Der Luftkrieg - H. G. Wells - E-Book

Der Luftkrieg E-Book

H G Wells

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Beschreibung

mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Bert Smallways wird aus seinem Leben gerissen und gerät plötzlich in das Scheinwerferlicht der Weltgeschichte. Mit dem Luftballon eines englischen Flugzeugpioniers und wertvollen, geheimen Plänen für die Entwicklung eines modernen Kampfflugzeuges an Bord gerät er plötzlich unter die deutschen Luftkräfte, die einen Angriff auf New York planen.

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H. G. Wells

Der Luftkrieg 

Inhaltsverzeichnis
I. Vom Betrieb und von der Familie Smallways
I
II
III
IV
V
VI
2. Wie Bert Smallways in Schwierigkeiten geriet
I
II
III
IV
V
3. Der Ballon
I
II
III
IV
V
4. Die deutsche Luftflotte
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
5. Die Schlacht im Nordatlantik
I
II
III
IV
V
VI
VII
6. Wie der Krieg über New York kam
I
II
III
IV
V
VI
7. Die »Vaterland« kampfunfähig
I
II
III
IV
V
VI
VII
8. Weltkrieg
I
II
III
IV
V
9. Auf der Ziegeninsel
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
10. Amerika
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
Epilog
Impressum

I. Vom Betrieb und von der Familie Smallways

I

Der Betrieb da droben«, sagte Mr. Tom Smallways, »geht immerzu weiter. Sollt's nicht glauben, daß er überhaupt noch weitergehen könnte!« sagte Mr. Tom Smallways.

Es war lang vor Beginn des Luftkriegs, daß Mr. Smallways diese Bemerkung machte. Er saß auf dem Zaun am Ende seines Gartens und betrachtete die großen Gaswerke von Bun Hill mit Augen, in denen sich weder Beifall noch Tadel spiegelte. Über den zusammengedrängten Gasometern erschienen drei fremdartige Gebilde, dünne, schwerfällig schaukelnde Blasen, die schlapp hin und her schwankten und größer und größer wurden – Ballons, die eben für den Samstagnachmittagsaufstieg des südenglischen Aeroklubs gefüllt wurden.

»Jeden Samstag steigen sie«, sagte sein Nachbar, Mr. Stringer, der Milchmann, »'s ist kaum ein paar Tage her, da war ganz London auf den Beinen, um 'nen Ballon steigen zu sehen. Und heut hat jedes elende Nest im Land seine Wochenausflüge – will sagen: -aufflüge! Reinewegs 'ne Rettung für die Gasgesellschaften!«

»Letzten Samstag hab' ich drei Fuhren Kies von meinen Kartoffeln weggekarrt«, sagte Mr. Tom Smallways. »Drei Fuhren, die die da droben runtergeschmissen haben – als Ballast! Die Hälfte von den Pflanzen war kaputt und die andere Hälfte verschüttet.«

»Damen steigen auch mit auf, sagen sie.«

»Heißen's ja wohl Damen!« meinte Mr. Tom Smallways. »Na, mein Begriff von Damen ist das nicht – in der Luft rumfliegen und den Leuten Kies auf die Köpfe schmeißen! Ich jedenfalls bin nicht gewöhnt, so was Damen zu nennen – so oder so!«

Mr. Stringer nickte beifällig mit dem Kopf, und eine Weile noch schauten sie nach den schwellenden Klumpen mit einem Ausdruck, der sich aus Gleichgültigkeit in Mißbilligung verwandelt hatte.

Mr. Tom Smallways war Grünkramhändler von Beruf und aus Liebhaberei Gärtner. Jessika, seine kleine Frau, besorgte den Laden; und der Himmel hatte ihn für eine friedvolle Welt, leider aber keine friedvolle Welt für ihn erschaffen. Er lebte in einer Welt voll eigensinnigen und unaufhörlichen Wechsels und noch dazu in einem Teil derselben, wo die Wirkungen dieses Wechsels schonungslos aufdringlich waren. Sein eigener Grund und Boden, den er bebaute, war voller Unbestand; sogar seinen Garten hatte er nur in Jahrespacht – ein Riesenplakat, das ihn nicht etwa als Garten, sondern als günstigen Bauplatz anpries, überschattete ihn. Er war Gartenbauer auf Kündigung – das letzte Stückchen Erdreich in einem von lauter neuen, städtischen Gegenständen überfluteten Distrikt. Er tröstete sich so gut er konnte mit dem Gedanken, daß die Dinge nun bald am Wendepunkt angelangt sein müßten.

»Sollt's nicht denken, daß es überhaupt noch weitergehen könnte!« sagte er.

Mr. Smallways' greiser Vater konnte sich Bun Hills noch als eines idyllischen kentischen Dorfs entsinnen. Er war bis zu seinem fünfzigsten Jahr Kutscher bei Sir Peter Bone gewesen; dann hatte er so sachte angefangen, ein bißchen zu saufen und war Omnibuskutscher geworden, was bis zu seinem achtundsiebzigsten vorhielt. Darauf zog er sich vom Geschäft zurück. Er hockte in seiner Ecke am Kamin, ein verschrumpelter, uralter Rosselenker, von oben bis unten vollgepfropft mit Erinnerungen und stets auf der Lauer nach etwaigen unvorsichtigen Zuhörern. – Er wußte noch von dem verschwundenen, längst zu Bauplätzen aufgeteilten Herrengut Sir Peter Bones zu erzählen und wie dieser Magnat die ganze Gegend regiert hatte, solang sie noch Gegend war; er wußte von Treib- und Parforcejagden zu berichten, von Viererzügen auf den Landstraßen und wie »da, wo jetzt die Gaswerke sind«, ein Kricketplatz war und wie der Kristallpalast entstand. Der Kristallpalast war sechs Meilen von Bun Hill entfernt, eine große Fassade, die im Morgenschein glitzerte, sich nachmittags als klarer, blauer Umriß vom Himmel abhob und nachts ein unerschöpfliches Gratisfeuerwerk für die ganze Bevölkerung von Bun Hill bildete. Dann war die Eisenbahn gekommen und danach Villen über Villen; dann die Gas- und Wasserwerke und ein großes, häßliches Meer von Arbeiterhäusern; dann die Drainierungsanlage; das Wasser verschwand aus dem Otterbourne und machte aus dem Fluß einen entsetzlichen Graben. Dann ein zweiter Bahnhof, Bun Hill Süd, und mehr und mehr Häuser, mehr Läden, mehr Konkurrenzläden mit Spiegelglas-Schaufenstern, ein Schulhaus, Steuern, Omnibusse, Straßenbahnen, die direkt bis London gingen, Fahrräder, Automobile, immer mehr Automobile und eine Volksbibliothek. –

»Man sollt's nicht denken, daß es noch weiter gehen könnte!« sagte Mr. Tom Smallways, der inmitten dieser Wunder heranwuchs.

Aber es ging weiter. Von Anfang an hatte der Grünkramhandel, den er in einem der kleinsten von den alten, übriggebliebenen Dorfhäusern am Ende der Hauptstraße aufgetan hatte, ein unterdrücktes Aussehen, ein Aussehen, als verstecke er sich vor etwas, das hinter ihm her war … Als man das Pflaster der Hauptstraße legte, wurde diese so nivelliert, daß man in den Laden drei Stufen herunter mußte. Tom versuchte nach besten Kräften, nur von seiner eigenen, trefflichen, aber beschränkten Zucht von Gemüsen und Obst zu verkaufen; aber der Fortschritt zwang ihm die Dinge geradezu ins Schaufenster, französische Artischocken, Aubergines, ausländische Äpfel – Äpfel aus New York, aus Kalifornien, aus Kanada, aus Neuseeland, »schon recht von außen, aber nicht, was ich einen englischen Apfel nenne!« sagte Tom –, Bananen, fremdartige Nüsse, Weintrauben, Mangos.

Die Automobile, die nach Norden und Süden vorübereilten, wurden immer gewaltiger und dominierender, sausten immer rascher und stanken immer ärger; große, rasselnde Motorlastwagen erschienen an Stelle der verschwindenden Pferdefuhrwerke und lieferten ihre Kohlen und Pakete ab; Motoromnibusse verdrängten die Pferdeomnibusse, sogar die kentischen Erdbeeren, die nachts nach London gebracht wurden, verfielen dem Maschinenwesen, rasselten, statt, wie bisher, zu knarren und büßten durch Fortschritt und Benzin an Aroma ein.

Und dann schaffte der junge Bert Smallways sich ein Motorrad an …

II

Bert, muß man wissen, war ein fortschrittlicher Smallways. Nichts spricht beredter von dem rücksichtslosen Umsichgreifen von Fortschritt und Ausdehnung in unserer Zeit, als daß sie sogar ins Blut der Smallways drangen. Noch ehe er die Kinderschuhe auszog, zeigte sich in dem jungen Smallways etwas Vorgeschrittenes, Unternehmendes. Noch ehe er fünf war, war er einen ganzen Tag lang verloren gewesen, und noch vor seinem siebenten Jahr wäre er fast im Reservoir der neuen Wasserwerke ertrunken. Mit zehn nahm ein ganz wirklicher Schutzmann ihm eine ganz wirkliche Pistole ab. Und er lernte rauchen – nicht mit Pfeife und Löschpapier und Schilfrohr, wie seinerzeit Tom, sondern mit einem Penny-Paket amerikanischer Boys of England-Zigaretten. Noch ehe er zwölf war, standen seinem Vater die Haare zu Berge über seine Ausdrucksweise, und er verdiente in diesem Alter durch Packträgerdienste an den Bahnhöfen und Austragen des Bun Hiller Wochenblattes wöchentlich drei Schilling und mehr, die er in allerhand Kleinkram, humoristischen Bilderbogen, Karikaturblättern, Zigaretten und ähnlichen Begleiterscheinungen einer vergnügungssüchtigen und aufgeklärten Lebensführung anlegte. All dies ohne irgendwelche Beeinträchtigung seiner literarischen Studien, die ihn in außergewöhnlich jugendlichem Alter bis zur siebenten und obersten Klasse der Schule emportrugen. Ich erwähne diese Dinge nur, damit auch nicht der geringste Zweifel darüber aufkommen kann, aus welcher Art Stoff Bert gemacht war.

Er war sechs Jahre jünger als Tom; und eine Zeitlang – als Tom mit einundzwanzig Jahren Jessika heiratete, die dreißig war und sich während ihrer Dienstzeit ein bißchen was erspart hatte – machte man den Versuch, ihn im Grünkramhandel nutzbringend zu verwenden. Aber Berts starke Seite war es nicht, sich nutzbringend verwenden zu lassen. Er haßte das Graben, und wenn man ihm einen Korb Waren zum Austragen übergab, erwachte in ihm unwiderstehlich der Wandertrieb; der Korb wurde sein Ränzel, und es schien ihn wenig anzufechten, wie schwer er war oder wohin er ihn trug, solang er ihn nur nicht an den Ort seiner Bestimmung brachte. Marktschreierei füllte die ganze Welt, und er strolchte hinterdrein mitsamt seinem Korb … Also trug Tom seine Waren selber aus und suchte Arbeitgeber für Bert, die von dieser poetischen Ader in dessen Natur nichts wußten. Bert gelangte nacheinander in den Vorhof einer ganzen Reihe von Berufen – Warenhausportier, Apothekerlehrling, Doktor-Laufbursche, Gasarbeitergehilfe, Adressenschreiber, Milchwagenfuhrmann, Golfjunge und schließlich Gehilfe in einer Fahrradhandlung. Hier fand er augenscheinlich den fortschrittlichen Zug, nach dem seine Natur begehrte. Sein Brotherr war ein seeräuberhaft veranlagter junger Mensch namens Grubb, mit einem schwärzlichverschmierten Gesicht bei Tag und einer Tingeltangelader bei Nacht, der von einer Patent-Fahrradkette träumte; für Bert war er geradezu das Ideal eines gerissenen Lebemanns. Er hatte die verwahrlostesten und unsichersten Räder in ganz Südengland zu vermieten und führte die hieraus entstehenden Meinungsverschiedenheiten mit erstaunlicher Verve. Bert und er arbeiteten sich gut miteinander ein; Bert wurde beinah zum Kunstfahrer – meilenweit vermochte er Räder zu fahren, die unter jedem anderen schon nach einer Minute zusammengebrochen wären – fing an, sich nach den Geschäftsstunden das Gesicht zu waschen und verausgabte sein überschüssiges Geld für auffallende Krawatten und Kragen, Zigaretten und Stenographiestunden in der Bun Hiller Fortbildungsschule.

Ab und zu besuchte er Tom und war dabei so glänzend von Erscheinung und Konversation, daß Tom und Jessie, denen beiden ein angeborenes Bedürfnis anhaftete, vor Menschen und Dingen Respekt zu haben, gewaltig zu ihm emporschauten.

»Er ist ein Draufgänger, der Bert!« sagte Tom. »Er weiß doch 'ne ganze Menge!«

»Wollen hoffen, daß er nicht zu viel weiß!« sagte Jessika, die einen ausgeprägten Sinn für Beschränkung hatte.

»Es sind eben Draufgängerzeiten«, sagte Tom. »Neue Kartoffeln – und noch dazu englische! Nächstens haben wir sie im März, wenn das so weiter geht. So was ist mir doch noch nicht vorgekommen! Hast du seine Krawatte gesehn gestern abend?«

»Sie paßt nicht zu ihm, Tom. Es ist eine Krawatte für einen Gentleman. Er und alles andere passen nicht dazu. Sie steht ihm nicht …«

Bald darauf schaffte sich Bert einen Radfahranzug, Mütze, Abzeichen usw., an. Und ihn mit Grubb nach Brighton (und zurück) radeln zu sehen – Köpfe gesenkt, Lenkstangen nach unten, Rücken gekrümmt –, war geradezu eine Offenbarung aller Möglichkeiten im Smallwaysschen Blut!

Draufgängerzeiten!

Der alte Smallways hockte am Feuer und schwatzte von der Größe früherer Tage, vom alten Sir Peter Bone, der seinen Viererzug in vierundzwanzig Stunden nach Brighton und zurück fuhr, von den weißen Zylinderhüten des alten Herrn, von Lady Bone, deren Füße nie den Erdboden traten, außer wenn sie im Garten spazierenging, und von den großen Ringkämpfen zu Crawley. Er redete von roten Jagdröcken und schweinsledernen Gamaschen, von den Füchsen im Ringgrund, wo jetzt die Landesirrenanstalt errichtet war, von Lady Bones Mullkleidern und Krinolinen. Niemand hörte auf ihn. Die Welt hatte sich einen neuen Gentlementyp geschaffen, einen Gentleman von höchst ungentlemanhafter Energie, einen Gentleman in verstaubtem Wachstuch, in Automobilbrille und wunderbaren Kopfbedeckungen, einen Stank verbreitenden Gentleman, einen sausenden, eleganten Buschklepper, der unablässig die Landstraßen entlang vor dem Staub und Stank flüchtete, den er unablässig verbreitete. Und seine Dame, so wie man sie in Bun Hill kannte, war eine wetterharte Gottheit, so frei von Verweichlichung wie eine Zigeunerin und für schnellste Eilfahrt gekleidet oder vielmehr verpackt.

So wuchs Bert auf, voll von Idealen des Schnellverkehrs und kühner Unternehmung, und wurde, soweit er überhaupt etwas wurde, eine Art Fahrradmechaniker der »Nur-auf-Probe«- und »Obenhin«-Branche. Nicht einmal ein hundertundzwanziger Rennrand genügte ihm mehr, und eine ganze Zeitlang quälte er sich – vergeblich – in einem Tempo von zwanzig Meilen die Stunde auf Straßen ab, die der mechanische Verkehr nur immer staubiger und überfüllter gestaltete. Aber schließlich häuften sich seine Ersparnisse, und seine Chance kam. Das Abzahlungssystem überbrückte die finanzielle Lücke, und eines hellen und denkwürdigen Sonntagmorgens radelte er sein neues Besitztum durch den Laden auf die Straße, bestieg es unter dem Rat und der Beihilfe Mr. Grubbs und töfftöffte hinaus in den Dunst der verkehrsgemarterten Chaussee, um sich – eine weitere willkürliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit – den landschaftlichen Reizen Südenglands einzureihen.

»Nach Brighton!« sagte der alte Smallways, indem er seinem jüngsten Sohn vom Wohnzimmerfenster über dem Laden aus mit zwischen Stolz und Mißbilligung geteilten Gefühlen nachsah. »Als ich in seinem Alter war, bin ich noch nicht einmal in London, nirgends, nicht mal südlich über Crawley hinaus, überhaupt nirgends gewesen. Damals reiste überhaupt niemand. Außer was Herrschaften waren. Jetzt sind immer alle überall; das ganze Land – hol's der Geier – fliegt auseinander! Nach Brighton! – Ja freilich! – Wer kauft noch Gäule?«

»Du kannst nicht sagen, ich wär' je in Brighton gewesen, Vater!« sagte Tom.

»Ist auch gar nicht nötig«, sagte Jessika scharf. »Herumlottern und dein Geld vertun –!«

III

Eine ganze Weile beschäftigten die Möglichkeiten des Motorrads Berts Geist derart, daß er der neuen Richtung, in der die strebende Menschenseele Betätigung und Auffrischung fand, gar keine Beachtung schenkte. Er merkte nicht, daß der Typ Motorrad, genauso wie der Typ Fahrrad, sich einbürgerte und das Abenteuerliche der Erscheinung verlor. Tatsache ist, so seltsam dies auch erscheinen mag, daß der erste, der diese neue Entwicklung bemerkte, Tom war. Aber seine Gärtnerei lehrte ihn den Himmel beobachten; und die Nachbarschaft der Bun Hiller Gaswerke und des Kristallpalastes, von dem aus unaufhörlich Aufstiege stattfanden, ferner das Auswerfen des Ballastes auf seine Kartoffeln – all das im Verein trug dazu bei, seinem widerstrebenden Geist die Tatsache aufzudrängen, daß die Göttin des Wandels ihre aufreizende Tätigkeit dem Himmel zulenkte. Der erste große Sturmlauf in Aeronautik begann.

Grubb und Bert hörten zuerst davon in einem Tingeltangel; dann wurde es ihrem Gehirn durch den Kinematographien eingeprägt, dann ward Berts Phantasie durch eine Fünfzigpfennig-Ausgabe des klassischen aeronautischen Werks von Mr. George Griffith »Der Wolkensegler« entflammt, und so bemächtigte sich die Sache nach und nach der beiden.

Das Augenfällige war in erster Linie die Zunahme der Ballons. Sie fingen an, den ganzen Himmel über Bun Hill unsicher zu machen. Besonders an Mittwoch- und Sonnabendnachmittagen konnte man kaum eine Viertelstunde nach dem Himmel schauen, ohne irgendwo einen Ballon zu entdecken. Eines schönen Tags, als Bert mit dem Motorrad nach Croydon fuhr, hielt ihn der Aufstieg eines riesigen, polsterförmigen Ungetüms vom Rasenplatz des Kristallpalastes aus auf und nötigte ihn abzusteigen und zu beobachten.

Es sah aus wie ein Keilkissen mit einer gebrochenen Nase; darunter, verhältnismäßig klein, war ein starres Rahmenwerk, das einen Menschen trug, eine Maschine mit einer Schraube vorn, die sich rasch drehte, und einer Art Steuer aus Segelleinen hinten. Das Rahmenwerk sah aus, als ziehe es den widerstrebenden Gaszylinder hinter sich her, etwa wie ein flinker, kleiner Terrier, der der Gesellschaft einen scheuen, gasgeschwollenen Elefanten präsentiert. Das kombinierte Ungetüm bewegte sich wirklich vorwärts und steuerte. Es stieg ungefähr 1000 Fuß in die Höhe (Bert hörte die Maschine), segelte nach Süden davon, verschwand über den Hügeln, erschien dann wieder als kleine blaue Silhouette, die jetzt sehr rasch vor einer sanften Südwest-Brise herflog, fern im Osten, kehrte dann zurück zu den Türmen des Kristallpalastes, umkreiste sie, wählte eine Stelle für den Abstieg und versank vor Berts Blicken.

Bert seufzte tief auf und wandte sich wieder seinem Motorrad zu. Und dies war nun der Beginn einer ganzen Reihenfolge von seltsamen Erscheinungen am Himmel – Zylinder, Kegel, birnenförmige Ungetüme, zuletzt ein wunderbar glitzerndes Ding aus Aluminium, das Grubb, in einer unklaren Ideenverbindung mit Panzerplatten, für ein Kriegsluftschiff zu halten geneigt war.

Darauf folgten wirkliche Flugexperimente.

Das waren jedoch keine Experimente, die von Bun Hill aus zu sehen waren; es waren Experimente, die auf Privatgrundstücken oder anderen eingeschlossenen Plätzen unter günstigen Bedingungen vor sich gingen und die bis zu Grubb und Bert nur durch Vermittlung von Fünfpfennig-Zeitungen oder Kinematographen-Vorstellungen durchdrangen. Immerhin drangen sie äußerst eindringlich durch; und wenn in diesen Tagen irgendwer irgendwen an einem öffentlichen Ort in lautem, überzeugtem und überzeugendem Ton sagen hörte: »Es muß ja kommen!«, so war zehn gegen eins zu wetten, daß vom Fliegen die Rede war. Und Bert holte sich einen Kistendeckel und malte in korrektem Plakatstil folgende Inschrift, die Grubb dann ins Fenster stellte: »Herstellung und Reparatur von Aeroplanen.« Bert war selbst ordentlich bestürzt darüber – es hieß doch eigentlich sein Geschäft mächtig leicht nehmen! –, aber die meisten Nachbarn, besonders die Sportmenschen unter ihnen, zollten der Sache vollsten Beifall. Jedermann redete vom Fliegen, jedermann wiederholte wieder und wieder: »Es muß kommen!« Und dann – nun ja – kam es nicht. Irgendwie hatte es Haken. Fliegen taten sie – das war ja richtig. Fliegen – in Maschinen, schwerer als Luft. Aber immer verkrachte die Geschichte. Manchmal war's die Maschine, manchmal war's der Aeronaut, gewöhnlich waren's alle beide. Maschinen, die Flüge von drei oder vier Meilen machten und heil wieder herabkamen, stiegen das nächste Mal zu jähem Verderben auf. Es schien geradezu unmöglich, daß man sich auf die Dinger verlassen konnte. Der Wind warf sie um; die Luftströmungen über der Erde warfen sie um, ein flüchtiger Gedanke im Gehirn des Luftschiffers warf sie um … Und sie selber warfen um … ganz einfach.

»Die Stabilität ist's … die ist dran schuld«, sagte Grubb, seine Zeitung nachbetend. »Sie kippen und kippen und kippen, bis sie sich zu Tod gekippt haben!«

Die Experimente hörten nach zwei erwartungsreichen Jahren voll ähnlicher Erfolge nach und nach auf. Das Publikum und die Zeitungen waren der kostspieligen fotografischen Aufnahmen, der optimistischen Berichte und des ewigen Kreislaufs von Triumph, Niederlage und Schweigen überdrüssig. Das Fliegen steckte ganz im Sumpf, sogar das Ballonfahren hörte bis zu einem gewissen Grad auf, wenn es auch immer noch ein recht populärer Sport blieb und man auch weiterhin fortfuhr, von der Werft der Bun Hiller Gaswerke Kies einzuladen, um ihn dann auf Rasenplätze und Gärten verdienstvoller Leute wieder abzuladen. Es kamen ein halb Dutzend trostvoller Jahre für Tom – wenigstens was das Fliegen betrifft. Aber es war dies zugleich die große Zeit der Entwicklung der einschienigen Eisenbahn, und seine Sorge wurde von den höheren Regionen nur abgelenkt durch die dringendsten und drohendsten Anzeichen eines Wechsels am unteren Himmel …

Schon verschiedene Jahre war von einschienigen Bahnen die Rede gewesen. Aber das eigentliche Unglück begann erst, als Brennan der Royal Society seinen gyroskopischen Einschienen-Waggon vorführte. Es war die große Ausstellung von 1907; und die berühmte Ausstellungshalle war viel zu klein für die Vorführung. Tapfere Militärs, hervorragende Prediger, Schriftsteller von Verdienst, vornehme Damen drängten sich in dem engen Raum, stießen sich gegenseitig die aristokratischen Ellbogen in die sonst so geheiligten Rippen und schätzten sich glücklich, wenn sie »nur wenigstens ein ganz kleines Stückchen von der Bahn« zu sehen bekamen. Und der große Erfinder erklärte, zwar ungehört, aber sehr überzeugend, seine Erfindung und ließ sein gehorsames kleines Modell der Zukunftseisenbahn Steigungen auf und ab, um Kurven herum, über sich biegende Drähte laufen. Und es sauste dahin auf seiner einen Schiene, mit seinen zwei hintereinanderstehenden Rädern, ganz einfach und brav, hielt an, drehte um, blieb stehen – alles ohne die geringste Abweichung. Immer blieb es – unter einem Sturm von Applaus – in seinem erstaunlichen Gleichgewicht. Schließlich zerstreute sich das Publikum unter lebhaften Erörterungen, inwieweit es wohl ein Genuß wäre, einen Abgrund auf einem Drahtseil zu überqueren. »Und wenn nun das Gyroskop stillsteht!« Die allerwenigsten von ihnen ahnten auch nur zum zehnten Teil, was die Brennansche Einschienen-Bahn für die Sicherheit der Eisenbahnen und das ganze Aussehen der Welt überhaupt bedeuten sollte!

Wenige Jahre später begriffen sie es schon eher. In kurzer Zeit fand kein Mensch mehr etwas dabei, einen Abgrund auf einem Drahtseil zu überqueren, und das Einschienensystem verdrängte Straßenbahnen, Eisenbahnen, überhaupt jede Art von mechanischer Fortbewegungsanlage. Wo das Terrain billig war, lag die Schiene auf der Erde; wo es teuer war, hob sie sich auf Eisenpfeilern in die Höhe und ging oben darüber weg. Ihre raschen, bequemen Wagen eilten überall hin, übernahmen alles, was früher auf teuer und schwerfällig erbauten Verkehrsanlagen auf der Erde geleistet worden war.

Als der alte Smallways starb, fand Tom nichts Bezeichnenderes von ihm zu sagen, als: »Wie er ein Junge war, gab's überhaupt noch nichts Höheres als Schornsteine – keinen einzigen Telegraphendraht, kein Kabel in der Luft!«

Der alte Smallways ward unter einem dichtverschlungenen Netz von Drähten und Drahtseilen zu Grabe getragen; denn Bun Hill wurde nicht nur eine Art von Unterzentrale für Stromverteilung – die staatliche Stromverteilungs-Gesellschaft errichtete Transformatoren und eine Zentralstation neben den alten Gaswerken-, sondern auch ein Knotenpunkt der Vorort-Einschienenbahn. Außerdem hatte jeder Kaufmann am Platz und überhaupt fast jedes Haus eigenes Telefon.

Die Einschienenbahnträger gehörten bald zu den aufdringlichsten Erscheinungen im städtischen Straßenbild. Sie waren meist von starker Eisenkonstruktion, etwa wie spitz zulaufende Gerüste, und leuchtend blaugrün angestrichen. Einer erhob sich gerade vor Toms Haus, das neben diesem Koloß noch bescheidener und unscheinbarer aussah. Und ein zweiter Riese stand just in der Ecke des Gartens, der noch nicht überbaut und unverändert war, abgesehen von zwei Plakaten, deren eines eine Zweieinhalb-Shilling-Uhr und deren anderes ein Nervenstärkungsmittel anpries. Nebenbei waren diese beiden fast horizontal angebracht, um den oben vorübersausenden Einschienenbahn-Passagieren besser ins Auge zu fallen, und dienten Tom auf diese Weise ganz prächtig als Dächer für einen Werkzeugschuppen und eine Pilzkultur. Tag und Nacht sausten die Züge von Hastings und Brighton oben vorüber – lange, breite, bequem aussehende Wagen, die bei Dunkelheit strahlend erleuchtet waren. Und während sie so des Nachts vorüberflogen, wie flüchtige Flammen und dumpfdrohendes Grollen, wirkten sie auf der Straße da drunten wie ein ununterbrochenes Sommergewitter mit Donner und Blitz.

Bald war auch der Kanal überbrückt – eine Reihe von großen eisernen Eiffelturm-Pfeilern, die die Einschienenbahn in einer Höhe von hundertfünfzig Fuß über dem Wasser trugen, mit Ausnahme der Mitte, wo sie sich höher erhoben, um den Verkehr der Londoner und Antwerpener Dampfer und der Hamburg-Amerika-Linie nicht zu behindern.

Schwere Motorwagen begannen auf zwei hintereinanderstehenden Rädern einherzulaufen, eine Tatsache, die Tom aus irgendeinem Grunde entsetzlich aufregte und ihn noch auf Tage hinaus, nachdem der erste am Laden vorübergefahren war, schwermütig stimmte …

All diese gyroskopische und Einschienen-Entwicklung beanspruchte naturgemäß einen erheblichen Teil der öffentlichen Aufmerksamkeit; auch die überraschenden Goldfunde an der Küste von Anglesea, die eine submarine Forscherin, Miss Patricia Giddy, gemacht hatte, riefen gewaltige Aufregung hervor. Miss Giddy hatte an der Universität zu London ihr Examen in Mineralogie und Geologie bestanden, und während sie nach einer kurzen Erholungspause, die sie zur Agitation für das Wahlrecht der Frauen verwendete, an einer Arbeit über die goldhaltigen Klippen von Nordwales schrieb, war ihr plötzlich der Gedanke aufgestiegen, daß möglicherweise diese Riffe unter dem Wasser auszubeuten wären. Sie unternahm es, mit Hilfe des von Dr. Alberto Cassini erfundenen Unterseebohrers sich von der Wahrheit ihrer Voraussetzung zu überzeugen. Und durch eine ihrem Geschlecht eigene glückliche Mischung von Überlegung und Spürsinn fand sie schon bei ihrem ersten Abstieg Gold und kam nach dreistündigem Tauchen mit ungefähr zwei Zentnern Erz empor, das Gold in dem noch nie dagewesenen Prozentsatz von 17 Unzen pro Tonne enthielt. Aber so unendlich interessant auch die ganze Geschichte dieser unterseeischen Goldgräberin ist – wir müssen sie auf ein andermal verschieben; für jetzt möge die einfache Bemerkung genügen, daß eben in die darauffolgende Zeit des großen Steigens der Preise, des Kredits und der Spekulation das Wiederaufleben des Interesses am Fliegen fiel.

IV

Es ist merkwürdig, wie dies Wiederaufleben begann. Es war wie das Kommen einer Brise an einem stillen Tag: es fing nirgends an – es kam. Man begann wieder über das Fliegen zu sprechen mit einer Miene, als hätte man das Thema überhaupt keinen Augenblick lang fallen lassen. In den Zeitungen erschienen wieder Abbildungen von Flugversuchen und Flugmaschinen; in den ernsthaften Zeitschriften mehrten und häuften sich Artikel und Berichte. In den Einschienenzügen herrschte die Frage: »Wann werden wir fliegen?« Eine neue Saat von Erfindern sprang über Nacht auf wie die Pilze. Der Aeroklub kündete eine geplante große Flugausstellung auf einem weiten Geländestück an, das durch den Abbruch der Baracken von Whitechapel verfügbar geworden war.

Die herannahende Woge erzeugte bald ein entsprechendes Plätschern in dem Geschäft in Bun Hill. Grubb buddelte seine Flugmaschine wieder aus, probte damit im Hof hinter dem Laden, quetschte auch eine Art Flug aus ihr heraus und zerschmetterte siebzehn Scheiben und neun Blumentöpfe in einem Gewächshaus im übernächsten Hof.

Dann – plötzlich – aus Nichts heraus weitergetragen, man wußte nicht wie, kam ein hartnäckiges, aufregendes Gerücht: das Problem sei gelöst, das Geheimnis ergründet. Bert platzte im Frühdämmer eines Nachmittags darauf, als er sich in einem Wirtshaus in Nutfield stärkte, wohin sein Motorrad ihn getragen hatte. Dort saß, rauchend und gedankenvoll, ein Mann in Khaki, ein Pionier, der sogleich ein Interesse für Berts Maschine faßte. Es war ein robuster Apparat, der sich bereits eine Art verbrieften Werts in jener rasch wechselnden Zeit errungen hatte; fast acht Jahre alt war er jetzt schon. Nachdem seine verschiedenen Vorzüge zur Genüge besprochen waren, schlug der Soldat ein neues Thema an.

» Mein nächstes wird ein Aeroplan – wenn's nach mir geht! Straßen und Chausseen hab' ich satt!«

»Gered't wird viel!« sagte Bert.

»Geredet – und getan!« sagte der Soldat. »Die Sache wird!«

» Werden tut sie immerzu!« sagte Bert. »Wenn ich's sehe, will ich's auch glauben.«

»Wird nicht mehr lang dauern«, sagte der Soldat.

Die Konversation schien in ein freundschaftliches Hin und Her von Streitereien zu verlaufen.

»Wenn ich Ihnen doch sage, daß sie fliegen!« beharrte der Soldat. »Hab's doch selber gesehen.«

»Gesehen haben wir's alle!« sagte Bert.

»Ich mein' ja nicht in die Höhe flattern und umschmeißen! Ich mein', wirklich und sicher und ruhig und gutgesteuert fliegen – gegen den Wind – und alles!«

»Das haben Sie nicht gesehen!«

» Hab' ich! In Aldershot! Sie möchten's gern geheimhalten. Aber sie haben's raus! Da können Sie Gift drauf nehmen – diesmal hält unser Kriegsministerium die Augen offen!«

Berts Unglaube war erschüttert. Er fragte und fragte, und der Soldat wurde immer ergiebiger.

»Ich sag' Ihnen, sie haben in einer Art Tal fast eine Quadratmeile eingezäunt, mit Stacheldraht, zehn Fuß hoch; und da drin sind sie dahinter her. Eine Menge Leute treiben sich da herum – und manchmal sieht man auch ein bißchen was. Und nicht bloß unsere haben's raus. Auch die Japaner – da können Sie Gift drauf nehmen –, die haben's auch raus! Und die Deutschen!«

Der Soldat stand mit weit gespreizten Beinen und stopfte nachdenklich seine Pfeife. Bert hockte auf der niedrigen Mauer, an der sein Motorrad lehnte.

»Komische Sache muß das sein – 'n Krieg!« sagte er.

»Die Fliegerei wird bald losgehen«, sagte der Soldat. »Und wenn's losgeht – wenn der Vorhang aufgeht – ich sag' Ihnen – alle spielen sie da mit – bei dem Theater – Na, so was von Krieg! … Solche Sachen lesen Sie wohl überhaupt nicht in den Zeitungen?«

»Ein bißchen schon«, sagte Bert.

»Naja – ist Ihnen da nie so was Ähnliches aufgefallen, wie – na, sagen wir, das plötzliche und seltsame Verschwinden des Erfinders? Des Erfinders, der wie eine Rakete in der Öffentlichkeit auftaucht, ein paar erfolgreiche Experimente losläßt und – verschwindet?«

»Nicht, daß ich's behaupten könnt' …«, sagte Bert.

»Naja – aber ich! Setz' den Fall, es kommt einer daher, der irgendwas Besonderes leistet in der Branche – und Sie können Gift darauf nehmen – er verschwindet. Taucht einfach in aller Stille unter. Nach einer Weile hört man überhaupt nichts mehr von ihm. Sie verstehn? Einfach verschwunden. Fort – ohne Adresse. Zuerst – oh, das ist schon eine alte Geschichte jetzt – waren da die Brüder Wright drüben in Amerika. Sie glitten und glitten – Meile über Meile – und schließlich – glitten sie von der Schaubühne ab. Laß sehen – 1904 oder 1905 muß das gewesen sein, daß die verschwunden sind. Dann die Kerls in Irland – ich hab' die Namen vergessen. Alle Welt behauptete, sie könnten fliegen. Auch die – futsch! Tot sind sie nicht, soviel ich gehört hab'. Aber ebensowenig kann man behaupten, daß sie am Leben sind. Auch nicht ein Faden mehr von ihnen zu sehen! Dann der Bursche, der rings um Paris rumflog und in der Seine kenterte. De Boley – oder wie? Ich hab's vergessen, 'n großartiger Flug – trotz der unglücklichen Geschichte. Aber wo ist der Mensch hingekommen? Der Unfall damals hat ihm nichts getan. Na? Auch der ist futsch.«

Der Soldat schickte sich an, seine Pfeife anzuzünden.

»Sieht fast so aus, als wären sie einem Geheimbund in die Klauen geraten!« sagte Bert.

»Geheimbund! Nee!«

Der Soldat zündete sein Streichholz an und zog.

»Geheimbund!« wiederholte er, die Pfeife zwischen den Zähnen, während das Streichholz um die Wette flammte mit seinen Worten. »Sagen wir lieber Kriegsministerium!« Er warf das Streichholz fort und ging zu seinem Fahrrad. »Glauben Sie mir«, sagte er – »es gibt in ganz Europa oder Asien oder Amerika oder Afrika keine Großmacht, die heute nicht ganz im geheimen eine oder zwei Flugmaschinen hat! Keine! Wirkliche, richtiggehende Flugmaschinen! Die Spionage! Die Spionage und die Manöver, um rauszukriegen, was die andern haben! Ich sag' Ihnen – kein Ausländer – übrigens auch kein Einheimischer ohne Ausweis – kann sich heutzutag auf vier Meilen im Umkreis nach Lydd wagen – ganz abgesehen von unserm kleinen Privatzirkus in Aldershot und dem Experimentierlager in Galway. Unmöglich!«

»Na, schön!« sagte Bert. » Sehen möcht' ich jedenfalls mal eine. Einfach, damit ich's glauben könnt'! Wenn ich's seh', will ich's glauben – das versprech' ich Ihnen!«

»Sie werden Sie bald genug zu sehen kriegen!« sagte der Soldat und führte seine Maschine auf die Straße hinaus.

Und Bert blieb auf seiner Mauer zurück, ernst und gedankenvoll, die Mütze im Nacken, eine glimmende Zigarette im Mundwinkel.

»Wenn das wahr ist, was der sagt«, dachte Bert, »so haben wir, Grubb und ich, einfach bis jetzt uns nutzlos die Zeit um die Ohren geschlagen! Und dabei noch die Kosten mit dem Gewächshaus!«

V

Während diese geheimnisvolle Unterredung noch in Bert Smallways' Phantasie nachzitterte, trat das staunenswerteste Ereignis jenes ganzen dramatischen Kapitels menschlicher Geschichte ein –: das Fliegen kam! Die Menschen reden so glatt von epochemachenden Ereignissen. Dies war ein epochemachendes Ereignis. Es war der unvorhergesehene und vollkommen geglückte Flug des Mr. Alfred Butteridge vom Kristallpalast nach Glasgow und zurück, ein Flug in einer ganz geschäftsmäßig aussehenden kleinen Maschine, schwerer als Luft – einer vollkommen lenkbaren, beherrschbaren Maschine, die so leicht und sicher flog wie eine Taube.

Es war dies – das fühlte man – nicht etwa ein neuer Schritt weiter in dieser Sache, sondern ein Riesensatz – ein Sprung. Mr. Butteridge blieb etwa neun Stunden ununterbrochen in der Luft und flog während dieses Zeitraums mit der Leichtigkeit und Sicherheit eines Vogels. Dabei war seine Maschine weder vogel- noch schmetterlingsähnlich, noch hatte sie die breite Seitenausdehnung des gewöhnlichen Aeroplans. Sie wirkte auf den Zuschauer eher wie eine Art Biene oder Wespe. Einige Teile des Apparats drehten sich ungeheuer rasch und riefen einen nebelhaften Eindruck von durchsichtigen Flügeln hervor. Andere Teile wieder, darunter zwei eigentümlich gebogene »Flügeldeckel« – wenn man dies Bild von den fliegenden Insekten entlehnen darf – blieben steif ausgestreckt. In der Mitte war ein langer, runder Körper, wie der Körper einer Motte; und auf diesem erblickte man Mr. Butteridge, rittlings sitzend, ganz ähnlich einem Mann, der zu Pferd sitzt. Die Wespengleichheit wurde noch verstärkt durch den Umstand, daß der Apparat mit einem tiefen, dröhnenden Summen flog, genau wie das Geräusch, das eine Wespe an einer Fensterscheibe macht.

Mr. Butteridge war eine Überraschung für alle Welt. Er war einer der Menschen von nirgendwo, die das Schicksal auch heute noch immer wieder – zur Anspornung der Menschheit – hervorzubringen versteht. Er kam – den verschiedenen Gerüchten nach – aus Australien – aus Amerika – aus Südfrankreich. Es hieß ferner – absolut unrichtig –, er sei der Sohn eines Mannes, der sich durch die Fabrikation von Schreibfedern und von »Butteridges Goldfüllfederhalter« ein ansehnliches Vermögen erworben hatte. Aber das war eine ganz andere Linie von Butteridges. Schon seit Jahren war er – trotz seiner lauten Stimme, seiner breitspurigen Persönlichkeit, seiner herausfordernden Großmäulerei und seiner ungehobelten Manieren ein ganz ruhmloses Mitglied der meisten damals existierenden Luftschiffer-Klubs. Dann – eines Tages – schrieb er an sämtliche Londoner Zeitungen und kündete an, daß er den Aufstieg einer Maschine vom Kristallpalast aus vorbereitet habe, der zur Genüge dartun würde, daß die bisher noch vorhandenen Schwierigkeiten in der Technik des Fliegens ein für allemal behoben seien. Nur wenige Zeitungen brachten dieses Schreiben. Und noch weniger Leute schenkten ihm Glauben. Kein Mensch regte sich auf deswegen. Nicht einmal, als ein Skandal auf der Treppe eines ersten Picadilly-Hotels, wobei Mr. Butteridge irgendeinen berühmten ausländischen Musiker aus irgendwelchen persönlichen Gründen durchzuprügeln versuchte, den verheißenen Aufstieg verzögerte. Die Zeitungen taten des Rencontres nur höchst oberflächlich Erwähnung und verstümmelten den Namen teilweise zu Betteridge und Betrigde. Tatsächlich vermochte er es bis zu seinem Flug auf keine Weise durchzusetzen, in der öffentlichen Meinung überhaupt zu existieren. Trotz all seines Geschreis waren kaum dreißig Menschen zum Zusehen erschienen, als sich eines Sommermorgens gegen sechs die Tore der großen Halle öffneten, in der er seinen Apparat montiert hatte – es war in der Nähe des großen Megatheriummodells im Kristallpalast –, und sein Rieseninsekt surrend in die ungläubige und interesselose Welt hinausflog.

Aber noch ehe er seine zweite Runde um die Türme des Kristallpalasts vollendet hatte, hob Fama ihre Posaune … Tief holte sie Atem. Die aufgeschreckten Vagabunden, die auf den Bänken des Parks schliefen, erwachten durch das Schwirren und sahen ihn um die Nelsonsäule kreisen. Als er bis Birmingham gelangt war – so gegen halb elf – hallte betäubender Schall durchs ganze Land. Geglückt war, woran man bisher verzweifelte … Ein Mensch flog – flog sicher und ruhig. Schottland harrte seiner mit offenem Mund. Gegen eins erreichte er Glasgow, und die Berichte erzählen, kaum eine Werft oder Fabrik in diesem emsigen Industrie- Bienenkorb habe vor halb zwei die Arbeit wieder aufgenommen. Die öffentliche Meinung war just so weit zum Glauben an die Unmöglichkeit des Fliegens erzogen, um Mr. Butteridge in seinem vollen Wert würdigen zu können. Er umkreiste die Universitätsgebäude und senkte sich in Rufweite auf die Menge im Westendpark und den Abhang der Gilmorehöhe herab. Die Maschine flog vollkommen ruhig – in einer Geschwindigkeit von drei Meilen die Stunde – in einem weiten Bogen, mit einem tiefen Summen, das Mr. Butteridges kräftige, sonore Stimme völlig übertönt haben würde, wäre er nicht mit einem Megaphon versehen gewesen. Während er redete, wich er mit größter Behendigkeit Kirchen, hohen Gebäuden und Einschienenkabeln aus …

»Mein Name ist Butteridge!« brüllte er. »B-u-t-t-e-r-i-d-g-e! Haben Sie's? Meine Mutter war Schottin …«

Und nachdem er sich vergewissert hatte, daß man ihn verstanden habe, stieg er unter Hochrufen und Geschrei und patriotischem Hurragebrüll wieder auf und flog sehr rasch und leicht nach dem südwestlichen Himmel, wobei er in seltsam wespenähnlicher Weise in langen Wellenlinien sich hob und senkte.

Seine Rückkehr nach London – er besuchte auf dem Weg Manchester, Liverpool und Oxford, blieb über jeder Stadt stehen und buchstabierte seinen Namen – war ein Ereignis von beispiellosester Sensation. Alle Welt starrte gen Himmel. In den Straßen wurden an diesem einen Tag mehr Menschen überfahren, als sonst in drei Monaten; und ein Dampfer, die »Isaac Walton«, kollidierte mit einem Pfeiler der Westminsterbrücke und rettete sich nur mit knapper Not, indem er – es war Tiefwasserstand – an der Südseite in den Schlamm auflief. Gegen Sonnenuntergang kehrte Mr. Butteridge zum Kristallpalast, diesem klassischen Ausgangspunkt aeronautischer Abenteuer, zurück, lief ohne Unfall wieder in die Halle ein und ließ sofort all den Fotografen und Journalisten, die auf seine Rückkehr gewartet hatten, die Tür vor der Nase zumachen. »Schaut her, Jungens«, sagte er, während sein Assistent dies besorgte, »ich bin todmüde und habe Reitweh. Ich kann tatsächlich kein Wort mehr reden. Bin zu zermürbt. Mein Name ist Butteridge, B-u-t-t-er-i-d-g-e. Merkt's euch. Ich bin ein Empire-Engländer. Morgen will ich zu euch allen sprechen.«

Einzelne nebelhafte Berichte, die dies Ereignis überliefern, existieren noch heute. Sein Assistent inmitten einer anstürmenden Brandung von jungen Leuten in Schlapphüten und unternehmungslustigen Krawatten, mit Notizbüchern und hocherhobenen Kameras in Händen. Er selbst unter der Tür, eine große, breite Erscheinung, mit einem Riesenmaul – einer beredten Höhlung unter einem kolossalen schwarzen Schnauzbart –, verzerrt von dem lauten Schreien, womit er die hartnäckigen Agenten der Öffentlichkeit im Zaum hielt. Da steht er, der berühmteste Mann im ganzen Land. Und – fast symbolisch – hält er in der linken gestikulierenden Hand ein Megaphon …

VI

Tom und Bert Smallways sahen diese Rückkehr beide mit an. Sie standen auf der Höhe von Bun Hill, von wo aus sie so oft die Feuerwerke des Kristallpalastes beobachtet hatten. Bert war aufgeregt; Tom blieb ruhig und schläfrig; aber keiner von beiden begriff, wie dereinst die Früchte dieses Beginnens in ihr eigenes Leben eingreifen würden. »Vielleicht, daß Grubb jetzt 'n bißchen mehr auf seinen Laden aufpaßt«, sagte er, »und sein verdammtes Modell ins Feuer schmeißt. Nicht als ob uns das noch retten könnt', wenn nicht Steinhart seine Forderung stundet.«

Bert wußte genug von der Welt und den Problemen der Aeronautik, um zu begreifen, daß über diese Riesenimitation einer Biene »die Zeitungen den Veitstanz kriegen würden« – um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen. Schon der nächste Tag zeigte klar und deutlich, daß sie wirklich »den Veitstanz« hatten; ihre Spalten waren schwarz von Abbildungen; die Berichte waren überschwenglich; die Titelzeilen schäumten geradezu über. Am folgenden Tag war's noch ärger. Und noch vor Ende der Woche wurden die Zeitungen nicht mehr herausgegeben, sondern gellend und schrillend in den Straßen ausgetragen … Die dominierende Rolle in all dem Aufruhr spielten Mr. Butteridges ungewöhnliche Persönlichkeit und die unerhörten Forderungen, die er für das Geheimnis seiner Maschine stellte …

Denn ein Geheimnis war es, und er wahrte dies Geheimnis aufs sorgfältigste. Er hatte seinen Apparat selbst gebaut, in der sicheren Abgeschlossenheit der großen Kristallpalasthallen und unter Beihilfe stumpfer und gleichgültiger Arbeiter; und am Tag nach seinem Flug nahm er ihn ganz allein auseinander, verpackte gewisse Teile und nahm dann für Verpackung und Verschickung der übrigen technisch unausgebildete und gedankenlose Hilfskräfte. Versiegelte Kisten gingen nach Norden, Osten und Westen an verschiedene Maschinenwerkstätten ab; die Maschinen wurden unter ganz besonderer Sorgfalt versandt. Augenscheinlich waren diese Vorsichtsmaßregeln auch keineswegs überflüssig – angesichts der heftigen Nachfrage nach Fotografien oder irgendwelchen sonstigen Abbildungen der Maschine. Aber Mr. Butteridge war, nach seiner einmaligen Demonstration, augenscheinlich fest entschlossen, sein Geheimnis auf keine Weise durchsickern zu lassen. Er stellte dem britischen Volk einfach die Frage: Wollte es sein Geheimnis oder nicht? Er war, wie er immer wieder erklärte, ein »Empire-Engländer«; und sein erster und letzter Wunsch war, seine Erfindung als Privileg und Monopol des Empire zu sehen. Nur …

Und hier saß der Haken.

Mr. Butteridge war, wie sich zeigte, ein von jeglicher falscher Bescheidenheit – überhaupt von jeglicher Bescheidenheit – freier Mensch; war stets gewillt, Berichterstatter zu empfangen, Fragen jeglicher Art – ausgenommen aeronautische – zu beantworten, Ansichten und Meinungen zu äußern, autographische Notizen, Porträts und Fotografien zu liefern, überhaupt mit seiner Persönlichkeit den ganzen irdischen Himmel zu füllen. Die Bilder, die veröffentlicht wurden, zeigten als Hauptzug immer einen kolossalen schwarzen Schnurrbart und hinter dem Schnurrbart ein grimmigtrotziges Gesicht. Im allgemeinen hatten alle Leute den Eindruck, Butteridge müsse ein kleiner Mann sein. Kein großer Mann, das fühlte man, konnte einen so bösartig herausfordernden Ausdruck haben; obgleich Butteridge in Wirklichkeit eine Höhe von sechs Fuß zwei Zoll und ein dementsprechendes Gewicht besaß. Außerdem hatte er einen Liebeshandel von ungewöhnlichster Ausdehnung und seltsamster Art, und das in der Masse immerhin noch recht anständige englische Volk erfuhr mit Widerwillen und Entsetzen, daß eine mitfühlende Anerkennung dieser Liebesaffäre eine unumgängliche Bedingung für den ausschließlichen Ankauf des unbezahlbaren Geheimnisses seitens des Britischen Empire war. Die Einzelheiten des seltsamen Handels kamen überhaupt nie recht ans Licht. Aber augenscheinlich war die Dame, in einem Moment großzügiger Gedankenlosigkeit, eine Ehe eingegangen mit – ich zitiere einen nicht veröffentlichten Ausspruch Mr. Butteridges – »einem feigherzigen Stinktier«; und dies zoologische Phänomen war – gesetzlicher- und ärgerlicherweise – ein Hindernis für ihr gesellschaftliches Wohlbefinden. Er – Mr. Butteridge – versteifte sich darauf, darüber zu sprechen und die Größe ihres Charakters in der Beleuchtung dieser Unerfreulichkeiten zu demonstrieren. Es war in der Tat eine große Verlegenheit für die Presse, die doch bisher stets mit größter Diskretion gearbeitet hatte, die wohl gewisse »Personalien« – im modernen Sinn – verlangte, aber doch nichts zu Persönliches. Ich wiederhole, es war eine Verlegenheit, so ganz unerbittlich mit Mr. Butteridge großem Herzen konfrontiert zu werden, seine fortwährende Selbstvivisektion mit anzusehen …

Aber Konfrontationen fanden statt – ohne Gnade und Barmherzigkeit. Mr. Butteridge versteifte sich darauf, seinen fürchterlichen Herzmuskel vor den erschreckten Journalisten schlagen und spielen zu lassen – jeglichen Versuch, ihm zu entwischen, vereitelte er. »Seine Liebe sei sein Ruhm«, behauptete er und zwang sie, das niederzuschreiben.

»Das ist ja natürlich eine Privatangelegenheit, Mr. Butteridge«, pflegten sie einzuwenden.

»Ungerechtigkeit, mein Herr, ist immer öffentlich. Was liegt mir daran, ob ich gegen einzelne Persönlichkeiten oder ganze Staaten kämpfe. Was liegt mir daran, ob ich gegen das Weltall ankämpfe. Ich verfechte die Sache eines Weibes, mein Herr, eines Weibes, das ich liebe, mein Herr – eines edlen Weibes – eines unverstandenen Weibes. Und ich werde sie verteidigen, mein Herr, gegen alle vier Winde des Himmels!«

»Ich liebe England!« pflegte er zu sagen, »ich liebe England. Aber den Puritanismus verabscheue ich, mein Herr! Er erfüllt mich mit Abscheu! Er macht mir übel, mein Herr! Nehmen Sie bloß meinen eigenen Fall!«

Er beharrte eigensinnig auf seiner Herzensaffäre. Er beharrte darauf, die Berichte der Interviewer zu sehen. Hatten sie seinem erotischen Geschrei und Getue nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, so flickte er in einer schmierigen, gespreizten Handschrift alles hinein, was sie etwa ausgelassen hatten – alles – und noch mehr …

Es war wirklich eine Verlegenheit für den gesamten britischen Journalismus. Noch nie war eine aufdringlichere und uninteressantere Geschichte aufgetaucht; noch nie hatte die Welt mit weniger Gusto und Sympathie die Geschichte einer Leidenschaft angehört. Andrerseits aber war diese Welt doch voller Neugier auf Mr. Butteridges Erfindung. Wenn es jedoch gelang, Mr. Butteridge für einen Augenblick von der Sache der Dame, die er liebte, abzulenken, so redete er in der Hauptsache, und meist mit Tränen der Zärtlichkeit in der Stimme, von seiner Mutter und seiner Kindheit – seiner Mutter, die eine ganze Skala mütterlicher Tugenden noch durch den Umstand krönte, daß sie »Schottin« war. Ganz echt war sie nicht, aber fast. »Alles verdanke ich meiner Mutter«, versicherte er, »alles!« Und: »Fragen Sie doch jeden Mann, der was geleistet hat – Sie werden immer dasselbe hören. Alles, was wir haben, verdanken wir dem Weib. Das Weib – Herr – das ist die Gattung! Der Mann ist nichts als ein Traum. Er kommt und geht … Des Weibes Seele führt uns empor … und immer weiter …«

Immerzu quatschte er so …

Was er eigentlich von der Regierung verlangte für sein Geheimnis, war nicht recht klar; auch nicht, was, außer einer Geldentschädigung, in derartigen Dingen von einem modernen Staat zu erwarten war. Er wirkte im allgemeinen auf kritische Beobachter weniger wie ein Mensch, der irgend etwas erreichen will, als vielmehr wie einer, der eine seltene Gelegenheit ausnutzt, um der Welt seine eigene Persönlichkeit aufzudrängen. Allerlei Gerüchte über ihn waren im Umlauf. Einige davon behaupteten, er sei der Besitzer eines großen Hotels in Kapstadt gewesen und habe als solcher einen sehr schüchternen, freundlosen Erfinder, namens Palliser, der in einem vorgeschrittenen Stadium von Lungenschwindsucht von England nach Südafrika gekommen und dort gestorben war, beherbergt, habe ihm seine Experimente abgelauscht und schließlich seine Papiere und Pläne gestohlen. Dies war die Lesart der amerikanischen Presse. Aber weder Beweis noch Gegenbeweis drangen je in die Öffentlichkeit.

Mr. Butteridge ließ sich fernerhin auch in äußerst heftige Streitereien um den Besitz einer Menge von wertvollen Geldpreisen ein. Einige von ihnen waren schon im Jahr 1906 für erfolgreiches mechanisches Fliegen ausgesetzt worden. Als Mr. Butteridge seinen Erfolg erlebte, hatten sich schon eine ganz beträchtliche Anzahl von Zeitungen – verführt durch das unbestraft gebliebene Sichüberbieten zu Beginn des Spiels – verpflichtet, geradezu überwältigende Summen an die erste Person zu zahlen, die von Manchester nach Glasgow, von London nach Manchester, einhundert englische Meilen – zweihundert englische Meilen usw. fliegen würde. Die meisten hatten sich freilich hinter allerhand doppelsinnigen Bedingungen verschanzt und streikten jetzt; eine oder die andere aber zahlte glatt und trompetete dies mit Macht heraus. Und Mr. Butteridge prozessierte eifrigst mit den Widerspenstigen, während er gleichzeitig aufs heftigste agitierte, um der Regierung den Ankauf seiner Erfindung mundgerecht zu machen …

Eins jedenfalls blieb durch alle Entwicklungsstadien der Sache hindurch, hinter Butteridges alberner Liebesaffäre, hinter all seiner Politik und Persönlichkeit, seinem Geschrei und Geprahle, bestehen: nämlich, daß er – soweit man wußte – im alleinigen Besitz des Geheimnisses des lenkbaren Aeroplans war, der – man mochte sagen was man wollte – der Schlüssel war zur künftigen Herrschaft der Welt. Und bald zeigte es sich – zur Bestürzung zahlreicher Leute, unter ihnen Mr. Bert Smallways –, daß alle Unterhandlungen der britischen Regierung in betreff der Erwerbung des unschätzbaren Geheimnisses ins Wasser zu fallen drohten. Das Londoner »Tägliche Requiem« war das erste Blatt, das diesem allgemeinen Alarm Ausdruck verlieh und unter dem verfänglichen Titel »Mr. Butteridge spricht sich aus« ein Interview veröffentlichte.

In diesem schüttete der Erfinder – wenn er ein Erfinder war – sein Herz aus.

»Ich bin vom Ende der Welt gekommen«, sagte er – was die Kapstadtgeschichte zu bestätigen schien –, »um meinem Mutterland das Geheimnis zu bringen, das ihm die Herrschaft der Welt sichern soll. Und was ist mein Dank?« Er machte eine Pause. »Ein Haufe von ältlichen Mandarinen rümpft über mich die Nase … Und das Weib, das ich liebe, wird behandelt wie eine Aussätzige! … Ich bin ein Empire-Engländer!« fuhr er in einem großartigen Kraftausbruch (den er nachträglich eigenhändig in das Interview hineinkorrigierte) fort. »Aber das menschliche Herz hat seine Grenzen! Es gibt noch jüngere Nationen – lebende Nationen! Nationen, die nicht in hilflosen Anfällen von Dickblütigkeit auf Betten von Formalität und rotem Siegellack schnarchen und gurgeln! Es gibt Nationen, die nicht die Herrschaft der Welt von sich werfen, nur um einen unbekannten Mann zu kränken und ein edles Weib, dessen Schuhriemen zu lösen sie nicht wert sind, zu beleidigen! Es gibt Nationen, die nicht blind sind für Wissenschaft, die nicht mit Haut und Haar dem Snobismus und verlotterten Dekadententum verfallen sind! Kurz – merken Sie auf meine Worte: – Es gibt noch andere Nationen!« …

Diese Rede war es, die auf Bert Smallways ganz besonderen Eindruck machte. »Wenn die Deutschen oder die Amerikaner die Geschichte in die Hände kriegen«, sagte er mit Nachdruck zu seinem Bruder, »so ist's mit dem Britischen Empire aus! Futsch! Und unsere Flagge ist dann kaum mehr das Zeug wert, aus dem sie zusammengeflickt ist, Tom!«

»Du könnt'st uns wohl nicht 'n bißchen helfen heut morgen«, sagte Jessika in die beredte Pause hinein. »Es ist, als ob ganz Bun Hill gleichzeitig neue Kartoffeln brauchte! Tom kann kaum die Hälfte austragen.«

»Wir leben auf einem Vulkan«, sagte Bert, dies Ansinnen glatt ignorierend. »Jeden Augenblick kann der Krieg ausbrechen – und was für ein Krieg!«

Und er schüttelte unheilverkündend sein Haupt.

»Am besten, du nimmst zuerst die da, Tom!« sagte Jessika. Dann wandte sie sich energisch zu Bert. »Hast du Zeit heut morgen?« fragte sie.

»Werd' schon!« sagte Bert. »Das Geschäft ist ruhig heut morgen … Nur daß all diese Gefahr fürs Empire mich ganz schrecklich umtreibt.«

»Wirst's schon vergessen über der Arbeit«, sagte Jessika.

Bald darauf schritt er hinaus in eine Welt des Wandels und der Wunder, tiefgebeugt unter einer Last von Kartoffeln und patriotischer Unsicherheit, die sich schließlich zu einem sehr deutlichen Ärger über das Gewicht und die Schwere und Stillosigkeit der Kartoffeln und einer durchaus klaren Empfindung von Jessikas gänzlicher Verabscheuungswürdigkeit gestaltete.

2. Wie Bert Smallways in Schwierigkeiten geriet

I

Weder Tom noch Bert Smallways kam es in den Sinn, daß die denkwürdige Luftvorstellung Mr. Butteridges das Leben des einen oder des anderen irgendwie besonders beeinflussen, daß sie sie irgendwie von den Millionen um sie her aussondern würde. Und nachdem sie sie von der Höhe von Bun Hill aus beobachtet und den fliegenden Mechanismus mit seinen rotierenden Planen, die im Sonnenuntergang wie ein goldener Nebel schienen, summend in den Hafen seiner Halle hatten sinken sehen, kehrten sie nach dem halbversunkenen Grünkramhandel unter dem großen Eisenpfeiler der London-Brightoner Einschienenbahn zurück und wandten sich wieder der Unterredung zu, die sie beschäftigt hatte, ehe Mr. Butteridges Triumph aus dem Londoner Nebel emporgetaucht war.

Es war eine schwierige und erfolglose Unterredung. Sie wurde auch nicht geredet, sondern geschrien, der dröhnenden und donnernden Motorwagen wegen, die die Hauptstraße passierten; und die ganze Unterredung war streitsüchtiger und privater Natur. Grubb's Geschäft war in Schwierigkeiten geraten, und Grubb hatte, in einem Moment finanzieller Beredsamkeit, Bert, dessen Beziehungen zu seinem Arbeitgeber schon seit einiger Zeit salärlos und locker und wenig förmlich geworden waren, die Teilhaberschaft angetragen.

Bert versuchte, Tom die Idee einzuhämmern, daß die neugebildete Firma Grubb & Smallways einem betriebsamen Kleinkapitalisten nie dagewesene und beispiellose Vorteile gewähre. Und dabei ging es Bert – wie etwas völlig Neues – auf, daß Tom merkwürdig unzugänglich für neue Ideen war … Schließlich ließ er das Finanzielle beiseite, spielte die ganze Geschichte einfach auf das Gebiet der brüderlichen Zärtlichkeit hinüber und erreichte dadurch auch einen Pump von zwanzig Shilling – gegen Ehrenwort!

Die Firma Grubb & Smallways, ehemals Grubb, hatte tatsächlich in den letzten paar Jahren recht viel Unglück gehabt. Seit vielen Jahren kämpfte sich die Firma – immer in einer Art romantischer Unsicherheit – in einem kleinen, trübseligen Laden der Hauptstraße durch, der mit grellfarbigen Fahrradreklamebildern, Klingeln, Pumpen, Ölkannen, Ledertaschen, Hosenklammern und anderem Zubehör, ferner mit Plakaten – »Räder werden ausgeliehen«, »Reparaturwerkstätte«, »Pumpstation«, »Benzin«, »Acetylen« – und ähnlichen Lockvögeln geziert war. Sie waren auch Agenten für allerhand obskure Fahrradfabriken; zwei Reklameräder bildeten ihr Lager; gelegentlich glückte auch ein Verkauf; nebenbei reparierten sie schadhafte Schläuche und überhaupt alles, was man ihnen brachte. Aber freilich – sie hatten nicht immer Glück. Auch billige Grammophone führten sie und allerhand Spielwerke. Aber den Grundstock ihres Geschäfts bildete das Vermieten von Fahrrädern. Es war das ein sonderbarer Handel, der keinerlei kommerziellen oder ökonomischen, überhaupt keinerlei Grundsätzen gehorchte. Er bestand aus einem Lager von Herren- und Damenrädern, alle in einem Zustand, der jeder Beschreibung spottete; und diese wurden an anspruchslose und vorschnelle, in den Dingen dieser Welt unbewanderte Menschen für die Summe von einem Shillig die erste, einem halben Shilling jede nächstfolgende Stunde vermietet. Tatsächlich gab es überhaupt keine festen Preise; und recht ausdauernde Jungens konnten ein Fahrrad und die damit verknüpfte Aufregung und Gefahr schon für sechzig Pence pro Stunde haben – das heißt, wenn es ihnen gelang, Grubb die Überzeugung beizubringen, daß das ihr ganzes Vermögen sei … worauf Grubb Sattel und Lenkstange ziemlich obenhin anschraubte, dann – außer bei Jungens, die er kannte – ein Pfand verlangte und die Maschine schmierte, worauf der Abenteurer loszog. Meist kamen er oder sie auch zurück; aber manchmal, wenn der Unfall ernster Natur war, mußten Bert oder Grubb ihre Räder selber heimholen. Die Miete wurde stets bis zur Stunde der Rückkehr berechnet und vom hinterlegten Pfand abgezogen. Selten nur gaben sie ein Fahrrad in einem Zustand pedantischer Leistungsfähigkeit aus der Hand. Die ausgeleierte Schraube, die den Sattel hielt, die bresthaften Pedale, die lose Kette, die Lenkstangen, die Bremse, alles strotzte von romantischen Unfallmöglichkeiten. Ein Knarren und Rasseln und Pochen, seltsame rhythmische Geräusche erhoben sich, während der kühne Mieter ins Land hinaus radelte. Die Glocke klemmte sich ein; die Bremse versagte an einer steilen Wegstelle; oder die Sattelstange lockerte sich, und der Sattel rutschte mit dumpfem Krach drei oder vier Zoll tiefer. Oder auch die lose, rasselnde Kette knirschte während des Bergabfahrens gegen die Zähne des Kettenrads und brachte die Maschine zu einem plötzlichen und verhängnisvollen Stillstand, ohne die Vornüberneigung des Radlers zu hemmen. Oder ein Reifen knarrte und stöhnte und gab den Kampf einfach auf …

Wenn dann der Radler als höchst erhitzter Fußgänger zurückkam, pflegte Grubb jegliche vorgebrachte Beschwerde mit großer Ruhe zu ignorieren und ernsthaft die Maschine zu begutachten.

»Schlecht behandelt worden!« begann er.

Und er wurde zu einer milden Verkörperung höchster Vernunft. »Sie können von einem Rad nicht verlangen, daß es Sie in den Arm nehmen und tragen soll!« pflegte er zu sagen. »Ein bißchen Intelligenz Ihrerseits gehört auch dazu. Es ist doch schließlich immer nur eine Maschine.«

Ab und zu grenzten die Versuche, die aus derartigen Vorkommnissen entstehenden Forderungen einzukassieren, geradezu ans Gewaltsame. Immer war es eine außerordentliche rhetorische und meist auch eine unerquickliche Angelegenheit; aber Klappern gehört nun einmal zum Handwerk in diesen fortschrittlichen Zeiten. Oft genug ereilte sie auch darin die Enttäuschung …

Die Chaussee von London nach Brighton, die durch Bun Hill lief, war – wie das britische Empire oder der britische Staat – eine Sache, die nach und nach in ihre Bedeutung hineingewachsen war. Ungleich anderen europäischen Chausseen ist an den britischen Landstraßen nie der Versuch gemacht worden, sie zu regulieren und nivellieren, welchem Umstand zweifellos ihr eigenartig malerisches Gepräge zuzuschreiben ist. Die alte Bun Hiller Chaussee fällt gegen ihr Ende zu um etwa achtzig bis hundert Fuß ab, in einem Winkel von eins zu fünf, wendet sich dann in rechtem Winkel nach links, läuft etwa zwanzig Meter lang in einem Bogen bis zu einer Backsteinbrücke über den trockenen Graben, der einst die Otterbourne war, biegt dann um eine dichte Baumgruppe scharf wieder nach rechts und geht als einfache, gerade, friedliche Chaussee weiter. Ehe es den Laden, den Grubb und Bert mieteten, hier gab, waren an dieser Stelle ein paar Pferde- und Motor- und Fahrradunfälle vorgekommen; und ehrlich gestanden – war es just die Wahrscheinlichkeit weiterer derartiger Unglücksfälle, die die beiden dorthin zog.

Erst waren ihnen solche Möglichkeiten in einer Art humorvoller Beleuchtung aufgegangen.

»Einer von den Plätzen, wo der Mensch sein Brot glatt durch Hühnerhalten verdienen könnte!« sagte Grubb.

»Durch Hühnerhalten verdient der Mensch nichts!« sagte Bert.

»Man hält die Hühner und läßt ihnen den Kopf abfahren«, sagte Grubb. »Die Automobilonkels müssen dafür blechen.«

Als sie den Laden schließlich mieteten, fiel ihnen beiden diese Unterredung wieder ein. Aber Hühner konnten leider nicht in Frage kommen; es war nirgends Platz für sie, außer sie hielten sie im Laden. Und daß sie da nicht am Platz waren, leuchtet ein. Der Laden war viel moderner als ihr voriger und hatte Spiegelglasscheiben. »Früher oder später«, sagte Bert, »fährt uns da ein Auto durch!«

»Schön!« sagte Grubb. »Entschädigung! Meinethalben kann das Auto kommen, wann's will. Gern – wenn's mir auch auf die Nerven geht!«

»Und einstweilen«, sagte Tom äußerst verschmitzt, »kauf ich mir einen Hund!«

Er kaufte einen Hund. Er kaufte hintereinander drei Hunde. Er setzte sämtliche Angestellte des Hundeasyls von Battersea durch seine Nachfrage nach einem tauben Hühnerhund und durch sein glattes Zurückweisen jedes Kandidaten, der die Ohren spitzte, in Verwunderung. »Ich möchte einen richtigen, tauben, schwerfälligen Hund«, sagte er. »Einen Hund, der sich nicht aufregt …« Die Leute zeigten eine unbequeme Neugier; sie erklärten, taube Hunde wären äußerst selten.

»Hunde«, behaupteten sie, » sind eben nicht taub.«

»Aber meiner soll's sein!« sagte Bert. »Hunde, die nicht taub sind, hab' ich gehabt. Grad genug. Wissen Sie, es ist nämlich das – ich verkaufe Grammophons. Und natürlich muß ich sie immer ein bißchen reden und quietschen lassen, wenn ich sie den Kunden zeige. Naja – und ein Hund, der nicht taub ist, mag das nicht, wird aufgeregt, schnüffelt, bellt, knurrt … Und das stört die Kunden. Begreifen Sie? Dann – ein Hund, der sein Gehör hat, bildet sich alles mögliche ein. Hält ganz gewöhnliche Vagabunden, die vorbeigehen, für Räuber … Meint, er müsse jedes Auto ankläffen, das vorübersaust … Alles ganz schön für Menschen, die ein bißchen Unterhaltung brauchen. Aber wir haben Unterhaltung genug. So einen Hund brauch' ich nicht. Ich brauch' einen ruhigen Hund.«

Schließlich erstand er hintereinander drei Hunde, aber keiner von ihnen wollte sich machen. Der erste verschwand ohne Spur, achtlos jeglichen Lockens … der zweite wurde eines Nachts von einem Obstauto überfahren, das entfloh, ehe Grubb auf die Straße kam; der dritte kollidierte mit dem Vorderrad eines heraussausenden Radlers, der durch die Spiegelscheibe rannte und sich als stellenloser Schauspieler und absoluter Bankrotteur entpuppte. Er verlangte Entschädigung für irgendeine aus der Luft gegriffene Verletzung, wollte von dem wertvollen Hund, den er getötet, oder dem Schaufenster, das er zerbrochen hatte, überhaupt nichts hören, zwang Grubb, einfach vermittels rein physischer Beharrlichkeit, ihm sein verbogenes Vorderrad zu flicken, und plagte die tapfer kämpfende Firma mit einer ganzen Reihenfolge von geschraubten und schwülstigen Drohbriefen, welche Grubb – äußerst bissig – beantwortete und sich dadurch, wie Bert fand, ins Unrecht setzte.

Unter all diesen Unannehmlichkeiten wurden die Geschäfte immer schwieriger und verzwickter. Das Schaufenster wurde mit Papier geflickt – und ein höchst unerquicklicher Wortwechsel betreffs der hinausgezögerten Reparatur mit dem neuen Hauswirt, einem Bun Hiller Schlächter, neben einem höchst unangenehmen, lauten, widerwärtigen Patron, mahnte sie an die ungeschlichteten Schwierigkeiten mit dem alten. So standen die Dinge, als Bert auf den Gedanken verfiel, eine Art Scheinfonds zugunsten Toms im Geschäft zu gründen. Aber wie gesagt – Tom hatte keinen Unternehmungsgeist. Seine Idee von Kapitalanlage war noch immer einfach – der Strumpf. Und er überredete seinen Bruder mit allen Mitteln, seine Offerte zurückzuziehen … Bald darauf bereitete sich das Schicksal zum letzten Ansturm gegen das sinkende Geschäft vor und vernichtete es ganz und gar.

II

Ein armes Herz, das keine Freude kennt!« Pfingsten schien als eine angenehme Unterbrechung der geschäftlichen Schwierigkeiten von Grubb & Smallways zu kommen. Ermutigt durch das praktische Ergebnis von Berts Unterhandlungen mit seinem Bruder und durch den Umstand, daß die Hälfte der Räder von Sonnabend bis Montag vermietet war, beschlossen sie, den Rest ihres Verleihgeschäfts am Sonntag sich selbst zu überlassen und diesen Tag der notwendigen Ausspannung und Erholung zu widmen, sich's am Pfingstsonntag einmal recht wohl sein zu lassen und dann neugestärkt zum Kampf mit ihren Schwierigkeiten und Festtagsreparaturen am Montag zurückzukehren. Überbürdete und gedrückte Menschen haben noch nie etwas wirklich Gutes geleistet. Der Zufall gab es, daß sie die Bekanntschaft zweier junger, in Clapham angestellter Damen, Miss Flossie Bright und Miss Edna Bunthorne, gemacht hatten; man beschloß also, zu viert einen vergnüglichen Radfahrausflug ins kentische Land zu machen, dort ein Picknick zu veranstalten und den Nachmittag und Abend unter den Bäumen und Farn zwischen Ashford und Maidstone zu verbringen.

Miss Bright konnte radeln, und es fand sich auch ein Rad für sie, nicht unter den Mietsrädern, sondern unter den zum Verkauf bestimmten. Miss Bunthorne, die Berts besonderer Schützling war, radelte nicht; er mietete darum mit einiger Schwierigkeit in dem großen Geschäft von Wray in der Claphamer Straße einen Anhängekorbwagen. Wer unsere Jünglinge, in farbenfrohem Gewand, die brennende Zigarette im Mund, zum Rendezvous abradeln sah, Grubb mit gewandter Hand das Damenrad neben sich her führend, Bert unentwegt töff-töffend, der konnte sich einen Begriff davon machen, wie tapfere Herzen sogar über Insolvenz zu triumphieren vermögen. Ihr Hauswirt, der Schlächter, grunzte laut, als sie an ihm vorüberkamen, und schrie hinter ihren entschwindenden Rücken ein zorniges: »Hep! Hep!« drein.

Als ob sie sich da etwas draus gemacht hätten!