Der magische achte Tag (Band 1) - Marliese Arold - E-Book

Der magische achte Tag (Band 1) E-Book

Marliese Arold

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Beschreibung

Als die 13-jährige Laura eine geheimnisvolle Taschenuhr findet, ist nichts mehr wie zuvor. Es gibt für sie plötzlich einen achten Tag in der Woche. An diesem Tag ist Laura Teil einer Welt voller Magie. Alles ist anders und alles scheint möglich. Laura entdeckt an sich neue Fähigkeiten und muss lernen, mit ihnen umzugehen. Bald findet sie drei Freundinnen, die sich in der gleichen Situation befinden. Auf die vier wartet eine wichtige Aufgabe: Sie müssen ihre eigene Welt vor den skrupellosen Zeitprogrammierern schützen. Vier ungewöhnliche Heldinnen in einem spannenden magischen Abenteuer. Die neue Mädchenbuchreihe von der Autorin der »Magic Girls«!

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Seitenzahl: 225

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Der magische 8. Tag

Verborgene Kräfte

eISBN 978-3-96129-050-5

Edel:Kids Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

1. Auflage 2018

Projektkoordination: Christiane Rittershausen

Lektorat: Almut Schmidt

Text: Marliese Arold

Covergestaltung: Geviert Grafik & Typographie

unter Verwendung von Motiven ©EVA105/Shutterstock und ©iktash/Shutterstock

Layout und Satz: Uhl + Massopoust, Aalen

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH Berlin, Projektmanagement schaefermueller publishing Berlin

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Die geheimnisvolle Uhr

Ein seltsamer Morgen

Das Schloss der Ewigkeit

Unterricht bei Magister Darius

Verborgene Talente

Mamas neuer Freund

Die Überraschung

Der magische Dschungel

Nächtliches Abenteuer

Geheimnisse

Ein rätselhafter Uhrmacher

Die Berufung

Die geheimnisvolle Uhr

»Pizza ist in acht Minuten fertig«, rief Papa von unten.

»In Ordnung, ich komme gleich!«, antwortete Laura Lilienstedt. Seufzend klappte sie das Buch zu, das sie gerade las. Es war ein alter Band mit wunderschönen russischen Märchen. Laura liebte die fantastischen Geschichten und die vielen Bilder. Mama würde jetzt wieder meckern und sagen, dass Laura mit ihren dreizehn Jahren zu alt für Märchen war. Aber Laura fand, Märchen waren zeitlos. Man konnte sie auch noch mit achtzehn oder mit achtundachtzig lesen, vorausgesetzt, die Augen machten da noch mit.

Laura legte ihr silbernes Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das dicke Buch zu. Wieder einmal roch sie an dem braunen Leder des Einbands. Die verschnörkelte goldene Schrift war schon ein bisschen abgeblättert, aber das tat der Schönheit des Buches keinen Abbruch.

Sie legte den Band neben sich auf die Couch und strich über deren roten Samtbezug. Er fühlte sich herrlich weich an. Papa hatte ihr erklärt, dass man auch Ottomane zu der Couch sagen konnte. Wegen der besonderen Form. Eine Ottomane hatte eine schräg verlaufende Rückenlehne und runde Armlehnen.

Laura war stolz darauf, dass Papa so schöne Möbel bauen konnte. Meistens reparierte er jedoch alte Möbel. Oder besser, er restaurierte sie, wie es richtig hieß. Das war eine große Kunst, weil man dann genau das gleiche Holz finden musste oder einen ähnlichen Stoff, damit die Möbel so aussahen wie früher. Und man durfte auch nicht einfach irgendwelche modernen Nägel oder Kreuzschrauben verwenden, wenn sich ein Teil gelockert hatte.

»Noch vier Minuten!«, rief Papa.

»Ja-aaa.«

Lauras Blick wanderte im Raum umher. Hier im Turmzimmer hielt sie sich am liebsten auf, wenn sie das Wochenende oder die Ferien bei Papa verbrachte.

Der Raum hatte acht Ecken und war sehr groß. Durch die vier Rundbogenfenster, die genau nach Süden, Westen, Norden und Osten gingen, hatte Laura praktisch eine Rundumsicht. Manchmal fühlte sie sich hier im Turm wie eine Prinzessin – obwohl sie für Prinzessinnenfantasien nun wirklich zu alt war. Aber die schönen Möbel, die Papa in dieses Zimmer gestellt hatte, waren wirklich zauberhaft und luden zum Träumen ein.

Ein besonderer Hingucker war der Schreibtisch, den Papa erst vor Kurzem restauriert und über die Wendeltreppe mühsam in dieses Zimmer gehievt hatte. Dazu hatte er einen Flaschenzug und die Hilfe zweier Freunde benötigt, weil das Möbelstück so schwer und sperrig war. Es handelte sich um einen Sekretär, der über hundertfünfzig Jahre alt war. Er besaß unzählige Schubladen und Klappen, und Laura liebte es, diese kleinen Schubladen aufzuziehen und ihre Schätze darin zu verstauen – beispielsweise die Muscheln aus dem letzten Urlaub oder die Liebesbriefe, die sich Uroma und Uropa während des Zweiten Weltkrieges geschrieben hatten.

Mama warf Laura immer vor, sie sei eine Sammlerin und sie solle doch nicht das ganze alte Zeug aufbewahren, sonst werde sie eines Tages als Messie enden. In Lauras Zimmer bei Mama gab es keine Bücher, sondern nur einen E-Book-Reader, weil dieser weniger Platz wegnahm. Und wenn Mama die alten Liebesbriefe gesehen hätte, dann hätte sie diese sofort weggeworfen. Dabei waren die Briefe so süß, sie begannen beispielsweise mit: »Mein lieber Heinz, ich hoffe, du bist noch am Leben und unverletzt. Ich habe dich jeden Abend in mein Gebet eingeschlossen …« Und Uropa schrieb dann zurück: »Meine kleine Helga, der Gedanke an dich gibt mir Kraft und lässt mich all das Schreckliche ertragen …«

Laura hatte plötzlich Lust, die alten Briefe herauszukramen, bevor sie mit Papa zu Abend aß und dann zu Mama zurückfuhr. Sie trat an den Sekretär, öffnete die große Klappe mit einem vergoldeten Schlüssel und betrachtete die vielen Schubladen hinter der Schreibplatte. Dabei fiel ihr zum ersten Mal eine Stelle in dem polierten Holz auf, die aussah wie ein Astloch. Laura streckte die Hand aus. Ihr Zeigefinger strich über die Stelle, die sich beweglich anfühlte. War es ein Knopf?

Laura verstärkte den Druck ihres Fingers. Tatsächlich! Sie konnte das Astloch nach unten drücken. Sofort begann es im Innern des Sekretärs zu schnarren wie bei einem alten Uhrwerk.

Laura traute ihren Augen nicht, als sich einige Schubladen ein Stück nach rechts verschoben. In der entstandenen Öffnung stieg von unten eine weitere kleine Schublade herauf.

»Nein!«, rief Laura überrascht. Ein Geheimfach! Ihre Finger zitterten, als sie die Schublade vorsichtig aufzog.

Im Innern lag ein kleiner roter Samtbeutel, der mit einem schwarzen Seidenband zugebunden war.

Lauras Herz klopfte heftig, als sie den Beutel aus der Schublade nahm. Sie spürte, dass sich etwas darin befand. Hatte sie einen verborgenen Schatz gefunden? Alte Münzen vielleicht?

Hastig löste sie das Seidenband und griff in den Beutel. Zuerst bekam sie ein zusammengefaltetes Stück Papier in die Finger. Dann ertastete Laura eine schwere Metallkette und etwas Kühles, Glattes. Sie zog einen flachen, goldenen Gegenstand aus dem Beutel. Er war achteckig und hing an einer Kette, die ebenfalls golden war.

Eine Taschenuhr!

Laura vernahm ein leises, gleichmäßiges Ticken. Neugierig untersuchte sie die Uhr und stellte fest, dass sich der Deckel aufklappen ließ.

Das Zifferblatt war äußerst kunstvoll gestaltet und hatte römische Zahlen. Der Untergrund schimmerte silbern. Stunden- und Minutenzeiger bestanden aus feinem Gold und waren verschnörkelt. Der Sekundenzeiger wanderte langsam im Kreis herum. Es befand sich noch ein weiteres kleineres Zifferblatt auf dem großen Zifferblatt, doch die beiden dazugehörigen Zeiger standen still.

Im Innern des goldenen Deckels war in Schnörkelschrift CARPE DIEM eingraviert. Laura wusste sogar, was das hieß: Nutze den Tag! Das hatte Papa ihr einmal erklärt. Es bedeutete, dass man die Chancen, die einem der Tag bietet, ergreifen soll, weil das Leben für jeden irgendwann einmal zu Ende geht.

Unter der Schrift befand sich eine liegende Acht – das Unendlichkeitszeichen.

Was für ein Fund!

Laura liebte die Zahl Acht. Sie war am achten Tag des achten Monats geboren, also am achten August, und witzigerweise auch noch um acht Uhr acht. Sie hatte ihre Mutter gefragt, ob die Hebamme vielleicht getrickst hätte, weil sie das Datum so lustig gefunden hatte, aber Mama hatte geschworen, dass alles seine Richtigkeit gehabt hatte.

»Pizza ist fertig!«, brüllte Papa. »Bitte komm SOFORT!«

»Gleich!«

Laura drückte den Deckel wieder zu und stopfte die Uhr in den Samtbeutel zurück. Dann faltete sie das Blatt Papier auseinander. Jemand hatte mit dunkler Tinte einen rätselhaften Text darauf geschrieben.

Entdecke das Geheimnis des Ewigen Kalenders!

Nicht sieben Tage, sondern acht

verleihen dir besond’re Macht.

Während der geschenkten Stunden

wirst du vieles neu erkunden,

wirst auch manches neu entdecken

zu guten und zu bösen Zwecken.

Hab auf dies Geschenk gut acht,

verwende es nur mit Bedacht!

Damit dein Glück nicht bald zerbricht,

verrate dein Geheimnis nicht!

Was, verflixt noch mal, war ein Ewiger Kalender? Und warum war in dem Gedicht die Rede von einem achten Tag? Laura schwirrte der Kopf.

»LAURA!!!« Papa, sonst die Geduld in Person, klang jetzt ärgerlich.

»Komme schon!«, antwortete Laura, stopfte den Zettel in den Samtbeutel und steckte den Beutel in ihren Rucksack. Sie rannte zur Wendeltreppe, stolperte die Stufen hinab und eilte in die Küche, wo Papa den Tisch gedeckt hatte.

»Na endlich!« Lauras Vater zog das Blech aus dem Backofen. Es dampfte. »Hast dich wieder mal nicht von dem Buch losreißen können, stimmt’s?«

»Genau«, log Laura und setzte sich an den Tisch. Am liebsten hätte sie Papa von ihrem Fund erzählt, aber sie hatte noch den letzten Satz im Gedächtnis: Damit dein Glück nicht bald zerbricht, verrate dein Geheimnis nicht! Deswegen schwieg sie, obwohl sie sonst mit ihrem Vater über alles redete, beispielsweise über die Schule, über Mama oder über Elias, ihren nervigen kleinen Bruder.

Es roch verführerisch nach Tomaten, Zwiebeln und Käse. Laura lief das Wasser im Mund zusammen. Papa machte die weltbeste Pizza!

Dann saßen sie gemeinsam am Tisch. Herr Lilienstedt hatte die Pizza in zwei Hälften geteilt. Es war eine Riesenportion für jeden. Aber wenn man die Woche über nach einem strikten Ernährungsplan gefüttert wurde, dann musste man das Essen bei Papa einfach genießen!

»Lecker!«, lobte Laura, nachdem sie den ersten Bissen genommen und sich fast den Mund verbrannt hatte.

Papa lächelte geschmeichelt. Er war vielleicht nicht hübsch mit seinem runden Gesicht und dem schütteren Haar, das oft unter einer Kappe verschwand. Er hatte eine Knubbelnase und rote Bäckchen, und wenn er sich den Bart etwas länger wachsen ließ wie jetzt, sah er aus wie ein Zwerg aus einem seiner Märchenbücher. Allerdings war er nicht kleinwüchsig, sondern erreichte mit seinen 1,86 Metern eine stattliche Größe. Laura war früher immer sehr stolz auf ihren starken Papa gewesen, der mühelos einen schweren Schrank herumheben konnte. Wie oft hatte er sie in die Luft geschleudert, als sie noch nicht zur Schule ging. »Flieg, mein Engelchen, flieg!«, hatte er dabei gerufen. Und Laura hatte damals gehofft, tatsächlich in den Himmel zu fliegen. Sie musste schmunzeln, als sie sich daran erinnerte.

»Woran denkst du?«, fragte Papa.

»Ich habe daran gedacht, wie es früher gewesen ist«, antwortete Laura zwischen zwei Bissen. »Wie du mich in die Luft geworfen hast. Und wie du mir damals das tolle Häuschen im Garten gebaut hast. Und wie wir immer ganz viel zusammen gemacht haben …« Jetzt, wo sie es aussprach, schien das alles unendlich lange her zu sein. Damals waren sie noch eine richtige Familie gewesen, und Laura hatte mit ihren Eltern und ihrem Bruder in dieser alten Villa mit dem achteckigen Turm gewohnt.

»Oh, dann hast du vergessen, wie sehr ich euch immer auf die Nerven gegangen bin!«, meinte Papa und prustete los. Wenn er lachte, wurde sein Mund ganz breit, seine weißen Zähne blitzten, und alles in seinem Gesicht lachte mit: Die blauen Augen und die vielen, vielen kleinen Fältchen. Sein Lachen war ansteckend, und es war unmöglich, dabei traurig zu sein. Er lachte die Probleme einfach weg.

Laura musste mitlachen und verschluckte sich beinahe. Sie nahm einen Schluck Orangensaft. »Du bist uns überhaupt nicht auf die Nerven gegangen«, widersprach sie dann.

»Oh doch. Erinnerst du dich nicht, wie du mich oft um eine Geschichte angebettelt hast, aber ich wollte unbedingt noch ein Möbelstück fertig machen? Dann hat Mama dir vorgelesen, und du hast geschrien wie am Spieß …«

»Stimmt gar nicht!«

»Und ob! Irgendwann hast du dich natürlich daran gewöhnt. Und dann wollte ich oft mit dir und Elias sonntags in den Wald gehen, aber ihr wolltet lieber in einen Vergnügungspark fahren. Und wenn ihr dann nach einem langen Kampf doch mitgegangen seid, weil ich euch mit einem Spielzeug bestochen habe, dann habt ihr euch schrecklich gelangweilt!«

Die Waldspaziergänge … Okay, manchmal war es wirklich langweilig gewesen, besonders im Sommer, wenn sie bei großer Hitze stundenlang gelaufen waren. Und einmal hatten sie versehentlich Picknick direkt neben einer Ameisenkolonie gemacht, und die kleinen Tierchen waren über Lauras Beine gekrabbelt. Es hatte schrecklich gejuckt …

»Trotzdem ist es schade, dass ihr euch getrennt habt, du und Mama«, murmelte Laura.

»Ach Schätzchen, das haben wir doch schon x-mal durchgekaut«, antwortete Papa, und sein Gesicht wurde ernst. Die blauen Augen schauten ganz traurig. »Es hat einfach nicht mehr funktioniert. Mama und ich, wir hatten viele gute Jahre zusammen, aber dann haben wir uns ja fast nur noch gestritten. Davon haben du und Elias nicht viel mitgekriegt, weil wir uns in eurer Gegenwart zusammengenommen haben. Die Trennung war für uns alle das Beste, glaub mir.«

»Mmhhh«, machte Laura nur. Das Beste war es bestimmt nicht, aber es war nutzlos, immer wieder mit dem Thema anzufangen. Sie hatte es oft genug versucht. Ohne Erfolg. Papa und Mama würden nie, nie, nie wieder zusammenziehen, auch wenn sich Laura das noch so sehr wünschte. So viel begriff man, wenn man dreizehn Jahre alt war: Wünsche gingen nicht immer in Erfüllung.

Unwillkürlich kam ihr die seltsame Uhr in den Kopf, aber sie drängte den Gedanken rasch beiseite. Du meine Güte, es fehlte nur noch, dass sie sich einbildete, einen magischen Gegenstand gefunden zu haben. Aus dem Alter war sie nun wirklich raus!

»Was machst du in der kommenden Woche?«, wollte Papa wissen. Ein Käsefaden hatte sich in seinem Bart verfangen, und Papa bemühte sich, ihn zu entfernen.

»Nichts Besonderes«, antwortete Laura. »Schule halt und so.« Ihr grauste ein wenig vor der schrecklichen Eintönigkeit, die ihr bevorstand. Die Schule war ja noch einigermaßen interessant, aber die Nachmittage waren absolut öde. Mama hatte für Laura ein Fitnessprogramm und einen Ernährungsplan aufgestellt. Sie wollte, dass ihre Tochter möglichst gesund aufwuchs. Laura war zwar kein Gramm zu dick, aber Mamas Plan bedeutete, keine Schokolade zwischendurch und an drei Nachmittagen in der Woche in den Trainingsraum, wo sie jeweils zwei Stunden trainieren sollte. Deshalb konnte Laura sich an diesen Tagen nicht mit Freundinnen verabreden. Und weil ihre Freundinnen ebenfalls einen durchstrukturierten Wochenplan hatten, fand so gut wie kein Treffen statt. Außerdem hatte Mama sich dieses brandneue 3-D-Festnetztelefon gekauft, bei dem der Kopf des Gesprächspartners als Hologramm erschien. Dieses System störte aber Lauras Laptop und Handy. Es knisterte und knackte, und oft brach die Telefonverbindung mittendrin einfach ab. So war Laura um das Vergnügen gebracht worden, von ihrem Zimmer aus stundenlang mit ihren Freundinnen telefonieren zu können. Laura bettelte schon seit einer Weile um neue Geräte, aber Mama weigerte sich, denn Lauras Handy und Laptop waren kaum ein Jahr alt. Immerhin konnte Laura noch Nachrichten schicken und empfangen, aber das war nicht vergleichbar mit einem vertraulichen Gespräch. Vielleicht hatte Laura deswegen fast keine Freundinnen mehr. Eigentlich gab es nur noch eine: Olivia Maurer, die mit ihr in dieselbe Klasse ging.

»Es war schön bei dir, Papa«, sagte Laura, nachdem sie die Pizza aufgegessen hatte, und machte Anstalten, aufzustehen.

»Noch einen Nachtisch?«, fragte Papa. »Im Kühlschrank steht Schokopudding.«

Laura überlegte einen Moment. Der Gedanke an Schokopudding war verführerisch. Aber ein Blick auf die altmodische Pendeluhr, die in Papas Küche stand, zeigte ihr, dass es höchste Zeit war aufzubrechen.

»Ein andermal«, erwiderte Laura. »Ich muss jetzt leider nach Hause.«

Nach Hause. Es fühlte sich immer noch falsch an, wenn sie das sagte. Diese Villa hier war ihr eigentliches Zuhause, nicht die hypermoderne Wohnung in dem hypermodernen Hochhaus. Aber die Eltern hatten so entschieden, und Laura und Elias hatten sich fügen müssen.

Laura küsste ihren Papa auf die Wange, kraulte ihm kurz den Bart und versuchte, den Kloß in ihrer Kehle zu ignorieren.

»Mach’s gut, Papa! Bis nächsten Freitag!«

»Du auch, Laura. Halt die Ohren steif.«

Ein seltsamer Morgen

Laura verließ die Villa und ging auf dem Kiesweg zum Tor. Der Weg war schon lange nicht mehr geharkt worden, und überall wuchs Unkraut. Wildkräuter, wie Papa sagte. Die Sträucher links und rechts hatten seit Monaten keine Gartenschere mehr gesehen. Laura schluckte. Trotzdem war es immer noch ihr Garten, in dem sie und Elias jahrelang gespielt hatten. Der schönste Garten der Welt, auch wenn Mama diese Wildnis schrecklich fand.

Das rote Auto wartete schon vor dem Tor. Laura warf ihren Rucksack auf den Rücksitz und stieg auf der Beifahrerseite ein.

»Nach Hause!«

Laura fand es immer noch faszinierend, dass kein Fahrer mehr nötig war. Sie besaßen das Auto erst seit vier Wochen. Alle Bewohner des Hochhauses beneideten die Lilienstedts darum. Papa dagegen meinte, es sei wieder mal typisch für Mama gewesen, sich so etwas anzuschaffen. Sie müsse den anderen immer eine Nasenlänge voraus sein.

Das Auto fuhr nahezu lautlos. Es besaß einen umweltfreundlichen Elektromotor. Sicher bewegte es sich durch die Straßen. Nach einigen Minuten hielt es im Akeleiweg vor der Nummer acht, einem Hochhaus, das aussah wie ein großer Würfel. Die vielen Fenster hatten nicht nur die Eigenschaft, dass man sie niemals putzen musste, sondern sie verdunkelten sich automatisch bei zu großer Sonneneinstrahlung. Nachts leuchteten sie für die Betrachter draußen in bunten Farben.

Laura fand das Hochhaus total hässlich, obwohl der japanische Architekt dafür einen Designerpreis gewonnen hatte.

»Garage!«, befahl Laura, nachdem sie ausgestiegen war.

Das Auto setzte sich gehorsam in Bewegung. Laura sah zu, wie der Wagen zur Tiefgarage einbog, dessen Tor sich automatisch öffnete.

Laura schulterte ihren Rucksack und lief zur Eingangstür. Dort hielt sie ihren Daumen auf das Sensorfeld an der Wand und wartete, bis die Tür aufging. Sie betrat die Halle, wo die bizarre Topfpflanze auf der Säule noch trauriger aussah als am Freitagnachmittag, als Laura das Gebäude verlassen hatte.

»Arme Ufo-Pflanze!«, murmelte Laura. »Keiner liebt dich!«

Die Putzroboter kamen einfach nicht mit den Grünpflanzen zurecht. Manchmal ertränkten sie sie, manchmal ließen sie sie verdorren. Der Wassersensor war nach wie vor ein schwacher Punkt, das war auch nach der Rückrufaktion der Herstellerfirma nicht besser geworden.

Laura hatte Glück, der Aufzug war gerade unten. Sie ging hinein und drückte auf den Knopf mit der Acht. Die Türen schlossen sich mit einem sanften »Zscht«, dann bewegte sich der Aufzug nach oben. Exakt acht Sekunden später stoppte er so ruckartig, dass Laura ihrerseits die Pizza stoppen musste, die sie vorhin bei Papa gegessen hatte. Zu viel Fett, zu viel Käse, zu viele Gewürze und vor allem ein viel zu großes Stück. Aber lecker.

Laura verließ den Aufzug und ging den Flur entlang. Ihre Mutter öffnete die Wohnungstür und lächelte. Wie immer war sie perfekt gestylt, selbst jetzt, an einem Sonntagabend, in ihrer Freizeit. Laura konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter zuletzt in einer Jogginghose auf der Couch herumgelümmelt hatte.

»Hallo, Laura!«

»Kannst du hellsehen?«, fragte Laura überrascht. »Woher hast du gewusst, dass ich komme?«

»Ich hab an der Anzeige gesehen, dass der Wagen wieder in der Tiefgarage parkt. Deswegen konnte ich ausrechnen, wann du hier bist. Wie war’s bei Papa?«

»Mit dem Aufzug stimmt etwas nicht«, sagte Laura, ohne auf die Frage einzugehen. »Er bremst viel zu hart.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich habe bereits die Hausverwaltung informiert. Hast du Hunger?«

»Ich hab bei Papa gegessen.«

»Oh. Was gab es denn?«

»Gemüsebratlinge mit Sojasoße und Couscous«, log Laura. Sie schob sich an ihrer Mutter vorbei, um in ihr Zimmer zu gehen. Elias’ Tür war nur angelehnt, Laura hörte die Geräusche eines Computerspiels, die Lieblingsbeschäftigung ihres neunjährigen Bruders.

Kaum hatte Laura ihren Rucksack auf dem Boden abgestellt, surrte Amy, der Haushaltsroboter, hinter ihr ins Zimmer.

»Smutzwässe, bitte«, forderte die mechanische Stimme, und die Teleskoparme streckten Laura einen leeren Wäschekorb entgegen, in den sie ihre schmutzige Wäsche werfen sollte.

»Einen Moment, Amy.« Laura zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und wühlte darin herum. Währenddessen blinkten Amys rote Augen. Der Roboter würde sich erst wieder von der Stelle rühren, wenn Laura den Wäschekorb gefüllt hatte.

Laura holte ihren Lieblingsschlafanzug, Jeans und ein Sweatshirt heraus und stopfte alles in den Wäschekorb.

»Amy dankt«, sagte der Roboter. Die Augenfarbe wechselte auf Grün, und das Blinken hörte auf. Er wollte schon mit dem Korb abdrehen, als er den Pullover entdeckte, den Laura jetzt erst aus dem Rucksack zog.

»Mehr Smutzwässe, bitte«, säuselte die Stimme, die Augen fingen erneut an, rot zu blinken. Wieder erschien der Korb vor Laura.

Laura hob genervt die Augenbrauen. Amys Sprachfehler war einfach nicht auszurotten, selbst nach mehreren Updates.

»Der Pullover muss nicht gewaschen werden, ich habe ihn nicht getragen«, erklärte Laura. »Und jetzt Abmarsch!«

Sie musste erst auf den »Weiter-im-Programm«-Knopf auf der Roboterbrust drücken, damit Amys Augen zu blinken aufhörten und wieder sanft und grün wurden.

»Amy dankt!«, wiederholte Amy und rollte aus dem Zimmer.

Laura schloss hinter dem Roboter die Tür. Dann legte sie den Pullover auf ihr Bett, faltete ihn auseinander und griff nach dem roten Samtbeutel, den sie in dem Kleidungsstück versteckt hatte. Obwohl es sie reizte, die Taschenuhr noch einmal genau zu betrachten, ließ sie den Samtbeutel in ihrem Nachtschränkchen verschwinden. Mama würde gleich hereinschneien, um sie über das Wochenende bei Papa auszufragen. Das war jedes Mal so.

Laura legte rasch ihr Fitnessarmband an, das registrierte, wie viel sie sich bewegte, wie schnell ihr Herzschlag und wie hoch ihr Blutdruck war und wie viele Kalorien sie verbraucht hatte. Seit ein Klassenkamerad ihr gezeigt hatte, wie man das Armband manipulieren konnte, trug sie es nur noch unregelmäßig. Und anstatt sich im Trainingsraum abzumühen, konnte sie die Zeit nutzen, um zu lesen. In ihrem Rucksack steckten wieder zwei Bücher von Papa.

Laura hatte den Verschluss des Armbands gerade geschlossen, als Mama schon klopfte und dann eintrat.

»Hattest du ein schönes Wochenende?«, fragte sie mit ihrer superfreundlichen Aushorch-Stimme und setzte sich auf den roten Schreibtischstuhl.

»Geht so«, murmelte Laura. Mit der Zeit hatte sie herausgefunden, welche Antworten Mama am liebsten hörte und was Laura besser nicht erzählte.

»Hat Papa eigentlich wieder eine Freundin?«

Das war eine Frage, mit der Laura nicht gerechnet hatte. Ihr wurde heiß. Sie fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Papa und eine Freundin? Der Gedanke war unvorstellbar, obwohl Laura natürlich wusste, dass sich viele Leute neu verliebten, wenn sie sich von ihrem Partner getrennt hatten. Aber eine neue Frau in Papas Leben? Jemand, der in der alten Villa umherging, mit Papa am selben Tisch saß und im selben Bett …

»NEIN!«, sagte Laura im Brustton der Überzeugung. »Bestimmt nicht.«

»Überleg doch mal. Du hast nichts bemerkt?« Mama ließ nicht locker. »Vielleicht eine neue Zahnbürste im Badezimmer? Oder ein Lippenstift? Ein Fläschchen Parfüm?«

Laura schüttelte den Kopf, obwohl sie sich im Badezimmer nicht zu genau umgesehen hatte. Sie hatte zwar einige Zeit dort verbracht (sie pflegte auch auf dem Klo zu lesen), aber die Ablage vor dem Spiegel hatte sie nicht kontrolliert. Jedenfalls nicht so genau, wie Mama es erwartete.

»Nein. Wie kommst du darauf, dass Papa eine Freundin hat?«, sprudelte Laura hervor. »Wieso sollte er?« Noch während sie die letzte Frage aussprach, blitzte in ihr ein Gedanke auf. Die Andeutungen, die Mama in der letzten Zeit gemacht hatte. Die Tatsache, dass sie jetzt abends ab und zu wegging und dafür bei dem Haushaltsroboter die Funktion »Babysitter« gewählt hatte. Was absolut lächerlich war, denn Amy hatte die ganze Zeit über Wiegenlieder vor sich hin gesummt und den Schaukelstuhl angestupst, als sei dieser eine Wiege. Das Schärfste aber war, dass Amy mehrmals in Elias’ Zimmer gerollt war und ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, indem sie ihn gefragt hatte: »Jetzt kacka müssen, ja?« (Mama hatte vergessen, bei der Funktion »Babysitter« das Alter der Kinder einzustellen.)

»So ganz unmöglich wäre es ja nicht, dass Papa eine Freundin hat.« Mama räusperte sich, und Laura wusste, dass jetzt eine Neuigkeit kam, die sie lieber nicht hören wollte. »Vielleicht hast du es dir schon gedacht, aber ich treffe mich seit einiger Zeit wieder mit einem Mann.«

Laura kämpfte gegen den Wunsch an, sich die Ohren zuzuhalten und laut »La-la-la-la!« zu singen. Stattdessen schluckte sie und fragte mit belegter Stimme: »Wer ist es?«

»Er heißt Bernd Asshoff«, antwortete Mama. »Dr. Bernd Asshoff. Er ist mein Chef.«

»Oh!« Laura wusste nicht, was sie sagen sollte, während eine Stimme in ihrem Hinterkopf trällerte: Asshoff-Asshole, Asshoff-Asshole …

Lauras Mutter, Valerie Lilienstedt, arbeitete in einer großen Firma namens TEMP. Laura wusste nicht so richtig, was sie da genau tat, aber jedenfalls verdiente sie eine Menge Geld, sodass sie die teure Wohnung, das Auto und den Roboter bezahlen konnte. Außerdem überwies sie Papa jeden Monat eine stattliche Summe (was sie auch immer wieder betonte), weil dieser mit seinen Restaurationsarbeiten lächerlich wenig einnahm.

»In der nächsten Zeit werdet ihr Bernd kennenlernen«, kündigte Mama an. »Er ist übrigens seit zwei Jahren geschieden, um deiner Frage vorzubeugen.«

Laura betrachtete ihre Mutter. Sie sah angespannt aus, daran konnte auch das Make-up nichts ändern. Ansonsten war sie eine attraktive Frau mit ihren achtunddreißig Jahren. Sie hatte ein ovales Gesicht, graue Augen und kurz geschnittenes schwarzes Haar. Ihre Lippen waren voll, wenn sie sie nicht gerade aufeinanderpresste wie jetzt. Laura war mit ihren 1,70 Metern inzwischen fast so groß wie sie, es fehlten nur noch zwei Zentimeter. Mamas Figur war ein Traum – und das Ergebnis vieler Stunden im Trainingsraum.

»Warum sagst du nichts?«, fragte Mama, weil Laura die ganze Zeit schwieg.

»Warum ich nichts sage?« All ihre Anspannung, ihre Wut und unterdrückten Zweifel platzten jetzt aus Laura heraus. »Weil ich keine Lust habe, diesen Bernd kennenzulernen! Du sollst keinen Freund haben und Papa keine Freundin! Ich will, dass ihr euch wieder vertragt und dass wir wieder in die alte Villa ziehen!« Sie konnte vor lauter Schluchzen nicht weitersprechen, warf sich aufs Bett und heulte in ihre Kopfkissen.

Mama begann auf sie einzureden: »Laura, sei doch vernünftig! Bernd ist sehr nett!« – »Wir können nicht einfach in unser altes Leben zurück!« – »Ich dachte, du bist alt genug, um das zu verstehen!«

Und schließlich: »Benimm dich nicht so kindisch!«

Laura hörte, wie ihre Mutter aufstand und das Zimmer verließ.

Langsam setzte sich Laura auf. Sie schniefte ein paar Mal und putzte sich mit einem Papiertaschentuch die Nase. Dann zog sie ihren Laptop aus dem Rucksack, klappte ihn auf und suchte nach dem Begriff Ewiger Kalender.

Kurz darauf war sie schlauer. Ihr Fund war anscheinend wirklich etwas Besonderes. Ein Ewiger Kalender war eine Uhr, die Stunden, Tage und Monate zählte, unermüdlich. Sie zeigte immer den richtigen Tag an, ohne sich je zu irren, egal, ob der Monat dreißig oder einunddreißig Tage hatte. Oder nur achtundzwanzig. Oder auch neunundzwanzig, wenn es sich um ein Schaltjahr handelte.

Es war eine große Herausforderung für einen Uhrmacher, eine solche Uhr zu bauen. Er musste winzigste Zahnräder zu Hilfe nehmen, um den Minuten-, den Stundenzeiger und die Datumsanzeige anzutreiben. Die Zahnrädchen mussten sich drehen und ineinandergreifen, damit die Datumsanzeige im richtigen Moment auf den nächsten Tag sprang, auf die nächste Woche, auf den nächsten Monat und auf das nächste Jahr. Was für den Betrachter so einfach aussah, war ein wahres Wunderwerk der Mechanik, verborgen im Innern der Uhr.

Im Internet wurden als erklärendes Beispiel Uhren gezeigt, die viele Tausend Euro kosteten. Keine sah jedoch so aus wie die, die Laura gefunden hatte.

Mit gemischten Gefühlen klappte sie ihren Laptop zu und steckte ihn in ihren Schulrucksack. Dann stopfte sie noch ihre Sportsachen dazu. Montags hatten sie immer Sport bei Frau Pilau – ein Fach, das Laura hasste. Denn Frau Pilau überprüfte zunächst alle Fitnessarmbänder, überspielte die Ergebnisse auf ihr Tablet und verglich dann die Leistungen der Einzelnen mit dem Trainingsstand auf dem Armband. Im Gegensatz zu Mama wusste sie bereits, dass sich die Armbänder manipulieren ließen, und sie drohte den Betrügern mit einer Mitteilung an die Eltern. Bei dem Gedanken daran schnitt Laura eine Grimasse. Ganz sicher würde es wieder Ärger mit Mama geben …

Vor dem Schlafengehen holte sie noch einmal das Samttäschchen aus ihrem Nachttisch. Sie bewunderte das Gold der Uhr, die achteckige Form, die Gravierung und das wunderschöne Zifferblatt. Immer wieder las sie den handgeschriebenen Text, der ihr nach wie vor Rätsel aufgab.

Nicht sieben Tage, sondern acht

verleihen dir besond’re Macht.

Während der geschenkten Stunden

wirst du vieles neu erkunden,

wirst auch manches neu entdecken

zu guten und zu bösen Zwecken.