Der Mann im Leuchtturm - Erik Valeur - E-Book

Der Mann im Leuchtturm E-Book

Erik Valeur

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Beschreibung

Ein abgelegener Leuchtturm. Ein Mann, der vor seiner Vergangenheit flieht. Ein Verbrechen, das nie gesühnt wurde ...

Viggo Larssen verbringt sein Leben als Einsiedler in einem entlegenen Leuchtturm an der Küste Dänemarks. Als in Kopenhagen die Mutter zweier mächtiger dänischer Politiker aus ihrem Pflegeheim entführt wird, endet seine selbst gewählte Einsamkeit. Denn bald häufen sich die Anzeichen, dass das Verschwinden der alten Dame mit einem ungelösten Verbrechen in Viggos Kindheit zu tun hat. Dann taucht eine junge Frau bei Viggo auf, die ihm unangenehme Fragen stellt – und die Vergangenheit, der er glaubte, für immer entkommen zu sein, holt ihn mit aller Macht ein ...

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Das Buch

Viggo Larssen verbringt sein Leben als Einsiedler in einem entlegenen Leuchtturm an der Küste Dänemarks. Als in Kopenhagen die Mutter zweier mächtiger dänischer Politiker aus ihrem Pflegeheim entführt wird, endet seine selbst gewählte Einsamkeit. Denn bald häufen sich die Anzeichen, dass das Verschwinden der alten Dame mit einem ungelösten Verbrechen in Viggos Kindheit zu tun hat. Dann taucht eine junge Frau bei Viggo auf, die ihm unangenehme Fragen stellt – und die Vergangenheit, der er glaubte, für immer entkommen zu sein, holt ihn mit aller Macht ein …

Der Autor

Erik Valeur, Jahrgang 1955, ist Mitbegründer der dänischen Månedsbladet Press, arbeitete viele Jahre in Presse und Rundfunk und erhielt für seine journalistische Arbeit zahlreiche Auszeichnungen, u. a. je zwei Mal den Cavling- und den Kryger-Preis. 2011 debütierte er mit Das siebte Kind als Romanautor und erhielt dafür im selben Jahr den renommierten und hoch dotierten Debutantpris, den Literaturpreis der Zeitschrift Weekendavisen, 2012 den DR Romanprisen, den Harald-Mogensen-Preis und die Auszeichnung für den besten Spannungsroman der Skandinavischen Krimiakademie, den zuvor schon Bestsellerautoren wie beispielsweise Peter Høeg, Håkan Nesser, Stieg Larsson und Jussi Adler-Olsen erhalten hatten.

ERIK VALEUR

DER MANN IMLEUCHTTURM

ROMAN

Aus dem Dänischen von Maike Dörries und Günther Frauenlob

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die dänische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Logbog fra et livsforlis« bei JP/Politiken Forlagshus A/S, Kopenhagen.
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2018 bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Copyright © JP/Politikens Hus A/S København 2015 Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotive: marion faria photography/Moment/Getty Images; www.buerosued.de
Das Zitat auf Seite 7 stammt aus folgender Ausgabe: Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, © 1950 und 2015 Karl Rauch Verlag, Düsseldorf
JB · Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-19891-6 V002
www.blanvalet.de

VORWORT DES AUTORS

DER WARNTRAUM

Die Warnung kam per Traum zu ihm, als er gerade wie ein Kind im Schlaf lächelte.

Die Frau. Das Meer. Die Hände, die sich ihm entgegenstreckten, als wollte die Frau ihn an sich ziehen.

Viggo Larssen erwachte mit einem leisen Schrei, aber niemand hörte ihn, er schlief allein. Bereits zum damaligen Zeitpunkt erfasste Viggo seine Bedeutung, weshalb er, als er schließlich erwachsen war, den Traum von der Frau als Warnung bezeichnete.

Er weihte niemanden ein; nicht seine Mutter, nicht seine Großmutter und schon gar nicht seinen Großvater, der im ganzen Reihenhausviertel für sein mürrisches Wesen berüchtigt war und an einer anhaltenden, alles verfinsternden Migräne litt.

Sie alle waren erwachsen, würden es nicht verstehen und hielten ihn ohnehin für etwas sonderbar, wie sie es nannten. Wie alle anderen fürchteten sie das Unbekannte, das Andere, die Visionen, die niemand erklären konnte. Für sie war das etwas, das bloß nicht zu nahe kommen sollte.

Darum verbannte Viggo Larssen seinen Traum an einen Ort, an dem niemand ihn finden würde und zu dem nur er selbst Zugang hatte. Der Traum suchte ihn in regelmäßigen Abständen heim. Die Hände. Das Meer. Die Frau, die seiner Mutter ähnelte. Ein dunkler Schatten peitschte das Wasser um ihre Füße zu weißem Schaum auf. Aber der Schatten drang nie durch die Wasseroberfläche ans Licht, ehe Viggo aus seinem Traum erwachte.

Schon in jungen Jahren begriff er, dass seine nächtlichen Visionen intensiveres Nachdenken erforderten als alles andere, was er in seinem bislang kurzen Leben erlebt hatte. Auch ließ es sich mit nichts vergleichen, was Viggo jemals gehört hatte. Er dachte über den Tod nach, aber Tod war ein gefährliches Wort, das er niemals in wachem Zustand in den Mund nahm. Er schloss all seine Furcht in einem finsteren Schacht tief in seinem Innern ein, wie es Kinder häufig tun.

Als er schließlich als Fünfzehnjähriger seinen Traum im Bericht eines anderen Menschen wiedererkannte, geschah das nicht als Folge jahrelangen Forschens oder eines bis dahin ungeahnten Scharfblicks, sondern schlicht und ergreifend aus einer Laune des Schicksals – purem Zufall. Aus der simplen Tatsache heraus, dass in Zeit und Raum voneinander getrennte Ereignisse sich auf ungeahnte Weise zusammenfügen und ein Muster bilden, das kein Auge sehen und kein Gedanke erklären kann, von dessen Existenz aber Viggo Larssen sehr wohl wusste.

Er zweifelte keine Sekunde an dem Muster – aber das Wissen darüber verbarg er in seinem Innern, genau wie seinen Traum.

Als die dramatischen Ereignisse im Pflegeheim Solbygaard in Gentofte der stummen Apathie ein Ende bereiteten, war er längst erwachsen.

1. August 2015

Schaut euch den Himmel an. Fragt euch: Hat das Schaf die Blume gefressen oder nicht? Und ihr werdet sehen, wie sich alles verändert …… und kein Erwachsener wird jemals verstehen, welche große Bedeutung das hat.

Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz

PROLOG

DIE VERSCHWUNDENE WITWE

KANZLEI DES MINISTERPRÄSIDENTEN

Donnerstag, 1. Januar 2015, später Nachmittag

Der Ministerpräsident schüttelte sein beeindruckend massives und grotesk schweres Haupt. Er hatte seine riesige Pranken an die Schläfen gelegt. Ein Zeitungsjournalist hatte mithilfe eines Kraniologen das Gewicht ebenjenes Hauptes mit sechs Kilo veranschlagt – mehr als eine durchschnittliche Bowlingkugel –, und man hörte regelrecht die Gedanken hinter der Granitstirn rumoren, die keinen Weg nach draußen fanden.

In lange zurückliegenden Zeiten hatte die Mutter des Ministerpräsidenten ihrem Sohn stapelweise Comicserien über den Trapper Davy Crockett vermacht, und heute ähnelte der hochgewachsene Mann absurderweise einem verletzten Bären, der aus dem Dickicht bricht, sich auf seine mächtigen Hinterläufe aufrichtet und ein markerschütterndes Brüllen von sich gibt. Im Heft ist das natürlich nicht zu hören, sondern in einer überdimensionalen Sprechblase dargestellt, die an den Himmel steigt. Rasender, stummer Schmerz, gefolgt von einer Batterie von Ausrufezeichen, die dem sterbenden Riesen einen fast menschlichen Anstrich geben …

Über die fleischigen Lippen, die die verbissene Wut des Regierungschefs zum Ausdruck brachten, kam kein Laut, noch nicht einmal eine Sprechblase. Stattdessen erhob er sich von seinem Platz und marschierte in einem großen, ziellosen Kreis um den Schreibtisch herum, ehe er sich wieder auf seinen Stuhl setzte.

Sitzfläche und Rückenlehne waren mit kongolesischem Büffelleder bezogen. Der Stuhl war das Gastgeschenk einer afrikanischen Delegation, die allerdings nicht mit dem beeindruckenden Kampfgewicht des Staatsmannes gerechnet hatte. Das verhältnismäßig zierliche Möbelstück knackte und ächzte bedrohlich unter dem geballten Gewicht des enormen Körpers.

Der Schädel des ihm gegenübersitzenden Mannes hatte dieselbe Form (wiewohl einen kleineren Durchmesser), und es war offensichtlich, dass die beiden Männer in einem engen verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander standen – sie waren mit kurzem Abstand geboren und kamen ganz nach der Mutter oder dem Vater, je nachdem, wer die durchschlagenden Gene in sich getragen hatte. Die Augenbrauen grau und buschig, eine hohe Stirn über der breiten Nase, die Glatze umringt von einem halbmondförmigen Kranz verbliebener Haare.

Der Jüngere der beiden beugte sich vor, ohne etwas zu sagen.

Die Positionierung der beiden Brüder als Ministerpräsident und Justizminister in der dunkelblauen Regierung, die 2011 die blau-rote Koalition abgelöst hatte, erinnerte an ihre berühmten amerikanischen Vorgänger, die zwei ermordeten Brüder des Kennedy-Clans. Die Medien hatten sich entsprechend begeistert auf diesen grandios inszenierten dänischen Mythos gestürzt und die zwei Spitzenpolitiker und ihre ehrgeizigen Nachkommen Die Blegman-Dynastie getauft.

Diese erste echte Politikerdynastie hatte – ähnlich dem Kennedy-Clan in den Dreißigern – eine imposante Witwe als Oberhaupt, die die Familie weiter regierte, nachdem ihr Gatte, ein Tyrann von Gnaden, in relativ jungen Jahren gestorben war.

Inzwischen war die Witwe Blegman fast neunzig und genoss noch immer Königinnenstatus, wenngleich die Brüder sich vor Kurzem gezwungen gesehen hatten, ihr Domizil in das Pflegeheim Solbygaard in der wohlhabenden Gemeinde Gentofte zu verlegen, nachdem die Witwe sich eine ebenso ernste wie hartnäckige Lungenentzündung zugezogen hatte. Die letzten Monate im Pflegeheim mit der hübschen Aussicht auf die hohen Bäume in dem parkähnlichen Garten hatten ihr offensichtlich gutgetan.

Und doch ging es an diesem Abend um sie. Nur um sie.

»Wo ist sie?!«, fragte Palle Blegman, der seit seiner frühen Jugend von Freunden (und später auch Feinden) den Spitznamen der Bär bekommen hatte. Nicht allein wegen seines zweiten Namens Bjørn, auch wegen seiner außergewöhnlich sonoren, brummenden Stimme, die seiner knappen Frage etwas plüschig Naives verlieh.

Der jüngere der zwei mächtigsten Männer des Landes, Poul Blegman, antwortete in hellerem Tonfall: »Ich weiß es nicht.«

Keine der beiden Äußerungen war für die Ohren der Öffentlichkeit bestimmt, die außerhalb des hohen, prachtvollen Raumes lauerte, der im Volksmund wenig respektvoll Bärenhöhle genannt wurde.

Die zwei kurzen Aussagen zeugten von einer Ratlosigkeit, die die Blegman-Brüder sich nach außen niemals anmerken lassen würden, weder am Rednerpult noch bei Wahlveranstaltungen. »Er muss doch verdammt noch mal eine Theorie haben …«, sagte der Bär.

»Dieser verfluchte Pedant macht eine verflixte Tugend daraus, so unerträglich langsam zu arbeiten«, antwortete sein einziger Bruder.

Seine verächtliche Äußerung richtete sich gegen den erfolgreichsten Ermittler der Hauptstadt, den die ganze Nation nur unter seinem Spitznamen Mord-Chef kannte. Ihm war die Leitung der Fahndung übertragen worden, die mit jeder Minute größere Kreise zog und bald weit über das Pflegeheim in Gentofte und die angrenzenden Wohnviertel der Wohlhabenden hinausreichte. Im Fokus der Fahndung stand eine einzige Person: ihre Mutter.

Die Fähigkeiten des Ermittlers standen außer Frage. Die Brüder hatten sich unmittelbar an ihn gewandt, aber nach ein paar Stunden ergebnisloser Suche war ihre Geduld nun erschöpft.

»Er scheißt auf uns …«

»Ich rufe ihn an.«

»Nein. Das mach ich selbst.« Der Ministerpräsident griff nach dem Telefonhörer.

POLIZEIPRÄSIDIUM

Donnerstag, 1. Januar, kurz vor Mitternacht

Der Chef der Mordkommission war ein eher unauffälliger Mann, der nicht viel Wesens um sich machte. Er war nicht besonders groß, weder zu dick noch zu dünn, weder zu dunkel noch zu blond, und wäre da nicht dieser klare Nimbus von Autorität gewesen (der von seiner Umwelt oft als Feindseligkeit interpretiert wurde), hätte er ein archetypisches Beispiel der erzdänischen Mischrasse sein können, die jeden Tag anonym auf der Straße an einem vorbeispaziert.

In dem monströsen Polizeipräsidium im Herzen der Hauptstadt einen ruhigen und ausgeglichenen Menschen wie ihn zu haben – noch dazu als Speerspitze im Kampf gegen das Böse – konnte durchaus paradox wirken. Aber er war bekanntermaßen der Beste in seinem Job.

Der Mord-Chef schüttelte zum mindestens zehnten Mal an diesem Abend den Kopf und wandte sich an seinen Vize, der in den langen Korridoren des Morddezernats nur Nummer Zwei hieß. Außerhalb des Polizeipräsidiums kannte ihn niemand.

»Das ist doch absurd. Wer entführt denn eine Neunzigjährige aus einem Pflegeheim und aus welchem Grund?«

Nummer Zwei antwortete erwartungsgemäß wie aus der Pistole geschossen: »Geld.« Er war ein effektiver Ermittler und der einzige Vertraute seines obersten Chefs. Sie hatten zeitgleich die Polizeischule besucht und waren als junge Beamte gemeinsam nachts auf Streife gegangen.

»Lösegeld?«, fragte der Mord-Chef. »Möglich. An einen Terroranschlag glaube ich auch nicht … Dann hätten sie sie längst geköpft und ihren Kopf auf dem Rathausplatz ausgestellt oder das ganze Pflegeheim in die Luft gesprengt.«

Der Vize schloss die Augen. Vielleicht stellte er sich in diesem Moment die rauchenden Ruinen des in die Luft gesprengten Pflegeheims vor. Ihm eilte der Ruf voraus, hinter der verschlossenen Fassade sehr viel empathischer als sein Vorgesetzter zu sein. Ihr gemeinsames Büro im Präsidium war nicht sonderlich groß und sparsam möbliert, zwei Sessel, ein Palisanderschreibtisch und zwei Bürostühle in hellem Walnussholz mit breiten, bequemen Armlehnen.

»Der Clan … die Dynastie … ist wohlhabend, aber es gibt weitaus reichere Familien. Sie haben Macht, große Macht, aber …« Der Zweifel des Mord-Chefs wurde von neuerlichem Kopfschütteln begleitet. »Aber das passt nicht zusammen. Es ist allgemein bekannt, dass die Witwe alt und angeschlagen ist. Sollte ihr wirklich jemand den Tod wünschen, müsste er sich nur noch ein paar Monate gedulden. Diese Theorie hakt doch vorn und hinten.«

Das war die dritte Variante derselben Feststellung, und das in weniger als einer halben Minute. Nummer Zwei witterte bereits den Hass seines Chefs auf den unbekannten Widersacher – einen Hass, der ihn wie ein Motor antrieb und durch den er berühmt geworden war. Einer seiner Vorgänger hatte einmal pathetisch bemerkt: »Man jagt ein Monster und fängt einen Menschen.« Die Version des aktuellen Mord-Chefs klang jedoch anders. Bei ihm blieben Monster Monster, auch wenn ein sentimentaler Richter oder ein übertrieben barmherziger Gott auf die dämliche Idee kommen sollte, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Derartiger Unsinn mochte seinetwegen in den Gerichtssälen in der Bredgade verzapft werden – oder vorm Jüngsten Gericht – beides war weit genug entfernt vom Polizeipräsidium in Kopenhagen.

Die ersten Polizisten am sogenannten Tatort – dem Pflegeheim Solbygaard – hatten die kleine Zweizimmerwohnung der Witwe in nahezu sterilem Zustand vorgefunden. Auf dem Fensterbrett stand ein Vogelbauer mit einem gelben, verschreckten Kanarienvogel. Auf dem Couchtisch lagen ein Stapel Neujahrszeitungen und ein einzelnes Wochenblatt. Alles wirkte friedlich und idyllisch.

Es gab keine Spuren eines Kampfes, niemand hatte sie das Zimmer verlassen oder jemanden das Zimmer betreten sehen. Was nicht weiter verwunderlich war, da das Personal viel Zeit in dem geräumigen Büro über dem Speisesaal verbrachte, bevorzugt hinter verschlossener Tür, um in Ruhe zu arbeiten. Zwischen den Kaffeebechern lagen Papierstapel, Arbeitspläne, Formulare, Tabellen und Auswertungsbogen, die bearbeitet werden wollten. Evaluierung und Kontrolle waren wie im übrigen Sektor alternder Mitbürger die wichtigste und zeitraubendste Aufgabe.

Lediglich mit einer halben Stunde Verzögerung erschienen die beiden Polizeichefs am Tatort. Immerhin war die Vermisste die Mutter des Ministerpräsidenten, der Taten verlangte.

Als Erstes wurde die kleine Wohnung der Witwe versiegelt, danach die Abteilung und schließlich das gesamte Haus. Dann wurde das weitläufige Parkgelände südöstlich des Bernstorffsvejs abgesperrt. Zu diesem Zeitpunkt war seit dem Alarm der Blegman-Brüder eine knappe Stunde vergangen. Ihre Mutter hatte sie für 18 Uhr eingeladen, aber da war sie bereits verschwunden gewesen. Auch beim Abendessen kurz davor war sie nicht mehr gesehen worden.

Die Tür ihrer Wohnung sei nur angelehnt gewesen, behaupteten die beiden Brüder, ein Detail, das man berücksichtigen musste. Es war nicht die Art der First Lady der Dynastie, irgendetwas offenstehen zu lassen, schon gar nicht die Tür ihrer Wohnung.

Kurz nach ihrem Eintreffen hatten die Kriminaltechniker ein gelbes, etwa handtellergroßes Stück Plastik gefunden.

Es lag auffällig auf dem Fensterbrett zwischen zwei eleganten Porzellanfiguren von Hans Christian Andersen und Søren Kierkegaard und Fotografien der drei Söhne der Witwe, von denen der jüngste bereits als Kind gestorben war. Sie hatten den ungewöhnlichen Fund, den die alte Dame niemals als dekorativen Blickfang aufgestellt hätte, in einen sterilen Beutel gepackt.

Zehn Minuten später hatten sie unter dem Kopfkissen der Witwe ein weiteres Stück Plastik identischen Typs gefunden, was sie ernsthaft beunruhigte. War es nur ein Hinweis auf die zunehmende Senilität der alten Dame, die möglicherweise auch ihr Verschwinden erklärte, oder hatte jemand anders die gelben Kunststoffteile in der Wohnung platziert? Und wenn ja, warum?

Die dritte eventuelle Spur war die mystischste, aber Nummer Zwei hatte eine Vermutung. Eine Frage an die verängstigte Leiterin des Pflegeheims reichte, um die bange Ahnung zu bestätigen. Etwas in der verlassenen Wohnung – oder am Tatort, auch wenn diese Bezeichnung noch nicht offiziell verwendet wurde – war nicht stimmig.

Der Mord-Chef beschloss, den Fund seines Vize unter Verschluss zu halten.

Die Techniker entnahmen den dritten und letzten Fund behutsam der von Nummer Zwei geöffneten Schublade des Sekretärs der Witwe.

Es handelte sich um eine große Ledermappe, mattbraun verblichen, an den Rändern eingekerbt und offensichtlich sehr alt, wohingegen der Text auf der kleinen auf den Klappdeckel getackerten, mit schwarzer Tinte beschriebenen Pappe eindeutig neueren Datums war. Nummer Zwei hatte die zwei Worte, die den Inhalt bezeichneten, fast eine Minute lang reglos betrachtet.

Testament, unterschrieben.

Das zweite Wort hatte seine bangen Vorahnungen genährt. Sie klangen so endgültig, so unumstößlich, als wäre die Handlung an sich, das Unterschreiben, von entscheidender Bedeutung gewesen.

Aber erst als er die braune Ledermappe vorsichtig aufklappte, wurde er wirklich unruhig, denn sie war leer.

Das Testament, wenn es denn jemals darin gelegen hatte, war fort.

Die beiden Kommissare fuhren zurück ins Präsidium, um Bilanz zu ziehen und eine erste These über den Ablauf der Geschehnisse zusammenzubasteln.

War das Verschwinden der Witwe eine unglückliche Folge mangelnder Aufsicht und Betreuung in einem weiteren von Sparmaßnahmen betroffenen Pflegeheim oder schlicht und ergreifend der spontane Einfall einer verwirrten, leicht senilen älteren Dame?

Wenig wahrscheinlich. Alle Außentüren des Heims waren ordnungsgemäß verschlossen, eine Vorsichtsmaßnahme, da die meisten Bewohner verwirrt und dement waren. Was für die Witwe nicht galt. Sie war geistig völlig klar.

Sie hatte dem Personal sogar mitgeteilt, dass sie am frühen Abend ihre beiden Söhne erwartete.

Den Mord-Chef überzeugte keines der alternativen Szenarien. Er konnte sich allenfalls eine Entführung mit Aussicht auf eine Lösegeldsumme vorstellen, einen simplen Racheakt gegen die verhasste Dynastie – oder etwas ganz und gar anderes.

Aus dem Büro des Polizeipräsidenten ein paar Etagen höher hagelte es Fragen, die sie noch nicht beantworten konnten. Bislang hatten sie nur eine kurze, lakonische Pressemitteilung verschickt. Sekunden später, so jedenfalls kam es ihnen vor, war die Telefonzentrale des Präsidiums zusammengebrochen, woraufhin die Medien ihre Rund-um-die-Uhr-Belagerung von Solbygaard und dem Polizeipräsidium gestartet hatten.

Die Grand Old Lady der Dynastie verschwunden – möglicherweise gekidnappt, schrie es einem von den großen Nachrichtenseiten entgegen, gefolgt von der unvermeidlichen Flut von Gerüchten und Verschwörungstheorien auf Facebook und Twitter, die die gesamte Nation in einen Sensationsrausch zwischen Faszination und Schrecken versetzten, der erst verfliegen würde, wenn die Witwe gefunden war – tot oder lebendig.

»Bisher hat sich noch niemand mit …«

»… einer Lösegeldforderung oder was auch immer gemeldet«, übernahm der Mord-Chef die logische Fortsetzung der Antwort seines Vize auf die relevanteste Frage des Polizeipräsidenten und ließ sie erst einmal im Raum stehen.

In dem Augenblick klingelte rechts neben ihm das rote Telefon, dessen Nummer nur eine Handvoll Top-Chefs und Politiker kannten. Beide Kommissare zweifelten nicht eine Sekunde daran, von wem dieser Anruf kam.

Natürlich musste der Ministerpräsident sie irgendwann auf seine wenig zurückhaltende, brüllende Art darauf aufmerksam machen, dass dieser Fall höhere Priorität habe als jeder andere Fall in der bisherigen Geschichte des Landes.

Der Mord-Chef fing den Blick seines Vize ein, ehe er sich auf dem Stuhl aufrichtete und den Hörer abnahm. Über Jahrzehnte hinweg hatten sie Schulter an Schulter die unterschiedlichsten Krisen und Kämpfe ausgefochten – sie hatten Vietnamdemonstranten gegenübergestanden, Rockern und revoltierenden Hausbesetzern. Das war eine Zeit gewesen, in der der Feind seine Stellung mit vorausgehenden Pressemitteilungen und Bergen an Wurfgeschossen verteidigte. So einfach war es heute nicht mehr.

Beide dachten an die Gegenstände, die sie in den verlassenen Räumen der Witwe gefunden und die sie bis auf Weiteres vor der Öffentlichkeit geheim gehalten hatten. Und die sie auch vor dem Furcht einflößenden Mann am Telefon geheim halten würden, der in der nächsten Sekunde seinem geballten Frust Ausdruck verleihen und sofortige Lösungen verlangen würde.

Sie mussten alles tun, um die Kontrolle über den Fall zu behalten, von dem sie bereits jetzt ahnten, dass er der merkwürdigste ihres Polizeilebens werden würde.

DER LEUCHTTURM AUF DER LANDSPITZE

Donnerstag, 1. Januar, Mitternacht

Am Leuchtturm an der Spitze der lang gestreckten Halbinsel, nur ein paar Seemeilen entfernt, stand zur exakt gleichen Zeit ein Mann. Er hatte beide Hände tief in den Taschen vergraben und betrachtete den Mond über dem dunklen Wasser.

Die gelbe Scheibe hing tief und klar über dem Flecken, der wegen der unzähligen Schiffbrüche durch die Jahrhunderte Höllenschlund genannt wurde. Die meisten dieser Katastrophen waren unvermeidbar gewesen, das Zusammentreffen unglücklicher Umstände, über die noch heute niemand freiwillig gegenüber Fremden sprach.

Der Leuchtturm hinter ihm wirkte nicht sehr hoch, aber sein Licht hatte – als er noch in Betrieb war – eine Reichweite von vierzig Kilometern gehabt. Dennoch barg das Wasser unter dem Mond schreckliche Geschichten über Schiffe und Besatzungen, die zu nah an der Küste in Winde geraten waren, die sie auf die Untiefe zugetrieben hatten, ehe sie reagieren konnten …

… vom Meer verschluckt und in die Tiefe gezogen.

Der Mann wandte sich von dem Mond über dem Wasser ab und ging in den verwilderten Garten des Leuchtturms, in dem Schlehen, Sanddorn, Rotdorn und Holunder wucherten.

Auf der Leeseite, links neben der Tür, stand eine kleine Steinbank. Dort setzte er sich, die Hände noch immer in den Taschen vergraben, und lehnte sich gegen die weiß gekalkte Mauer.

Auch als die Mondsichel irgendwann kurz vor Mitternacht von den Wolken verhüllt wurde, saß er reglos und mit geschlossenen Augen da. Der Wind, die Kälte und das tiefe Grollen der Wellen schienen für ihn nicht zu existieren.

TEIL I

DER HÖLLENSCHLUND

KAPITEL 1

DER LEUCHTTURM AUF DER LANDSPITZE

Freitag, 2. Januar, Morgen

Als der Fall des rätselhaften Verschwindens der Witwe Blegman in den Medien so richtig hochkochte, wohnte ich bereits drei Monate und drei Tage in direkter Nachbarschaft von Viggo Larssen.

Das ganze Land war erschüttert und von einem kribbelnden Schrecken erfasst, wie es wohl typisch ist für eine Nation mit wachsendem Bedürfnis nach Wohlstand, Ruhe und Unbekümmertheit. Ein Land, das international immer wieder zum glücklichsten der Welt erkoren wurde und das diesen Sachverhalt gerade eben wieder mit dem größten Weihnachtsumsatz aller Zeiten bestätigt hatte. Auf ein Volk wie dieses wirken Katastrophen – ja schon die ersten Anzeichen davon – wie ein kalter Hauch aus der Unterwelt, eine schaurige, wiewohl willkommene Ablenkung im sonst so ruhigen Alltag.

Als ich mein windschiefes rotes Haus im Wald verließ und nach unten in die Senke lief, wo die Bäume weniger dicht standen, sah ich bald die Spitze des weißen Leuchtturms, der ganz vorn auf der Landzunge stand. Ich kann mich gar nicht sattsehen an der beängstigenden Neigung des Turms nach Ostsüdost, als wollten der Wind und die Brandung ihn auf den steinigen Küstenstreifen drücken, auf dem er erbaut wurde.

Die Senke hatte etwas von einem Fußabdruck, den ein Riese in dunkler Vorzeit hinterlassen hatte. Bis auf eine einsame Birke wuchsen dort aus unerfindlichen Gründen keine Bäume. Das beflügelte meine Fantasie; ich stellte mir einen gigantischen Nordweststurm vor, der das Wasser in Kaskaden über das Land geschleudert hatte und mit gewaltigen Wellen gegen die Küste angerollt war. Das Wasser hatte die geheimnisvolle Senke gefüllt und einen Salzsee in Form eines Fußabdruckes entstehen lassen.

Später hatte das Wasser sich wieder ins Meer zurückgezogen, aber der Fußabdruck hatte die Zeit überdauert. Seit meinem ersten Besuch hier nannte ich die Senke deshalb nur die Fußspur des Riesen.

Hier unten hatten sich die Reste urwaldähnlichen Gestrüpps gehalten, das tiefer in dem gerade einmal hundertjährigen Leuchtturmwald jedes Durchkommen unmöglich machte. Wenn der Dunst an einem frühen Vormittag vom Boden aufsteigt und sich wie ein weißgoldener Glorienschein über die Landschaft legt, wissen die Røsser – wie die Bewohner von Røsnæs sich nennen –, dass der Winter zu Ende geht und das Frühjahr nicht mehr aufzuhalten ist. Etwas später, wenn die Winde sich gelegt haben, schiebt sich ein ganz besonderer Lichtschein die Böschungen hoch, den die Ortsansässigen liebten und von dem sie jedem erzählten, der ihnen sein Ohr lieh. Ich glaube, jede Gegend hat so eine Geschichte über das Licht, die die Menschen stolz verinnerlicht haben und immer wieder zum Besten geben. Wenn die Sonne im Sommer dann wirklich die Oberhand gewinnt und die grauen Wolken und den Regen verdrängt, kommen Scharen von Naturliebhabern nach Ulstrup geradelt oder gewandert. Am Friedhof vorbei, dem kleinen Lebensmittelladen und über die schmale Landstraße bis zum Leuchtturm, wo sich die Wiesen nach rechts und links ausbreiten. In der welligen Landschaft können aufmerksame Wanderer die exotischsten Pflanzen entdecken, darunter die Echte Schlüsselblume, die Wiesenküchenschelle, das Gelbe Sonnenröschen, Steppenlieschgras und Knöllchensteinbrech. Wer ganz genau hinsieht, entdeckt vielleicht sogar seltene Schmetterlinge, wie das Kleine Wiesenvögelchen, den Braunen Feuerfalter oder den Zweibrütigen Würfeldickkopffalter. Auch die glockenartigen Rufe der kleinen Rotbauchunke sind hier zu hören, und über allem schweben Rotrückenwürger und Rothalstaucher. Im Herbst, wenn die Stürme und die heftigen Regenschauer wieder Löcher in die steile Böschung reißen, auf der mein Haus steht, sieht man häufig große Scharen von Zugvögeln auf ihrem Weg nach Süden.

Was die Bewohner der Halbinsel angeht, so glaube ich, dass sie zufrieden mit ihrem Leben hier sind, umgeben von Sand und Steinen, Wiesen und Bäumen, deren mächtige abgebrochene Äste im Abendlicht manch einen an die Gebeine von Riesen erinnern. Wenn dann die Winterstürme aus Nordwesten über das Land fegen, strecken selbst die mächtigsten der am Boden liegenden Kiefernstämme ihre Äste (widerstrebend) noch einmal zum Himmel empor.

Der weiße Turm stand unerschütterlich am westlichsten Punkt Seelands, an der äußersten Spitze der Landzunge, die wie ein gekrümmter Finger über den Belt nach Westen in Richtung Samsø und Jütland zeigte. Richtete man den Blick eine Spur weiter nach Nordwesten, sah man die Stelle, an der sich der Meeresboden unter den Wellen plötzlich veränderte und die Untiefe Røsnæs Rev bildete, um gleich dahinter wieder in die Tiefe des Belts abzufallen. Diese nur wenige Kilometer vor der Spitze der Landzunge gelegene Stelle war es, die so viele Seeleute das Leben gekostet hatte. All die tragischen Geschichten, die unzähligen Einträge in den Kirchenbüchern, Inschriften auf den Grabsteinen und mündlichen Überlieferungen legten Zeugnis ab über Schiffbrüche und ertrunkene Seeleute und darüber, wie berechtigt der Name war, den die Einwohner dieser Stelle schon vor langer, langer Zeit gegeben hatten.

Der Höllenschlund.

Ich hörte diesen Namen zum ersten Mal von einer alten Frau, die von den Bewohnern der Halbinsel Meereshexe genannt wurde. An dem Tag, als sie mir die Schlüssel für das windschiefe Haus im Wald östlich des Leuchtturms gegeben hatte.

Ich hatte es für vier Monate gemietet und zahlte kaum etwas dafür. Nur ein Fremder zog in ein Haus, das am Rand der steilen Moränenböschung bei jeder Windböe wackelte. Auf einem Boden aus Lehm und Schotter, den die Gletscher hier zurückgelassen hatten. Bei jedem Sturm kam der Abhang etwas näher, und aus meinem Küchenfenster sah ich unter mir direkt auf das schwarze Wasser mit den weißen Gischtkämmen.

Meine Vermieterin hatte mir den rostigen, offenbar seit Jahren nicht mehr benutzten Schlüsselbund in die Hand gelegt und diese einen Moment mit ihren krummen Fingern festgehalten.

Dann ließ sie mich los und zeigte zum Leuchtturm, der durch die Äste der Kiefern zu erkennen war. Mit heiserer Stimme, die zweifelsohne zu ihrem Spitznamen beigetragen hatte, sagte sie: »Da ist der Leuchtturm und das schon seit hundert Jahren. Und da draußen …«, die alte Frau streckte ihren Finger zum Horizont aus, »liegt der Höllenschlund, vergessen Sie das nie …« Sie stockte kurz, dann fand sie zurück zu ihrem heiseren Flüstern. »Vergessen Sie nie, dass Sie nicht auch nur in die Nähe dieses Ortes geraten dürfen, was auch geschieht.«

Ich hatte die Warnung abgespeichert, ohne wirklich zu wissen, was die alte Frau meinte. Auch wenn die Schiffsunglücke mit den Jahren seltener geworden waren, lagen dort unten am Grund der Untiefe Hunderte, wenn nicht gar Tausende ertrunkene Seeleute. Das erzählten die Einheimischen und der Inhaber vom Lebensmittelladen in Ulstrup, mit dem ich als Erstem gesprochen hatte, nachdem ich meine wenigen schwarzen Plastiksäcke mit Kleidern und Bettzeug in mein neues Heim getragen hatte und in die Stadt gefahren war, um einzukaufen.

Der dicke, birnenförmige Mann – ich fühlte mich in seiner Nähe sogleich sicher, was sonst bei Fremden nur selten der Fall war – hatte den Kopf geschüttelt, als er hörte, dass ich die Bruchbude an der unsicheren Steilküste gemietet hatte. Er bezeichnete mein neues Heim als Hexenhaus und sagte, nur ein Verrückter könne dort einziehen.

Ich ignorierte seine Worte, so wie mich das Leben seit meiner Geburt gelehrt hatte, mir über unabwendbare Tatsachen keine Gedanken zu machen. Was man tat, war nicht immer zu erklären und ganz sicher nicht immer logisch. Das Ungewöhnliche, Andersartige schreckte mich nicht ab. Ich hatte noch nie Angst davor gehabt, an speziellen Orten zu wohnen. Nicht unter hohen Bäumen, nicht an einer bröckelnden Küste, nicht in skurrilen Häusern und ganz sicher nicht am Meer.

Er sagte mir eine wöchentliche Lieferung von Lebensmitteln und anderen Notwendigkeiten zu; sein kleiner Lieferwagen schaffte den unbefestigten Weg durch den Wald bis zum Fuß der Anhöhe, wo ich die Sachen dann selbst über die abgebrochenen Äste die Steigung hinauf zu meinem windschiefen Haus tragen müsste. Das sollte reichen.

Mehr brauchte ich nicht.

So begannen die ersten Monate meines sozusagen neuen Lebens, das ich bereits am zweiten Tag zu erforschen begann. Teils aus Neugier, teils – natürlich – weil ich keine Zeit vergeuden durfte.

Auf der Ostseite des alten Leuchtturmwärterhäuschens hatte ein früherer Bewohner eine Steinbank errichtet. Viggo Larssen hatte darauf Platz genommen. Er saß ganz für sich reglos da.

Ich war Ende September auf die Landzunge gekommen und hatte mich in den ersten Tagen noch nicht zu erkennen gegeben.

Selbst an den kühlsten Tagen sah ich ihn dort sitzen, bis er zu seinem langen täglichen Marsch aufbrach, über den Strand bis zum Bavnebjergsklint und wieder zurück.

Er war älter, größer (und dünner) als bei unserer letzten Begegnung auf dem Friedhof von Søborg. Damals war er fünfzehn Jahre alt gewesen und ich noch ein Kind. Unsere Begegnung war nur flüchtig gewesen, konfus, ganz überschattet von seiner Trauer.

Was mich am meisten wunderte, war seine totale Reglosigkeit. Er drehte kaum einmal den Kopf, Beine und Arme waren ganz ruhig. Stundenlang lehnte er an der Wand und sah über das Meer. Manchmal standen neben ihm eine Flasche Wein und ein Glas.

Normalerweise verfügte ich über die Gabe, die Gedanken anderer Menschen erraten zu können, auch wenn sie nichts sagten oder sich nicht bewegten – doch bei Viggo Larssen scheiterte ich.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihn schon eine Woche beobachtet, eine meine leichtesten Übungen. Wenn mich das Leben etwas gelehrt hatte, dann Geduld. Meine Pflegemutter hatte diese Geduld vor Jahren als nahezu krankhaft bezeichnet, grenzenlos, irritierend.

Am siebten Tag – die Oktobersonne schien von einem eiskalten, tiefblauen Himmel auf die Halbinsel, fasste ich meinen Entschluss, holte tief Luft und trat oberhalb der Fußspur des Riesen aus dem Dickicht hervor.

Vor dem ersten Schritt zögerte ich, da unsere Begegnung nicht fehlschlagen durfte. Er sah mich erst, als ich schon fast vor seiner Bank stand.

»Guten Tag«, begrüßte ich ihn formell und neutral, ein Gruß, der sowohl Nähe als auch Distanz ausdrückt und mit dem niemand tiefere Gefühle verbindet.

Er zuckte zusammen, antwortete aber nicht. Nur das Rauschen der Baumwipfel im Wald der Meereshexe war zu hören.

»Ich heiße Malin …« Die Information war ein Freundschaftsangebot, das ich seit der Kindheit niemandem mehr gemacht hatte.

Er blieb regungslos auf seiner Steinbank sitzen und machte keine Anstalten, sich zu erheben. Keiner von uns reichte dem anderen die Hand.

An jenem Tag war ich mir nicht sicher, ob ich ihm jemals näherkommen würde. Vermutlich hielt er unsere Begegnung für einen Zufall – und an jenem Herbstmorgen, drei Monate vor dem Verschwinden der Witwe, war das wohl auch kaum anders zu erwarten. Ich kannte seinen Namen bereits und glaube, dass er das auf unerklärliche Weise ahnte.

Sein Name kam mir seltsam vor, die beiden »g« im Vornamen und die beiden »s« im Nachnamen fand ich irgendwie bizarr: Viggo Larssen, 59 Jahre, gejagt von Dämonen, gegen die ihm niemand helfen konnte; gerade erst vor einem schiffbrüchigen Dasein in Kopenhagen geflüchtet und offensichtlich angekommen am Schlusspunkt seines Lebens.

Ich setzte mich neben ihn auf die Bank. Zur Sicherheit so nah am Rand, dass schon ein einfacher Windstoß gereicht hätte, um mich hinunterzuwehen.

Selbst aus anderthalb Meter Entfernung und ohne Augenkontakt spürte ich die Einsamkeit, die ihn immer umgeben hatte; seine Augen, aus denen eine Trauer sprach, die mich rührte, in denen ich aber keine Reue erkennen konnte.

Links neben ihm lag ein Buch auf der Bank, und es war dieses Buch, das mich an jenem Tag angetrieben hatte, aus meinem Versteck zu treten.

Viggo Larssen hatte auf der Bank gesessen und gelesen, ehe er das Buch langsam und behutsam weggelegt hatte, als könnten die Seiten bei der leichtesten Erschütterung zerbröseln. Es war nicht groß, etwa wie ein kleines Schulheft. Es war das erste Mal, dass er nicht nur auf der Bank gesessen und vor sich hin gestarrt und Wein getrunken hatte. Der Einband war aus grünem Leder, hübsch, etwas verblichen, an einigen Stellen abgenutzt, an anderen schmutzig, als schützte er die Seiten des Buches seit vielen Jahren.

Auf der Vorderseite stand kein Titel.

Ich kämpfte gegen den Drang an, meine Hand nach dem Buch auszustrecken, und ich glaube, er spürte mein Interesse, da er das Kleinod nahm und es auf die andere Seite legte, sodass ich es nicht mehr sehen konnte. Mir machte das nichts aus, Geduld ist meine Kernkompetenz, außerdem hatte ich andere Methoden. Eile war ganz gewiss kein Mittel, um einem Mann wie Viggo Larssen näherzukommen.

»Ich bin Ihre neue Nachbarin«, sagte ich. Das war nicht ganz die Wahrheit, immerhin spionierte ich ihm schon seit einer Woche nach, was er vermutlich nicht gemerkt hatte, weil ihn die Außenwelt ganz einfach nicht interessierte. Ob er seit einem Tag, einer Woche oder einem Monat einen neuen Nachbarn hatte, ging komplett an ihm vorbei.

»Ich wohne in dem roten Haus oben am Abhang. Im Wald«, sagte ich. Er antwortete nicht, aber ich hatte das Gefühl, so etwas wie ein Nicken zu erkennen. Wenn es stimmte, war das ein Fortschritt, andererseits war es auch gut möglich, dass ich mir das nur einbildete.

Dann beging ich einen kleinen, aber dummen Fehler: »Ein schönes Buch haben Sie da.«

Ich hätte mir noch in derselben Sekunde die Zunge abbeißen können. Ich war zu forsch, der Zeitpunkt war vollkommen verkehrt. Das schwache Licht in seinen Augen – wenn es eins gegeben hatte – verlosch.

Ein paar Minuten blieb ich still sitzen, dann stand ich auf und verabschiedete mich. Keiner von uns reichte dem anderen die Hand.

Wenigsten hatte er mich nicht aufgefordert zu gehen, mehr konnte ich von unserer ersten Begegnung wohl nicht erwarten. Er hatte keinen Grund, jemanden zu sich vordringen zu lassen, weder in den äußeren noch in den inneren Raum, weder ins Licht noch ins Dunkel, vom dem, wie ich wusste, große Teile seiner Seele erfüllt waren.

Bei meinem zweiten Besuch lag das Buch wieder zwischen uns auf der Bank, als wollte er mich herausfordern, und dieses Mal nahm er es nicht weg.

Er trug eine verblichene braune Wrangler-Jeans und eine lange grüne Windjacke, die ihm bis zu den Schenkeln reichte und ihn wie ein Panzer umgab. Der Kopf ragte aus dem Pelzkragen heraus.

»Wirklich ein schöner Einband«, sagte ich, ohne den Blick zu senken.

Sein linker Augenwinkel zitterte leicht und es sah so aus, als müsste er gleich blinzeln, aber er tat es nicht. Sein Blick war weiterhin geradeaus gerichtet. Zum Horizont am Ende des Meeres.

»Woher kommt es?«, wagte ich die dreiste Frage.

Er richtete sich etwas auf, und sein Rücken und die Schultern lösten sich für einen Moment von der Wand des Leuchtturms. Ich sah, wie sehr er kämpfen musste, um die Hände ruhig zu halten, die gefaltet in seinem Schoß lagen. Er konnte nicht wissen, dass ich mich mit diesen kleinen Zeichen des Körpers – all die unfreiwilligen Gesten, die unkontrollierten Tics, die uns durch unser Leben begleiten – besser auskannte als die meisten anderen. Viggo Larssen hob die Schultern und redete zum ersten Mal. »Das ist nur ein Tagebuch … ein altes Tagebuch aus dem Spanischen Bürgerkrieg.« Sein linkes Augenlid zuckte merklich, als er »alt« sagte. Das Zucken aus seiner Kindheit, dachte ich, das er immer beim leisesten Anflug von Nervosität gehabt hatte. Offenbar hatte er es nie überwunden. »Nichts Besonderes«, fügte er betont hinzu.

Ich wandte den Kopf und sah ihn an. Meine Neugier fand ihren Weg bis zu meiner Zungenspitze, wo sie als nachdrückliches Fragezeichen blieb. Bereits als Kind hatte ich gelernt, dass diese Form des Schweigens – eine Art wortloser Ruf – das beste Mittel war, um die verschlossenen Räume der Erwachsenen zu öffnen. Das Zittern an seinem linken Auge wurde stärker und reichte jetzt hinunter bis zu seiner Wange. Ich hätte allein wegen dieses winzigen Details in Tränen ausbrechen können, doch damit hätte ich die Möglichkeit, die sich mir eröffnete, sofort im Keim erstickt.

Er stand auf und steckte das Buch mit einer abrupten Bewegung in eine meinem Blick verborgene Innentasche seiner Jacke. »Es geht um eine … längst vergangene Zeit«, sagte er. Eine Aussage, die alles und nichts bedeuten konnte.

Ich ließ meinen Blick über das Meer schweifen. Das machte nichts. Meine Geduld war grenzenlos. Ich kannte die Erklärung für seine Faszination für das grüne Buch nicht. Ich wusste nicht einmal, wer es geschrieben hatte. Aber ich war mir im Klaren darüber, dass ich die Bedeutung, die dieses Buch für ihn hatte – und damit auch für die Aufgabe, die vor mir lag –, nicht unterschätzen durfte.

Ich stand ebenfalls auf und ging zurück durch den Wald. Ich rutschte die Böschung zum Fußabdruck des Riesen hinunter. Ich passierte die gebrochene Birke, den einzigen Beweis dafür, dass hier einmal Leben gewesen war, und stieg auf der anderen Seite den steilen Abhang zum Haus der Meereshexe empor.

Wenn er nicht selbst bereit war, die Tür zu dem geheimen Raum zu öffnen, in dem er sein kostbares Kleinod gefunden hatte, musste ich einen anderen Zugang suchen. Meine Neugier würde sich wie immer einen Weg über alle Hindernisse bahnen, die man mir in den Weg stellte.

Gut drei Monate nach unserer ersten stummen Begegnung verschwand die Witwe. Ich wohnte da bereits den halben Winter auf der Landzunge und war ihm nicht wirklich nähergekommen.

Mein Haus stand noch, und es knirschte und knackte, als wollte es mir beweisen, dass es lebte und der unausweichliche finale Absturz erst bevorstand. In einem alten Buch, auf dem mit goldenen Lettern die Jahreszahl 1878 gedruckt war und das ich auf einem niedrigen Balken im Wohnzimmer gefunden hatte, hatte ein längst verstorbener Dichter etwas über die alte Sage geschrieben, die jeder in Røsnæs kannte. Laut der Überlieferung wurde König Valdemar Sejrs Sohn auf einer Jagd im Jahre 1231 durch einen verirrten Pfeil getötet, woraufhin der König in unbändiger Wut befohlen hatte, sämtliche Bäume und Büsche auf der Halbinsel abzufackeln; kein Stamm, kein Stumpf, nicht einmal das dünnste Zweiglein, sollte jemals wieder seinen Schatten auf diesen verfluchten Flecken Erde werfen.

Doch wo des Königs Sohn,

in Næssets Land,

dank eines falschen Bogens Lohn

zum Tode fand,

werden Dänemarks Kinder

nun ihr Reich ausmachen

ihre Leiden lindern

und wieder in die Sonne lachen.

Das Ganze kam mir ziemlich pathetisch vor, außerdem hatte ich Kinder nie als Wesen aufgefasst, die über irgendetwas lachten, was Erwachsene getan hatten. Im Gegenteil. Kinder lachen aus Gründen, die Erwachsene nicht kennen; da sie in einer Welt leben, die Erwachsene nicht sehen.

Ich legte das Buch zurück auf den Balken. Es würde mit dem Haus ins Meer stürzen, wenn die Zeit gekommen war.

In dieser Nacht hatte ich das Gefühl, von fremden Augen aus dem Wald beobachtet zu werden, aber als ich die Tür öffnete und lauschte, hörte ich nur den Wind in den Bäumen – und natürlich die Brandung, die an die Küste schlug. Seit meiner Ankunft hatte ich an der Böschung öfter einen Fuchs beobachtet, aber der wäre in einer Nacht wie dieser sicher längst in seinem Bau in Deckung gegangen.

Ich schloss die Tür und sperrte das Dunkel aus, verriegelte sie aber nicht; kein Dämon sollte mich daran hindern, den Plan auszuführen, der mich zu diesem Haus im Wald geführt hatte, auf die Halbinsel und zu dem Mann im Leuchtturm.

Ich spannte meine schiefen Schultern an und schüttelte die Furcht ab. Meine Aufgabe war durch die Informationen, die ich seit dem frühen Morgen immer wieder durch das Radio erhalten hatte, nicht weniger interessant geworden.

Der Kampf gegen den unverwundbaren Clan des Höhlenbären.

POLIZEIPRÄSIDIUM

Freitag, 2. Januar, Vormittag

Der Leiter des Morddezernats wandte sich an seinen Vize, und beide Männer schienen auf Worte zu warten, die noch nicht ausgesprochen worden waren, sondern irgendwo über ihren Köpfen hingen und vielleicht – bei richtiger Deutung – das Rätsel lösen konnten, das vor ihnen lag.

Sie hatten ihre iPhones stummgeschaltet, um nicht von dem ewigen Klingeln und Piepsen vor Augen geführt zu bekommen, dass sie bis zum Hals in dem schwierigsten Fall ihres Lebens steckten.

Wenn die Grand Old Lady des Landes für eine Stunde verschwand, war das aufsehenerregend, zwei Stunden waren schockierend und mehr als ein halber Tag eine totale Sensation.

»Nichts … Wesentliches.«

Der Vize schüttelte den Kopf. Die Kriminaltechnik hatte trotz akribischer Suche nichts gefunden. Was auch niemand erwartet hatte. Und dennoch. In der Mappe war ein kleiner gelber Zettel mit einem Datum und einer Jahreszahl gefunden worden. Jetzt lag dieser Zettel in einer durchsichtigen Plastikfolie auf dem Schreibtisch vor dem Mord-Chef.

»Warum sollte jemand …« Der Dezernatsleiter kam ins Stocken und starrte auf den Zettel.

Der Vize konnte sich denken, wie der Satz weiterging, schwieg aber.

»Also, das Testament fehlt … und stattdessen klebt da ein Zettel mit einem Datum und einer Jahreszahl, der …«

»… keinen Sinn ergibt.« Dieses Mal beendete der Vize die Überlegung seines Chefs.

»Ein Datum, das …«

»… mehr als vier Jahrzehnte zurückliegt, auch wenn die Analyse zeigt, dass …«

»… der Zettel erst vor Kurzem beschriftet wurde … mit blauem Kugelschreiber.«

Die letzte Bemerkung hing etwas verloren in der Luft.

Der Dezernatsleiter hielt den merkwürdigen Fund ins Licht, als könnten ihm die Strahlen der Sonne zu einer Erkenntnis verhelfen.

»Warum notiert jemand ein altes Datum und deponiert den Zettel in ihrer Mappe?«, fragte er. »Die Sache hat schon etwas Merkwürdiges …«

»Na ja, vermutlich sind alle Menschen irgendwie merkwürdig«, sagte der Vize. »Wir kommen merkwürdig auf die Welt – und sterben merkwürdig.«

Eine derart philosophische Äußerung hatte der Dezernatsleiter von seinem ansonsten bodenständigen Kollegen noch nie gehört. Er hob den Blick und sagte zögernd: »Wenn wir alle merkwürdig sind, wäre das ja normal. Ich fürchte aber … und spüre … leider, dass dieser Fall etwas beinhaltet, womit wir es noch nie zu tun hatten. Wir wissen noch nicht einmal die Hälfte. Eigentlich gar nichts.«

Sein Vize antwortete nicht, aber sein Schweigen sagte alles.

DER LEUCHTTURM AUF DER LANDSPITZE

Herbst 2014

Mein kleines Haus hatte offensichtlich lange leer gestanden, als ich dort einzog, und die alte Frau hatte es mir überlassen, ohne etwas anderes zu verlangen als einige Monatsmieten im Voraus.

Weder hatte ich neugierige Fragen beantworten müssen noch irgendwelche Ausweise oder Papiere vorzeigen oder erklären, was es mit meinem abwegigen Einfall auf sich hatte, am höchsten Punkt der Steilklippe mit freiem Fall zum darunterliegenden Strand wohnen zu wollen. Sie verlangte keinen Nachweis, aus welchem Ort auf dieser Welt ich kam oder wieso ich über das winzige Schild am Ende des Schotterweges neben dem Touristenparkplatz gestolpert war: Haus zu vermieten – geschrieben mit krakeliger Altfrauenschrift und fast ausgewaschen.

Ich war ihre erste und vielleicht letzte Mieterin.

Der abblätternde rote Putz um die abgesackten Fensterrahmen verriet, dass seit Jahrzehnten niemand mehr Interesse an diesem Fleckchen Erde gehabt hatte. Der winzige Wohnraum war mit einem alten Tisch und ein paar Stühlen aus undefinierbaren Holzsorten möbliert. Jemand, der zwischen edlen klassischen Kommoden und Sekretären aufgewachsen war, mochte das vielleicht als asketisch empfinden, aber so war ich nicht gestrickt.

Am ersten Abend in meinem neuen Domizil drehte ich mich entspannt im Kreis – ganze drei Mal – und war sehr zufrieden mit meinem Fund. Ich benutzte die alten Möbel, schlief in einem Bett aus vier zusammengezimmerten Kanthölzern und sechs langen Brettern als Lattenrost, trank Wasser aus einem Hahn, der meistens spotzte und gurgelte, und schaute zwischen den Bäumen hindurch nach oben zum Leuchtturm, dem Ziel meiner Reise. Ab und zu sah ich den rotbraunen Schatten eines Fuchses zwischen den knorrigen Zweigen. Ich erinnerte mich an ein Büchlein in einem der Zimmer im Haus meiner Kindheit, es hatte von einem Fuchs gehandelt, der sich mit einem Jungen über Unsichtbarkeit und Freundschaft unterhielt. Etwas später hatte meine Pflegemutter das Buch resolut entsorgt. Sie mochte keine gekünstelten Ansichten – wie sie das nannte –, Ideen, die womöglich die armen, verlorenen Seelen beeinflussten, die sie bei sich aufnahm, um sie vor allem Bösen abzuschirmen, bis diese im Stande waren, dem Leben ohne Angst entgegenzutreten.

Bei meinem zweiten Besuch in dem kleinen Supermarkt in Ulstrup fragte ich den Inhaber nach meiner Vermieterin. Er erzählte mir, dass sie das rote Haus nach dem Tod ihrer Eltern geerbt habe. Diese hätten das Haus mit eigenen Händen gebaut und ihr Leben lang darin gewohnt. Interessanterweise konnte mir niemand sagen, womit sie ihren Lebensunterhalt verdient hatten, aber die gichtkrumme Alte bezog jedenfalls eine Rente und wohnte in Ulstrup. Wenn ich sie treffen wollte, brauchte ich nur über die Straße auf den Friedhof zu gehen, wo sie die meiste Zeit verbrachte.

Und richtig: Meine Vermieterin saß auf einer kleinen Steinbank in einem Mauerwinkel. Knochig, in sich zusammengesunken und ganz in Schwarz. Vor ihr zwei schwarze Grabsteine, deren Inschriften ich nicht sehen konnte. Ich ging davon aus, dass es ihre Eltern waren. Manche Menschen lösen sich nie aus dem Leben, aus dem sie kommen, und versuchen wider alle Vernunft daran festzuhalten. Das Licht der winterlichen Nachmittagssonne lag wie ein roter Schal über ihren Schultern, und das weiße Haar hatte sie mit einem schwarzen Tuch verhüllt. Der friedliche Anblick rührte und beunruhigte mich gleichermaßen. Sie saß genauso reglos da wie Viggo auf seiner Steinbank am Leuchtturm, und genau wie er schien sie auf etwas zu warten, das für die Umwelt nicht ersichtlich war.

Zurück in meiner windschiefen Behausung, widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder dem mystischen Tagebuch, das neben ihm auf der Bank gelegen hatte, und fasste meinen Beschluss. Ich hatte keine andere Möglichkeit. So viel stand fest.

Jeden Nachmittag um die gleiche Zeit verließ Viggo Larssen seinen einsamen Turm, ging die schiefe Treppe zum Strand hinunter und wanderte am Wasser entlang zur Steilküste. Es war eine beschwerliche, steinige Strecke, und an etlichen Stellen fiel die Küste bis zum schäumenden Gischtrand ab. Er machte viele Pausen und war mehrere Stunden unterwegs.

Ehe er sich auf den Weg machte, legte er den Schlüssel der Leuchtturmtür unter ein Moospolster im Vorgarten, an und für sich ein gutes Versteck, wenn man denn so gutgläubig war, dass nur Vögel sich aus der Ferne beobachten ließen. Es war mir ein Leichtes, das Versteck durch den kräftigen Feldstecher auszuspähen, den ich mit auf die Landspitze gebracht hatte und der mich bereits durch mein ganzes Leben begleitet hatte.

Der Schlüssel war groß und rostig und erinnerte an ein Requisit aus einem alten Piratenfilm. Viggo oder ein längst verstorbener Leuchtturmwärter hatte an den Schlüssel ein Stück Draht mit einem Stein mit Loch geknotet.

Das grüne Buch lag auf einem Stuhl gleich hinter der Tür. Ehrfürchtig und mit gespannter Erwartung schlug ich es auf, wurde aber leider enttäuscht.

Das Tagebuch, wie Viggo es bezeichnet hatte, enthielt keinen Namen des Verfassers, nur knapp fünfzig handschriftliche Seiten, die im Laufe weniger Wochen entstanden waren, als ihr Schreiber – ein junger Däne – auf dem Weg nach Süden gewesen war, um sich den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg anzuschließen.

Die erste Notiz war vom 18. Juni 1938 aus Esbjerg, wo der junge Spanienfreiwillige zusammen mit einem Freund ein Schiff nach Antwerpen bestiegen hatte, von wo es dann zu Fuß weiter durch Europa ging. Ich blätterte ungeduldig über die Beschreibungen von Landschaften, Orten, Mühlen, Flüssen und Herbergen hinweg, nichts davon war wirklich interessant, und ich konnte nicht nachvollziehen, wieso Viggo es immer wieder so gründlich las.

Zwischen einigen Seiten steckten lose Zettel, eine Zugfahrkarte nach Biarritz, eine Rechnung für Camping Ville de Hendaye und eine Postkarte von einem Platz, der Piazza Vittorio Emanuele hieß.

Gegen Ende des Tagebuches hatte der Autor es fast bis ins Baskenland geschafft und notierte: Von hier hat man eine wunderbare Sicht auf die Pyrenäen und San Sebastian. In dem eleganten Badeort Biarritz sind wir ins Wasser gegangen – wurden aber schnell verjagt, da meine Lendenbekleidung nicht sittsam genug war.

Ich seufzte und betrachtete die spärliche Möblierung in Viggos Wohnstube: ein runder Tisch, der unter das Fenster geschoben war, ein Sessel mit Rissen in dem schwarzen Lederpolster. Auf einem niedrigen Sofatisch stand ein Transistorradio. In gewisser Weise war es in etwa so trostlos und nichtssagend wie die Beschreibungen in dem alten Buch.

Auf der vorletzten Seite erreichte der junge Tagebuchschreiber schließlich die Front. Im Juli 1938 kam es am Ebro zu einer großen Schlacht der Internationalen Brigaden gegen die Faschisten. Der junge Mann hatte zuvor offensichtlich noch nie einen Schuss abgegeben, jedenfalls erzählten die letzten Zeilen, die ich sehr ungeduldig in Viggos winzigem Wohnzimmer las, von einem sehr eigenartigen Traum. Ich legte das Buch mit den abschließenden leeren Seiten weg.

Danach hatte er nichts mehr geschrieben.

Der jähe Schluss und die weißen, unbeschriebenen Seiten konnten darauf hindeuten, dass der Spanienkämpfer nach der Notiz zu seinem Traum in der Schlacht an einem fernen nordspanischen Fluss gefallen war.

Wie das Buch bei Viggo gelandet war und weshalb er es so interessant fand, dass er es hierher mitgenommen hatte, sozusagen ans Ende der Welt, dafür hatte ich keine Erklärung. Es war mir unbegreiflich. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt.

Denn ich hatte ein winziges Detail übersehen, wie ich später zu meinem großen Entsetzen feststellte – aber das hatte der Mann im Leuchtturm, mein Freund Viggo Larssen, Sohn einer ledigen Mutter, die schon lange tot und an einem sonnigen Sommertag auf einem Friedhof in Søborg beerdigt worden war, selbstverständlich nicht …

… das war mein erster großer Fehler.

KANZLEI DES MINISTERPRÄSIDENTEN

Freitag, 2. Januar, Vormittag

Der Anruf des Mord-Chefs wurde über seinen Staatssekretär an Palle Blegman durchgestellt, einen hoch aufgeschossenen, schlaksigen Mann, der laut Gerüchten, die im Ministerium kursierten, in blutjungen Jahren ein verhältnismäßig aggressiver, hochrangiger Linkssozialist gewesen war, ehe er Dr. rer. pol. wurde und jetzt zu den einflussreichsten Männern des Landes gehörte.

Wenn einem aktuelleren Gerücht Glauben geschenkt werden konnte, war er Mitglied des Tårbæk-Clubs, einer kleinen exklusiven Loge für die vornehmsten Topbeamten – ehemalige und derzeitige.

»Ist Ihnen zu irgendeinem Zeitpunkt bei Ihrer Mutter ein gelbes Stück Kunststoff aufgefallen?« Der Mord-Chef kam direkt zur Sache. »Bei ihr zu Hause – oder im Pflegeheim?«

Die beiden Fragen zogen eine mehrsekündige Pause nach sich, die der Bär vorsichtig mit einer Gegenfrage beantwortete: »Ein Stück gelber Stoff?«

»Plastik«, sagte der Mord-Chef. »Alt, zerrissen. Mit ein paar dunklen Flecken, die wir noch nicht identifiziert haben.«

Die nächste Pause dauerte noch länger.

»Nein.«

»Wir haben ein paar Dinge gefunden, aber es ist noch zu früh …«

»Was können Sie mir sagen?«

»Nichts.« Der Mord-Chef hörte selber, wie absurd seine Antwort war.

Die dritte und letzte Pause wurde von keinem der beiden Männer beendet und sprach für sich selbst.

Nichts war ein Begriff, der auf dieser Ebene nicht existierte.

DER LEUCHTTURM AUF DER LANDSPITZE

Später Herbst, 2014

Als ich mir zum zweiten Mal Zugang zum Leuchtturm verschaffte, war ich wild entschlossen, das Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen, so gründlich wie nur möglich. Irgendwo darin musste es eine Erklärung für Viggos nahezu manisches Verhältnis dazu geben. Etwas, das der Umwelt verborgen bleiben sollte, davon war ich nach einem Tag der Spekulationen fest überzeugt – nur konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, was das sein sollte.

Dennoch spürte ich, dass es für die Aufgabe, zu deren Bewältigung ich angereist war, von entscheidender Bedeutung war, und ich hatte Zeit – einen Haufen Zeit, dachte ich naiv. Das war mehr als zwei Monate vor dem Verschwinden der Witwe gewesen.

Er hatte wie gewohnt den Leuchtturm für seine einsame Wanderung am Fuß der Steilküste verlassen, aber zu meinem großen Ärger lag das Buch nicht auf dem Stuhl, und ich konnte es nirgendwo entdecken. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Regal mit vielleicht fünfzig Büchern, und es kostete mich sicher eine Viertelstunde, alle Titel zu sichten. Mehrere Bücher über Journalistik und Medien, eine Reihe angestaubter schwedischer Kriminalromane, die mir vage bekannt vorkamen, und ein Kochbuch mit Muschelrezepten, das vermutlich bereits vor seinem Einzug dort gestanden hatte. Ich persönlich hatte mich nie für Meeresfrüchte interessiert.

Das spanische Tagebuch war nicht dort.

Ich zögerte einen Augenblick, den Blick auf die Tür zum angrenzenden Raum geheftet, ehe ich die Neugier siegen ließ und die Tür mit einem festen Griff um die Klinke öffnete.

Rechts unter einem kleinen Fenster stand ein ungemachtes Bett. Die Bettdecke war halb aus dem Bezug und auf den Boden gerutscht, ein Kissen konnte ich nicht sehen. Ich könnte niemals ohne ein Kissen unter meinem verformten Schädel einschlafen, der meine Pflegemutter an den Schrumpfkopf eines kleinen Peruaners erinnert hatte – wie sie es in ihrer unverblümten Art ausgedrückt hatte.

Links, gleich hinter der Tür, war mit soliden Beschlägen eine blau angestrichene Holzplatte an die Wand montiert worden, auf der eine altmodische Reiseschreibmaschine stand, wie sie in den Fünfzigern modern war, eine rote Olympus. In der Walze steckte, halb herausgezogen, ein Blatt Papier.

Ich trat näher und beugte mich über den ramponierten Schreibtischstuhl mit der grauen, abgewetzten Sitzfläche. Er hatte nur fünf Worte geschrieben, am oberen Rand, die für mich genauso wenig Sinn ergaben wie das spanische Tagebuch mit den ausgedehnten Reise- und Naturbeschreibungen. Meine Großmutter und der Kanarienvogel.

Vielleicht war das ja die Überschrift für ein längeres, noch ungeschriebenes Kapitel. Andererseits konnten es auch die einleitenden Worte eines Tagebuches aus der Kindheit sein. Meine einzige Quelle aus der damaligen Zeit hatte vermutet, dass der Mann im Leuchtturm an diesen Ort geflohen war, um sein Leben in den Griff zu bekommen und alles niederzuschreiben, was ihn quälte und plagte. Sie hatte mir weiter erzählt, dass er ein Geheimnis mit sich herumschleppte, das er niemals mit jemandem geteilt hätte. Ein Geheimnis, das vielleicht seine lebenslange Menschenscheu erklärte.

Mein Blick fiel auf eine Plastiktüte vom Supermarkt, die Viggo Larssen unter dem Tisch zum Papierkorb umfunktioniert hatte. Darin lagen etwa zehn zusammengeknüllte Blätter wie das, das noch in der Maschine steckte. Einige waren in der Mitte durchgerissen wie in Wut.

Ich legte das erste zerknitterte Blatt auf die Tischplatte und strich es glatt. Auch darauf standen nur wenige Worte, die genauso wenig Sinn ergaben. Das Dreirad.

Ich legte alle Blätter auf die Tischplatte, aber keiner seiner abgebrochenen Schreibversuche ergab einen Sinn.

Mein Großvater, stand auf einem der Blätter. Wieder nur zwei Worte. Ich hatte keine Ahnung, worauf er mit so einer Überschrift hinauswollte.

Ich drehte mich zu dem Bett um, das höchstens einen Meter breit war. In einem Anflug von vor langer Zeit antrainiertem Ordnungssinn, der mich immer wieder irritierte, den ich mir vermutlich aber nicht mehr abgewöhnen würde, hob ich die Decke vom Boden auf.

Mein Manöver brachte zu meiner Überraschung einen dreibeinigen Hocker zum Vorschein, der als Nachttisch fungierte und auf dem ein Buch lag. Ein altes Exemplar von Derkleine Prinz – die Erzählung eines Piloten, der einem Jungen von einem anderen Planeten begegnete, nachdem sie beide in der Wüste notgelandet waren und sich mit einem Fuchs angefreundet hatten wie jenem, dem ich nach meinem Einzug im Wald der Meereshexe begegnet war.

Ich schlug das Buch auf und stieß auf eine handschriftliche Widmung: Für meinen Jungen, Viggo, 31. August 1963.

Persönlich und zugleich formell. Von seiner Mutter.

Auf einer der ersten Seiten hatte sie (ich ging davon aus, dass sie es gewesen war) die Passage markiert, in der der Autor erklärt, dass seine allererste Zeichnung (ein Elefant, der von einer Würgeschlange verschlungen wird) niemals von jemand anderem als ihm verstanden wurde. Wenn ich jemanden traf, der mir ein wenig schlauer vorkam, zeigte ich meine Zeichnung Numero 1, die ich mir dafür aufgehoben hatte. Ich wollte wissen, ob er sie verstand. Aber alle antworteten sie nur: »Dies ist ein Hut.« Und da wusste ich, dass ich mit diesen Leuten nicht über Boas oder Dschungel reden konnte. Also redete ich mit ihnen in ihrer eigenen Sprache über Kartenspiele, Golf, Politik und Krawatten. Die großen Leute waren dann immer froh, einen vernünftigen Menschen kennengelernt zu haben.

Ich konnte das besser nachvollziehen als jeder andere. Für einen Moment spürte ich so etwas wie Sympathie für die Frau, die Viggo das Buch gegeben hatte. Ansonsten ist mein Verhältnis zu Erwachsenen selten von übermäßiger Zuneigung geprägt, außerdem hatte ich ihn bei ihrer Beerdigung erlebt. Ich war damals noch ein Kind gewesen, hatte im Schatten meiner Pflegemutter gestanden, trotzdem werde ich Viggo Larssens Blick an diesem Tag auf dem Friedhof nie vergessen.

Als ich das Buch zurück auf den Hocker legte, wurde die Schlafzimmertür wie von unsichtbarer Hand zugestoßen und offenbarte an der Wand dahinter einen weißen Schrank, der durch die geöffnete Tür vollständig verborgen gewesen war.

Hinter einer verschlossenen Glastür waren drei Regalböden zu sehen, auf denen je ein großes rotes Buch lag. Auf allen drei Deckeln stand in golden geprägten Buchstaben Mein Tagebuch, gefolgt von den Initialen von Viggos Mutter.

Das Buch auf dem oberen Brett trug in Goldlettern die Aufschrift: 1955–1964.

Das auf dem Brett darunter: 1964–1970.

Und das unterste: 1970–

Dort war keine abschließende Jahreszahl eingraviert.

Dieses Buch würde unvollendet bleiben, das wusste ich besser als irgendwer sonst, und meine Ungeduld ließ mich nach dem Messingscharnier greifen und daran rütteln, ehe ich auch nur einmal geblinzelt hatte.

Aber der Bücherschrank war gründlich verriegelt.

Ich sah mich in der kleinen Kammer um und suchte sicher zwanzig Minuten nach dem Versteck des Schlüssels, eine Schublade oder Schatulle, meinetwegen eine Ritze in der Wand. Ich stieg sogar die steile Wendeltreppe bis in den oberen Raum des Leuchtturms hoch, was mir einen leichten Schwindel bescherte, meine Ungeduld aber keineswegs linderte.

Unter der Treppe stand eine blaue Kommode, aber in den Schubladen war außer ein paar achtlos darin verstauten Hosen und Hemden nichts zu finden. Er musste den Schlüssel mitgenommen haben.

In dieser Nacht schlief ich schlecht. Und natürlich kehrte ich zurück in den Leuchtturm.

Sobald Viggo das Haus verlassen hatte und nur noch als winziger Punkt am Strand zu sehen war, verschaffte ich mir Zutritt. Tag für Tag, während der Herbst in den Winter überging. Ich achtete darauf, die bescheidene Leuchtturmwärterwohnung in dem vorgefundenen Zustand zu verlassen, damit er keinen Verdacht schöpfte, dass er unerwünschten Besuch gehabt haben könnte – das zumindest bildete ich mir damals ein. Viggo Larssen hatte eine zuverlässige Pünktlichkeit, die ich mir nur mit einem letzten Rest seiner ausgeprägten und hart erkämpften Disziplin erklären konnte, die er nicht aufgeben wollte, obgleich er alles andere hatte aufgeben müssen.

Irgendwann versuchte ich, den Bücherschrank mit einer dünnen Messerklinge aufzuhebeln, erfolglos.

Ich hinterließ dabei leichte Kratzspuren im Holz, um das Schlüsselloch herum, wie meine Pflegemutter sie irgendwann an einer Schreibtischschublade ihres Sekretärs entdeckt hatte, nachdem ich ihre Sachen durchsucht hatte. Ich glaube aber nicht, dass Viggo Larssen die gleiche unheimliche Intuition besaß, die ihr zu eigen war. Er hatte die Kratzer vermutlich nicht bemerkt.

Ich setzte mich auf seinen Stuhl und las die neuen Satzfragmente, die sich jeden Tag aus der Walze der alten Olympus schoben, ohne etwas von Interesse zu entdecken.

Erster Schultag. Ove, Adda, Verner und Teis.

Das waren Namen aus seiner Vergangenheit. Ich kannte Familien in der Gegend, aber die fünf Freunde waren etliche Jahre vor mir auf die Welt gekommen.

Jedes Mal, wenn er die Walze eine Zeile weiterdrehte, schienen die Worte in ihm zu versiegen. Als würde genau in diesem Augenblick der Stecker gezogen, sodass er nicht weiterschreiben konnte.

Ich blätterte in dem alten Exemplar von Der kleine Prinz auf seinem dreibeinigen Nachttisch und notierte die Stellen, die Viggos Mutter mit Bleistift angestrichen hatte. Wer weiß, ob sie dabei an Viggo, sich selbst oder gar an ihre eigene Mutter gedacht hatte: Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!

Ich verstand die Anspielung. An dem Hang vor meinem Schlafzimmerfenster war ein Fuchs.

Meiner Pflegemutter waren solche Geschichten zu unrealistisch gewesen. Sie machte sich nichts aus Märchen, mochte nur ein paar wenige Kinderlieder, die von einfachen Dingen handelten.

Am ersten Dezembertag, es war ein Montag, lag das spanische Tagebuch wieder auf dem Stuhl hinter der Leuchtturmtür. Meine Erleichterung lässt sich kaum beschreiben, hatte ich doch befürchtet, er hätte den mystischen Text sicherheitshalber mit auf seine täglichen Ausflüge genommen.

Ich ließ mich an Viggos blau gestrichenem, abblätterndem Schreibtisch nieder und stellte fest, dass kein Papier in der Schreibmaschine steckte.

Ich las die ersten zwanzig Seiten noch einmal gründlich und mit viel Zeit. Der junge Mann war mit einem dänischen Freund zusammen gereist, und zwischen die handschriftlichen Abschnitte hatten die zwei Abenteurer hier und da kleine Papierschnipsel geschoben, Ansichtskarten, Briefmarken und Landesstempel, die sie vermutlich von den Grenzwachen erbettelt hatten.

Sie waren ein paar Tage in Paris geblieben, und neben einer Strichzeichnung von der Seine stand: Gemeinsam mit einem Deutschen und einem Tschechen einen Ausflug in die Stadt gemacht. Am frühen Abend Montmartre bestiegen, wo wir alle Kameraden aus der Herberge trafen: Amerikaner, Australier, Dänen, Schweizer, Deutsche, Franzosen, meinen Freund Kalle aus Helsingborg, ja selbst Halfdan, der sonst Menschenmengen meidet und sich lieber absondert, war dort.

Das war sein Freund.