Der Mädchenreigen - Susanne Gantert - E-Book

Der Mädchenreigen E-Book

Susanne Gantert

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Beschreibung

Braunschweig im Jahre 1580. Elise, die Tochter des reichen Kaufmanns Lorenz Kale soll von einem feuerspeienden Drachen entführt worden sein. Sie ist aber nicht die einzige Jungfer, die wie vom Erdboden verschluckt ist. Der Wolfenbüttler Jurist Konrad von Velten begibt sich im Auftrag des Herzogs auf die Suche. Auf seinem Weg begegnet er dem Mädchen Laura. Sie ist als Junge verkleidet und hat ihre Erinnerung verloren. Gemeinsam decken die beiden mit Lauras rückkehrender Erinnerung einen teuflischen Plan auf.

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Susanne Gantert

Der Mädchenreigen

Historischer Roman

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stundenbuch_der_Maria_von_Burgund_Wien_cod._1857_Der_Evangelist_Markus.jpg

und © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hans_Holbein_der_Jüngere_-_Der_Kaufmann_Georg_Gisze_-_Google_Art_Project.jpg

und © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Braunschweig_Lüneburg_(Merian)_336.jpg

ISBN 9783839250709

Prolog

November 1579

Irgendwo im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel

Sie kam langsam zu sich, als sie die Hände spürte, die sich an ihren Fußknöcheln zu schaffen machten. Sie wollte die Augen öffnen, doch die Lider schienen so schwer, als läge etwas darüber. Sie wollte der emsigen Hand an ihrem Knöchel den Fuß entziehen und merkte dabei, dass sie im Wasser lag. Es war warmes Wasser, das nach Rosenblüten duftete und hätte nicht dieser Schrecken des Unerklärlichen darüber gelegen, hätte sie gerne noch einen Moment in dieser ungewohnten, duftenden Schwerelosigkeit verharrt.

Langsam, als wollte alle ungebührliche Hast von einer fremden, unüberwindlichen Macht unterdrückt werden, gelang es ihr, ihre Augen zu öffnen. Sie blickte in ein funkelndes Meer von Lichtern. Tausendfach spiegelten sich die Flammen der Kerzen, die um sie herumstanden, durch die bewegte Oberfläche des Wassers, in dem sie lag. Wie aus dem Nichts erschien eine Hand mit einem silbernen Becher in ihrem Blickfeld, der an ihre Lippen gesetzt wurde. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie unmäßig durstig sie war, und so schluckte sie gehorsam ein wenig von der Flüssigkeit, die sehr süß und nach würzigen Kräutern schmeckte.

»So ist’s gut, meine Schöne. Trink und folge mir in das Land der unendlichen Genüsse!«, wisperte eine Stimme an ihrem Ohr.

Wie im Reflex schlug sie nach dem Becher, der dem Besitzer der Stimme aus der Hand glitt und unter der Wasseroberfläche verschwand. Sie blickte dem Becher nach und sah nackte, weiße Haut unter dem funkelnden Nass.

Meine Haut!, dachte sie fast unbeteiligt. Ich bin nackt und ich liege in einer Wanne.

Sie fuhr zusammen, als die Stimme jetzt gar nicht mehr sanft zischte: »Du dummes Mädchen, du hast ein Vermögen ins Wasser gestoßen!«, dann etwas gemäßigter: »Aber sieh hier, es gibt noch etwas, trinke es nur jetzt vorsichtig, dann wird es dir sehr gut gehen!«

Doch inzwischen war ihr Bewusstsein zu sehr geschärft. Mit einem Ruck fuhr sie hoch, floh an das Fußende des großen Holzzubers, drehte sich um und versuchte ihren Blick auf den Besitzer der Stimme zu fokussieren.

Wie ein mächtiger Schatten vor funkelndem Licht hatte dieser sich zur vollen Größe erhoben und kam auf sie zu. Als sie ein Bein über den Wannenrand hob, um aus der Wanne zu fliehen, schnellte ein Arm vor und eine feiste Pranke ergriff sie am Handgelenk.

Der Schrecken, der ihr Bewusstsein nun endgültig erobert hatte, machte sich in einem gellenden Schrei Luft. Mit einem Ruck gelang es ihr, ihr noch vom öligen Wasser glitschiges Handgelenk zu befreien. Sie fiel der Länge nach hin und sofort war der Schatten über ihr.

»Nun, nun, es hilft dir nichts, hier herumzuschreien. Niemand wird dir zur Hilfe kommen. Der Schatten ließ sich neben ihr nieder und hielt sie erneut am Handgelenk fest, als sie von ihm fortkriechen wollte. Mit der anderen Hand ergriff der Schatten ein großes Laken, das auf einem Schemel neben der Wanne lag, schüttelte es aus seinen Falten und hüllte sie darin ein. Er ließ ihr Handgelenk los und nahm sie nun mitsamt des Lakens hoch und trug sie zum anderen Ende des Raumes.

Sie strampelte und schrie, doch dies hatte einzig zur Folge, dass ihr Bezwinger fröhlich lachte und sie dann auf ein weiches Lager fallen ließ.

»Es hat keinen Sinn, dass du dich wehrst, du gehörst mir für diese Nacht und wir werden ein Märchen daraus machen wie aus dem Serail. Du wirst für mich tanzen und du wirst die Meine werden heute Nacht!«

»Was wollt Ihr von mir? Ich bin keine Frau, sondern ein Mädchen! Ich habe noch nicht geblutet!«, schrie sie in Panik.

»Sch, sch, sch, du hast noch nicht von den Wonnen der Liebe in Unschuld gekostet! Deshalb sollst du nun diesen Saft trinken und du wirst verstehen!«

Sie hatte sich an die hinterste Ecke des Lagers geflüchtet und dabei das Laken eng um sich gerafft. Sie beobachtete den Mann, den sie nun besser erkennen konnte, da sich ihre Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten, wie er nach einer bauchigen Tonflasche griff und den silbernen Becher erneut füllte. Er war ein großer, dicker, rotgesichtiger Mann, dessen spärliches Blondhaar verschwitzt an seinem Schädel klebte. Er trug einen seltsamen Mantel aus nachtblauer Seide, der über dem mächtigen Leib von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Über dem Gürtel klaffte der Mantel über einer weißen, unbehaarten Brust auf, unterhalb des Gürtels ragte ihr sein mächtiges Geschlecht entgegen.

Sie wusste sehr wohl, was das bedeutete. Sie war ein Landkind, dem die Mechanismen der Fortpflanzung und die ihr dienenden Werkzeuge bei den Tieren in selbstverständlicher Beiläufigkeit überall begegneten.

Doch die Ordnung ihres Lebens in einem beschaulichen Dorf hatte noch nicht zugelassen, diese Aspekte jemals auf sich zu beziehen – das lag in der weiten Ferne des Erwachsenendaseins und hatte noch nichts mit ihr zu tun. Ein ungläubiges Keuchen entrang sich ihrer Brust, als das Ungeheuer auf sie zukam. Sie ließ das Laken fahren, sprang vom Lager, duckte sich an dem schwerfälligen Mann vorbei in die Richtung, wo sie eine Tür vermutete, und sah sich plötzlich erneut gepackt, obwohl ihr Peiniger noch wie angewurzelt mit Becher und Flasche an der gleichen Stelle stand.

Diesmal spürte sie, dass sie an die Formen einer Frau gedrückt wurde. In der Annahme, dass sie hier ihrer Rettung in die Arme gelaufen war, ließ sie ihren Widerstand gegen die weibliche Umklammerung erlahmen und schluchzte erleichtert: »Bitte, Frau, rettet mich. Er will mir beiliegen. Bringt mich fort von hier!«

»Gemach, gemach, mein Engel, das hier ist nichts, wovor du dich fürchten musst.« Sie erkannte die Frau. Sie war doch die Mutter des Engels!

Vor wenigen Tagen, als sie am Rande des Dorfes das einzige Zicklein ihrer Eltern hatte grasen lassen, war er auf seinem prächtigen weißen Pferd geritten gekommen und hatte dies vor ihr zum Stehen gebracht. Zunächst hatte er sie nach dem Weg gefragt, nach ihrer Auskunft war er jedoch nicht weitergeritten, sondern war abgestiegen und hatte sich erstaunt über ihre außerordentliche Schönheit gezeigt. Dabei war er selbst der schönste Mann gewesen, den sie je gesehen hatte. Dann hatte er ihr gestanden, dass er bei ihrem Anblick unmittelbar in den Zustand tiefster Liebe verfallen sei, da er aber wohl sehe, dass sie noch zu jung sei, um schon seine Frau zu werden, werde er am nächsten Tag seine Mutter schicken, die sie hier an der gleichen Stelle treffen solle. Diese werde mit ihr zu ihren Eltern gehen und im Namen des Sohnes um sie anhalten. Danach werde sie sie mitnehmen und sie würde bis zur Hochzeit zum geeigneten Zeitpunkt bei ihr leben. Sie solle nur vorerst nichts ihren Eltern verraten.

Am nächsten Tag war die Mutter genau zum verabredeten Zeitpunkt in einer schönen Kutsche am Treffpunkt erschienen. Freundlich und warmherzig war sie gewesen und hatte ihr gegen die Aufregung einen Schluck aus einer kleinen bauchigen Flache angeboten. Das Mädchen hatte sich nichts Böses gedacht und nichts weiter als eine köstliche Erfrischung in der Flasche vermutet. Sehr schnell hatte sie gemerkt, dass ihr auf einmal alles leicht wurde im Kopf. In glückseliger Vertrautheit hatte sie es sich gefallen lassen, dass die Frau sie an sich zog, und hatte ihren Kopf auf deren Schulter gelegt.

Eine Falle! Tina, ihre Schwester, der sie unter dem Gebot der strengsten Verschwiegenheit von ihrem zukünftigen Glück erzählt hatte, hatte für einen kurzen Augenblick den Zweifel gesät, der zu ihrer Rettung hätte aufgehen müssen: »Und wenn er dich gar nicht heiraten will?«

Sie hatte das mit einer abfälligen Handbewegung abgetan: »Wenn er doch seine Mutter schickt!«

»Es ist das Glück und der Fluch aller Frauen«, fuhr die Frau fort. »Und wenn du klug bist, wird es mehr Glück als Fluch für dich werden! Reicht ihr doch endlich den Trank, Meister, sonst werdet ihr Eures Glückes Schmied heute nicht mehr sein!«

Entsetzt sah sie den Mann, der die Tonflasche abgesetzt hatte, auf sich zukommen, während die Frau sie mit stählernem Griff festhielt. Seine freie Hand griff nach ihrem Gesicht und zwang ihre Kiefer auseinander, indem er Daumen und Zeigefinger wie eine Zange dazwischen ansetzte. Er drückte ihren Kopf zurück an die mächtige, weiche Brust der Frau und flößte ihr den Inhalt des silbernen Bechers ein. Einen Moment noch versuchte sie, sich freizustrampeln und die Flüssigkeit auszuspucken, doch das Getränk rann wie flüssiges Feuer durch ihre Adern, ließ ihren ganzen Körper heiß und schwer und ihre Glieder matt werden. Der Schrecken fiel von ihr ab und sie sah alles nur noch durch den goldenen Schleier der sich verbindenden Lichter der Kerzen. Wieder spürte sie Hände auf ihrem Leib, aber sie schienen nicht sie, sondern einen Mantel, der um ihre Haut herumlag, zu berühren.

»Nun, nun, jetzt gefällst du mir, meine Schöne!«

Wie eine unheilvolle Melodie, deren Faszination man sich aber nicht entziehen konnte, klangen die Worte in ihren Ohren nach. Sie wusste, dass alles, was er jetzt mit ihr tat, Unrecht war, aber obgleich es ihr Bewusstsein erreichte, war es ihr gleichgültig. Als er sie aufforderte, dass sie tanzen solle, stand sie auf, streckte die Arme weit über den Kopf und wiegte sich, wie sie dies oft an heißen Sommertagen dem im Sommerwind wogenden Korn gleichgetan hatte, nach einer Melodie, die nur sie hörte.

Auf einmal ertönten Lautenklänge, die vollkommene Harmonien aneinanderreihten und die Stimme des Mannes befahl: »Sing, aber hör nicht auf zu tanzen!«

Sie summte eine Sommermelodie, die sie wie von selbst anzufliegen schien, und die Harmonien der Laute passten sich ihr perfekt an.

Doch plötzlich brach die Musik mit einem hässlichen Misston ab und der Mann griff nach ihr. Sie gab nach wie ein biegsamer Halm und nahm seine Anbetung als selbstverständlich hin. Mit den Augen versuchte sie, seinen Händen auf ihrem Leib zu folgen, erfasste sie aber nicht in ihrer Geschwindigkeit. Als er sie auf das Lager legte und mit seinem riesigen Körper über sie senkte, spürte sie zwar den Schmerz, doch sie lehnte ihn nicht ab.

Das nächste Mal erwachte sie mit quälenden Kopfschmerzen. Doch noch schlimmer fühlte sich der Schmerz in ihrer Leibesmitte an. Sie gönnte sich noch einen Moment lang den Luxus, die Erinnerung an alles Gewesene auszuschalten, doch dann gab ihr Geist nach und die Bilder fluteten über ihn hinweg.

Vorsichtig drehte sie den Kopf auf dem Lager hin und her, doch sie war allein. Der Raum war nur noch ganz schwach durch die glimmende Glut im Kamin erleuchtet, doch sie erkannte den Wasserbottich, an den nun die Laute gelehnt war.

Sie hörte ein Keuchen und Wimmern und nach einigen Momenten verstand sie, dass sich diese Laute ihrer eigenen Kehle entrangen.

Vorsichtig begann sie sich aufzurichten, und sie hatte alle Mühe, die aufkommende Übelkeit niederzukämpfen. In einer Ecke des Lagers fand sie das Laken, in das sie ihr Peiniger nach dem Bad eingehüllt hatte. Sie griff danach und wickelte es um ihren Leib. Dann setzte sie ihre Füße auf den Boden neben dem Lager und versuchte langsam, sich zu erheben. Erst beim dritten Versuch wollte dies gelingen und sie jammerte und weinte vor Schmerzen und Pein. Allmählich jedoch kehrten die Kräfte zurück und sie tastete sich mit langsamen Schritten und mit den Händen jeden Halt ergreifend, der sich ihr bot, in die Richtung, in der sie die Tür vermutete.

Als sie diese soeben erreicht hatte, öffnete sie sich und die Frau, die sie für ihren Peiniger festgehalten hatte, trat ein.

»Ach, mein Herzchen, du bist schneller erwacht, als ich gedacht hatte. Geht es dir gut, mein Lieb?«

Das Mädchen starrte die Frau an, die sich mit solch mütterlicher Wärme nach ihrem Ergehen erkundigte. »Ich … Ihr … ich … bitte, ich … bitte lasst mich gehen!«, schluchzte es.

»Aber sicher, mein Täubchen, gleich darfst du gehen. Aber bitte verrate der lieben Melusine doch zunächst, wohin du gehen möchtest?«

»N… n… nach Hause, b… bitte, lasst mich nach Hause gehen!«

»Wenn das dein innigster Wunsch ist, soll er dir natürlich gewährt sein, mein Honigmäulchen, doch ein paar Dinge solltest du dir zunächst noch anhören. Komm, setzen wir uns doch hierhin.«

Mit unnachgiebigem Griff zog die Frau, die sich Melusine nannte, das Mädchen auf das Lager, auf dem die unaussprechlichen Dinge geschehen waren, an die das Mädchen sich mehr und mehr zu erinnern begann.

»Du musst wissen, mein Goldvögelchen, so wie du warst, als du gestern von zu Hause fortgingst, bist du nun nicht mehr. Und da musst du dir überlegen, ob die Deinen dich so, wie du jetzt bist, überhaupt zurückhaben wollen. Die Leute aus euren Dörfern sind da manchmal sehr gnadenlos. Ein Mädchen, das etwas mit einem Manne hatte, mit dem es nicht verheiratet ist, ist eine Gefallene. Man kann es keinem ehrbaren Manne mehr zum Weib geben.«

»A…ber Ihr h… habt mich dazu gemacht! Ihr habt mir etwas zu trinken gegeben, sodass ich nicht mehr ich war!«

»Ach, mein Zuckerschnütchen«, lachte Melusine glockenhell auf, »ja, zufällig war ich es und nicht diese oder jene. Das ist doch ganz gleich. Was zählt, ist das, was dabei herausgekommen ist, und das ist ein gefallenes Mädchen.«

Unaufhaltsam rannen die Tränen über die Wangen des Mädchens.

»Aber, wo soll ich denn jetzt hingehen? Ich kenne nur mein Dorf.«

»Ach, mein Engelchen, zufällig weiß die gute Melusine da eine wunderbare Lösung. Ich schicke dich in ein Haus, wo man dich wohlgefällig aufnehmen wird. Dort ruhst du dich eine Weile aus und überdenkst deine Lage. Dann wird man dir eine erstklassige Ausbildung geben. Du wirst eine Dienerin der Liebe und die Männer werden sich nach deiner Gunst verzehren!«

Das Mädchen ahnte, was das bedeutete, war aber inzwischen so verzweifelt, dass es sich eine liebevolle Umarmung der mütterlichen Melusine gefallen ließ, ja, sich gar schluchzend hineinsinken ließ.

1. Kapitel

April 1580

In einem Keller irgendwo in den Wäldern

Laura versuchte, sich aus der Umklammerung des Mannes zu befreien. Sie trat um sich und biss in alles, was in die Nähe ihrer Zähne kam, wobei es sich dabei nur um spröden, dreckigen und sehr undurchlässigen Stoff handelte, der die Arme des Mannes umhüllte. Ihre mit einem groben Strick lose auf dem Rücken fixierten Hände suchten ein angreifbares Ziel, rissen sich aber an der metallenen Koppel des Mannes die Haut blutig. Das Gesäß des Mädchens rieb durch seine Befreiungsversuche den Schritt des Mannes, was diesen veranlasste, mit geilem Gelächter hervorzustoßen: »Mach weiter, kleine Dirne, man hat ja seine reine Freude an dir und deinen Fluchtversuchen!

Diese Worte bewogen Laura unmittelbar, wie ein nasser Sandsack in der Umklammerung des Mannes zusammenzusinken und sich nicht mehr zu rühren.

»Wag es, du stinkender Teufel, das wird dir der Marschall nicht durchgehen lassen. Eher bringt er dich um, als zuzulassen, dass du sein bestes Pferd im Stall beschmutzt!«

Frustriert stieß der Mann einen stinkenden Atemzug aus, schüttelte den Sandsack, der nun keinerlei freudige Erregung mehr in ihm hervorrief, brutal und schleifte das Mädchen durch den Kellerraum zu einer mit einem riesigen Riegel versehenen Tür. Als er mit einer Hand versuchte, den schweren Riegel aus dem Schließkasten zu ziehen und nur der andere Arm das Mädchen umklammerte, ließ sich dieses mit einem Ruck schwer in die Knie sinken und packte nun mit den gefesselten Händen mit aller Kraft in das nur durch dünne Beinkleider geschützte Gemächt des Mannes. Der Mann schrie auf, ließ den Riegel, der mittlerweile aus dem Gegenstück gezogen war, aber auch das Mädchen fahren, um mit beiden Händen zur Stelle des gepeinigten Körperteiles zu gelangen.

Die Tür öffnete sich wie von Geisterhand, und muffige, stinkende Luft entwich dem Raum der dahinterlag. Ein schwacher Lichtschein einer qualmenden Fackel enthüllte den Ort der Verzweiflung, den Laura so dringend hinter sich zu lassen wünschte. Sie verfluchte ihr Zögern angesichts der drei Augenpaare, die ihr entgegenstarrten, und sah im Augenwinkel gerade noch rechtzeitig die gekrümmte Klaue des Alten, die nach ihr greifen wollte. Beherzt beendete sie das Werk ihrer Hände mit einem schwungvollen Tritt in den Schritt des Mannes, was diesen nun endgültig dazu brachte, wie ein Messer zusammenzuklappen und zu Boden zu sinken.

Anstatt dem Impuls zu folgen, zu den anderen Gefangenen zu eilen, schob sie sich rückwärts und den Mann wachsam im Auge behaltend zu einem Tisch, auf dem ein Brotzeitmesser des Bewachers lag. Mit der einen der gefesselten Hände ergriff sie das Messer, presste es mit dem Griff zwischen ihr Gesäß und den Tisch und versuchte, den groben Strick durch Auf- und Abbewegungen ihres Körpers durchzusäbeln.

Etliche Male schnitt die scharfe Klinge dabei in das weiche Gewebe ihres Handballens und sie schluchzte gepeinigt und wütend auf, bis sie merkte, dass sich die Fesseln durch ihre Bewegungen von selbst lösten und sie das Messer gar nicht weiter zu bemühen brauchte. Als ihr Bewacher sich schon wieder aus seiner verkrümmten Haltung zu erheben begann, waren die Hände frei. Die Rechte des Mannes fuhr mit stählernem Griff an ihre Kehle, doch seine Augen weiteten sich erst erstaunt, dann entsetzt, als er plötzlich einen gewaltigen Druck in der Brust und eine unendliche Schwäche in den Gliedern spürte. Er blickte an sich herab und sah den ehernen Griff seines Brotzeitmessers aus seiner Brust ragen. Ehe seine zitternden Hände sich von der Kehle des Mädchens zum Messer bewegt hatten, brach er in die Knie. Als er mit dem Körper auf dem Boden auftraf, war er bereits tot.

In fliegender Hast entledigte sich Laura ihres Kleides, unter dem sie nur ein einfaches Hemd trug. Sie überwand ihre Abscheu und zog dem Mann das Messer aus der Brust. Da das Herz nicht mehr schlug, hatte das Gott sei Dank nicht den befürchteten Blutschwall zur Folge. Mit einigem Ekel schälte sie den toten Mann, der Gott sei Dank ein schmächtiges Leichtgewicht war, aus seiner einfachen Landserjoppe. Das darunter befindliche Wams war reichlich blutdurchtränkt, und daher verzichtete sie schaudernd darauf. Die schlichte, nicht einmal geschlitzte Pluderhose jedoch konnte sie gerade eben ertragen, denn man erkannte nur wenige Blutstropfen auf dem dunklen Stoff und sie eignete sich hervorragend dazu, ihre weiblichen Formen zu verbergen. Der Gürtel ließ sich in der Taille fest genug ziehen. Die Strümpfe ließ sie unbeachtet, die Schuhe erwiesen sich als viel zu groß. Ihre eigenen Pantöffelchen würden ihre Tarnung Lüge strafen und so beschloss sie, sich barfuß auf die Flucht zu machen. In fliegender Eile wischte sie das Messer am blutbefleckten Wams des Mannes ab, so gut es ging, und begann eine Strähne ihres weizenblonden Haares nach der anderen mit groben Schnitten in Höhe des Halses abzusäbeln. Entsetzt registrierte sie, dass die Unruhe in den Räumen über ihr zunahm. Sie griff nach der Filzkappe ihres Peinigers, stülpte sie über die zerzauste Frisur, steckte das Messer in den Hosenbund, warf einen letzten bedauernden Blick auf die Tür zu ihrem ehemaligen Gefängnis und eilte zur Treppe, die aus dem unteren in den oberen Keller führte.

Am oberen Ende der Treppe angekommen, lugte Laura vorsichtig in das große Hallengewölbe, in dem sie der Wächter vor ein paar Minuten bei ihrem Fluchtversuch aufgegriffen hatte. Es war niemand zu sehen, doch aus dem Raum des Marschalls hörte sie erregte Stimmen.

»Sie sollte dieses entzückende neue Kleid anprobieren, das ihr kürzlich brachtet. Sie war vollkommen nackt, als ich sie nur kurz verließ, um meine Notdurft zu verrichten, Marschall!«, hörte sie Melusines greinende Stimme.

»Ich hab dir aber zigmal gesagt, dass keine von ihnen auch nur einen Moment unbewacht sein darf! Wie kommt es aber, dass sie Zeit hatte, sich wieder anzuziehen und bis zur Klappe zu gelangen?«

Laura schauerte beim Klang der kalten Männerstimme.

Weil es eine geraume halbe Stunde war, in der deine gute Melusine mit einem Wächter geturtelt hat!, dachte Laura von Triumph erfüllt, während sie sich vorsichtig durch die leere Halle tastete. Am gefährlichsten war die Passage der halb geöffneten Tür, durch die die Stimmen drangen. Doch jaulte Melusine dort dem Marschall weiter die Ohren voll und übertönte jeden Laut, der von Laura kommen konnte. Ein kurzer Blick durch den Spalt zeigte Laura überdies, dass der Marschall breitbeinig mit dem Rücken zur Tür vor Melusine stand. Schnell überwand sie die kritische Stelle und huschte zur Treppe, die sie endgültig in die Freiheit führen sollte.

Frustriert erkannte sie, dass die Falltür am Ende der Treppe geschlossen war, aber sie beeilte sich, diese einen Spalt breit anzuheben, um zu erkunden, ob die Luft draußen rein war.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass das Gegreine Melusines aufgehört hatte und dass auch vom Marschall nichts mehr zu hören war. Panisch drückte sie die Falltür gerade so weit hoch, dass sie ihren schmalen Körper ins Freie schlängeln konnte, und ließ die Tür mit einem Knall, der scharf in ihren Ohren widerhallte, fallen. Sie robbte in das dichte Unterholz, das die Falltür von drei Seiten umgab, und zog im letzten Moment ihren nackten Fuß nach, als auch schon ein aufmerksamer Wächter durch den natürlichen Tunnel, der von der Falltür in die Freiheit führte, lugte.

»Ne, is nichts!«, meldete der Mann und zog sich wieder zurück.

Wie eine Schlange wand sich Laura eilig durch das Unterholz und erblickte dann auf einer kleinen Lichtung zu ihrer großen Freude zwei Pferde, die nur nachlässig an einem Baum angebunden waren. Hinter sich hörte sie, dass die Falltür geöffnet wurde und die schneidende Stimme des Marschalls zu wissen verlangte, wer diese eben geöffnet und wieder fallen gelassen habe.

»Niemand, Herr, hier ist keiner!«

»Verdammt, Ihr Idioten! Schaut nach den Pferden!«

Laura verfluchte ihre klammen, zitternden Hände, als sie versuchte, die Zügel des einen Pferdes vom Baumstamm zu lösen. Die fadenscheinige Hose und die Joppe über ihrem dünnen Hemd boten kaum Schutz gegen die nasse Kälte hier draußen. Schon hörte sie die Geräusche sich durch das Unterholz walzender Körper. Als sie schließlich die Riemen freibekommen hatte, sprang sie an der Seite des Pferdes hoch, zog sich mit Kräften, die sie nicht mehr in sich vermutet hatte, in den Sattel, griff nach den Zügeln und grub dem Pferd ihre Fersen in die Seite.

In einem Winkel ihres Bewusstseins registrierte Laura, dass es sich bei dem nervösen Rappen, der aufgrund ihrer Behandlung zunächst wiehernd in die Höhe stieg und mit einem Huf den bereits gefährlich nahe gekommenen Häscher vor die Brust trat, nur um das Pferd des Marschall handeln konnte. Im nächsten Moment stob das Pferd mit seiner spontanen Last buckelnd und schnaubend durch die enge Gasse, die aus dem Unterholz hinausführte. Zweige und Äste rissen an Lauras Kleidung und Haaren und drohten sie aus dem Sattel zu ziehen. Sie duckte sich eng in den Sattel und hielt ihr Gleichgewicht, indem sie ihre Beine fest um den Leib des Pferdes presste. Dies schien dem Pferd eine gewisse Stabilität und Autorität zu vermitteln, denn es hörte auf zu buckeln und schoss wie ein Pfeil aus dem Unterholztunnel hervor. Hinter sich hörte Laura Rufe und Flüche und den Schrei:

»Verdammt, nicht auf das Pferd schießen!«

Sie spürte einen Schlag am seitlichen Hinterkopf, von dem sie meinte, er müsse ihren Schädel gesprengt haben. Während sie mühsam versuchte, die immer verschwommenere Sicht vor ihren Augen zu klären, raste das Pferd in wilder Jagd weiter und ließ Geschrei und Flüche hinter sich.

Laura merkte, dass ihr die Zügel immer mehr entglitten, dass ihr Gespür für Rhythmus, Geschwindigkeit und Zeit sich auflöste zu einer Wolke, auf der sie zu schweben meinte. Das dunkle Grün des Waldes löste sich zu einem Gespinst aus bleigrau und silbrig-grün. Das Donnern der Hufe verschmolz mit dem Rauschen des Windes. Kurz erblickte sie in den diffusen Formen die Gestalt ihrer Mutter, die ihr die Arme entgegenstreckte. Den harten Aufschlag, als sie vom Pferd stürzte, spürte sie nicht mehr, ebenso wenig wie sie den donnernden Hufschlag, der sich immer weiter von ihr entfernte, hörte.

2. Kapitel

Wolfenbüttel, Mitte April 1580

Missmutig blickte Konrad aus dem Fenster der Kanzlei hinüber zum Schloss. Drei Tauben, die auf der Suche nach Nahrung über das Kopfsteinflaster vor der kleinen Brücke, die sich über den Schlossgraben wölbte, trippelten, waren das Einzige, was außer einem in den Torbogen gelümmelten Wachsoldaten zu sehen war. Der Wachsoldat nahm nur Haltung an, wenn sich irgendjemand dem Schloss näherte, was seit einer geschlagenen halben Stunde nicht mehr passiert war.

Der Himmel lag wie ein graues Tuch über dem Anblick. Seit über einer Woche hatte niemand auf Schloss Wolfenbüttel, in der Heinrichstadt und der ganzen Umgebung mehr einen Sonnenstrahl erblickt. Der Wind pfiff um die Mauern der Gebäude und die eisigen Temperaturen ließen beinahe nur noch den Schluss zu, dass es dieses Jahr tatsächlich keinen Frühling mehr geben würde, geschweige denn einen blühenden, lebensstrotzenden Maianfang.

Als Konrad seinen Blick wieder den vor ihm liegenden Papieren zuwandte, entrang sich seiner Brust ein schwerer Seufzer. Wie sollte es draußen blühen und grünen, wenn er doch meinte, in seinem Herzen würde dies auch nie mehr geschehen. Das Grau des Himmels entsprach doch genau dem Grau seiner Seele. Und außerdem dem Grau der unsäglich langweiligen Akten, die vor ihm lagen: Verträge, die auf ihre Tauglichkeit und Vorteilhaftigkeit für das Herzogtum überprüft werden mussten, und dies von drei Juristen. Konrad stand im letzten Glied, da er der Jüngste und Unerfahrenste war, der in der Kanzlei arbeitete. Deswegen bestand seine Arbeit nach der Überprüfung durch die beiden anderen Juristen, einer davon sein Onkel Andreas, eigentlich nur noch darin, eventuelle sprachliche Unebenheiten oder Fehlnummerierungen zu entdecken. So etwas entdeckte er natürlich nicht, weil zumindest sein Onkel ein zu genialer Jurist war, um sich solche Ungenauigkeiten zu erlauben.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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