshalb man Bartek für einen Angeber, Lügner und Träumer hielt, der steif und fest behauptete, Meryl Streep sei in ihn verliebt. Doch seine Eltern und auch der Schuster Lupicki und selbst Opa Monte Cassino sagten ihm: »Bartek! Du hast keine Freundin! Du sprichst mit Gespenstern! Und mit dir selbst!« Die Mutter Stasia machte sich Sorgen, und sie überlegte ernsthaft, ob sie ihren Sohn nun nicht doch einem Facharzt vorstellen sollte, einem Psychiater oder einem Psychologen aus Gdańsk oder Olsztyn; oder auch dem Mörder Baruch, der, nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, ein Heiliger geworden war – nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis war er zum besten Kurpfuscher des Landkreises Dolina Róż avanciert: Mit flauschigen Pfoten von Kaninchen, die er züchtete und mit großem Appetit verspeiste, versuchte er, die Menschen zu heilen und die bösen Geister zu vertreiben, indem er die Stirn seines Patienten mit einer Kaninchenpfote massierte.

Der einzige, der Bartek glaubte und auch seine Meryl mehrmals gesehen hatte, war Norbert, der dreißigjährige Sohn von Herrn Lupicki.

Norbert hatte einen Buckel − und an der rechten Hand sechs Finger. Für diese Laune der Natur und auch dafür, dass er nicht imstande war, seinen erbsengroßen Wortschatz zu erweitern, stellte man ihm gelbe Papiere aus: »Gelbe Dokumente für die Ewigkeit des Universums…«, sagten kichernd die älteren Jungen, die nach der Heiligen Messe vor der St.-Johann-Kirche Zigaretten rauchten. Der geistig behinderte Sohn von Herrn Lupicki spielte in Dolina Róż den Narren, und er spielte diese Rolle gern, zumal er von den Bewohnern des Städtchens für seine Nummern immer wieder mit Beifall oder gar Geschenken (Pfannkuchen mit Heidelbeeren, einer Flasche Bier oder einer Zigarette) belohnt wurde.

Man kann nicht gerade sagen, dass Norbert, der anhänglich war wie ein herrenloser Hund, Barteks bester Freund war. Und da Bartek − wenn er nicht gerade in der Schusterwerkstatt die Zeit totschlug − die Abende am liebsten mit Marcin und seiner Musik, seinen Büchern und Geschichten über exotische Auslandsreisen teilte, musste er Norbert oft den Laufpass geben. Er konnte ihn zu Marcin nicht mitnehmen, den verlorenen Narren, da Marcin, der bald achtzehn werden sollte, als Aristokrat des Denkens und Handelns – diese Bezeichnung war seine eigene Erfindung − keine Launen der Natur tolerierte. Er zitierte pausenlos große Namen, so auch den Philosophen Nietzsche, den er übrigens ins Polnische übersetzte − in Nietzsches eigentliche Muttersprache, so Barteks Kumpel und Lehrmeister −, und manchmal sagte er in belehrendem Ton: »Bartek! Du weißt gar nicht, wozu der Mensch fähig ist! Der Bucklige beleidigt nicht das Antlitz Gottes, sondern vielmehr das unserer menschlichen Spezies. Ich würde ihn in einem Käfig halten wie ein wildes Tier!«

Im Grunde genommen war Marcin in Dolina Róż nur ein Gast, ein Astronaut, der seit Jahren seine baldige Rückkehr ins Paradies, in das Gelobte Land plante. Er sagte, er wandere nach dem Abitur sofort in die USA aus und er bereitete sich auf diese große Ausreise jeden Tag vor, nicht nur, indem er intensiv Englisch lernte, nein, er versuchte auch, ein vorbildlicher Antikommunist zu sein. In der Tat war er in seiner politisch konsequenten Haltung eines Unangepassten und Aufwieglers nicht zu übertreffen, doch Bartek hatte dafür eine Erklärung: Nur der Sohn eines hohen Parteibonzen durfte ungestraft in seinem eigenen Rhythmus trommeln und protestieren und die Kommunisten für alle Misserfolge und die bitteren Niederlagen der Meinungsfreiheit in den Tageszeitungen aus Olsztyn oder Warschau verantwortlich machen; sein Papa würde ihn so und so immer in Schutz nehmen, und Marcin konnte damit nicht von der Schule verwiesen werden, obwohl er schon so oft die Lehrer und die Partei beleidigt hatte, meist im Gemeinschaftskunde- oder Polnischunterricht, wenn die Lehrer Gedichte über die Revolution von 1905 und 1917 vortrugen.

Marcin wohnte im einzigen von Reklamen und grellen Farben erleuchteten Wolkenkratzer des Städtchens – einem Wolkenkratzeraspirant, wie diese Mietskaserne im Jargon der Bewohner von Dolina Róż hieß. Dabei handelte es sich bei dem buntscheckigen Gebäude um einen ganz gewöhnlichen Wohnblock aus Betonplatten, der vier Eingänge und Stockwerke hatte. Da aber der Wolkenkratzeraspirant auf einem gewaltigen Sockel thronte, ragte er hoch in den Himmel wie der Turm der St.-Johann-Kirche. Im Sockel befand sich ein Restaurant mit der berüchtigten Dancing-Bar Piracka, in dem Barteks Tanten Hania und Agata, die zwei schwarzhaarigen Schwestern seiner Mutter Stasia, von Zeit zu Zeit für ungeheure Skandale sorgten: klassische Liebesszenen auf dem Billardtisch oder unangekündigte Verlobungs- und Hochzeitsfeiern. Einmal machte Barteks Oma Olcia, die in der Kopernikusstraße wohnte, vor dem Eingang des Piracka eine Verschnaufpause, weil sie unter mörderischem Bluthochdruck litt und ihr die Einkäufe vom Wochenmarkt zu schwer geworden waren – vor allem die Gans, die noch lebte und in einem Korb aus Todesangst ununterbrochen schnatterte. Und da das Piracka wegen einer Feier wirklich aus allen Nähten platzte, fragte Oma Olcia den nächstbesten Passanten, wer denn in diesem vom Teufel besessenen Schuppen feierte: »Das wissen Sie nicht, Pani Olcia?«, antwortete der junge Mensch. »Ihre Tochter Agata hat den Versicherungsbetrüger geheiratet, diesen Russischpolen! Jetzt saufen sie und tanzen sie!«

Mit anderen Worten: Marcin, der Aristokrat des Denkens und Handelns, lebte im Zentrum von Dolina Róż wie mitten im verruchten Warschau. Und wenn man zum Beispiel in der Silvesternacht auf dem Dach des Wolkenkratzeraspiranten stand − was eigentlich verboten war −, blickte man als Erstes auf die alten Wallanlagen, die einst die Altstadt vor den Angriffen der Pruzzen und anderer heidnischer Barbaren beschützten. Dann wanderte der Blick unweigerlich zum mittelalterlichen Kreuzrittertor mit der schwarzen, im Winter meist verschneiten und vereisten Uhr, auf der weiße Ziffern leuchteten. Im nächsten Moment schaute man auch noch auf den gigantischen Defilierplatz und das Kino Zryw, und vor allem flog man zu der Hanka-Sawicka-Straße und ruhte wieder eine Weile auf dem mittelalterlichen Tor mit der schwarz-weißen Turmuhr, von Bartek auch liebevoll Big Ben genannt, um schließlich bei den kleinen Läden und Arztpraxen und Ämtern der Hanka-Sawicka-Gasse zu verweilen: Dort auch lag die Werkstatt von Herrn Lupicki.

Der ehrenvollste und den Schustern immer willkommene Gast − zugegeben, ein seltener Gast − war Mariola, Herrn Lupickis Tochter, die junge, fünfundzwanzigjährige Krankenschwester, in die selbst der Aristokrat des Denkens und Handelns verliebt war. Jedes Mal wenn sie, stets leichtfüßig wie aus dem Nichts, die Schusterwerkstatt betrat, brachte ihr Halbbruder Norbert seine Ministrantenglocken zum Läuten, die er immer bei sich trug und die meist in einer ledernen Umhängetasche steckten. Mariolas Halbbruder kramte die Ministrantenglocken nur in Momenten hervor, wenn er seine Freude bekunden wollte. Allerdings verursachte er dann einen riesigen Lärm, und da er vor allem von seinem Vater für das debile Läuten, wie sich Herr Lupicki auszudrücken pflegte, ordentlich Schelte bekam, verwandelte sich die unbändige Freude in Sekundenschnelle in Wut und Trauer. Norbert zerrte im nächsten Augenblick hastig aus seiner Soldatenumhängetasche die aus sechs fetten Lederriemen geflochtene Geißel hervor, schlug sich damit auf den Rücken und wiederholte den einzigen Satz, den er in grammatikalisch korrektem Polnisch sagen konnte: »Norbert hat eine böse Strafe verdient! Norbert hat eine böse Strafe verdient! Norbert zasłużył na tę straszną karę!«

Kapitel 2: Die Schule, die sieben Gangarten und die brennenden Kühe

Schon seit einiger Zeit musste Bartek als frischgebackener Technikumschüler und zukünftiger Spezialist für Drehmaschinen jeden Montag ein Sakko, ein weißes Hemd und eine Krawatte anziehen. Auf dem rechten Ärmel musste das rote Schulemblem seines Mechanischen Technikums für jeden Lehrer sichtbar angenäht sein. Agraffen und Stecknadeln wurden nicht akzeptiert: Sie zerstachen das Herz des polnischen Adlers und der Warschauer Sirene mit ihrem Schwert und Schild; sie zerstachen auch das Stadtwappen von Dolina Róż, die drei Treppenstufen mit den zwei gekreuzten Beilen, den sogenannten Barten; sie beleidigten das Lehrerkollegium und die sozialistische Ordnung, die der katholischen und mittelalterlichen sehr ähnelte. Jeden Montag fanden in der ersten Unterrichtsstunde lange Schulappelle statt − zu Ehren der im Krieg gefallenen Soldaten, zu Ehren der Arbeiter, die im Schweiße ihres Angesichts das sozialistische Haus aufbauten, zu Ehren des Schuldirektors und zum Schluss zu Ehren der Schüler, der zukünftigen Techniker und Ingenieure. Und da es sich bei dem Technikum um einen reinen Männerhort handelte, standen beim Montagsappell im großen Festsaal der ehemaligen Wehrmachtskaserne, die nun seit vielen Jahren als Schule diente, die festlich uniformierten Schulklassen, von der ersten bis zur fünften. Bartek fühlte sich bei diesen Schulappellen wie ein Wehrmachtssoldat und manchmal wie ein Rotarmist oder wie der französische Leutnant von Meryl Streep. Und wenn er im Chemieunterricht wieder einmal versagte − obwohl der Chemielehrer ein Fan der Scorpions war und den Schülern gern seine liberale Ader zeigte, indem er predigte, dass jeder Schüler einmal im Monat nicht vorbereitet sein dürfe −, flüsterte Bartek seinen Nachbarn, die mit ihm zusammen auf einer Bank saßen, zu: »Euch würde ich nicht mit in den Krieg nehmen, ihr seid Versager und Verräter − warum habt ihr eure Hefte mit den Formeln und Definitionen zugeklappt, während ich von unserem Chemielehrer ausgequetscht wurde?«

Für diese Appelle holte man die Schulfahne und die Nationalflagge aus dem sogenannten Gedenkzimmer hervor und sang die Nationalhymne, um sich anschließend lange Monologe und statistische Berichte des Schuldirektors anzuhören.

Dieses montägliche Ritual im Technikum hatte Bartek eingeimpft, dass nicht nur die Kirche, sondern auch der Staat ein Monopolist in Fragen von Ethik und Moral war. Anton, Barteks Schulfreund und Klassenkamerad, behauptete sogar, dass der neue sozialistische Staat viel stärker sei als die Kirche, weil er sich nicht einmal davor scheute, das jedem Büßer nach dem Tod versprochene ewige Leben als größten Betrug der Religionen zu entlarven. Anton erklärte noch, der sozialistische Staat scheitere zwar an der Geldgier der Menschen, sei aber dem Kapitalismus dennoch überlegen, weil er begriffen habe, dass der Mensch auf das Jenseits und das Paradies nicht warten wolle und könne, da er zu ungeduldig sei. Das Jenseits und das Paradies müsse man bereits auf Erden schaffen. Für diese Gedanken schätzte Bartek seinen Freund sehr, und er sagte zu ihm im Chemieunterricht, wenn er wieder einmal nicht vorbereitet war: »Anton, dich würde ich jederzeit mit in den Krieg nehmen, du hast mein Ehrenwort, das Ehrenwort eines echten Soldaten und Helden!«

Der Schnee war früher gefallen als gewöhnlich, denn kaum, dass die Kerzen, die man zu Allerheiligen und -seelen auf den Gräbern der Verstorbenen aufgestellt und angezündet hatte, geschmolzen und erloschen waren, schneite es fast jeden Tag. Das Städtchen fiel in einen tiefen Schneeschlaf, und die anhaltende Kälte machte die Menschen einerseits träge, andererseits hungrig und sexgierig; zumindest träumten die meisten von einem warmen Bett, einem üppigen Mittagessen und von langen Stunden zu zweit unter der weißen Federbettdecke der Nacht. Solche Träume waren nicht leicht zu verwirklichen, da der Staat von Zeit zu Zeit den Strom abschaltete, um Steinkohlebestände zu sparen, und es passierte nicht selten, dass auch das Wasser abgestellt wurde. Dann saß man in den Plattenbauquartieren im Dunklen und hoffte, dass keines der gefrorenen Rohre der erkalteten Heizkörper platzen würde. Die Kinder erledigten ihre Hausaufgaben bei Kerzenlicht, frierend und an den Fingernägeln kauend, während ihre Eltern für sie Geschwister zeugten, in einer finsteren Ecke einer Fabrik oder Schule.

Es war wieder einmal einer jener langweiligen und zugleich heiligen Schulappellmontage, als Bartek nach dem siebenstündigen Schulunterricht vor der Mauer, die die ehemaligen Kasernengebäude umgab, herumlungerte und mit Anton Zigaretten rauchte, sozusagen auf neutralem Terrain, da sie sich außerhalb des Schulgeländes befanden. In fast jeder Pause kamen die Lehrer des Technikums herbeigerannt, um die rauchenden Schülerhorden auseinanderzutreiben, und dann flohen die jungen Raucher in den Stadtwald, in dem es in der Nähe des berühmten Teufelsbergs viele Verstecke gab und sogar ein Goethe-Denkmal, das die Ostpreußen vor langer Zeit errichtet hatten. Diejenigen Schüler, die sich erwischen ließen, mussten mit einer schlechten Note für ihr soziales Verhalten rechnen, die sie jedoch wenig bekümmerte.

»Schusterkind«, sagte Anton. »Wann gehst du wieder zu Marcin, um Musik zu hören und den nächsten Kurs in Philosophie zu belegen? Ich würde gerne einmal zu ihm mitkommen! Angeblich plant er ein Attentat …«

»… er plant gar nichts!«, unterbrach Bartek seinen Freund. »Wozu sollte er an ein Attentat denken, wenn er sowieso nach dem Abi abhauen will, und zwar nach Amerika?!«

Bartek mochte es nicht, wenn ihn seine Freunde Schusterkind nannten. Sie neckten ihn mit diesem grässlichen Wort, das sich in seinen Ohren so anhörte, als hätte er kein Zuhause. Allerdings war das gar nicht unbedingt falsch. Er hasste sein Zuhause, konnte sich das aber nicht eingestehen. Am wohlsten fühlte er sich in der Werkstatt von Herrn Lupicki. Bei ihm bekam man immer einen Teller heißer Erbsen- oder Kartoffelsuppe, ein Glas schwarzen Tee oder einen Schnaps, den vor allem Barteks Vater und Onkel zu sich nahmen, die drei blonden und blauäugigen Schwager, die Ehemänner von Oma Olcias schwarzhaarigen und dunkelbraunäugigen Töchtern. Schon am frühen Morgen, wenn Herr Lupicki seine Schusterwerkstatt öffnete, kamen die ersten Durstigen und Hungrigen, tranken einen Schnaps und aßen ein Stück Schweinespeck mit Brot, bevor sie weitergingen, jeder zu seinem Büro, zu seiner Fabrik. Große Strecken legte man in Dolina Róż zu Fuß zurück, da so gut wie niemand ein Auto besaß, und mit dem Fahrrad zu fahren, kam keinem in den Sinn, da man Fahrräder nur Erstkommunionskindern schenkte. Und so marschierten die Frauen, Männer und Kinder von Dolina Róż jeden Morgen zu ihren Schulen, Fabriken und Büros, um am späten Nachmittag wieder auf die Straße zurückzukehren, wo sie dann in den Schlangen vor den Lebensmittelläden stundenlang ausharren mussten, um Seife, Toilettenpapier und schlesische Wurst zu ergattern. Oder sie gönnten sich bei Herrn Lupicki eine kurze Pause, palaverten mit den Schustern und beklagten sich über ihre Ehepartner und Sprösslinge, aber auch über die Regierung und die Inflation. Im Winter begann ihr Tag im dunkelgrauen Licht des Schnees und des frostigen Himmels und endete im abendlichen, ein wenig rötlich schimmernden Dämmer. Bartek kam es so vor, als würde er von November bis Ende Januar am Nordpol wohnen, wo seit Tausenden von Jahren – seit der Sintflut quasi − die längste Nacht der Menschheit herrschte. Er liebte es, zusammen mit Anton und Marcin an einer Straßenecke herumzulungern und zu beobachten, wie die Bewohner ihres Städtchens von einem Termin zum nächsten eilten und kilometerlange Entfernungen zurücklegten – womit gesichert war, dass Herr Lupicki nie arbeitslos werden würde. Dabei studierten das Schusterkind und seine Kumpels die verschiedenen Gangarten: die Monty-Python-Sketche hatten sie auf diese Idee gebracht.

Die Schul- und Fabrikdirektoren stolzierten mit ausgestreckter Brust und voller Stolz auf ihren verantwortungsvollen Beruf. Manchmal setzten sie Sonnenbrillen auf, um dem direkten Blick eines Passanten zu entfliehen, und gleichzeitig versuchten sie, so zu tun, als wäre ihnen jedes zufällige Gespräch, jede zufällige Begegnung auf der Straße wichtig, indem sie freundlich lächelten und Fragen beantworteten. Dieses freundliche Lächeln und Antworten deutete Bartek jedoch als Maskerade, er spürte, dass die Direktoren in Gedanken bei ihren alltäglichen Sorgen waren: Ihre eigenen Kinder brauchten dringend Hilfe in allen Lebenslagen; ihre Ehefrauen gingen fremd, und der Krebs wütete in der Verwandtschaft. Die Gangart der Schul- und Fabrikdirektoren war erhaben und selbstbewusst, sie besaß aber eine klare Schwäche: Wenn man so stolzierte durch die Straßen von Dolina Róż, immer in den Himmel schauend, hochnäsig und aristokratisch, konnte man leicht umknicken, sich den Fuß verstauchen oder gar gegen ein Auto laufen und unter die Räder kommen. Es war »die Gangart der Blinden«.

Die drei blonden Schwager trugen Stiefel mit hohen breiten und schweren Gummiabsätzen, knielange Pelzmäntel und russische Wintermützen aus Kaninchenfell. Da sie meistens angetrunken oder gar besoffen waren, gingen sie immer schwerfällig und müde, als schleppten sie auf dem Rücken einen Sack Kartoffeln. Onkel Fähnrich, der Funker aus der Gelben Kaserne wie auch Tante Hanias Mann, und Onkel Versicherung, der Russischpole, der bei der staatlichen Versicherungsanstalt gearbeitet und nach seiner disziplinären Kündigung die Stelle eines Lagerverwalters angenommen hatte, gingen noch lethargischer als Barteks Vater, der ein spindeldürrer Bursche war. Eigentlich hatten Bartek, Anton und Marcin den Eindruck, die drei blonden Schwager trügen die ganze Erde auf ihrem Rücken. Sie litten unter dieser enormen Last sehr; sie litten für Millionen, für die Bewohner ihres Planeten. Ihre Gangart war »die Gangart der Elefanten«.

Mariola, die ebenso wie ihr Halbbruder bei ihrem Vater zu Hause wohnte und in die viele Männer und Jungen von Dolina Róż verliebt waren (außer Bartek, der ja vergeben war), Mariola und die drei schwarzhaarigen Töchter von Oma Olcia schminkten sich übertrieben, als hätten sie jederzeit in der Dancing-Bar Piracka zu einem heißen Tanz mit einem neuen Fähnrich aus der Schwarzen oder Gelben Kaserne anzutreten. Und wenn Männer aus dem Westen nach Dolina Róż zu Besuch kamen, vor allem aus Deutschland, und den hiesigen Weibern begegneten, dachten sie, sie hätten es mit Prostituierten zu tun, was Bartek und seine Kumpels nicht kränkte, obwohl es sich um ihre eigenen Mütter und Tanten handelte. Die Jungen waren einen anderen Anblick nicht gewohnt, Frauen mussten so geschminkt und ausstaffiert sein − zu Hause, bei der Arbeit und selbst beim Putzen. Dennoch war auch das Schusterkind gegen Eifersucht nicht gefeit. Es brachte Bartek in Rage, wenn er − begleitete er wieder einmal seine Mutter und Tanten beim Einkaufen – gierigen Blicken junger Männer begegnete, die Stasia und ihre Schwestern von Kopf bis Fuß musterten und durchleuchteten, als wollten sie bei einer Pferdeauktion eine schöne gesunde Reitstute ersteigern. Die meisten Frauen des Städtchens gingen wie Giraffen, wackelten in engen Röcken mit ihren Hintern, warfen ständig selbstverliebte Blicke auf ihre rosa lackierten Zehennägel und die neuen Stöckelschuhe, und im Winter machten sie sich große Sorgen um ihre Schminke, dass der Schnee oder Regen sie zerstören und verschmieren könnte. Die Frauen verhüllten ihre Gesichter mit einem dicken Schal, und ihre schwarz getuschten Wimpern und Augenbrauen blinzelten, da sie schon wieder ein paar Schneeflocken gefangen hatten. Ihre Gangart war »die Gangart der Spielzeugpuppen«.

Schtschurek trippelte wie eine Ratte, und man merkte ihm an, dass er in Wirklichkeit einem Angsthasen in nichts nachstand. Und da der Iltis ein feiges Tier war wie die Ratte, musste Schtschureks Trippeln »die Gangart des Iltisses« heißen.

Am lächerlichsten erschien Bartek und Anton, wie ihre Mitschüler gingen − auf den vorderen Fußballen, ihre Fersen berührten beim Gehen kaum den Boden, und in ihrem Springen von Schritt zu Schritt wollten sie ihre Feinde einschüchtern und ihnen zeigen, was für tolle Hechte sie seien: Kampfhähne erster Güte. Es war »die Gangart der Springenden Hechte«.

Der Einzige, der seine Gangart dauernd änderte, war Norbert. Er dackelte und tapste durch die Gegend wie eine Ente, wenn er aufgeregt war und eine wichtige Nachricht in schriftlicher Form zu überbringen hatte. Sein Hintern vibrierte, er drehte sich wie ein Propeller. Oder Norbert schleppte sich, wenn er mies gelaunt war, schweren Schrittes durch die Straßen von Dolina Róż, als würde ihn sein Buckel erdrücken. Seine Nase wurde dann länger und länger, und man hatte das Gefühl, Norbert würde im nächsten Moment umfallen und nie wieder aufstehen. Es war also »die Gangart des Helikopters«, die der Sohn von Herrn Lupicki repräsentierte, weil ein Helikopter besondere Flugkunststücke vorführen und gleichzeitig leicht zum Abstürzen gebracht werden konnte.

»Schusterkind! Erzähl mir noch einmal, wie wir gehen! Ich höre es so gern aus deinem Munde!«, sagte Anton, als sie die Zigaretten mit ihren Schuhen ausdrückten und sich auf den Nachhauseweg machten. Anton trug eine eng anliegende schwarze Jeans und eine weiß-blaue Lederjacke mit metallenen Knöpfen; die Schulterklappen waren aus weißen und blauen Lederriemen geflochten. Er sah aus wie ein Rocker, aber eigentlich schlug sein Herz vor allem dann höher, wenn er sein Portemonnaie mit Geldscheinen füllen konnte. Mit anderen Worten: Er war der geborene Geschäftsmann und ein ziemlich abgefeimter Typ.

»Wir sind Fallschirmjäger und Ninjas«, antwortete Bartek. »Wir passen uns stets der Landschaft und dem Wetter an, und man kann uns nicht fangen. Zumindest sind wir beim Zigarettenrauchen oder Biertrinken noch nie von einem Lehrer erwischt worden, nicht einmal von unseren Alten. Wir sind schnell und zielstrebig. Sprinter eben. Unsere ›Gangart‹ ist die ›der Sprinter und Ninjas‹! Oder, was du nicht gerne hören magst, ›die der Schusterkinder‹!«

Anton freute sich jedes Mal über diese Beschreibung. Es war ihm wohl nicht klar, wie wenig ihn mit seinem Freund Bartek verband, der im Geldhorten keinen Eifer entwickelte. Ja, eigentlich sahen sie sich zwar jeden Tag, aber nur deshalb, weil sie am frühen Morgen zusammen zur Schule gingen und nach dem Schulunterricht gemeinsam den Rückweg antraten. Sie wohnten an zwei gegenüberliegenden Enden des Städtchens. Bartek war 1974 von Oma Olcia zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder Quecksilber in das neue Plattenbauquartier an der Luna gezogen, während Anton schon seit einer Ewigkeit in einer Villa in der Karol-Marks-Straße residierte: Die Reihenhäuser und Villen der Karol-Marks-Straße bewohnten Neureiche, Ärzte und Fabrikdirektoren − hier lebte die Elite von Dolina Róż, zu der auch Antons Eltern gehörten. Doch das Wenige, das Bartek und Anton verband, war unzerstörbar.

Die beiden Jungen schafften es also, jeden Tag im Kreis einen kilometerlangen Fußmarsch zu bewältigen. Anton holte seinen Freund morgens um halb acht vor dem Kino Zryw ab, dann marschierten sie durch die Altstadt, und später überquerten sie das Flusstal der Luna, um zum Bahnhof zu gelangen. Dort gingen sie durch die Eisenbahnunterführung weiter, den muffigen Tunnel, dann über die Schrebergartenanlage in Richtung des Stadtwaldes, in dessen Nachbarschaft sich die ehemaligen Kasernengebäude der Wehrmacht befanden.

Auf dem Rückweg passierten sie zunächst den alten Friedhof, der gegenüber der Molkerei und dem städtischen Baggersee lag und den man von der Rückseite durch eine aufgebrochene Öffnung im Betonzaun betreten konnte. Diesen inoffiziellen Eingang benutzten alle Bewohner von Dolina Róż, auch diejenigen, die streng katholisch waren und sich bei jedem unflätigen Wort bekreuzigten.

Auf dem Friedhof verwickelten sich die beiden Jungen kein einziges Mal in hitzige Debatten über das Leben nach dem Tod, worüber Bartek später, als er älter war, gewaltig staunen musste. Sie ignorierten die Verstorbenen, auch wenn sie manchmal vor einem Grab stehen blieben, um herauszufinden, ob sie den Toten persönlich gekannt hatten. »Warum liegen sie hier, all diese Menschen?«, fragte Bartek immer, aber sein Freund zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Ich weiß es nicht! Ich habe lediglich eine Bitte an dich: Auf meiner Beerdigung möchte ich dich nicht dabei haben! Der alte Biurkowski, dieses Stinktier, soll mir meine Musik spielen, am besten meine Lieblingsbands, Lombard und Bajm, oder die LP ›The Dark Side of the Moon‹, damit ich glücklich einschlafen kann!«

Vom Friedhof aus führte der Nachhauseweg am städtischen Baggersee vorbei, an dessen Ufern Lagerhallen für Segelboote standen. Dort palaverten sie lange mit Antons Opa, der sich in den Kopf gesetzt hatte, eine perfekte Yacht zu bauen, die auf den masurischen Seen jedem Gewitter und Sturm trotzen sollte. Der alte Mann baute an dieser Yacht schon seit zehn Jahren, und sie ähnelte mehr einem U-Boot als einem wunderbaren Segelgeschoss mit einer Kabine und zwei Masten.

Bei Antons Opa tranken sie ein Bier und rauchten wieder eine Zigarette, bevor sie in die Karol-Marks-Straße gingen. In dieser Straße legten sie meistens eine kurze Pause ein und klingelten bei Antons Nachbar Romek. Anton begleitete Bartek normalerweise bis zum Kino Zryw. Dieses Ritual wiederholte sich jeden Tag, und dort vor dem Kino diskutierten sie gerne noch ein halbes Stündchen über die sieben Gangarten von Dolina Róż oder über die verheerende Wirkung der sowjetischen Atomwaffen, die angeblich die stärksten der Welt waren. Oft jedoch schaute Anton zusammen mit Bartek in der Schusterwerkstatt für ein kurzes herzliches »Hallo!« und »Wie geht’s, Herr Lupicki?« vorbei. Erst nach dieser Stippvisite bekam Barteks Begleiter Sehnsucht nach seinem Zuhause und Nachbar Romek, der wiederum am liebsten die Rolle eines Eremiten und beleidigten Eigenbrötlers spielte. Romek war ebenfalls fünfzehn Jahre alt, wie Bartek und Anton, doch da er das Gymnasium besuchte und seine Eltern es sich leisten konnten, ihm Schallplatten und Jeanshosen aus dem Westen zu kaufen, hielt er sich für einen Mann von Welt. Er las Julio Cortázar und hörte Frank Zappa und Joy Division. Bartek gefiel an Romek nur eines: dass der den Besser- und Alleswisser Marcin für einen Scharlatan hielt. Bartek glaubte dennoch nicht daran, dass Marcin eine echte Revolution plante.

An diesem letzten Schulappellmontag im November standen Bartek und sein Freund lange Zeit vor der Haustür Romeks, der ihnen nicht öffnen wollte, obwohl er um die Mittagszeit immer zu Hause war. Sie dachten, dass ihr menschenscheuer Kumpel wahrscheinlich wieder einmal in seinen Elfenbeinturm geflohen war, um sich vor der Welt zu verstecken: Auf dem Dachboden, wo er Bücher las und Musik hörte, erstreckte sich nämlich sein kleines Reich, das eines Eremiten und beleidigten Eigenbrötlers.

Bartek und Anton versuchten nicht einmal, Romek anzurufen, um ihn aus seinem Versteck herauszulocken, indem sie versprachen, ihm eine Verabredung mit Mariola zu organisieren – für eine ganze Nacht! In der Tat, die Krankenschwester war die schönste Frau ihres im Winterschlaf versunkenen Städtchens. Bartek ertappte sich ab und zu bei der Vorstellung, wie er Mariola in der sogenannten Totenkammer, in der alte und von Herrn Lupickis Kunden vergessene und nicht abgeholte Schuhe lagerten, ausziehen und zum Sofa zerren würde, um sie zwischen den Beinen zu küssen. Es war dies für ihn eine merkwürdige Vorstellung, da er doch schließlich Meryl Streep liebte und ihr treu sein wollte. Und Mariola, die von einem ganz gewöhnlichen Mann mit einer langen Tatarennase und von einer ganz gewöhnlichen Frau mit viel zu kurzen Beinen und viel zu großen Brüsten gezeugt wurde, hatte sich aus unerklärlichen Gründen in diese abgelegene, von den großen Nationen schon oft verspottete und verlachte Gegend verirrt − so schien es den meisten Männern und Jungen, die in Herrn Lupickis Tochter und ihren verführerischen Körper verliebt waren und behaupteten, diese Schönheit hätte einen besseren Ort zum Leben und bessere Eltern verdient. Mariolas Seele musste völlig betrunken gewesen sein, als sie in diesen begehrenswert weißhäutigen und nach Kartoffelrosen duftenden Körper hineinschlüpfte, um irdische Freuden zu genießen, dachten die Jungen. Doch vielleicht waren auch die Ärzte des Johanniter-Krankenhauses daran schuld, dass Mariolas Seele nach Dolina Róż und nicht in eine berühmte Metropole geschickt wurde, in der es von Diven und Primadonnen nur so wimmelte. Denn im Johanniter-Krankenhaus, erzählte Herr Lupicki, wenn er zu viel Schnaps getrunken hatte, seien alle Ärzte vom Teufel der Verantwortungslosigkeit und des Leichtsinns besessen. Bei Mariola − und Herr Lupicki schäumte vor Wut, kam er wieder einmal auf ihre Geburt zu sprechen −, hätte Doktor Sokołowski einen schlimmen und folgenträchtigen Fehler begangen. »Verdammt! Er hat sie viel zu früh aus dem Bauch ihrer Mutter rausgeholt! Viel zu früh! Das Mädchen ist nur deshalb so hitzköpfig und heißblütig, weil es in Eile geboren wurde. Und diese verdorbene, in seinem Schoß brennende Hitze bringt die Männer um ihren Verstand!«, sagte er dann. Bei der Geburt seines Sohnes Norbert hätte Doktor Sokołowski hingegen sofort den Kaiserschnitt anordnen müssen, ärgerte sich der alte Schuster, dann wäre der arme Junge gesund auf die Welt gekommen, ohne Gehirnschäden, die er sich aufgrund der mangelnden Sauerstoffzufuhr zugezogen hatte – und auch die Mutter hätte nicht sterben müssen, wenn der Doktor sofort zum Skalpell gegriffen hätte.

Norbert hatte viel Zeit im Geburtskanal seiner Mutter verbracht − eine kostbare Zeit, die er nie aufholen sollte; sein überdimensionaler Wasserkopf hatte sich gegen die irdische Welt erfolgreich gewehrt. Das Baby sei am ganzen Körper vollkommen violett angelaufen gewesen, als man es schließlich doch noch aus dem Würgegriff des Geburtskanals der Mutter habe befreien können, und zwar mit einer riesigen Zange, erzählte eine Krankenschwester später dem besorgten Vater.

Ja, Norberts Mutter, eine waschechte Masurin, hatte man nicht mehr retten können, sie verblutete und starb, und Herr Lupicki heiratete nach einem kurzlebigen Witwerdasein erneut und zeugte mit der neuen Frau Lupicka − einer polnischen Köchin − die hitzköpfige und heißblütige Mariola. Es grenzte an ein Wunder, dass es diesem nicht besonders ansehnlichen Liebespaar gelungen war, eine echte Dorfschönheit zu zeugen. Die neue Frau Lupicka ekelte sich jedoch vor dem Dreck der Schusterwerkstatt, den ihr Mann täglich mit nach Hause einschleppte und der auch von seinen Fingernägeln und Händen nicht mehr wegzubekommen war, so sehr, dass sie mehr und mehr in tiefe Depressionen verfiel, auch wegen des Wasserkopfs von Norbert und wegen des sechsten Fingers ihres buckligen Stiefsohnes. Schließlich brannte sie mit einem Devisenschieber aus Olsztyn durch.

Als Anton und Bartek das Villenviertel in der Karol-Marks-Straße verließen, hörten sie in der Ferne die Martinshörner der Feuerwehr, die sie nicht beunruhigten, da es in Dolina Róż öfter Feuerwehrübungen gab wie auch Kanonenschüsse der Artillerie auf dem Truppenübungsplatz der Schwarzen und Gelben Kaserne.

Beim Anblick der Rauchwolken, die in der Nähe des Landgerichts hoch in den Himmel gestiegen waren, wurde ihnen klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste und dass es sich bestimmt nicht um eine Übung handelte. Sie rannten los und blieben erst an der Kreuzung stehen, an der schon das Johanniter-Krankenhaus zu sehen war. Sie mussten einen mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Milizwagen vor ihren Nasen vorbeisausen lassen, bevor sie weiter laufen konnten.

Leuchtete in der zweiten Etage des Johanniter-Krankenhauses ein violettes Licht, bedeutete dies, dass gerade ein Patient operiert wurde. Vor diesem violetten Licht fürchteten sich die Bewohner von Dolina Róż sehr: Es war die Farbe des Todes und der katholischen Pfarrer, deren Stolen für die Heilige Messe violett gefärbt waren. Und das violette Licht war wieder eingeschaltet – hatte man die ersten Opfer auf den Operationstisch gelegt?, fragten sich Bartek und Anton. Auch sie beide waren von ihren Müttern im Johanniter-Krankenhaus geboren worden, an einem Ort, der schon seit fast hundertfünfzig Jahren als Brutstätte des Guten und Bösen diente. Tausende, Abertausende von Menschen waren im weißen Bauch dieses ostpreußischen Krankenhauses zur Welt gekommen und gestorben: Deutsche, Polen, Ukrainer und Juden.

Nun aber, nachdem der Milizwagen, dem zwei Krankenwagen hinterher geeilt waren, die Karol-Marks-Straße in Richtung des Landgerichts weitergefahren war, erblickten Bartek und Anton auf dem Gelände des Johanniter-Krankenhauses zwei Kühe, deren Rücken brannten und die, vor Schmerzen brüllend, zusammenbrachen und schwer zu Boden fielen. Männer und Frauen in weißen Kitteln kamen mit Wolldecken und Eimern voller Wasser herbeigerannt, um das Feuer auf den Rücken der Kühe zu löschen. Das schafften sie auch, aber die Tiere gaben keinen Ton mehr von sich. In der Luft schwebte der Geruch verbrannten Fleisches.

Bartek und Anton rannten weiter. Mit offenem Mund liefen sie hinter den Krankenwagen her, die Karol-Marks-Straße hoch, und drehten sich nicht einmal um. Erst als sie die nächste Kreuzung erreichten, wo das Landgerichtsgebäude stand, sahen sie eine Absperrung der Miliz. Auf der abgesperrten Straße lagen ein paar Kühe, die ebenfalls gebrannt hatten – die Feuerwehr hatte jedoch das Feuer gelöscht.

Sie hielten an, wo sich einige Schaulustige versammelt hatten. Die Jungen waren ganz aus der Puste und bemerkten nicht einmal, dass Schtschurek sich kaputt lachte und lauthals etwas in die Menge schrie. Marcin, der auch gerade angekommen war, brüllte Schtschurek an: »Halt deine dumme Fresse! Ich brech’ dir sonst sämtliche Knochen!« Bartek kämpfte sich durch die schaulustige Menschenmasse zu Marcin durch und fragte ihn: »Was ist denn hier passiert?!«

»Schau doch! Da! Oder bist du blind?«, antwortete Marcin, der auf zwei umgekippte LKWS zeigte, die die Feuerwehr mit Löschschaum bedeckt hatte. Ein Tiertransporter und ein Tanklastwagen der Schwarzen Kaserne waren zusammengestoßen.

»Wir haben aber keine Explosion gehört!«, sagte Anton, der keuchend nachgerückt kam.

»Dann müsst ihr taub sein! Es hat geknallt, als hätte ein Flugzeug eine Bombe abgeworfen!«, erklärte Marcin. »Und diesmal waren es keine Haubitzen der Gelben oder Schwarzen Kaserne! Unsere Soldaten werden doch nicht auf die eigenen Leute schießen, obwohl selbst solche Irrtümer schon vorgekommen sind!«

In den angrenzenden Gebäuden waren viele Fensterscheiben zu Bruch gegangen, wahrscheinlich von der Druckwelle der Explosion. Die LKW-Fahrer wurden auf Bahren weggetragen und in Eile mit den Krankenwagen weggefahren. Die Miliz hatte alle Hände voll zu tun, schließlich war der Unfall mehr oder weniger vor ihrer eigenen Nase passiert − das Revier befand sich nur wenige hundert Meter entfernt vom Unfallort. Schtschurek mussten die Milizionäre zur Abschreckung Handschellen anlegen, da er mit seinem hysterischen Geschrei für einen höllischen Lärm sorgte. »Leute! Höret die Geschichte: Brennende Kühe, brennende Kühe sind in Dolina Róż vom Himmel gefallen!«, schrie er. Man sah den Milizionären an, dass sie ihn am liebsten einbuchten würden. Schtschurek wartete jeden Tag auf den Weltuntergang und begriff nicht, dass dieser längst stattgefunden hatte, dass das Weltende im Grunde genommen jeden Tag von neuem anfing, wie es der junge Pfarrer Jędrusik in der Kirche lehrte, der kürzlich strafversetzt worden war, auch wegen seiner fanatischen Liebe zum Hard- und Bombastrock (in seiner Schallplattensammlung, die Bartek schon einige Male bestaunt hatte, war für jeden Fan der progressiven Rock-Szene etwas dabei, von King Crimson bis Yes).

Irgendwann, Bartek hatte auf seine Armbanduhr schon seit langem keinen prüfenden Blick mehr geworfen, ertönten freudig Ministrantenglocken, und Bartek wusste, dass nun der Sohn von Herrn Lupicki herbeigeeilt kam, um sich die Brand- und Verkehrskatastrophe anzusehen. Die teilweise bis aufs Fleisch, am Rücken und an den Beinen bis auf die Knochen verbrannten Kühe lagen reglos im Schneematsch der Warschauer Straße, die einmal, so Opa Monte Cassino, den Namen Adolf Hitlers getragen hatte. Die toten Tiere, deren Mäuler schmerzvoll verzerrt waren, lagen in blutigen Pfützen, und die Feuerwehrleute deckten die Kadaver mit Planen zu. Und da bemerkte Marcin: »Schusterkind! Schau! Ein paar Viecher haben den Zusammenprall und die Explosion überlebt!« In dem Moment, als Bartek sich umdrehte, baute sich Norbert vor ihm auf und rief aus vollem Hals: »Franzos! Franzos!«

Bartek riss dem Sohn von Herrn Lupicki die Ministrantenglocken aus der Hand, weil ihn das aggressive Läuten taub machte, und fragte: »Was für ein Franzose? Was redest du da? Und wie hast du mich überhaupt gefunden?« − »Feuer großes, Feuer großes!« Norbert überreichte ihm einen zusammengeknüllten Zettel, Bartek entfaltete das Papier und erkannte sofort die krakelige Handschrift von Herrn Lupicki: »Mein Sohn! Komm sofort in meine Werkstatt! Du hast Besuch! Dein Opa Franzose ist wieder da!«

Bartek gab dem Buckligen seine Ministrantenglocken zurück und stieß einen Freudenschrei aus: »Juhu!« Niemand wusste, warum er sich so freute, niemand beachtete ihn. Er hatte seinen Opa seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Als der Franzose das letzte Mal in Dolina Róż weilte, war Bartek noch ein Kind, aber jetzt, mit fünfzehn, würde ihn sein Opa nicht wiedererkennen, und bei dem Gedanken spürte Bartek entlang der Wirbelsäule eine Kälte aufsteigen, eine Erregtheit, die sogleich auch sein Herz erfasste. Er konnte sich nun seinen Opa als jungen Mann vorstellen, der sogar ein paar arme Kühe hatte sterben sehen wie im Krieg. Ja, und er hatte eine große Liebe gefunden, von der er ihm so schnell wie möglich einen vollständigen Bericht erstatten wollte. Und er erinnerte sich daran, was ihm der Opa Franzose zum Abschied vor fünf Jahren lachend gesagt hatte: »Mein Junge! An dem Tag, an dem du meine Rückkehr nicht mehr erwarten wirst, komme ich zu dir zurück! Einige traurige und lange Lenze werden ins Land ziehen! Haha! Und du wirst dann groß sein!«

Kapitel 3: Die Hure, das Café Wenecja und die quälenden Gedanken von Quasimodo

Bartek verabschiedete sich von seinen Freunden und ging zusammen mit Norbert los: Der Opa Franzose wartete auf sie in der Werkstatt von Herrn Lupicki, doch bestimmt nicht lange, da er ein ungeduldiger Mensch war, ständig neue Ideen bekam und neue Pläne schmiedete, und daher mussten sie sich beeilen. Es fing wieder an zu schneien, als sie auf dem Weg zu Herrn Lupicki das Kino Zryw erreichten, das Bartek mindestens einmal in der Woche besuchte (meist allein, da er es nicht mochte, wenn Marcin oder Anton den Film während der Aufführung kommentierten).

In unmittelbarer Nähe des Kinos Zryw befand sich das kleine Café Wenecja, von dem aus man einen Panoramablick auf das Städtchen genießen konnte. Deshalb saß Bartek gerne hier. Viele müßige Stunden hatte er schon im Wenecja verbracht. Er beobachtete die Straße, studierte die sieben Gangarten von Dolina Róż, rauchte eine oder zwei Zigaretten (möglichst unauffällig, was eine große Kunst war, da ihn so gut wie jeder als den Sohn der Lehrerin Stasia und als das Schusterkind kannte) und trank eine Flasche Pepsi-Cola nach der anderen, da ihm die Kellnerin Jagoda keinen Alkohol verkaufen wollte (den bekam er dafür ohne Probleme in der Bierbar des Piracka, wo er lediglich darauf aufpassen musste, dass er dort keinem der blonden Onkel und schon gar nicht seinem Vater in die Arme lief, was eine große Kunst war).

Das Café Wenecja wurde vor allem von Mädchen der Nähschule und des Gymnasiums, ferner von Großmüttern und Tanten und manchmal auch von besoffenen Männern jeden Alters besucht, das Eis hier war das beste von ganz Dolina Róż, und die Frauen hier waren die besten, die schönsten weit und breit.

Einmal hatte Bartek die Tochter von Herrn Lupicki ins Wenecja eingeladen, die dachte, der Junge wolle ihr eine schlimme Klatschgeschichte, die ihre nicht aufhören wollenden Liebschaften beträfen, auftischen. Ja, die Leute redeten sich über ihre Liebschaften den Mund wund, die alten Weiber zeigten auf der Straße mit dem Finger auf Mariola und ihren Busen und Hintern und erzählten sich: »Da, schaut! Da geht sie wieder zu einem Rendezvous mit einem verheirateten Mann, diese Hure! Diese Hure!«

Doch Bartek wollte Mariola aus einem ganz anderen Grund im Wenecja treffen. Er hatte es gründlich satt, Nacht für Nacht im Bett zu liegen und darauf zu warten, bis sein Bruder Quecksilber eingeschlafen war, damit er endlich mit dem dunkelsten Teil der Nacht beginnen konnte: mit den Träumen von der schönen Meryl Streep und ihrem Körper. Er masturbierte dann unter der Bettdecke und dachte abwechselnd an Mariola und seine Meryl. Er hatte mit der Masturbation sehr früh angefangen, beziehungsweise das dunkle süße Tal der Selbstbefriedigung sehr früh betreten − im Alter von elf Jahren nämlich. Am Anfang hatte er immer wieder an seine Mutter und Tanten gedacht, während er es getan hatte, und nun war er froh, dass er, seitdem er »Die Geliebte des französischen Leutnants« im Kino Zryw gesehen hatte, in seinen Träumen Meryl Streep und später eben auch Mariola für einen Liebesakt engagieren konnte − als exzellente Verführerinnen waren sie ihm diese Gefälligkeit schuldig, fand er. Und es kam ihm jetzt ekelerregend vor, dass er früher einmal beim Träumen vom dunklen süßen Tal immer nur an die Mutter und ihre Schwestern gedacht hatte, an ihre Unterwäsche und Kosmetika. Sie waren ja tatsächlich schamlose Biester und Spielzeugpuppen ihrer blonden Ehemänner und Liebhaber: Die Töchter von Oma Olcia paradierten zu Hause meistens nackt oder im Bikini, wenn sie Wäsche in der Waschmaschine Frania wuschen oder Hemden, Tischdecken und Bettlaken bügelten. Dieses nackte Hin-und-her-Stolzieren in der Wohnung hatte Barteks sexuelle Begierde erweckt und seinem kleinen aufstrebenden und nach Anerkennung trachtenden Penis Leben eingehaucht; es war ein Aufruf zum Handeln, der immer noch Morgen für Morgen und Nacht für Nacht erklang.

Aber das Masturbieren empfand er irgendwann als anstrengend und zum Schluss als unbefriedigend, zumal seine Meryl die Leinwand im Kino Zryw ungern verließ − üblicherweise nur für ein kurzes Gespräch −, und er fühlte sich außerdem von Maria und Jesus, die in der St.-Johann-Kirche wohnten, behelligt. Er begann von einem echten Frauenkörper aus Fleisch und Blut zu träumen, und er hatte sich gedacht, dass ihm Mariola einen großen Dienst erweisen könnte. Denn schließlich wusste ja jeder, dass sie gerne mit Männern ins Bett ging, mit jungen und alten, verheirateten und ledigen, mit Bonvivants und Verrückten. Sie war bloß wählerischer als die Hure Marzena, die für Geld selbst Norbert befriedigte, wovon Herr Lupicki nichts wusste. Die blonden Schwager amüsierten sich köstlich, indem sie seinem Sohn gelegentlich einen Besuch bei der Hure Marzena bezahlten.

Und als Bartek im Wenecja die Krankenschwester fragte, ob sie ihn nicht in die Geheimnisse der Liebeskunst einweihen möge, bekam sie einen Wutanfall und schrie ihn an: »Geh doch zu deiner Mama! Sie wird dir alles, was du wissen willst, erklären!«

Anschließend hatte sie noch Barteks Mutter derb und aggressiv beschimpft, sie sei eine wirkliche Hure, sie habe viele Liebhaber, von denen ihr Mann und die zwei blonden Schwager nichts ahnten. Ja, die schwarzhaarigen Tanten, Stasias Schwestern, wüssten schon Bescheid, sie würden selbst fremdgehen. Und dann sagte die Krankenschwester, dass sie eines Tages reich heiraten und ihrem Mann bis ans Lebensende treu sein werde, doch davon, was echte Liebe sei, könne er, der dumme minderjährige Schüler, ein Onanist und Sohn einer Hure und eines Hurenbocks, noch nichts verstehen: er, das dumme Schusterkind. Sie verließ das Café und sprach ein halbes Jahr lang nicht mit Bartek, da sie sich von seiner Anfrage im Wenecja gekränkt fühlte.

Der Schnee wollte hier in Dolina Róż nur selten schmelzen − die Sonne war viel zu schwach gegen die Gerissenheit und die bittere Kälte des hiesigen Winters. Und Bartek und Norbert überquerten die wichtigste und größte Kreuzung ihres Städtchens, wo eben Marcins Wolkenkratzeraspirant mit dem Piracka in seinem trunkenen Bauch stand. Das Kino Zryw und das Wenecja ließen sie hinter sich − auf der rechten Seite breitete sich der riesige Defilierplatz aus, hinter ihm lag wiederum der Stadtpark, wo man spazieren und Volleyball und Tennis spielen konnte. Auf den Bänken dort saßen im Sommer betrunkene Männer, die die vorbeigehenden Frauen und Kinder mit vulgären Bemerkungen terrorisierten. In Barteks Augen waren sie keinen Pfifferling wert, wie sein Vater, der jeden dritten Tag schon am frühen Mittag stockbesoffen im Eingangsfoyer ihres orangefarbenen Wohnblocks lag und über dessen Körper die Nachbarn kopfschüttelnd stiegen, um zur Treppe zu gelangen. Keiner der Nachbarn half dem armen Mann auf die Beine, niemand machte sich die Mühe, seinen besinnungslosen Leib in eine Ecke zu bugsieren, damit der Durchgang frei würde. Bartek schämte sich für seinen Vater in Grund und Boden, wenn er von der Schule nach Hause kam und Krzysiek wieder sturzbetrunken im Eingangsfoyer lag. Zum Glück wohnten sie im zweiten Geschoss, denn Barteks Muskelkraft reichte nur für zwei Stockwerke, wenn er den Vater am Arm packte und die Treppe hochzerrte. Auf jeder Etage blieb Krzysiek stehen und sprach mit Geistern und Dämonen, beschimpfte seine Frau Stasia und Mutter Hilde und sagte zu seinem Sohn Dinge, die man eigentlich zu niemandem sagt, da sie die Seele eines Menschen vergiften und aufspießen, um sie überm Feuer zu braten. »Du Hurenkind! Was willst du von mir? Ich bringe dich um!« Und so ging es in einer Tour, bis sie endlich polternd in die Wohnung hereinstürzten – dann schmiss sich Barteks Vater auf ein Sofa, vollständig bekleidet, schlief sofort ein und schnarchte.

»Norbert!«, sagte Bartek. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn wir uns ein bisschen mit meiner Meryl unterhalten – ich muss ihr doch sagen, dass mein Opa Franzose wieder da ist!«

Der Sohn von Herrn Lupicki lachte kurz und nahm seine Wollmütze ab, um nicht ein einziges Wort von Barteks Erzählung zu verpassen. Er trug in seinem Mund mindestens fünf oder sechs künstliche Zähne, die er seinem Vater zu verdanken hatte. Herr Lupicki wandte gegen Zahnschmerzen eine einfache Methode an. Er holte seine spitze Zange raus, entfernte damit den kranken Zahn, und Norbert musste anschließend zum Zahnarzt gehen, der sich ärgerte: »Dieser Mann – dein Vater − hat dein ganzes Gebiss ruiniert! Schuster, bleib bei deinen Leisten!«, beschwerte sich jedes Mal Doktor Pyszniak.

Auf dem Kreuzrittertor zeigte die Uhr schon seit Tagen ein und dieselbe Uhrzeit an: Sie war kaputt, der Stundenzeiger stand auf Fünf. Das mittelalterliche Tor hatte bei einem Brand zwei Geschwister verloren. Drei Tore insgesamt habe es früher einmal in Dolina Róż