Der Mann von Timanfaya - Wolfgang Wegner - E-Book

Der Mann von Timanfaya E-Book

Wolfgang Wegner

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Beschreibung

Ein Mann liegt offenbar tot am Strand. Wer ist er und ist er wirklich tot? Vielleicht hat er aber auch nie gelebt. So wie der "Mann von Timanfaya" werfen auch andere skurrile und mysteriöse Figuren der elf in diesem Band vereinten Short Stories mehr Fragen auf, als sie beantworten. Andere schräge Gestalten wiederum entlocken beim Lesen zumindest ein Schmunzeln. Allen jedoch ist Eines gemeinsam: Man wird das Gefühl nicht los, sie zu kennen.

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Lindemanns Bibliothek, Band 413

Titelfoto: iStock, zodebala

© 2023 · Lindemanns GmbH

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck ohne Genehmigung nicht gestattet.

ISBN 978-3-96308-204-7

www.lindemanns-web.de

Wolfgang Wegner

Der Mann von Timanfaya

Short Stories

Lindemanns

Wolfgang Wegner wurde im kühlen, tiefen Schwarzwald geboren.Kindheit und Jugend verbrachte er im sonnenverwöhnten, genussreichen Markgräflerland. Diese Kombination mag erklären, dass sich seine Kreativität auf so unterschiedliche Gebiete wie Krimi, Kinderbuch und Kulinarik verteilt. Die Liebe zu Worten, Geschichten und Büchern ließ Wolfgang Wegner ein Studium der Germanistik und Politikwissenschaft absolvieren, woraufhin es ihn an eine höhere Bildungsanstalt verschlug, wo er bis heute als Dozent arbeitet. Schreiben ist Teil des zweiten Berufs und wird ergänzt durch Kultur-Events, die Arbeit für Radio und TV sowie den YouTube-Kanal „Mittel?Alter!“. „Der Mann von Timanfaya“ ist Wegners erster Band mit Short Stories.

Die erwähnten Personen und Gegebenheiten entsprechen mehrheitlich nicht der Wirklichkeit. Zufällige Ähnlichkeiten sind eben das: zufällig.

Der Mann von Timanfaya

Da lag er. Auf dem Bauch, den Kopf an die Reste einer einst stolzen großen Sandburg gepresst, die Füße über Kreuz gelegt.

Ich hätte nicht gedacht, ihn hier wiederzusehen.

Sein schmutziger Rücken zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Viele Male muss das Wasser schon darüber geschwappt sein, dabei den aufgewühlten schwarzen Lavasand zurücklassend.

Lächelte er?

Ich beugte mich etwas hinab, um besser sehen zu können, aber ich war mir nicht sicher. Ein Lächeln würde zu ihm passen.

Ein schwarzer Krebs kroch unter seinem Bauch hervor, hielt kurz inne und machte sich dann mit eleganten Seitwärtsbewegungen auf den Weg ins Meer.

Mein Stehenbleiben und Beobachten hatte die Aufmerksamkeit anderer Strandbesucher erregt. Immer mehr gesellten sich zu mir, bald waren er und ich von einem dichten Menschenpulk umringt.

„Kennen Sie ihn?“, fragte jemand.

Ich schüttelte den Kopf.

„Aber den muss doch jemand kennen!“, rief eine dickliche Frau mir gegenüber.

„Wieso denn?“, entgegnete ein braungebrannter älterer Mann neben ihr, dessen Badehose deutlich zu knapp ausgefallen war. „Manche kennt man eben einfach nicht. Oder was meinen Sie?“

Die Frage war an mich gerichtet. Es war eine gute Frage, über deren Antwort ich länger nachdenken musste.

„Ich glaube, dass ihn viele kennen“, hörte ich mich sagen und spürte, wie sich unzählige Augenpaare auf mich richteten.

„Niemand kennt ihn!“ Ein Mann mit dickem, von der Sonne verbranntem Bauch und Halbglatze stierte mich an und ließ dann Zustimmung suchend den Blick in die Runde schweifen. Viele nickten.

Vor zwei Monaten hatte ich ihm noch gesagt, er solle aufhören. Doch er hatte nur gelacht und gemeint: „Dafür ist es noch zu früh!“

In Gedanken ging ich zurück.

Vor einem Jahr war ich das erste Mal auf Lanzarote und hatte mir einen Wagen gemietet, um die Insel zu erkunden. An jenem Tag, als ich ihm begegnete, war der Nationalpark Timanfaya mein Ziel: ein riesiges Lavafeld, das sich um mehrere erloschene Vulkankrater herum erstreckt. Entstanden waren diese Montañas del Fuego in den Jahren 1730 bis 1736, so habe ich es im Reiseführer gelesen.

Die Zufahrt zum Park war nicht mehr weit, als ich links von mir ein übergroßes Werbeschild sah, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich trat heftig auf die Bremse und brachte den Wagen nach wenigen Metern zum Stehen. Mit zitternden Händen schaltete ich den Warnblinker ein und versuchte auszusteigen. Meine Beine waren wie aus Gummi und verweigerten den festen Halt auf dem Asphalt. Langsam sank ich auf die Knie.

Für einen Vorbeifahrenden hätte ich wie ein Betender ausgesehen. Einer, der vor dem Gekreuzigten auf die Knie gegangen ist.

Ja, vor dem Gekreuzigten! Denn genau das hatte ich gesehen: einen Mann in der Haltung des Heilands auf Golgatha, doch nicht am Kreuz, sondern an einem Holzgestell mit der Darstellung eines jener springenden Teufel, die César Manrique als Symbol des Lavaparks entworfen hatte.

Sah der Mann mich an, lächelte er gar? Oder bildete ich mir das nur ein?

Mühsam stand ich auf und näherte mich vorsichtig der Gestalt, um gleich erneut zutiefst zu erschrecken, denn er sprach mich an: „Na, endlich hat mich jemand bemerkt. Komm näher, mein Freund!“

Ich folgte der Aufforderung wie in Trance. Als ich zu seinen Füßen stand, wuchs meine Verwunderung noch mehr. Er war nicht an das Gestell genagelt, wie ich befürchtet hatte, sondern gefesselt, und das sehr geschickt. Der Hobbysegler in mir erkannte sofort einen Knoten, der leicht zu lösen war. Mit etwas Geschick könnte sich der Mann also selbst aus seiner Lage befreien. Dennoch fragte ich: „Wer hat Sie da festgebunden?“

„Ich selbst!“, antwortete er mit einem Lachen und bestätigte meinen Verdacht.

„Warum?“ Meine Frage war berechtigt, klang aber trotzdem etwas naiv.

„Die Menschen brauchen Zeichen. Nur dann erkennen Sie den richtigen Weg.“

Bevor ich etwas anderes sagen konnte, fuhr der Nicht-Gekreuzigte fort: „Sie haben angehalten. Warum? Ich sage es Ihnen: Sie haben nicht angehalten, weil Sie mir helfen wollten, sondern weil Sie das Symbol erkannt haben! Das doppelte Symbol!“

Die Zahl meiner Kirchgänge lässt sich an einer Hand abzählen, auch gehörte die Bibel nicht gerade zu meiner Standardlektüre. Daher verstand ich nicht sofort, was er mit dem doppelten Symbol gemeint hatte.

„Vulkane, Schwefel, Feuer!“, fuhr er fort, „Symbole des Teufels. Dem musste ich doch ein anderes Symbol entgegensetzen!“

Jetzt verstand ich, was er meinte. Auch César Manrique, Künstler, Architekt und Sohn der Insel, hatte den Ursprung Lanzarotes, die Vulkane, mit dem Antichristen in Verbindung gebracht, wobei ich mir nicht sicher war, ob er das tatsächlich religiös gemeint hatte. Ich nahm mir vor, etwas darüber nachzulesen.

Ich betrachtete den Mann über mir etwas genauer. Wie ein Erweckungsprediger sah er eigentlich nicht aus. Gut, er hatte einen Vollbart, jedoch gestutzt und gepflegt. Sein schwarzes Haar war kurz und ging auf der Stirn schon etwas zurück. Er trug ein schwarzes T-Shirt ohne Aufdruck, olivfarbene Shorts und braune Sandalen. Seine Haut war von der Sonne gebräunt.

„Nehmen Sie mich auf dem Rückweg mit nach Arrecife?“, unterbrach er meine Gedanken.

Ich nickte wortlos. Dann machte ich kehrt und ging zu meinem Auto zurück. Bevor ich einstieg, drehte ich mich noch einmal um, in der Hoffnung, alles wäre nur ein Trugbild gewesen. Doch er hing immer noch dort und wahrscheinlich hätte er mir gewunken, wären seine Hände nicht gebunden gewesen.

Immer noch verwirrt, startete ich den Wagen und reihte mich Minuten später in die Schlange ein, die vor dem Eingang des Parks wartete. Dann besuchte ich die „Hölle auf Erden“.

Als ich zwei Stunden später wieder an der Stelle vorbeikam, war das Gestell leer. Nur Manriques Teufel lachte mich an.

Einige Tage später flog ich zurück nach Hause, der Urlaub war zu Ende und ich hatte den Mann von Timanfaya schon vergessen, als ich ihm unerwartet wieder begegnete. Er kniete nackt vor der Einfahrt eines weltbekannten Chemiekonzerns und schien an irgendetwas zu arbeiten. Wieder stieg ich aus meinem Auto und ging näher. Dann sah ich, was er tat: Vor ihm lag ein Haufen Knochen, einen hatte er in der Hand und bearbeitete ihn mit einer Bürste.

„Die Natur wird eure Knochen putzen!“, stand auf einem selbst geschriebenen Pappschild, das er neben sich aufgebaut hatte.

Ich musste lachen. „Die Idee hast du geklaut“, dachte ich.

Ich wollte näher kommen, ihn ansprechen und sehen, ob er mich wiedererkennt. Doch ich wurde von zwei Uniformierten grob zur Seite gestoßen, die auf den Mann zu eilten und ihn wortlos packten. Dann schleiften sie ihn dicht an mir vorbei bis zur Straße, wo das Betriebsgelände und damit ihre Zuständigkeit endeten. In dem kurzen Augenblick, in dem wir einander fast berührten, lächelte er mich an und flüsterte: „Ich komme wieder.“

Und er kam wieder.

In den Monaten nach unserer zweiten Begegnung war er immer dort, wo auch ich war.

In Paris sah ich ihn: Er hatte sich wie ein Hund an den Eifelturm gebunden.

In Frankfurt sah ich ihn: Er stand vor einer jener Banken mit wohlklingendem Namen und dubiosen Geschäftspraktiken. Er hatte seinen Körper über und über mit Geldscheinen beklebt. Regungslos und den Blick starr auf einen imaginären Punkt gerichtet, stand er da. Männer in dunklen Anzügen, Frauen in dunklen Kostümen gingen vorüber, sahen irritiert weg und dann doch wieder hin, um einen kurzen Blick auf die seltsame Gestalt zu erhaschen.

Und nun wieder Lanzarote.

Ich sah auf den Körper zu meinen Füßen, der sich nicht mehr bewegte. Sich nie mehr bewegen würde.

War das Teil seines Plans? Hier zu liegen wie ein gestrandeter Wal?

Mit kleinen Schritten begann ich, mich aus dem Ring der Menschen zurückzuziehen, die noch immer darüber diskutierten, ob man den Mann kennen müsse.

Vielleicht kannte nur ich ihn.

Später im Hotel nahm ich meine Kamera, um noch einmal die Fotos anzusehen, die ich früher von ihm gemacht hatte. In Paris. In Frankfurt. An anderen Orten.

Ich rieb mir die Augen, starrte immer wieder auf das kleine Display. Meine Hände begannen zu zittern, und fast wäre mir das teure Gerät aus den Händen gefallen.Dort, wo er auf den Fotos hätte sein müssen, war nichts zu sehen, außer der zu erwartenden Umgebung. Der Mann aus Timanfaya fehlte.

Hektisch streifte ich mir die Schuhe über und rannte zum Strand. Mir war egal, dass der nasse schwarze Lavasand meine teuren Slipper ruinierte. Ich musste zu ihm!

Keine halbe Stunde war vergangen, seit ich ihn gefunden hatte. Er war nicht mehr da!

Hatte ich mich in der Stelle geirrt? Ich rannte den Strand rauf und runter, bis mein T-Shirt vom Schweiß durchnässt war. Von den Liegestühlen aus wurde ich argwöhnisch beäugt, aber niemand sprach mich an.

Erschöpft blieb ich endlich stehen und blickte aufs Meer hinaus.

Als ich ein Kribbeln auf meinem Fuß spürte, zuckte ich erschrocken zusammen, Ich sah nach unten. Ein schwarzer Krebs saß auf meinem rechten Fuß und schien zu mir hinaufzublicken.

Langsam und vorsichtig beugte ich mich etwas hinab. Jetzt konnte ich seine Augen sehen und in diesem Moment verstand ich.

Hier bin ich!