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Was bringt einen Heckenschützen dazu in drei verschiedenen Südtiroler Ortschaften kurz hintereinander aus dem Hinterhalt drei Männer zu erschießen? Kommissar Fritz Permann und seine Assistentin Beatrice del Piero von der Kripo Bozen stehen vor einem Rätsel, denn die drei Männer scheint nichts miteinander zu verbinden. Mordet der Täter ein viertes Mal? Ein gnadenloser Wettlauf mit dem Mörder beginnt. Das Buch ist spannend bis zur letzten Seite.
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2021
Konrad Steger
Der Mann aus der Finsternis
Ein Südtirol-Krimi
© 2021 Konrad Steger
Coverfoto © Konrad Steger
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Softcover: 978-3-347-47906-7
ISBN Hardcover: 978-3-347-47908-1
ISBN E-Book: 978-3-347-47911-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Vorbemerkung
Die Handlung des vorliegenden Buches ist frei erfunden, ebenso wie die darin handelnden Personen. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Ich möchte außerdem ausdrücklich feststellen, dass es die Gruppierung „Wir zuerst“ in Südtirol nicht gibt, und dass es sie nie gegeben hat.
Konrad Steger
Humorlos
Die Jungen
werfen
zum Spaß
mit Steinen
nach Fröschen
Die Frösche
sterben
im Ernst
Erich Fried (1921-88)
Schlanders, 12. März
Als Karl Brandis im Morgengrauen aus seinem Haus in der Schmiedgasse trat, hatte er noch genau drei Minuten lang zu leben.
Die Luft war grau und der Jahreszeit entsprechend kalt, und die Helligkeit hatte fast schon über die Finsternis gesiegt. Es war genau 6.55 Uhr. Von der nahen Bergkette stöberte Schnee herunter. Ein leichter Schneeflaum, etwa zwei, drei Zentimeter hoch, hatte das Dorf, welches in einem leicht ansteigenden Gelände inmitten von Apfelplantagen friedlich dalag, über Nacht in Weiß gehüllt. Karl Brandis fröstelte, als er im Freien stand. Er trug eine schwarze, enge Laufhose, eine blaue Windstopper-Jacke, weiße Turnschuhe und eine schwarze Wollmütze. Der Mann gähnte und reckte seine Arme. Wie jeden Morgen hob er, es war ihm zur Gewohnheit geworden, zuerst sein rechtes Bein auf das Eisengeländer der Terrasse. Er legte seine Hände auf das Knie und wippte auf und ab, anschließend war das linke Bein dran. Fünfmal das rechte Bein, fünf Mal das linke, abwechselnd, und dann ließ er seine Arme kreisen. Sein Atem wolkte in der kalten Morgenluft. Er war startbereit und wollte auf dem noch verlassenen Radweg hinauf ins benachbarte Dorf Laas laufen und wieder zurück, bevor er in sein Büro musste.
Als Karl Brandis seine Pulsuhr auf null stellte und dabei seinen Blick über das Dorf schweifen ließ, sah er auf der gegenüber liegenden Seite, am Rande des Wäldchens, einen Lichtblitz aufflammen. Doch noch bevor sein Gehirn diesen Eindruck verarbeiten konnte, fauchte ihm der Tod ins Gesicht, und sein Kopf explodierte. Der Körper, der einmal Karl Brandis gewesen war, fiel leblos auf die Terrasse, und ein Blutsee breitete sich aus.
Die Wagen der Carabinieri standen vor dem Haus, und das rotierende Blaulicht auf deren Dach warf im trüben Licht des grauen Tages blaue Lichtblitze auf die Hausmauer. Zwei Beamte, ein dicker Maresciallo und sein Adjutant standen breitbeinig vor der Absperrung aus rot-weiß gestreiften Plastikbändern.
Der Anruf aus dem Kabinettsbüro, der Koordinierungsstelle der Bozner Quästur, hatte Kommissar Fritz Permann um 7.35 Uhr in seiner Wohnung in Bozen erreicht. Seine Frau Christa hatte die Wohnung schon verlassen. Er hatte gerade im Bad vor dem Spiegel gestanden und hatte seine schwarzen, an den Schläfen schon ergrauten Haare in Form gebracht. Danach hatte er sich einen Moment lang im Spiegel betrachtet, und was er sah, ließ ihn nicht unzufrieden sein, wenn er vom leichten Bauchansatz einmal absah, den er missbilligend betrachtete. 182 groß, schmales, dunkles Gesicht, grüne Augen.
Permann stürmte aus der Wohnung und rief seine Assistentin Beatrice del Piero an, welche schon auf dem Weg zur Arbeit war. Sie waren dann, mitten im Berufsverkehr, eskortiert von einer Carabinieri-Streife im Alfa Romeo, über die MEBO, die Schnellstraße, hinauf gerast nach Meran, so schnell es eben ging. Am Eingang zum Vinschgau, am Nadelöhr Töll staute es wieder einmal. Berufsverkehr. Sie krochen weiter durch die Dörfer des Vinschgaus hinauf nach Partschins, Rabland, Naturns, Kastelbell, und endlich erreichten sie die Ortschaft Schlanders.
Es war genau 9.05 Uhr, als der Kommissar routinemäßig auf seine Uhr sah und ausstieg.
Ein dicker Maresciallo und sein Adjutant schlugen ihre Hacken zusammen und gingen auf Habt Acht.
„Maresciallo Federico Gelmini und mein Adjutant Saverio Truillo. Commandi!“ Der rotgesichtige Carabiniere schüttelte Permann und Del Piero die Hand.
„Ich bin der Kommandant des Carabinieri-Bezirkskommandos Schlanders.“
„Der müsste auch mal abspecken, der gute Maresciallo“, ging es dem Kommissar durch den Kopf, und ärgerte sich sofort über seine eigenen Gedanken, die sich manchmal zu verselbständigen schienen. „Warum zum Teufel denke ich jetzt an meine Gewichtsprobleme, gerade in dieser Situation?“ Er wusste keine Antwort darauf, wischte seine Gedanken ärgerlich beiseite und stellte sich ebenfalls vor.
„Hauptkommissar Fritz Permann und Inspektorin Del Piero, Quästur von Bozen“.
„Da liegt er, oben auf der Terrasse“. Der Maresciallo wendete seinen Blick ab und deutete mit seinem Daumen zum Haus hinauf. Seine Worte waren fast ein Flüstern gewesen.
„Es ist wie immer, im Angesicht des Todes werden alle ehrfürchtig.“ Permanns Blick traf sich mit dem von Beatrice. Meistens verstand er sich wortlos mit ihr.
Als die Beamten unter den Plastikbändern durchgeschlüpft und die fünf Stufen zur Terrasse hinaufgestiegen waren, bot sich dem Kommissar und seiner Assistentin ein entsetzliches Bild. Permann war in seiner über 27jährigen Karriere einiges an Grausamkeiten untergekommen, doch was er da sah, fing ihm für einen Moment den Atem, und ließ ihn schlucken. Auf der Terrasse lag, auf den Rücken hingeworfen in einer riesigen Blutlache, die Leiche. Ein Auge blickte den Kommissar starr und anklagend an. Das rechte Auge war nicht mehr da, und auch nicht mehr die rechte Gesichtshälfte. Der größte Teil des Kopfes war weggerissen. In der rückwärtigen Wand klaffte ein Krater, in den offensichtlich ein Geschoss eingeschlagen war. Die Mauer war fast vollkommen mit Blutspritzern übergossen. Am Fuße der Hauswand lagen Gehirn- und Gewebefetzen, Mauerteile. Blut, überall war Blut. Eine Zeitlang schaute Permann stumm und ließ seinen Blick über die Szenerie schweifen. Der erste Eindruck von einem Tatort konnte entscheidend sein. Er registrierte die Fußabdrücke in der Blutlache. Die Haustür war nur angelehnt. Er drehte sich langsam zu seiner Assistentin um, die ziemlich blass im Gesicht war und ihm stumm zunickte. Ein Schuss hatte den Mann getötet, das war klar. Das Projektil musste, nach dem Einschlagskrater zu schließen, leicht schräg von oben gekommen sein.
„Es muss von einer erhöhten Position aus geschossen worden sein“, murmelte der Kommissar und Beatrice nickte zustimmend. Mitten im Dorf hatte der Mörder den Schuss höchstwahrscheinlich nicht abgefeuert.
Permanns Blick schweifte über die Häuser und sah das Wäldchen in etwa 500, 600 Meter Entfernung. Von daher war der Schuss vielleicht gekommen. Eine gewaltige Entfernung. War das überhaupt möglich?
„Sind die Techniker schon da?“ Der Maresciallo schüttelte den Kopf.
Lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie da waren.
„Wenn sie kommen, schicke einen von ihnen hinüber ins Wäldchen, und auch zwei Carabinieri! Der Schuss muss von da drüben, aus dem Wäldchen gekommen sein.“
Gelmini und Truillo nickten.
„Gibt es Angehörige?“
„Ja, das Opfer hatte zwei Kinder, zwei Mädchen, sie sind 18 und 22 Jahre alt.“
„Eine Ehefrau auch?“
„Ja. Sie hat ihn gefunden, wohl, nachdem sie das Geräusch gehört hat, als er auf die Terrasse gefallen ist. Sie steht unter Schock. Ihr Bruder ist bei ihr im Haus. Die jungen Frauen sind bei einer Tante, ein paar Häuser weiter. Leider ist seine Ehefrau in die Blutlache gestiegen, als sie ihn gefunden hat. Und leider auch ihr Bruder, als er ins Haus gegangen ist.“
Permann nickte Beatrice zu.
„Wir gehen rein. Gibt es einen Hintereingang?“
Der junge Carabiniere führte sie um das Gebäude herum, und sie betraten das Haus.
Im Hausgang empfing sie eine lange Reihe von Hirsch- und Gamsgeweihen an der Wand, und ein riesiger, ausgestopfter Auerhahn saß mit leicht geöffneten Flügeln auf einem obligatorischen Kiefernast.
„Aha, ein Trophäensammler.“ Permann kroch ein leichter Schauer über den Rücken. Das war immer so, wenn er Tierleichen an der Wand sah. „Ein strammer Tiroler war er also auch“, ging ihm durch den Kopf, als sie in die Stube traten. Dort beherrschte eine riesige Reproduktion von Franz Defreggers „Andreas Hofer“ in Passeirer Schützentracht und mit Säbel alles. Auf einer anderen Wand hing ein weiteres Bild des Tiroler Malers Franz Defregger, die „Heimkehr der Sieger“. Die Tiroler Stube war mit Zirbelholz ausgetäfelt. Auf einer Kommode waren Mineralien ausgestellt, große Rauchquarzsäulen und eine dunkelrote Granatgruppe. Eine Kuckucksuhr und ein Holzkruzifix hingen an der Wand, darunter stand eine alte, bemalte Truhe. Auf ihr lagen geklöppelte Spitzen. Den Holzboden bedeckten schwere Teppiche.
„Keine armen Leute“, registrierte Permann in Gedanken.
Auf einer Ledercouch saßen eine große, blonde Frau und ein Mann. Beide waren bleich und offensichtlich geschockt. Er hatte einen Arm um sie gelegt.
„Ziemlich hart, den eigenen Ehemann mit zerschossenem Kopf in einer Blutlache aufzufinden.“
Als sich der Kommissar und Beatrice vorstellten, blickte die Frau mit rotgeränderten, leeren Augen erschrocken auf. Ihre Lippen zitterten. Sie hatte offensichtlich geweint.
„Das ist Sophie Eisath.“ Der Mann deutete auf die bleiche Frau. „Seine Frau. Sie ist total fertig, sie hat ihn gefunden. Und ich bin ihr Bruder Kurt.“
„Sie haben ihn also gefunden?“ Permanns Worte klangen vorsichtig. Die blonde Frau nickte und begann zu schluchzen.
„Oje“, dachte Permann, „da ist wohl nichts mehr zu machen. Weitere Aussagen ihrerseits müssen wir heute wohl vergessen.“
„Ruhen Sie sich aus.“ Der Kommissar blickte ihr fest in die Augen. „In den nächsten Tagen muss ich Ihnen dann einige Fragen stellen.“
Die Frau nickte. Permann war sich aber nicht sicher, ob seine Worte sie überhaupt erreicht hatten.
Draußen arbeiteten die Techniker der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen.
„Ich gehe zum Wäldchen hinauf.“ Permann nickte seiner Assistentin zu. „Va bene, Chef“, erwiderte diese, „dann höre ich mich inzwischen bei den Nachbarn um. Vielleicht haben ja die was gesehen oder gehört.“
Die Nachricht musste sich inzwischen im Dorf herumgesprochen haben, denn als Permann durch die Straßen schritt, standen Gruppen von Menschen, vor allem Hausfrauen, beieinander. Sie redeten erregt durcheinander, und zeigten immer wieder auf Brandis‘ Haus. Andere Dorfbewohner waren auf ihre Terrassen getreten, reckten die Hälse und blickten in die Richtung, in der der blaue Lichtblitz kreiste, und eine Menschenansammlung zu sehen war.
Nahe einem Holzstapel am Rande des Wäldchens arbeiteten zwei Techniker. Auf einem der Holzstapel war auf der dünnen Schneeschicht ein Abdruck erkennbar. Als Permann genauer hinschaute, sah er einen leichten, grauen Film auf dem Schnee. War es verbranntes Schießpulver?
„Der Mörder hat sein Gewehr, oder was zum Teufel es war, hier aufgelegt und hat auf die Terrasse hinübergefeuert. Ja, so war es wohl.“
Dann wandte sich der Kommissar seinen Männern zu.
Ein Techniker kratzte Schneeproben in ein Plastiksäckchen. Der andere, der Chef der Spurensicherung, Robert Gassmann, fotografierte die Fußspuren vor dem Holzstapel. Permann nickte ihm zu. „Gute Arbeit Gassmann, in spätestens einer Stunde ist da nichts mehr, denn bald wird die Sonne herauskommen.“ Gassmann nickte und arbeitete weiter.
Permanns Blick richtete sich auf Brandis‘ Haus. Ja, das waren gut 500 – 600 Meter. Eine gewaltige Entfernung für einen Schuss. Permann war kein Jäger, aber er wusste, ohne ein Zielfernrohr konnte man auf diese Entfernung nichts treffen. Die blauen Lichtblitze zuckten noch immer, und vor dem Haus wuselten die Männer von der Spurensicherung und die Carabinieri hin und her.
„Den Fußspuren nach zu schließen war es ein einzelner Täter. Der wusste anscheinend genau was er wollte. Er hat auf ihn gewartet, hat ihn durch einen Feldstecher oder durch sein Zielfernrohr beobachtet, und hat dann abgedrückt. Verdammt. Der Mann muss Erfahrung mit Gewehren haben. Vielleicht ein Jäger?“
Beatrice hatte inzwischen mit den Nachbarn gesprochen und erstattete dem Kommissar Bericht. Niemand hatte anscheinend etwas gehört oder gesehen. Was denn für ein Mensch Karl Brandis gewesen sei, hatte sie gefragt. Ein ganz normaler, hatte sie stets zur Antwort bekommen. Ein besorgter Familienvater und ein guter Arbeitgeber als Inhaber einer florierenden Tischlerei sei er gewesen. Zudem war er Mitglied der Musikkapelle des Dorfes und aktiver Jäger.
Anscheinend war er gut im Dorf integriert gewesen. Ob er Feinde gehabt habe? Nein, das konnte sich niemand vorstellen.
„Gut“, sagte Permann, „oder besser gesagt, weniger gut. Normalerweise geschehen die meisten Morde im Affekt, wie du weißt. Innerhalb der Familie, der Verwandtschaft. Das hier scheint mir auf den ersten Blick nicht danach auszusehen. Da war vielleicht irgendein Profi am Werk, einer der verdammt gut mit einem Gewehr umgehen konnte. Oder was meinst du, Beatrice?“
„Wie du sagst, Fritz. Das sieht mir nicht nach einem Mord im Affekt aus, aber wir sollten das nicht zu früh beurteilen. Auf jeden Fall müssen wir sein ganzes Familienumfeld auf den Kopf stellen, und von außen nach innen kehren. Wer weiß, ob dieser Brandis nicht eine Geliebte gehabt hat, die sich an ihm gerächt hat, weil er sie nicht heiraten wollte?“ Beatrice lächelte entwaffnend, und ihre weißen Zähne blitzten in ihrem schmalen dunklen Gesicht, das glatte, pechschwarze, schulterlange Haare umrahmten.
„Vielleicht hat sich ja ein gehörnter Ehemann an ihm gerächt, oder es war ein Nebenbuhler, der ihn auf diese Weise entsorgt hat?“
„Da könntest du tatsächlich Recht haben, alles ist möglich, was man sich auch nur vorstellen kann.“ Auch Permann lächelte und zuckte die Schultern.
Der Kommissar räusperte sich und überblickte seine kleine Ermittler-Truppe in der Quästur von Bozen. Da saßen seine Assistentin Beatrice del Piero, der Chef der Kriminaltechnik Gassmann, der Chef der „squadra mobile“, der mobilen Eingreiftruppe, und zugleich auch Waffenexperte, Gianni Trincanato. Baumlang und durchtrainiert. Mindestens 1,95 Meter Mensch saßen da. Da waren noch Kriminalassistent Ferrara und Rocco Sanvita von der Digos, der Staatspolizei. Auch im Bozner Polizeipräsidium gab es, wie in jedem größeren italienischen Präsidium, eine Digos- Einheit. Die DIGOS, die Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali, die „Abteilung für allgemeine Ermittlungen und Sonderoperationen“ ist auf Terror- und Extremismus-Bekämpfung spezialisiert. Hauptaufgabe der Digos ist der Schutz des Staates vor politisch motivierten, staatsbedrohenden Aktivitäten wie beispielsweise Terrorismus und Landesverrat. Digos-Mann Rocco Sanvita hatte unbedingt bei dieser Fallbesprechung mit dabei sein wollen, so wie bei Allem, was vielleicht nach Verschwörung und Terror roch.
„Was haben wir und was wissen wir?“
Permann trat vor die weiße Tafel im Besprechungsraum. Der schwarze Filzstift quietschte erbärmlich auf, als er den Namen „Karl Brandis“ auf die Mitte der weißen, abwischbaren Tafel malte und einkreiste. Beatrice zog ihre Augenbrauen hoch, runzelte scheinbar missbilligend die Stirn, und sah ihn neckisch an. Permann bemühte sich weiter ernst zu blicken, aber auch ihm huschte ein kleines Lächeln über das Gesicht. Er und sie verstanden sich oft ohne Worte.
„Kleinunternehmer, Tischlereibetrieb, 54 Jahre alt, Frau, zwei Kinder, wohnhaft in Schlanders. Er wurde aus großer Entfernung erschossen, gestern in der Frühe, um etwa sieben Uhr. Im Dorf hat anscheinend, so sieht es zumindest bis jetzt aus, niemand etwas gehört und gesehen. Geschossen wurde wahrscheinlich von einem Holzstapel. Vom Waldrand aus.“
Permann drückte auf eine Taste des Laptops, der vor ihm stand. Der Beamer an der Decke warf eine Google-Maps-Grafik der Ortschaft Schlanders an die Wand. Brandis‘ Haus und das Wäldchen, von dessen Rand aus geschossen worden war, waren rot eingekreist.
„Weiß man schon aus welcher Entfernung geschossen wurde, Gianni?“
Gianni Trincanato, der Chef der squadra mobile, stand auf. Seine Stimme klang wie ein Reibeisen aus einem tiefen Brunnen. Sein italienischer Akzent war deutlich hörbar.
„Es waren exakt 562 Meter, mit dem Lasergerät nachgemessen. Die Flugparabel ist leicht von oben angesetzt. Ich habe auch das Blei des Geschosses aus der Hausmauer gekratzt. Es ist nicht wenig Material, total deformiert natürlich. Ein schweres Kaliber. Das Geschoss kam wohl aus einem Scharfschützengewehr. Es kann zum Beispiel eine Steyr HS, eine Heckler & Koch PSG1, oder auch eine Dragunow gewesen sein. Die Steyr HS kommt aus Österreich, die Heckler & Koch aus Deutschland, die Dragunow aus Russland. Die Dragunow ist zuletzt aus dem Jugoslawienkrieg bekannt geworden. Allen Gewehren gemeinsam ist ihre enorme Reichweite, und dass sie vor allem in Kriegen und Krisensituationen eingesetzt wurden und immer noch werden.“
Gianni Trincanato kam in Fahrt.
„Scharfschützengewehre werden seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg verwendet. Im Frühjahr 1862 wurden zum Beispiel die Unionstruppen einheitlich mit Sharps-Hinterlade-Gewehren ausgerüstet. Das vermutlich prominenteste Scharfschützen-Opfer in diesem Krieg war John Sedgwick, ein US-General auf Seiten der Nordstaaten. Er starb durch einen Scharfschützen, weil er nicht rechtzeitig in Deckung ging. Seine letzten Worte sollen angeblich folgende gewesen sein: „Auf diese Entfernung können die Konföderierten selbst einen Elefanten nicht treffen. Das … “
Beatrice musste plötzlich über die unfreiwillige Komik kichern. Sie fand wohl das Bild mit dem Elefanten und dem amerikanischen Nordstaaten-General, der nicht rechtzeitig in Deckung gegangen war, etwas komisch.
„Seit wann gibt es in Amerika Elefanten?“ Man sah ihr an, dass sie gleich losprusten musste.
Auch Permann musste grinsen. Er räusperte sich vernehmlich, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Er konnte Trincanatos Vortrag zwar einiges abgewinnen, fand aber auch, dass der Chef der squadra mobile zu sehr vom eigentlichen Thema abschweifte. Er kannte ihn. Wenn es um das Schießen und um Gewehre ging, war der sonst eher wortkarge Mann oft nicht mehr zu bremsen.
„Sorry Gianni, aber das passt nicht mehr ganz zum Thema, ok? Aber deine vorherigen Äußerungen über die Scharfschützengewehre sind natürlich sehr wertvoll für uns.“
Trincanato schaute verärgert in die Runde, und hob beschwichtigend seine Hände.
Dann fuhr er fort. „Etwas muss ich doch noch dazu sagen, cari colleghi. Der Schütze war sicher kein Anfänger. Um einen solchen Schuss zu setzen, einen Kopfschuss, und aus dieser Entfernung, braucht es einige Übung und Erfahrung. Zugute gekommen ist dem Schützen, dass es zur Tatzeit absolut windstill war.“
Er ließ seine Worte eine Weile auf seine Zuhörer wirken.
„Und noch etwas. Niemand hat anscheinend den Schuss gehört. Ich nehme an, der Schütze hat einen Schalldämpfer benutzt, und einen solchen kann man nicht mir nichts, dir nichts irgendwo kaufen. Entweder ist der Schütze ein Profi, ein Killer, der ganz besondere Geschäftsbeziehungen hat, oder er hat den Schalldämpfer selbst gebaut. Aber ich nehme an, das passt nicht mehr zum Thema. Wie ich euch kenne, wollt ihr sicher nicht wissen, wie man einen solchen Schalldämpfer selbst bauen kann.“
Der Waffenexperte konnte sich seinen beißenden Sarkasmus nicht verkneifen. „Das wird euch nicht mehr interessieren, denn es weicht auch zu sehr vom Thema ab. Basta per oggi.“
Trincanato setzte sich demonstrativ, er war sichtlich eingeschnappt.
„Doch, das interessiert uns, Gianni, berichte uns bitte kurz darüber“, bat Permann.
Trincanato machte sich gar nicht mehr die Mühe aufzustehen. Demonstrativ schnell spulte er die Angaben herunter. „Also gut. Dafür braucht es ein 30 cm langes Plastikrohr, in dem man innen eine Rohrisolation aus Schaumstoff anbringt. Vorne an dieses Rohr klebt man eine gelochte Plexiglasscheibe auf. Das Ganze schiebt man zehn Zentimeter über das Ende des Gewehrlaufes, und fertig ist ein einfacher Schalldämpfer. Eine Bauanleitung dafür kann heutzutage jeder im Internet finden. Ich habe fertig.“
Der Kommissar musste sich abwenden und lächelte. Natürlich wusste jeder im Raum wie Trincanato diesen letzten Satz gemeint hatte. Der Wutausbruch des italienischen Fußballtrainers Giovanni Trappattoni bei einer Pressekonferenz war inzwischen legendär. Einige Sätze daraus waren zum geflügelten Wort geworden. Trappattoni, der damalige Trainer von Bayern München, hatte in einer Brandrede in gebrochenem Deutsch mit seinen Kritikern und mit einigen seiner Spieler, welche ihm in den Rücken gefallen waren, abgerechnet, und er hatte seine Rede mit den legendären Worten „Ich habe fertig!“ abgeschlossen.
„Danke, Gianni“, sagte der Kommissar. „Was kannst du uns berichten, Gassmann?“ Er wendete sich an den Chef der Kriminaltechnik.
„Nun ja.“ Gassmann räusperte sich und stand auf. „Der Täter hat das Gewehr auf den Holzstapel aufgelegt, gezielt und abgedrückt. Die Spuren sind eindeutig. Ich zeige euch gleich ein paar Bilder.“
Gassmann setzte sich an den Laptop, und projizierte mit Hilfe des Beamers ein Bild an die Wand. Der Holzstapel am Waldrand, die Spuren im Schnee wurden sichtbar.
„Wahrscheinlich hat der Täter dünne Handschuhe getragen. Die gesicherten Spuren sind im Labor, sie sind aber noch nicht ausgewertet. Wir haben auch Schmauchspuren und Fußabdrücke gefunden.“ Wieder warf das Gerät einige Bilder an die Wand. Einige undeutliche Schuhabdrucke hinter dem Brennholzstapel waren zu sehen. Der Schütze hatte wahrscheinlich seine Füße bewegt, als er die beste Schussposition gesucht hatte. Ein zweites Foto zeigte einen klareren Fußabdruck einer groben Sohle.
„Das ist der Abdruck eines Bergschuhs, oder eines Winterschuhs mit einer groben, stark profilierten Sohle. Größe 43 oder 44, würde ich mal schätzen. Wahrscheinlich von einem Mann also. Ich kenne auf jeden Fall keine Dame, die auf so großem Fuß lebt“, bemerkte Gassmann trocken, und Beatrice musste wieder kichern.
Permann betrachtete einen Augenblick seine Assistentin. „Wahrscheinlich kann man das ganze Elend nur mit ein bisschen schwarzem Humor und Ironie ertragen. Beatrice ist sonst ganz gewiss nicht eine naive, kichernde Göre, sondern eine seriöse, erfahrene Kriminalbeamtin.“
Gassmann fuhr weiter fort. „Wir versuchten den Fußspuren zu folgen, aber das war nicht mehr gut möglich, denn die dünne Schneedecke ist leider im Nu abgeschmolzen. Auf jeden Fall ist der Mörder ein Stück hinunter in Richtung des Nachbardorfes Goldrain gelaufen, und dann verliert sich leider seine Spur.“
Gassmann machte eine kleine Pause. Dann projizierte sein Beamer ein schauerliches Bild an die Wand. Jemand seufzte und sog hörbar die Luft ein. Der Körper des Opfers lag hingestreckt in einer Blutlache, überall lag Gehirnmasse verstreut. Ein zweites Bild zeigte einen tiefen Geschosskrater in der blutbespritzten Hauswand.
Gassmann ließ die Bilder eine Zeit lang auf die Anwesenden wirken.
„Zur Leiche. Die Kugel hat Brandis knapp oberhalb des rechten Auges getroffen, und beim Austritt wurde ihm der halbe Hinterkopf weggerissen. Er war wohl schon tot, als sein Körper auf der Terrasse aufgeschlagen ist. Hmm. Das wäre vorerst alles.“
Gassmann drückte auf die Esc-Taste auf der Tastatur des PC, und das Bild an der Wand erlosch.
„Ich hoffe, dass uns der Autopsie-Bericht, den wir hoffentlich bald bekommen, mehr sagen wird.“
Permann räusperte sich. „Ich sehe zurzeit nur zwei Möglichkeiten wie wir weiter ermitteln können.“ Er nahm seinen Stift und zweigte zwei Äste vom Namen Karl Brandis auf der Tafel ab. Auf einen Ast schrieb er „familiäres Umfeld“ auf den anderen „politisches Motiv?“.
„Gibt es möglicherweise ein politisches Motiv für den Mord? Ihr wisst ja alle, dass es erst vor kurzem einen Anschlag auf einen ausländischen Mitbürger in Meran gegeben hat. Ein möglicherweise etwas gestörter junger Mann hat damals von einem Fenster aus mit einem Luftgewehr auf eine Gruppe von Ausländern geschossen. Ich kann mich erinnern, dass Karl Brandis damals in einem Radio-Interview eine ziemlich unglückliche Bemerkung über Asylanten gemacht hat. Er sagte sinngemäß Folgendes: Ausländer würden sich auf Kosten der Südtiroler Bürger im Land breit machen, sie würden nicht arbeiten wollen, und ließen sich auf Kosten der Allgemeinheit erhalten und durchfüttern. Er habe ein gewisses Verständnis, dass da ein ehrlicher Bürger mal die Nerven verlieren könne. Ihr könnt euch sicher noch daran erinnern. Seine Aussagen haben damals einige Schlagzeilen gemacht.“
Die meisten der Zuhörer nickten.
„Diese Spur müssen wir natürlich intensiv weiterverfolgen. Rocco, kümmere du dich darum“, sagte der Kommissar zu Rocco Sanvita, dem Digos-Mann. Dieser nickte.
Permann schaute in die Runde.
„Hat sonst noch jemand eine Idee, wo wir noch ansetzen könnten?“
Beatrice meldete sich. „Ich glaube wir dürfen die ca. 5000 Mitglieder des Heimat- und Brauchtumsvereins ‘Schützen‘ und die Jäger nicht vergessen. Karl Brandis war ja einer von dieser Spezies. Jäger gibt es über 6.000 im Land, soweit ich weiß, und in ihren Reihen sind auch gut 250 Frauen. Die ballern doch ständig in der Gegend herum.“
Permann lächelte, er mochte Beatrices direkte Art. Er nickte und ergänzte sein Schaubild um einen dritten Ast, und schrieb „Jäger und Schützen“ dazu.
„Das übernehmt ihr, Ferrara und Beatrice. Recherchiert bei den Jägern im Revier Schlanders. Gab es vielleicht Feindschaften und Revierkämpfe unter ihnen? Gab es einen Anlass für Racheakte? Gab es Jagdgegner, die im Revier Schlanders in Erscheinung getreten sind? Die machen sich zwar sehr selten bemerkbar, aber es soll doch einige geben, so habe ich es zumindest gehört. Schaut euch Brandis‘ Handy an, checkt seine SMS und seinen E-Mail-Verkehr. Gab es anonyme Drohanrufe, Morddrohungen?“
Er machte eine kurze Pause.
„Hat jemand von euch noch eine Idee? Möchte jemand noch etwas sagen?“ Wieder schaute Permann fragend in die Runde. Niemand meldete sich.
„Na gut, dann gehen wir an die Arbeit und sehen uns wieder morgen um zehn Uhr hier bei der Fallbesprechung und der Neuigkeiten.“
Digos-Mann Rocco Sanvita machte sich an die Arbeit. Als Erstes gab er bei www.google.de den Namen „Karl Brandis“ ein, und siehe da, innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde spuckte die Suchmaschine etwa ein Dutzend Einträge aus, in denen der Name „Karl Brandis“ auftauchte. Die Webseite seines Betriebes in Schlanders wurde vorgestellt, einige Facebook-Beiträge und Einträge in Jäger-Foren wurden angezeigt, und dann stach Sanvita der Begriff „Wir zuerst“ ins Auge. Er öffnete die betreffende Seite und las.
„Was haben wir denn da?“
Ungläubig starrte er auf den Bildschirm und schüttelte den Kopf. Und immer wieder schüttelte er den Kopf, während er las.
Schnellen Schrittes verließ er sein Zimmer, und klopfte und trat in das Zimmer von Kommissar Fritz Permann.
„Komm mit, Chef. Ich habe etwas gefunden, was interessant sein könnte.“
Zurück im Büro von Sanvita fiel Permann sofort das Bild des glühenden Schlernmassivs in der Abendsonne auf, mit dem die Webseite, welche der Digos-Mann gefunden hatte, unterlegt war. Die wespengelben Lettern stachen den zwei Männern sofort aggressiv ins Auge. Permann überflog den Text der Webseite der Gruppierung mit dem Namen „Wir zuerst“.
Wir fordern:
Südtirol den Aufrechten, WIR kommen ZUERST!!!
Reine Kindergärten, Schulen und Wohngebiete nur für uns!!!
#Sofortiger Einwanderungstopp , besonders für Betrüger aller Art.
Sofortige Ausweisung aller Illegalen und all jener Ausländer, welche sich nicht an unser Recht und Gesetz halten!!!
Mehr Sicherheit: Wir haben das Recht uns angemessen zu verteidigen. Deshalb ist der Aufbau von landesweiten bewaffneten Bürgerwehren vonnöten. Wir wollen uns wehren!!!
#Sicherheit#: Unsere Frauen und Kinder müssen besser geschützt werden.Wir wollen offen Waffen tragen und sie auch benützen dürfen, wenn es notwendig ist!!!
Permann warf einen Blick auf Rocco Sanvita. In seinem Blick war ungläubiges Staunen. Dann las er weiter.
Wie wir unsere Ziele erreichen wollen:
Aufbau eines Kameradschafts-Netzes in ganz Südtirol.
Stärkung unseres Selbstbewusstseins durch bestimmtes und selbstbewusstes Auftreten.
Pflege der Zusammengehörigkeit aller Aufrechten (gemeinsame Wanderungen, Gesangsabende, Brauchtumsabende)
Zurückdrängung des Einflusses der katholischen Kirche. Wir pfeifen auf Werte wie Nächstenliebe und Toleranzdenn wir wollen UNS SELBST am nächsten sein!!!
Regelmäßige #Wehrsportübungen
Kampf der drohenden Islamisierung, erwacht, und macht dem Wahnsinn der islamistischen Unterwanderung ein Ende!!!
Geplant ist die spätere Umwandlung der Bewegung „WIR ZUERST“ in eine politische Bewegung, denn wir fühlen uns von keiner gegenwärtigen Partei vertreten. Wir wollen politisch mitbestimmen!!!
Südtiroler wacht auf, wehrt euch, macht mit, leistet euren Beitrag zur Erhaltung und Stärkung der Aufrechten!!!
Schreibt euch ein bei "WIR ZUERST", denn unsere Zukunft steht auf dem Spiel!
Permann kniff die Augen zusammen. „Oh ja, das ist wirklich interessant, Rocco. Hast du etwa gewusst, dass es diese Gruppierung, diese Kameradschaft gibt?“
Rocco Sanvita schüttelte den Kopf.
„Zwick mich Rocco, das darf doch nicht wahr sein! Oh mein Gott, das sind ja verdammt aggressive Aussagen. Gesangsabende, Brauchtumsabende, gemeinsame Wehrsportübungen, bewaffnete Bürgerwehren, tss, tss. Verdammt noch mal! Die Rhetorik erinnert mich ganz stark an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte. Unglaublich. Und Karl Brandis war Vertrauensmann der Kameradschaft in Schlanders. Wir müssen den Machenschaften dieser Kameradschaften sofort nachgehen, Rocco. Vielleicht finden wir ja etwas, was uns in unseren Ermittlungen weiterhilft. Ich werde noch heute alles Notwendige in die Wege leiten.
Übrigens: Diesen Feldmeister möchte ich heute Abend noch besuchen. Wir zwei tun das, was hältst du davon?“
Permann zeigte auf die Website der Kameradschaft. Ganz unten auf der Seite waren unter „Bezirke und Kontakte“ die Vertrauensmänner verschiedener größerer Ortschaften Südtirols aufgelistet. Unter dem Ortsnamen „Schlanders“ tauchte Karl Brandis als Vertrauensmann auf. Als Chef der Kameradschaft „Wir zuerst“ zeichnete ein gewisser Virgil Feldmeister, welcher täglich, laut den Angaben auf der Website, werktags von 16.00 bis 18.00 Uhr in seinem Büro in Bozen erreichbar war.
„Das machen wir, Chef. Das interessiert mich, sehr sogar.“ Der Digos-Mann kniff die Augen zusammen und nickte finster.
„Wir zuerst. Tja, Mister Trampeltier lässt grüßen.“ Der Kommissar grinste.
„Wie meinst du das?“ Sanvita schaute fragend auf Permann. Er hatte die Anspielung und den Wortwitz anscheinend nicht sofort verstanden.
„Oh, ich meinte damit Mister president, Mister president of the United States of America. America first, you know?“
„Ah ja, natürlich, alles klar, jetzt hat‘s bei mir auch geklingelt“, lachte der Digos-Mann grimmig.
Es war genau 17.30 Uhr, als der Kommissar und Rocco Sanvita vor dem Vereinsbüro der Kameradschaft „Wir zuerst“ in Bozen standen.
„Kein allzu großer Publikumsandrang hier.“ Permann grinste. „Unser Meister, Herr Feldmeister wird sicherlich Zeit für uns haben. Na, dann wollen wir mal.“ Er klopfte an die Türe.
„Herein.“ Eine dumpfe Stimme erklang hinter der Eingangstüre zum Büro. Permann drückte die Türklinke nieder, und die zwei Polizisten traten ein.
Ein Schwall heißer, stickiger Luft strömte ihnen aus dem winzig kleinen Raum entgegen. Das Büro von „Wir zuerst“ war höchstens sechs Quadratmeter groß. Es war fensterlos, und die Einrichtung bestand hauptsächlich aus einem kleinen Schreibtisch, auf welchem ein aufgeklappter Laptop und ein Aktenordner standen. Hinten an der Wand prangte ein Plakat mit dem Schlernmassiv in der untergehenden Sonne, welches Permann und Sanvita bereits von der Webseite der Kameradschaft her kannten. Vor dem Laptop saß ein etwa 40jähriger, blonder, schnauzbärtiger Mann. Vor dem Schreibtisch standen zwei klapprige Besucherstühle.
Der Mann sprang auf und streckte ihnen sofort servil die Hand entgegen. Begrüßte sie mit einer schnarrenden Stimme. Permann fiel sofort sein unruhiger, stechender Blick aus seinen wässrig blauen Augen auf.
„Mein Name ist Virgil Feldmeister. Wir zuerst! Was kann ich für Sie tun?“
„Fritz Permann und Rocco Sanvita, Kripo Bozen.“ Der Kommissar zeigte auf seinen Kollegen.
Sie sahen wie das schiefe Lächeln des blonden Mannes augenblicklich zu einer finsteren Maske gefror.
Seine Stimme war ein heiseres, forderndes Schnarren. „Weisen Sie sich zuerst aus, bevor ich mit Ihnen rede!“ Er streckte ihnen fordernd seine Rechte entgegen.
Permann und Sanvita zückten ihren Ausweis und hielten ihn vor das Gesicht des blonden Mannes. Minutenlang herrschte drückende Stille im engen Raum, während Virgil Feldmeister die Polizeiausweise ausgiebig studierte.
„Was wollen Sie von uns?“ Seine Stimme war eisig.
„Wir möchten uns mit Ihnen über Ihren Vertrauensmann Karl Brandis aus Schlanders unterhalten“, antwortete Permann. „Ich nehme an, dass Sie Bescheid darüber wissen, dass Brandis gestern vor seinem Haus aus dem Hinterhalt erschossen worden ist.“
Feldmeister nickte widerwillig. „Und was hat das mit mir zu tun? Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Nun ja, helfen, das können Sie. Erzählen Sie uns über Ihren Vertrauensmann Karl Brandis. Wir möchten alles über ihn wissen.“
„Was kann ich Ihnen über ihn erzählen? Was wissen Sie noch nicht?“ Seine Stimme klang plötzlich frech und herausfordernd und er feuerte seinen blauen, kalten Blick auf die Polizisten.
„Tja, Sie wissen ja, dass die Äußerungen des Mordopfers Karl Brandis damals über die Asylanten in Südtirol einiges Aufsehen erregt haben. Gab es da Reaktionen, die an Sie oder Ihre, nun ja, wie soll ich sagen, Bewegung, Kameradschaft, gerichtet waren?“
„Und wer sollte Ihrer Meinung nach darauf reagiert haben? Was habe ich damit zu tun?“ Feldmeisters Gesichtsausdruck wurde noch abweisender.
„Nun, es hätte Reaktionen von Flüchtlingsgruppen geben können, von Ausländern zum Beispiel. Von Menschen, die mit seinen Äußerungen nicht einverstanden waren, ja gekränkt waren, nur um eine Möglichkeit zu nennen. Racheandrohungen an das spätere Opfer Karl Brandis vielleicht, von denen nur Sie und Ihre Kameradschaft wissen.“
Permann sah, wie Feldmeister kurz schluckte, dann fing er sich wieder und antwortete mürrisch: „Nein, da gibt es nichts. Gar nichts. Karl Brandis hat damals ja klargestellt, was er wirklich mit seinen Aussagen gemeint hat. Die Medien haben die Suppe heißer aufgekocht, als sie wirklich war. So ist es ja immer. Die verdammten Schmierfinken drehen einem ja ständig das Wort im Mund herum, wenn man nicht aufpasst! Nichts ist passiert. Gar nichts. Brandis hat sich damals für seine vielleicht etwas unbedachten Worte entschuldigt. Da gab es dann keine weiteren Reaktionen mehr.“
Der Kommissar nickte, schaute seinen Kollegen Rocco Sanvita an und fuhr dann fort. „Wann haben Sie das letzte Mal, ich meine vor seinem Tod, von Karl Brandis gehört? Wann haben Sie ihn das letzte Mal getroffen? “
„Das muss vor etwa einer Woche gewesen sein“, antwortete Feldmeister patzig. „Wir haben damals über nichts Besonderes gesprochen. Nur über die Situation im Dorf Schlanders, soweit ich mich erinnere. Wir waren ja immer in telefonischem Kontakt, und wir haben uns auch E-Mails geschrieben.“
Rocco Sanvita meldete sich nun schärfer zu Wort, als er eigentlich beabsichtigt hatte. „Wir brauchen Ihre Korrespondenz, wir möchten alles einsehen was Sie haben, und zwar sofort.“
Seine Abneigung gegenüber Feldmeister klang in seiner Stimme unüberhörbar mit.
Die Reaktion des blonden Mannes folgte auf dem Fuße. Seine Stimme erinnerte an das Fauchen einer zornigen Katze, und aus seinen Augen schossen eisige blaue Blitze. „Werden Sie nicht unverschämt, Sie haben mir gar nichts zu befehlen!
Und wenn Sie etwas von mir wollen, kommen Sie mit einem richterlichen Beschluss wieder.“
„Langsam, Herr Feldmeister, langsam, bleiben Sie ruhig“, sagte Permann bedächtig.
Er zog ein Stück Papier aus seiner Tasche, faltete es langsam auseinander und hielt es dem blonden Mann unter das Gesicht.
„Und jetzt schauen Sie mal, was wir hier haben.“
Feldmeister warf einen Blick auf das Papier, und erkannte sofort was es war.
Permann erklärte ruhig: „Das ist ein Durchsuchungsbeschluss des Staatsanwalts. Das Papier ist frisch. Ganz frisch ausgedruckt, erst heute Nachmittag hat der Staatsanwalt es unterschrieben. Das Schreiben erlaubt uns die Durchsuchung Ihres Büros, und es erlaubt uns alles mitzunehmen, was wir für die Mordermittlungen benötigen. Wir werden zum Beispiel Ihren Laptop und den Aktenordner mitnehmen. Haben Sie das verstanden?“
Das Gesicht von Virgil Feldmeister war fahl geworden. Seine Stimme bebte vor Zorn. „Das werdet Ihr irgendwann bereuen! Ich bin ein ehrbarer Staatsbürger, der sich noch nie etwas zuschulden hat kommen lassen“, stieß er gepresst hervor.
„Bereuen? Wer? Wir zuerst etwa?“
Sanvitas Stimme klang harmlos und unschuldig wie die eines Kindes im Gegensatz zu seinem provozierenden Lächeln, das ihm im Gesicht stand. Dann wurde seine Stimme schlagartig kalt wie Eis. „War das eine Drohung Kamerad Feldmeister? Passen Sie auf, was Sie sagen. Mein Kollege, Hauptkommissar Fritz Permann hat alles gehört und registriert, was sie gesagt haben.“
Nun sagte Feldmeister ein Weilchen nichts mehr.
Plötzlich aber sprang er von seinem Stuhl auf und wandte sich schnell zum Gehen. Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt. Im Vorbeigehen zischte er leise: „Wir sind dabei stark und mächtig zu werden, überall in Europa, ja überall auf der Welt. Nehmen Sie sich in Acht. Bald wird es so weit sein, und dann werden andere Zeiten anbrechen und andere Sitten werden einziehen.“
Dann stürmte er aus dem Zimmer, und schlug die Türe mit einem Knall zu.
Die dunkle Drohung stand noch eine Weile wie eine Gewitterwolke über den zwei Polizisten. Stumm sahen sie sich eine Weile sprachlos an.
„Oh mein Gott, das war aber harter Tobak. Puuuh. Der verdammte Hampelmann! Was glaubt der denn überhaupt.“ Permann fuhr sich über die Stirn, seufzte und schüttelte den Kopf. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und tätigte einen Anruf.
„Gassmann? Spurensicherung, ihr könnt kommen. Nehmt alles Wichtige mit, sichert die Spuren und versiegelt den Laden hier!“
Die fette Schlagzeile auf der ersten Seite der größten Tageszeitung des Landes sprang ihnen sofort ins Auge. „Feiger Mord an Familienvater. Schlanders. 54jähriger Familienvater auf der Terrasse seines Hauses aus dem Hinterhalt ermordet. Rätselraten über den Todesschützen“
Gemeinsam überflogen Hauptkommissar Fritz Permann und seine Assistentin Beatrice del Piero den Bericht:
„Gestern verbreitete sich in Südtirol wie ein Lauffeuer die Nachricht von einem unfassbaren Verbrechen. Es war etwa sieben Uhr morgens, als der 54jährige K.B. zu seinem täglichen Jogging-Lauf aufbrechen wollte. Da traf ihn auf der Terrasse vor seinem Haus eine Gewehrkugel aus großer Entfernung tödlich in den Kopf. Niemand kann sich dieses grausame Verbrechen erklären. K.B. war ein guter Familienvater und ein vorbildlicher Unternehmer. Er war beliebt und fest ins Dorfleben integriert. Er engagierte sich in der Musikkapelle von Schlanders und zudem im Jägerverein. Er hinterlässt eine Frau und zwei erwachsene Töchter. Die ermittelnde Polizei tappt über das Tatmotiv noch völlig im Dunkeln.“
„Mit dem letzten Satz haben sie leider vollkommen Recht.“ Permann brummte grimmig, faltete das Blatt zusammen, und warf es beiseite.
„So ist es leider.“ Beatrice nickte und seufzte.
Sie saßen auf einem Hocker im „Stadtcafè“ und schauten auf den morgendlichen, noch ziemlich verlassenen Waltherplatz hinaus. Der Waltherplatz, das Zentrum von Bozen. In der Mitte des Platzes erhob sich das Marmordenkmal des bekanntesten Minnesängers Walther von der Vogelweide, von dem die Südtiroler nur allzu gerne gehabt hätten, dass er ganz sicher in ihrem Land geboren worden wäre. Immerhin gab es in der Nähe von Bozen das Dorf Lajen, in welchem ein „Vogelweider“-Hof stand. Aber die Ehre um den Geburtsort Walthers machte ihnen unter anderem auch die Stadt Würzburg streitig. Auf jeden Fall stand das Walther-Denkmal schon seit dem Jahre 1889 auf dem Platz, und der stolze Minnesänger mit seiner Leier in der Hand, von zwei Löwen flankiert, schaute hinüber zum Dom.
Überall in der Stadt regte sich schon neues Leben, so wie jedes Jahr aufs Neue. Die Stadtgärtner hatten Herrn Walther blühende Blumen zu Füßen gepflanzt, und die Magnolienbäume waren mit schneeweißen Blüten übergossen.
Die Stadt Bozen liegt in einem von Bergen umgebenen Kessel, und ist deshalb klimatisch begünstigt. Während in vielen Seitentälern noch tiefer Winter war, hatte in Bozen die wärmere Jahreszeit Einzug gehalten. Der Frühling war trotz gelegentlicher Rückschläge nicht mehr aufzuhalten.
Permann und Beatrice trafen sich öfters zu einem morgendlichen Macchiato, zu einem Kaffee im „Stadtcafè“ oder im „Cafè am Dom“. Diese Treffen waren schon fast zu einem Ritual geworden. Beiden tat es gut, sich für die tägliche Arbeit zu sammeln, und anschließend radelten sie gemeinsam der Quästur zu.
Der Kommissar war seit zwanzig Jahren verheiratet, und war noch immer ziemlich glücklich mit seiner Frau Christa und mit seiner Tochter Nadja. Am Anfang hatte Christa eifersüchtig reagiert, als sie von Permanns schöner Kollegin erfuhr, die ihm der Zufall zugeführt hatte, und mit der er sich von Anfang an gut verstanden hatte. Er und Christa hatten in einem Gespräch die Situation geklärt. Sie vertrauten einander, und sie hatten beschlossen, dass ihre Beziehung die Freundschaft zu seiner Kollegin aushielt, ja aushalten musste.
Auch Beatrice war liiert, wie der Kommissar wusste, und außerdem wohl gut 15 Jahre jünger als er. Aber Permann war durch und durch Mann, wenn auch kein Macho, wie er fand. Aber er musste es sich immer wieder eingestehen, dass er es genoss, mit ihr durch die Stadt zu gehen. Etwas von ihrem Glanz fiel dann auch auf ihn zurück. Beatrice, die mit ihren langen schwarzen Haaren, der schlanken, wohlgeformten Figur und dem anmutigen Gang bewundernde männliche Blicke auf sich zog-, und neidvolle von Frauen.
„Dieser Fall wird uns noch lange beschäftigen, fürchte ich, Monsieur Fritz.“ Beatrice sprach ein perfektes Deutsch, in dem auch eine leise Melodie ihrer italienischen Muttersprache mitschwang.
„Ja, das denke ich auch. Leider“, sagte Permann als sie die Treppe zum Eingang der Quästur hinaufstiegen.
Der Kommissar überblickte seine versammelte Mannschaft und begann. „Rocco Sanvita und ich waren beim Chef der Kameradschaft mit dem Namen `Wir zuerst`. Rocco hat ihre Webseite gefunden. Diese Truppe ist offensichtlich eine populistisch-nationalistische Gruppierung, die sich später in eine Partei umwandeln möchte. Sie tritt aggressiv gegenüber Ausländern auf. Der Besuch bei diesem Möchtegern-Führer…“ Permann hielt inne und lächelte leise. Er hatte erkannt, dass seine Aussage wohl zu ironisch ausgefallen war. „Sorry“, fuhr er fort, „der Besuch bei Kameradschafts-Chef Virgil Feldmeister war recht interessant, um es mal so auszudrücken. Er gab zu, regelmäßige Telefon- und auch Email-Kontakte zu Karl Brandis gehabt zu haben. Brandis war sein Vertrauensmann in Schlanders. Anscheinend, so sagte er, besprachen sie dabei nur Kameradschafts- und Dorfklatsch. Rocco, hast du schon seine E-Mails oder seinen Telefonverkehr analysiert?“
„Erstmal habe ich mich mit seinem E-Mail-Verkehr befasst.“ Rocco Sanvita, der Digos-Mann nahm den Faden auf. „Nach der Lektüre seiner elektronischen Post habe ich den Eindruck von Karl Brandis als einem ziemlich durchtriebenen, rücksichtslosen Mann gewonnen. Wenn ihr mich fragt, war er durchaus kein angenehmer Zeitgenosse. So viel steht fest. Neben den üblichen Tiraden gegen die Ausländer, war in seinen E-Mails oft von Anwürfen und Verleumdungen seinen Kameradschaftsfreunden gegenüber zu lesen. Chef Feldmeister war in seinen Äußerungen sehr viel vorsichtiger, während Brandis oft seinem Ärger und seinem Frust freien Lauf gelassen hat. Ich hätte mit Brandis nicht gern etwas zu tun gehabt, um es einmal so auszudrücken. Ein unangenehmer Zeitgenosse, übrigens auch sein Boss Feldmeister von dieser Kameradschaft nicht.“ Rocco Sanvita verzog kurz sein Gesicht.
„Sonst aber habe ich noch nichts Konkretes gefunden. Die Telefon-Daten muss ich erst noch näher auswerten. Leider wissen diese Leute, dass sie sich am Telefon besser vorsichtig ausdrücken und nicht allzu viel preisgeben. Aber vielleicht finde ich ja noch etwas.“
„Danke Rocco.“