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Zwei Morde innerhalb kürzester Zeit erschüttern die sonst so ruhige Ostfriesenidylle. Am helllichten Tag und mitten in einer Menschenmenge, doch keinem scheint etwas Ungewöhnliches aufgefallen zu sein. Als die sechzehnjährige Mara und ihre Freundin drei fremde Kinder aus einer Garage befreien, ahnen sie nicht, dass sie sich damit mitten ins Geschehen begeben. Auch als die Situation brenzlig wird, steht für die beiden fest: Was auch immer diese Kinder mit dem mysteriösen Märchenmörder verbindet; sie werden sie auf keinen Fall alleine lassen, und der Sache auf den Grund gehen.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2016
Sarah Markowski wurde am 14. Januar 1998 in Bad Mergentheim geboren. Schon im Kleinkindalter ist sie nach Rheinhessen gezogen und lebt dort in einem kleinen Weinort nahe Mainz mit ihren Eltern, ihrer jüngeren Schwester und zwei Katzen. Zurzeit besucht sie die dreizehnte Klasse des Gymnasiums und wird voraussichtlich 2017 ihr Abitur machen.
Schon seit längerem spielt sie mit dem Gedanken, endlich ein eigenes Buch zu veröffentlichen und die Urlaube in Ostfriesland haben sie dazu bewegt, die Nordseelandschaft als Handlungsort auszuwählen.
"Der Märchenmörder" ist ihr erster Roman; Nils Johansens zweiter Fall ist jedoch bereits in Planung.
Nils Johansens erster Fall
© 2016 Sarah Markowski
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-3949-7
Hardcover:
978-3-7345-3962-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
FÜR CARINA,LAURA UND ALEXANDER
Manchmal wünsche ich mir die Zeit zurück, in der das frühe Zubettgehen die größte Sorge war. Die Zeit, in der Mama noch alles wusste und Papa der stärkste Mann der Welt war. Jungs waren doof, nur Papa natürlich nicht, den wollte ich schließlich später einmal heiraten. Die Zeit, in der Schule noch Zukunft war und Freunde nicht nach dem Aussehen ausgesucht wurden.
Wäre das nicht alles schon Vergangenheit, müsste ich mir heute keine Sorgen über die Mathearbeit morgen machen.
„Es ist doch immer dasselbe!“
Schimpfend malte ich ein rotes Kreuz neben die Aufgabe, die sich soeben als falsch erwiesen hatte, und merkte, dass ich schon wieder das Ende meines Bleistiftes angekaut hatte. Angewidert warf ich ihn auf die Tischplatte, beobachtete wie er über mein Heft rollte und kurz vor der Kante liegen blieb und verzog das Gesicht, als ich die kleinen aufgeweichten Holzstücke auf meiner Zunge spürte.
Seufzend stützte ich die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und vergrub mein Gesicht in den Händen. Mathe war noch nie meine Stärke gewesen. Genau wie Physik, Chemie und so ziemlich alles, was auch nur im Entferntesten mit Naturwissenschaften zu tun hatte. Am liebsten mochte ich Sport, Kunst und Sprachen; Farben und Buchstaben lagen mir viel eher als Zahlen.
Ich hob den Kopf und starrte erneut auf das vollgekritzelte Blatt, das vor meiner Nase auf dem Tisch lag. Ich gab mir wirklich größte Mühe, doch was Vektoren waren wusste ich auch nach drei Stunden Intensivlernen noch nicht. Langsam packte ich die Stifte zurück in mein Federmäppchen, klappte das Buch zusammen und ließ das Heft in den Tiefen meines Schulrucksacks verschwinden.
Draußen vor dem Fenster tobte der Wind. Kleine Kristalle bildeten sich am Fensterrahmen und mein Herz hüpfte vor Freude, als ich mich daran erinnerte, dass für morgen der erste Schnee vorausgesagt war. Es war Anfang Dezember und für den Norden Deutschlands noch recht mild. Zumindest mittags schien die Sonne und hatte noch genug Kraft, um die Hoffnung auf Schnee zu verderben. Gedankenverloren blickte ich aus dem Fenster und freute mich, dass die bunte Lichterkette, die ich rund ums Fenster aufgehängt hatte, in der Dunkelheit so gut zur Geltung kam. Kleine Schlitten und Weihnachtswichtel standen neben der selbstgebauten Krippe aus hellem Eichenholz, die ich von Papa zu meinem ersten Weihnachtsfest bekommen hatte. Tannenzapfen lagen auf der Fensterbank und eine lange dünne Schneeflockengirlande hing an den weißen Vorhängen.
Ich stand auf und warf einen Blick auf die Uhr über meinem Bett. Halb sechs und die Sonne war schon längst verschwunden. Mit einem Blick aus dem Fenster entschied ich, das Haus heute nicht mehr zu verlassen und stattdessen noch ein bisschen zu lesen. Ich ließ mich in den großen, kuscheligen Sitzsack fallen und griff nach dem Buch, das neben meinem Bett lag. Ich zog meine Knie an und schlug die Seiten auf, die von dem bunt gestreiften Lesezeichen markiert wurden.
Der Wind pfiff durch die Ritzen des alten Bauernhauses und die Kristalle am Fenster wurden von leichten, winzigen Regentropfen verwischt. Bevor ich mich in der fesselnden Geschichte des Buches verlor, wandte ich meinen Blick noch einmal ab, um zu prüfen, ob es nicht doch schon Schnee war, der vom Himmel hinab rieselte.
Doch wie geahnt, und zu meiner Enttäuschung, waren es nur Regentropfen, die leise gegen die Scheibe prasselten und mit langen Spuren am Glas herunterliefen.
***
Der Zug war voll vom Eingang bis zum Ausgang. Gepäck stapelte sich und die Leute standen einander auf den Füßen. Achtlos kämpften sie sich durch die Gänge und Juna hatte Mühe, nicht alle fünf Minuten von einem Ellenbogen im Gesicht getroffen zu werden. Drei Tage waren sie schon unterwegs. Große Autos, Traktoren, alte Karren, Busse und Züge hatten sie bisher von einem Ort zum andern gebracht. Gelaufen waren sie, bis die Blasen an den Füßen bluteten und die Schuhe an den Knöcheln und Zehen scheuerten.
Der Zug, in dem sie heute fuhren, war überfüllt. Viel zu viele Fahrgäste wurden in einen kleinen Raum gedrängt, doch das störte Juna nicht. Hauptsache sie kamen irgendwann ans Ziel. Hauptsache sie blieben zusammen und verloren einander nicht.
Mit einem schnellen Schritt zur Seite schaffte sie es gerade noch einem Mann auszuweichen, der seinen Sohn hinter sich her zog und dabei, wie jeder andere auch, keine Rücksicht auf mitreisende Personen nahm. Juna drückte die Hand ihrer kleinen Schwester ein bisschen fester und streckte sich, um sicherzugehen, dass ihr Bruder noch in der Nähe war. Namik stand direkt am Ausgang und klammerte sich unsicher an einer Stange fest, die den Fahrgästen ermöglichte, auch im Stehen nicht umzufallen. Juna wischte sich den Schweiß von der Stirn und zupfte an ihrem T-Shirt, um wenigstens einen winzigen Lufthauch zu erzeugen. Obwohl es Winter war und draußen einstellige Temperaturen herrschten, war es im Zug unerträglich heiß und stickig. Sie schaute sich um und sah, dass die kleinen schmalen Fenster an den Wänden des Zuges bereits geöffnet waren. Juna schloss die Augen und versuchte die schlechten Gerüche auszublenden. Schweiß und stinkende Füße; Klamotten, die tagelang nicht gewechselt und gewaschen worden waren; Hunde, die ihr Geschäft verrichteten wo es ihnen passte; und Müll, der von den Mitfahrern achtlos weggeworfen wurde. Leere Getränkepäckchen lagen auf dem Boden und hier und da bildeten sich Saft- und Wasserpfützen unter den Sitzen und zwischen den Koffern. Leere Papiertüten und Plastikverpackungen lagen verstreut zwischen Beinen und Pfoten und selbst Essen, das nur einmal angebissen wurde, wurde achtlos herumgeworfen. Am liebsten hätte Juna ihnen die Meinung gesagt und durch das Abteil geschrien, dass es so nicht geht und man sich als Mensch nicht so verhält. Doch sie traute sich nicht. Wie immer.
Draußen war es bereits dunkel und dicke Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheibe.
Wie gerne würde Juna jetzt schlafen und erst am Morgen wieder aufwachen… doch die Leute, die sich kreischend und schreiend unterhielten, ließen diesen Wunsch in Nullkommanichts zerplatzen.
Der Zipfel ihres Rocks bewegte sich und Malina tippte mit dem Zeigefinger gegen ihren Oberschenkel. Juna beugte sich zu ihrer Schwester herunter, die ihr mit Zeichen zu verstehen gab, dass sie auf Toilette müsse.
„Bald Malina. Bald sind wir da“, sagte sie und versuchte verzweifelt ihre Schwester bei Laune zu halten. Die Kleine trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und schaute sich immer wieder nervös um. Keiner wusste wann der Zug ankommen würde. Niemand wusste was sie erwartete und niemand wusste, wo sie überhaupt hinfuhren.
***
Das nächste Kapitel neigte sich dem Ende zu und erst mit einem Blick auf die Uhr merkte ich, dass es schon längst Zeit fürs Essen war. Ich las die letzten Zeilen und legte das Lesezeichen zwischen die beiden Seiten. Ich streckte meine Arme und quälte mich aus dem großen Sitzsack heraus. Müde lief ich ans andere Ende des Zimmers, schaltete das Licht aus und schloss die Türe hinter mir. Ich gähnte herzhaft und lief Stufe für Stufe die alte Holztreppe hinunter. Im Flur duftete es bereits nach Mamas Gemüseauflauf und ich merkte, wie mein Bauch anfing zu grummeln.
„Na, fertig mit Mathelernen?“, fragte Mama, ohne mich überhaupt gesehen zu haben. Ich ließ mich auf die Eckbank plumpsen und zuckte mit den Schultern.
„Eher aufgegeben.“
Sie lachte und balancierte die heiße Schüssel mithilfe eines Topflappens auf einer Handfläche. Ich stand auf, schnappte mir einen Untersetzer und einen Schöpflöffel und folgte ihr ins Esszimmer.
„Essen ist fertig!“, rief ich und verscheuchte Findus, unseren dicken Kater, von meinem Platz. Widerwillig streckte er sich, gab dann aber doch nach und hüpfte einen Stuhl weiter.
Neben mir schob Mama die TrippTrapp-Stühle der Zwillinge näher an den Tisch heran und legte ihnen ein Lätzchen um.
„Diesmal bleibt das Essen auf dem Tisch, haben wir uns verstanden?“
Emilia und Malte nickten und schielten unauffällig zu Findus hinüber, der sich schon wieder genüsslich die Lippen leckte und unter den Stühlen meiner kleinen Geschwister auf ein paar Leckerbissen wartete.
„Du weiß auch genau, was gut ist.“
Lachend bückte ich mich zu ihm hinunter und kraulte sein weiches schwarzes Fell. Die Nase mit dem kleinen weißen Tupfer streckte er in die Höhe und schnurrte.
„Essen ist fertig!“, rief ich erneut, diesmal genervter, weil mein großer Bruder Hannes wieder einmal eine Extraeinladung brauchte. Hinter mir ging die Terrassentür auf und Papa kam herein. Er trug seine graue Latzhose und das blau-rot-karierte Holzfällerhemd, das er immer trug wenn er in der Schreinerei arbeitete. Die bernsteinfarbenen Haare standen, wie jeden Tag, wirr vom Kopf ab und die Sommersprossen rund um seine Nase hüpften mit jeder Gesichtsbewegung.
„Bin schon da“, sagte er und drückte den Zwillingen einen Kuss auf die Stirn. Seine Hände waren voller Lack und Holzspäne und man konnte unschwer erkennen, dass er seinen Job als Schreinermeister liebte und mit größter Leidenschaft ausführte.
Ich rutschte ungeduldig auf meinem Stuhl herum, bis auch das letzte Familienmitglied, mein älterer Bruder, endlich eintrudelte.
Er schob Findus ein wenig zur Seite und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, auf seinen Stuhl.
„Hände waschen“, sagte Mama und fing an den Auflauf auf unsere Teller zu verteilen. Mürrisch stand Hannes auf und ließ in der Küche Wasser über seine Finger laufen.
„Alles klar?“, fragte Papa, als er sich wieder zu uns gesellte. Er nickte und griff stumm nach dem Löffel.
Papa runzelte die Stirn und Mama zuckte die Schultern, als sie sich gegenseitig verwirrte Blicke zuwarfen.
„Wir kennen ihn doch“, sagte ich schnell und zwinkerte ihm zu. Mein Bruder war noch nie sehr gesprächig gewesen. Eigentlich sehr verwunderlich für unsere Familie, aber Papa sagt immer, einer muss ja aus der Reihe tanzen. Er ist der Älteste von uns vier Kindern und verbringt den Tag am liebsten auf dem Fußballplatz, mit seinem Skateboard oder in seinem Zimmer am Klavier oder der Gitarre. Die Instrumente spielt er seit er vier ist und im Gegensatz zu mir hat er noch immer Spaß daran. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war haben meine Eltern versucht, mich fürs Blockflöte spielen zu begeistern. Nach etwa drei Wochen habe ich mich geweigert den Unterricht zu besuchen und auch das Angebot ein eigenes Schlagzeug, eine Trompete, oder ein anderes Instrument das Krach macht zu bekommen und zu lernen, scheiterte. Aber ich bin auch ohne musikalische Erziehung großgeworden und bereue es heute immer noch nicht, keine Noten lesen zu können.
„Mara?“
Ein leichter Stoß gegen die Schulter riss mich aus meinen Gedanken.
„Was?“
Ich schüttelte den Kopf und blickte verwundert nach rechts.
„Ob du mir bitte das Wasser rübergeben kannst, habe ich gefragt.“
„Äh, ja klar.“
Ich nahm den schweren gläsernen Krug in die Hände und reichte ihn über den Tisch.
Mama bedankte sich, nahm ihn entgegen und füllte Maltes Becher. Er schmollte und verzog das Gesicht, da er viel lieber Saft statt Wasser gehabt hätte.
„Morgen wieder.“
Malte nahm den Becher und ließ ihn neben seinem Teller über den Tisch rollen.
Ich nahm mir vor ihn nicht zu beachten, da er sich so am ehesten wieder abregte und nahm eine Gabel voll Gemüse, das inzwischen schon abgekühlt war.
Im Fenster spiegelte sich unser Esszimmer und ich musste grinsen, als ich das alltägliche Familienchaos betrachtete.
Draußen wurde der Regen immer stärker. Die Tropfen prasselten gegen die Scheibe und veranstalteten ein Wettrennen schräg nach unten. Ich schloss die Augen und wünschte mir mit aller Kraft, dass es heute Nacht schneite. Wenigstens ein klitzekleines bisschen.
***
Draußen war es stockdunkel. Man konnte außer dem Mond am Himmel nichts erkennen. Der Zug war hell erleuchtet und die Gesichter der Menschen spiegelten sich in der Scheibe. Juna starrte immer geradeaus und konnte sich vor Müdigkeit kaum noch wach halten.
Immer wieder gab ihr Malina zu verstehen, dass sie ganz dringend auf Toilette müsse, doch keiner wusste, wann sie endlich das Ziel erreichen würden. Am Anfang hatten sie “Ich sehe was, was du nicht siehst“ und “Ich packe meinen Koffer“ gespielt, doch nach einiger Zeit hatten sie auch daran die Lust verloren. Die stickige Luft im Abteil und der immer gleichbleibende Geräuschpegel verursachten Kopfschmerzen und Juna wünschte sich nichts sehnlicher, als auszusteigen und frische Luft zu schnappen. Ihre Beine fühlten sich wackelig an und die Augenlider wurden mit jeder Minute schwerer. Die Atmosphäre war angespannt und man merkte, dass die Müdigkeit jedem zu schaffen machte.
Ein paar Meter weiter lehnte Namik an der Tür und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Malina hatte noch immer die Beine gekreuzt und tippelte ungeduldig auf der Stelle herum.
„Bald sind wir da.“
Juna versuchte ihrer kleinen Schwester Mut zu machen, obwohl sie nicht die Erste und sicherlich auch nicht die Letzte gewesen wäre, die es nicht mehr bis zur nächsten Raststelle aushielt.
„Möchtest du etwas essen?“
Malina schüttelte den Kopf und Juna seufzte. Neben ihr saß ein kleiner Junge auf dem Schoß seiner Mutter und lächelte sie mit seinem zahnlosen Grinsen an. Juna lächelte zurück und beobachtete, wie er immer wieder versuchte die kleine Dose in seinen Händen zu öffnen.
Der Zug fuhr mit hoher Geschwindigkeit, doch man konnte nichts von der Umgebung erkennen. Manchmal kamen sie an Bahnhöfen in Städten oder kleineren Ortschaften vorbei, doch der Zug hielt nie an. Die Häuser, an denen sie vorbeifuhren, waren hell erleuchtet und manchmal konnte man sogar die Schatten von Menschen hinter den Fenstern erkennen. Juna wünschte sich, eine dieser Personen zu sein. Nicht durstig, nicht hungrig, frisch geduscht und mit feuchten Haaren vor dem Ofen sitzend. Sie stellte sich vor, in einem warmen Wohnzimmer zu sein. Ihre Geschwister neben ihr und die Eltern, sich leise unterhaltend, in der Küche. Wie wäre es jetzt wohl, mit einem warmen Kakao auf dem Sofa zu sitzen und nebenbei einen Film zu schauen?
Traurig schaute sie sich im Zugabteil um und verabschiedete sich wehmütig von ihrem Traum.
Mit einem Blick auf die Uhr merkte sie, dass es schon lange nach Mitternacht war und sich auch Malina nicht mehr lange wachhalten können würde. In regelmäßigen Abständen rieb sich die Kleine die Augen und gähnte herzhaft. Irgendwann würden sie schon ankommen. Am nächsten Bahnhof, bevor eine weitere lange Zugfahrt beginnen würde. Juna graute es schon allein bei dem Gedanken, erneut in einen dieser überfüllten Waggons steigen zu müssen.
„Was bleibt uns anderes übrig?“, murmelte sie, doch die einzige Antwort war ein fragender Blick ihrer kleinen Schwester.
„Nichts…“
Und das wussten wir beide ganz genau.
Der verhasste Piepton meines Weckers riss mich aus dem Tiefschlaf. Müde rieb ich mir die Augen, nachdem ich endlich den Ausschaltknopf an der Rückseite gefunden hatte.
Ich streckte meine Arme und verkroch mich unter die Decke.
„Drei, zwei, eins…“, zählte ich leise und wartete darauf, dass einer der Zwillinge die Tür aufriss und lautstark Guten Morgen brüllte. Tatsächlich hörte ich auch heute wieder die kleinen nackten Füße über den Flur huschen. Vor meinem Zimmer hielten sie inne und stritten sich leise darüber, wer heute an der Reihe sei. Bevor ich mich darauf vorbereiten konnte wurde auch schon die Tür aufgerissen und meine Decke mit vereinten Kräften weggezogen. Kichernd standen sie vor meinem Bett und ich fragte mich, wie man an einem Montagmorgen schon so fit sein konnte. Ohne Vorwarnung rannten beide aus dem Zimmer und schalteten im Rausgehen das Licht an.
„Nein!“, rief ich und kniff die Augen zusammen. Blind quälte ich mich aus dem Bett heraus und tastete mich vorwärts. Unterwegs stieß ich meinen Zeh am Schreibtischfuß an und fluchte leise. Mittlerweile hatten sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt und ich konnte mir ohne weitere Vorfälle meine Klamotten für den heutigen Tag raussuchen.
Mit einer Jeans, meinem Lieblingsshirt und einer grauen Sweatshirt-Jacke auf dem Arm machte ich mich auf den Weg in Richtung Badezimmer. Da Papa bereits in der Schreinerei war, Mama schon längst in der Küche stand und Hannes erst auf den letzten Drücker aufstand, musste ich mich mit niemandem um das Bad streiten.
Verschlafen wusch ich mir den Schlafsand aus den Augen, putzte meine Zähne und kämmte mir die Haare. Nach etwa fünf Versuchen, meine widerspenstigen roten Locken in einem Zopf zu bändigen, gab ich auf und überließ meine Frisur dem Schicksal. Ich warf mir das T-Shirt über, schlupfte in die Hose und zog die Jacke erst auf dem Weg nach unten an.
Das Bauernhaus war groß und jeden Morgen aufs Neue duftete das alte Holz in der unteren Etage, die wir mit Absicht kaum renoviert hatten.
„Guten Morgen“, begrüßte mich Mama, die schon bester Laune war.
„Werden die das eigentlich nie lernen?“, gab ich mürrisch zurück und warf einen ärgerlichen Blick auf Emilia und Malte, die schon im Wohnzimmer mit den Katzen spielten.
„Haben sie dich mal wieder geweckt?“
Lachend stellte sie mir eine Schüssel mit Müsli und eine Flasche
Milch vor die Nase.
Ich seufzte und verkniff mir eine Antwort.
Eigentlich war ich immer gut gelaunt. Zumindest behaupten das meine Freunde und Eltern. Nur morgens, da konnte mir nichts und niemand ein Lächeln entlocken.
Schlecht gelaunt schraubte ich den Deckel von der Glasflasche und goss Milch in die Schüssel. Zu spät bemerkte ich die Rosinen im Müsli und verzog angewidert das Gesicht. Mit spitzen Fingern rührte ich in der Milch herum und fischte nacheinander alle aufgeweichten Trockenfrüchte heraus. Ich ließ sie neben der Müslischüssel auf den Tisch fallen und wischte die Milchpfütze, die drohend in Richtung Tischkante floss, mit dem Ärmel weg.
„Mara.“
Mit einem vorwurfsvollen Blick warf mir meine Mutter einen Putzlappen entgegen und sammelte die Rosinen auf.
„Was soll das denn?“
Lustlos versenkte ich den Löffel in der Milch und kaute auf den Haferflocken herum.
„Wegen der Mathearbeit? Solange du nicht wieder eine fünf mit nach Hause bringst ist doch alles im grünen Bereich.“
Mama ließ sich neben mir auf der langen Eckbank nieder und strich mir durch die Haare.
„Mist! Mathe!“, rief ich und sprang auf. Ich flitzte die Treppe hinauf und griff nach meinem Taschenrechner und dem Geodreieck. Den Bleistiftspitzer steckte ich in meinen Rucksack und vergewisserte mich, dass ich auch nichts vergessen hatte.
Auf dem Weg nach unten klopfte ich an die Tür meines Bruders und rief, dass er endlich aufstehen solle. Ich rannte die Treppe hinunter, nahm zwei Stufen auf einmal und setzte mich in der Küche auf meinen Frühstücksplatz.
„Glück gehabt“, murmelte ich und lehnte meinen Kopf nach hinten.
„Wenn der Tag schon so anfängt, kann er ja nur besser werden...“
***
Juna hatte sich an die gleichbleibende Geschwindigkeit des Zugs gewöhnt. Kaum merkbare Kurven, keine ruckartigen Bremsungen und gleichmäßiges Gleiten über die Schienen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie plötzlich langsamer wurden und schließlich zum Stehen kamen. Verwundert schaute sie sich um und entdeckte das Bahnhofsschild hinter der Fensterscheibe. Ihr Herz machte vor Aufregung einen kleinen Hüpfer und die gesamte Atmosphäre im Zug änderte sich schlagartig. Es wurde still und jeder schien auf etwas zu warten. Reflexartig griff Juna nach Malinas Fingern und half ihr, die kleine Tasche zu schultern. Juna selbst umklammerte den Griff des Rucksacks mit der freien Hand und hielt Ausschau nach ihrem Bruder. Namik erwiderte ihren Blick und gab ihr zu verstehen, dass sie sich zum Aufbruch bereithalten solle. Juna nickte, traute sich aber nicht einen Schritt vorwärts zu gehen. Niemand bewegte sich. Sogar die Kinder und Tiere standen wie versteinert da. Kein Mucks war zu hören. Die Stille war fast gespenstisch.
Juna schluckte und fühlte wie ihr Herz pochte. Sie starrte durch die Glasscheibe nach draußen und ließ die Türe nicht aus den Augen.
Sekunden verstrichen und fühlten sich an wie Stunden. Plötzlich ertönte das langersehnte Zischen der Türen, die beim Öffnen langsam die Sicht nach draußen freigaben. Zuerst passierte nichts. Alle waren wie zu Statuen erstarrt und wussten nicht, was sie als nächstes tun sollten.
Doch sobald die Ersten nach ihren Koffern griffen, kam Bewegung in die Menschenmasse. Jeder wollte so schnell wie möglich nach draußen, der oder die Erste sein. Jeder wollte Hilfe und die besten Sachen ergattern, die von deutschen Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellt wurden.
Juna schluckte. Diese Leute waren vor der Krise in ihrem Heimatland geflohen. Sie hatte schon oft mitbekommen wie sich die Leute um sie herum über die Situation in ihrer Nachbarschaft unterhielten. Blutverschmierte Häuser, Bomben, Attacken und Tote mitten auf den Gassen. Jeden Tag aufs Neue musste man hoffen, abends im eigenen Bett einschlafen zu können und morgens wieder aufzuwachen. Die Kinder konnten schon lange nicht mehr zur Schule gehen und hatten seit Wochen keinen Kontakt mehr zu Freunden und Verwandten. Die Stadt stank nach Rauch und Dreck und jeder hatte Angst. Angst vor allem und jedem, dem man begegnete.
Juna schauderte allein bei dem Gedanken an Blut. Sie hielt Malinas Hand fest in ihrer und versuchte, nicht in dem Strom der Menschenmassen unterzugehen.
„Ihr müsst euch anpassen. Einfügen. Nicht auffallen. Die Flüchtlingskrise ist unser Glück. Das schafft ihr schon.“
Juna hörte Mamas Stimme in ihrem Kopf und nickte.
„Nicht auffallen“, murmelte sie und nahm sich vor, sich so gut wie möglich unter die Menschen zu mischen, gleichzeitig aber Ausschau nach Gefahr zu halten.
Immer mehr Leute füllten den Bahnsteig. Sie blieben teilweise direkt vor dem Ausgang stehen und versperrten somit den Weg für weitere Reisende. Neben Juna gestikulierte ein aufgebrachter Mann wild um sich und es hätte nicht mehr viel gefehlt, bis er mit der geballten Faust ihren Kopf getroffen hätte. Gerade rechtzeitig konnte sie zur Seite ausweichen und die Hand neben ihrem Ohr flog ins Leere.
Die Kinder wurden immer weiter nach vorne geschoben. Keiner nahm Rücksicht auf andere und niemand schien sich um die Kleineren und Schwächeren zu kümmern. Juna zog die kleine Schwester hinter sich her und bemühte sich gleichzeitig, die schwere Tasche nicht zu verlieren, die sie in der anderen Hand trug. Gerade dachte sie, sie könne kaum noch atmen, da wehte ihr ein leichter kühler Wind entgegen. Sofort richtete sie sich auf und bewegte sich langsam aber stetig dem Ausgang entgegen. Juna schloss die Augen, um die vielen Menschen um sie herum auszublenden und lief einfach mit dem Strom mit. Plötzlich verlor sie den Halt und rutschte mit dem rechten Fuß zwischen Bahnsteig und Zug. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihr Bein und Panik stieg in ihr auf. Mit aller Kraft versuchte sie, sich an der Türe hochzuziehen, doch die Hektik auf dem Bahnsteig machte es unmöglich, sich festzuhalten und zu befreien. Juna merkte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie zog und zog, doch das Bein bewegte sich keinen Millimeter. Menschen drängten sich an ihr vorbei und bei jeder Berührung wankte sie gefährlich hin und her. Malina stand mit weit aufgerissenen Augen neben ihrer Schwester und beobachtete stumm, wie sie mit aller Kraft versuchte, nicht die Balance zu verlieren. Plötzlich griff jemand nach Junas Schulter und hob sie nach oben. Das Bein löste sich und ihr Herz pochte wie wild, als sie mit beiden Füßen sicher auf dem Boden stand.
„Immer vorsichtig sein, junge Dame.“
Ein großer Mann mit breiten Schultern lächelte sie an und zwinkerte ihr freundlich zu. Juna nickte, starr vor Schreck, aber dankbar. Sie brachte kein Wort heraus, doch der Mann schien auch keine Antwort zu erwarten. Er rückte geübt seine Krawatte zurecht, griff nach der grauen Aktentasche, nickte ihr noch einmal zu und entfernte sich dann mit schnellen Schritten.
„Juna!“
Hinter ihr erschien Namik, Malina hielt er an der Hand.
„Juna! Ist alles okay?“
Sie konnte nur stumm nicken und betrachtete die rote Schramme an ihrem Unterschenkel.
„Was ist mit dir? Hat dir der Mann wehgetan?“
Sie schüttelte energisch den Kopf und ließ sich in die Arme ihres Bruders fallen. Tränen rannen in Strömen ihre Wangen hinunter und bildeten große nasse Flecken auf Namiks T-Shirt.
Sie weinte und weinte, obwohl sie nicht wusste warum. Vor Schmerz? Oder vor Erleichterung?
Sie waren hier. Zu dritt; mit allen Koffern und Taschen. Keiner wurde ernsthaft verletzt und sie hatten es endlich bis nach Deutschland geschafft.
Juna wischte die Nase an ihrem Ärmel ab und schniefte. Bis zum Ziel konnte es nicht mehr weit sein.
***
Sechs Uhr zweiundfünfzig. Wir hatten noch genau drei Minuten Zeit um Jacken, Schuhe und Schals anzuziehen. Ich band meine Schnürsenkel und schnappte meinen Rucksack. Hinter mir schmiss sich Findus auf den Rücken und streckte alle vier Pfoten von sich. Auffordernd schaute er mich an und miaute leise.
„Heute Mittag, du Räuber“, sagte ich, streichelte kurz seinen Bauch und schaute ungeduldig auf meine Armbanduhr.
„Hannes?“, rief ich und legte meine Hand auf die Türklinke.
„Wir kommen zu spät!“
Aus der Küche kamen ein paar undeutliche Geräusche und kurze Zeit später kam mein Bruder um die Ecke geschlurft. Er band sich den großen schwarzen Schal um den Hals, schlupfte in seine Schuhe und nahm die Jacke vom Kleiderhaken. In der einen Hand hielt er seinen Schulrucksack und mit der anderen klemmte er sich sein Skateboard unter den Arm.
„Tschüss, Mama“, sagte ich und drückte die Türklinke hinunter.
„Viel Erfolg bei der Mathearbeit!“, rief sie mir hinterher und wischte ihre mit Marmelade beschmierten Finger an der Schürze ab.
Ich runzelte die Stirn und verzog den Mund.
„Bringt sowieso nichts.“
Sie lachte über meine Antwort und öffnete die Tür. Ein kalter Wind wehte mir entgegen und ich zog fröstelnd den Schal ein wenig enger um meinen Hals. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich erschrocken fest, dass wir schon längst hätten loslaufen müssen, um den Bus sicher nicht zu verpassen. Mit schnellen Schritten liefen wir die Treppenstufen hinunter und rannten über den Hof in Richtung Tor. Der Nebel hing über dem Feldweg und man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Die Bäume waren längst kahl und kleine glitzernde Kristalle hatten sich über Nacht an den langen Ästen gebildet.
Wie jeden Morgen war es um diese Uhrzeit noch dunkel und wir fanden den Weg in Richtung Dorf nur mithilfe einer Taschenlampe. Unser Hof lag abgelegen und rundherum waren nur Wald und Felder. Der nächste Supermarkt war eine Dreiviertelstunde mit dem Auto entfernt, lediglich ein kleiner Lebensmittelladen war im Ort zu finden. Einen Friseur gab es und zwei Metzgereien, einen Bäcker, einen Schneider und viele kleine Restaurants und Kneipen. Der bunte kleine Fischerort Greetsiel lockte besonders im Sommer Touristen an, die die schöne Landschaft Ostfrieslands und die winzigen Tee- und Souvenirläden bewunderten.
Im Schnellschritt erreichten wir den Ortseingang und kurze Zeit später auch den Rathausplatz. Gerade als wir die Straße überquert hatten, fuhr der Bus um die Ecke und hielt direkt vor meiner Nase.
„Moin“, begrüßte der Fahrer jeden Schüler, der an ihm vorbei lief und im Inneren des Busses verschwand. Jeder kannte Thomas, den Busfahrer mit den dunkelblonden Locken und der ständig guten Laune. Im Gegensatz zu fast allen seiner Kollegen, kannte er alle Kinder aus den Dörfern, die er morgens auf dem Weg zur Schule abklapperte. Er drückte immer ein Auge zu, wenn ein Schüler seine Fahrkarte vergessen oder sie am Monatsanfang noch nicht gewechselt hatte und schickte auch keinen nach Hause, der das nötige Kleingeld für ein Ticket nicht dabei hatte. Außerdem wartete er öfter drei Minuten länger oder hielt einmal mehr an, wenn er im Rückspiegel sah, dass ein Schüler einen Sprint einlegte, um den Bus noch zu bekommen. All diese Kleinigkeiten machten ihn zum beliebtesten Busfahrer der Umgebung. Ob ihm das je jemand gesagt hatte, wusste ich nicht. Aber er konnte es sich sicher denken; die Zeichnungen, die er von Kindern geschenkt bekommen hatte und die nun an der Glasscheibe hinter dem Fahrersitz hingen, schmückten nämlich ausschließlich seinen Bus..
„Moin“, gab ich zurück, als ich hinter meinem Bruder durch die Tür trat. Die Luft im Bus war stickig und stinkig. Fünftklässler standen mitten auf dem Gang und unterhielten sich angeregt über die neuesten Smartphone-Spiele. Nur widerwillig machten sie Platz und räumten ihre großen Schulränzen aus dem Weg.
„Bitte sag mir, dass wir nicht so waren.“
Genervt ließ ich mich auf den freien Platz neben meiner ältesten und besten Freundin fallen, die mich wie immer mit einem Lächeln empfang. Sie war, ganz im Gegenteil zu mir, die Ruhe in Person und sah immer das Gute in allem und jedem. Nie fing sie Streit an und versuchte sogar bei Fremden Frieden zu stiften.
„Sag du mir lieber, wie man den Vektor von A zu B berechnet.“
Das Blatt in ihren Händen zitterte, doch ich zuckte nur entschuldigend mit den Schultern.
„Du weißt, was ich von Mathe halte.“
Lachend nahm ich ihr die Lernzettel aus der Hand und hielt ihr einen meiner Ohrstöpsel entgegen.
„Was wir jetzt nicht können, werden wir auch nachher nicht können.“
Seufzend gab sie mir Recht und steckte sich den Kopfhörer ins rechte Ohr.
Langsam zuckelte der Bus über die holprige Landstraße. Ich beobachtete die kleinen Kristalle und Wassertropfen an der Fensterscheibe und lehnte den Kopf zurück. Die Dunkelheit und die leise Musik in meinen Ohren ließen mich immer müder werden, bis mir schließlich die Augen zufielen. Der Geräuschpegel der unterschiedlichen Altersklassen wurde immer leiser und ich merkte, wie der Bus gleichmäßig hin- und herschaukelte, manchmal langsamer wurde und anhielt, um die Schüler aller möglichen Ortschaften einzuladen und mitzunehmen und sich dann doch wieder in Bewegung setzte, bis wir, ungefähr fünfundvierzig Minuten später, die Schule in der nächstgelegenen Stadt, Emden, erreichten.
***
Langsam leerte sich der Bahnsteig. Menschen wurden nacheinander von Personen in orangefarbenen Westen aufgenommen und in großen Autos wegtransportiert. Immer wieder kamen die Kleinbusse zurück, um mit weiteren Personen wieder wegzufahren.
Juna, Namik und Malina standen immer noch ein Stück entfernt von den Gleisen und beobachteten schweigend das Treiben der Menschenmassen.
Im Gegensatz zu vielen anderen versuchten sie nicht, als erstes weggefahren und aufgenommen zu werden. Ihre Koffer standen neben ihnen und die Rucksäcke trugen sie auf den Schultern. Niemand wusste was auf die Leute wartete, die mit den Personen in den leuchtend orangefarbenen Westen mitgingen und sich von ihnen versorgen ließen.
Angst und Hoffnung machte sich in den Kindern breit, doch Juna war sich nicht sicher, was sie als nächstes tun sollten. Gerade schaute sie sich um, als ein großer Mann auf die drei Kinder zugelaufen kam. Auch er trug eine bunte Warnjacke und verwaschene Jeans. Seine dunkelblonden Haare waren kurz geschnitten und seine Füße steckten in großen braunen Schuhen. Mit einem Lächeln hielt er Namik die Hand hin und stellte sich vor.
„Ich bin Lucas, und wer seid ihr?“
Er sah nett aus und seine Grübchen beim Lachen machten ihn sympathisch.
„Ich bin Namik und das sind meine Schwestern Juna und Malina.“
Lucas kniete sich hinunter, auf Malinas Augenhöhe, und deutete mit dem Zeigefinger in Richtung eines der großen Autos.
„Darf ich euch mitnehmen? Ihr seid sicher hungrig und müde.“
Malina klammerte sich an das Bein ihrer großen Schwester und
Namik schaute sie unentschlossen an.
Juna nickte, obwohl sie sich nicht sicher war, ob es die richtige Entscheidung war.
„Wo ist Stuttgart?“, fragte sie, nachdem der junge Mann ihr die schwere Tasche abgenommen hatte.
„Stuttgart?“
Er dachte wohl nicht richtig gehört zu haben und lachte.
„Das ist ein ganzes Stück entfernt von hier.“
Als er merkte, dass sie es ernst meinte, deutete er mit ausgestrecktem Arm nach rechts.
„Müssen wir noch weit laufen?“
Die Kinder folgten ihm, in der Hoffnung, er könne ihnen vielleicht doch noch die genaue Wegbeschreibung geben.
„Nach Stuttgart?“, fragte er und hievte die Taschen und Koffer in den Kofferraum.
„Ja, wir wollen zu Oma und Opa. Sie wohnen dort und warten schon auf uns.“
„Soso“, antwortete der junge Mann, schien jedoch nicht sehr überzeugt zu sein.
„Darum kümmern wir uns später. Jetzt schauen wir erst einmal, dass jeder in Sicherheit ist.“
Auffordernd hielt er die schwere Türe auf und half ihnen, mit einem großen Schritt in das Innere des Kleinbusses zu steigen.
„Versprochen?“, fragte Juna und lehnte sich so weit nach vorne, wie es der Gurt erlaubte. „Versprochen?“, wiederholte sie, doch die Autotür war bereits geschlossen. Mit einem Ruck setzten sie sich in Bewegung und ließen das Bahnhofsgebäude hinter sich.
Draußen war es noch dunkel, doch in einigen Häusern brannte bereits Licht. Kamine rauchten und manchmal konnte man sogar ein paar Personen hinter den Fenstern erkennen.
Juna lehnte sich zurück und schloss die Augen. Plötzlich merkte sie wie gut es tat, nach der langen Bahnfahrt endlich zu sitzen. Die ruckeligen Bewegungen des Fahrzeugs und das gleichmäßige Ein- und Ausatmen ihres Bruders ließen sie immer müder werden, bis auch Juna endlich ein wenig Schlaf fand.
***
Der Bus hielt an der großen Pforte unserer Schule. Die Türen öffneten sich und eine Schar Schüler strömte in Richtung Ausgang.
„Die können es wohl kaum erwarten, endlich in den Unterricht zu kommen.“
Leonie verdrehte die Augen und erhob sich von ihrem Sitzplatz.
Kühle Luft schlug uns entgegen, als wir den Schulhof betraten. Reflexartig zog ich die Schultern nach oben und vergrub meine Hände in den Jackentaschen.
Wie jeden Morgen liefen wir vorbei an den zahlreichen Fahrradständern und anschließend durch das große Tor, durch das ein Kiesweg in Richtung Schulgebäude führte.
„Johannes-Althusius-Gymnasium Emden“, stand in bereits ausgeblichenen Großbuchstaben auf den Steinen rund um den Torbogen.
Wie jeden Morgen war das Gedränge groß, doch überraschenderweise waren die Eingangstüren heute nicht mit Kindern zugestellt, die es nicht erwarten konnten, endlich ins Warme gelassen zu werden.
Wie immer waren wir die Letzten, doch heute schien sich keiner auf dem vorderen Schulhof aufhalten zu wollen.
Mit einem fragenden Blick schaute ich meine Freundin an, die mit den Schultern zuckte und vorschlug, den Leuten hinterherzulaufen, die sich alle in eine Richtung bewegten.
„Meinst du, da gibt es was umsonst?“
Lachend lief ich um die Ecke und reckte meinen Hals, um mehr sehen zu können.
„Höchstens Geodreiecke oder Radiergummis“, erwiderte Leonie und wir drückten uns vorbei an ein paar Fünftklässlern, die singend vor uns herhüpften.
Je weiter wir in Richtung des neuen Schulhofs liefen, desto voller wurde es. Überall standen Grüppchen von Schülern, doch keiner schien so recht zu wissen, was hier los war.
Ich überlegte, ob eine Versammlung angekündigt worden war, oder die Wahl der neuen Schülervertretung. Mein Gedächtnis war zwar nicht das Beste, Unterrichtsausfall hätte ich mir aber sicher gemerkt.
Ein paar Meter weiter vorne entdeckte ich meinen Bruder, der mit seinen Freunden vor einer Art Bauzaun stand, der mit schwarzer Folie überdeckt war.
„Was machst du denn hier?“
Wie immer begrüßte er mich eher weniger nett.
„Das Gleiche wie du, denke ich“, gab ich zurück und fragte ihn, ob er mitbekommen habe, was hier los sei.
„Flüchtlinge, was sonst? Die füllen hier doch schon fast alle Schulturnhallen.“
Als wäre es das normalste der Welt, zuckte er mit den Achseln und wandte sich dann wieder seinen Freunden zu.
„Flüchtlinge?“
Ich drehte mich zu Leonie um und wir liefen ein paar Schritte in Richtung Hinterseite der Turnhalle.
„Scheint so“, antwortete sie und versuchte durch ein Loch in der Plane zu spähen.
„Meinst du, die kommen auch zu uns in den Unterricht?“
Sie schüttelte den Kopf und winkte Larissa zu, eine Klassenkameradin, die ein paar Meter entfernt stand und nach jemandem zu suchen schien.
„Hi, ihr beiden.“
Lächelnd lief sie auf uns zu und zeigte verwundert auf die Masse an Schülern vor dem Turnhalleneingang. Gerade wollten wir ihr erklären was passiert ist, als die Schulglocke zum zweiten Mal klingelte. Mit einem Blick auf die Uhr stellten wir erschrocken fest, dass der Unterricht schon längst begonnen hatte und unsere Erdkundelehrerin, Frau Müller-Hohenstein, jede noch so kleine Verspätung mit einem Eintrag ins Klassenbuch quittierte.
Wir kämpften uns durch die Schülermassen und rannten über den Schulhof. Das Schulgebäude war fast leer, da die meisten Kinder immer noch vor der Halle standen und auf eine Bewegung hinter dem Bauzaun hofften. Wir liefen den langen Flur entlang, die Treppe hoch und durch die große Glastür, die altes und neues Gebäude voneinander trennte.
Die Tür des Klassenzimmers war noch geöffnet und als wir uns schnaufend auf unsere Plätze fallen ließen war noch kaum jemand da. Erleichtert zogen wir unsere Jacken aus, hängten sie über die Stuhllehne und packten Stifte, Hefte und Bücher aus.
Das Fenster war gekippt und von draußen drangen laute Stimmen herein.
Frau Müller-Hohenstein stand verärgert an der Tafel und wippte ungeduldig mit dem Fuß.
Immer wieder schaute sie auf die Uhr, zur Türe, zum Fenster und wieder auf ihre Armbanduhr. Neben mir kramte Leonie in ihrem Rucksack und zog ein paar zerknitterte Lernzettel hervor.
„Mach dich nicht verrückt. Wir werden die Mathearbeit schon überleben“, sagte ich und schüttelte den Kopf. Sie zuckte mit den Schultern und versuchte vergeblich, ihre zitternden Hände zu verstecken.
„Also, was sind Vektoren?“, fragte ich, um sie zu beruhigen. Ich lehnte mich zurück und hörte meiner Freundin zu, wie sie mir die verschiedensten Definitionen nannte.
„Von wegen, du kannst es nicht.“
Mit einem Kopfschütteln gab ich ihr die Zettel zurück und begrüßte ein paar Freundinnen, die soeben zur Tür hereinkamen.
„Acht Uhr fünfzehn!“
Frau Müller-Hohenstein tippte verärgert mit dem Zeigefinger auf das Zifferblatt ihrer Armbanduhr und notierte die Verspätung im Klassenbuch.
Ich rollte mit den Augen und kritzelte ein paar Striche auf meinen Collageblock.
Noch eine halbe Stunde, dachte ich und hoffte, dass die anderen noch ein bisschen auf sich warten ließen. So entspannt konnte die Erdkundestunde von mir aus immer sein.
***
Juna wurde von vielen verschiedenen Stimmen geweckt. Sie öffnete langsam die Augen und gähnte. In der Zwischenzeit war es etwas heller geworden, aber der Nebel hing mittlerweile direkt über dem Boden und man konnte kaum etwas erkennen. Neben ihr schlief Malina noch tief und fest. Namik hatte seine Nase gegen die Fensterscheibe gedrückt und beobachtete gespannt die Landschaft, die draußen vorbeizog.
Plötzlich kam das Auto zum Stehen und kurze Zeit später wurde die Tür von außen geöffnet.
Ein Mann, vielleicht ein wenig älter als Lucas, half ihnen aus dem Fahrzeug auszusteigen und öffnete anschließend den Kofferraum.
Juna griff nach ihrem Rucksack und der Tasche, während Namik den großen Koffer in die Hand nahm und Malina half, ihr Gepäck zu schultern.
Neugierig schauten die Kinder nach rechts und links. Laute Stimmen waren zu hören, die wild durcheinander redeten. Juna lief ein paar Schritte in Richtung Absperrung, konnte aber nichts erkennen, da eine schwarze Plastikplane die Sicht versperrte.
Neben ihr versuchte Namik durch ein Loch zu spähen, wurde aber von dem Mann in der orangefarbenen Weste aufgehalten und Richtung Eingang geschoben.
Juna griff nach Malinas Hand und folgte ihrem Bruder und den anderen Familien, die mit demselben Auto angereist waren. Sie liefen durch eine große Glastür, vorbei an Schaukästen mit wunderschön goldglänzenden Pokalen und Medaillen, Bildern, die Kinder jeden Alters zeigten, wie sie strahlend in die Kamera lachten und stolz ihre Urkunden präsentierten oder bei verschiedenen Sportarten zu sehen waren. Der Flur war lang und immer wieder drangen fremde Stimmen in verschiedenen Sprachen hinter geschlossenen Türen hervor. Am linken Ende des Ganges, in einem kleinen abgetrennten Bereich, befanden sich zwei Türen, die mit einer Frau und einem Mann bedruckt waren. Sie stellten sich in zwei Reihen auf, bis jeder einmal auf der Toilette gewesen war, und sammelten sich dann am Eingang wieder, durch den sie die Halle betreten hatten. Juna lehnte sich erleichtert an die Backsteinwand und auch Malina bewegte sich wieder deutlich leichtfüßiger durch die Gegend.
„Sind alle wieder da?“, frage der fremde Mann und schaute in die Runde. Als keiner protestierte, - ob es daran lag, dass alle von der Toilette zurück waren oder daran, dass der Großteil kein Deutsch verstand – deutete er mit dem Zeigefinger in die entgegengesetzte Richtung und lief, allen voran, den langen Flur entlang. Am Ende des Ganges bogen sie nach rechts ab und wurden in einen Raum geführt, der einer Festhalle ähnelte.
Nur, dass wir hier kein Fest feiern, dachte Juna und schaute sich staunend um.
Auch hier waren wieder Bauzäune aufgebaut, die mit dunklen Planen verhängt waren.
Die Eingänge wurden mit Vorhängen markiert, aus denen hier und da ein Kind herausspickte und sie mit großen, neugierigen Augen anstarrte.
Sie liefen im Zickzack durch den großen Raum, bis sie schließlich in der hinteren Ecke angelangten und vor einem der Eingänge anhielten.
„Einmal eintreten, bitte“, sagte der Mann und hielt den Vorhang für sie auf.
„Eure Eltern kommen nach?“, fragte er und Juna nickte, obwohl sie wusste, dass Lügen nicht in Ordnung war.
„Wo ist Lucas?“, rief sie dem jungen Mann hinterher, der sich zuvor mit einem Lächeln verabschiedet hatte.
„Lucas?“, fragte er, als er sich noch einmal umdrehte.
„Ja. Der Blonde mit den großen Füßen und der bunten Weste“, fügte sie hinzu, da er sie nur fragend anschaute.
„Das tut mir sehr leid, aber ich kenne keinen Lucas.“
Mit einem Schulterzucken wandte er sich ab und lief weiter, um auch den übriggebliebenen Familien eine abgetrennte Fläche zuzuweisen.
„Aber…“
Enttäuscht blickte sie ihm nach und verzog sich anschließend mit hängendem Kopf in den kleinen Raum. Er war höchstens zwei auf drei Meter groß und wurde schon von den Taschen fast komplett eingenommen. Namik saß auf dem Boden und öffnete den Reißverschluss von Malinas Rucksack. Er kramte ein paar T-Shirts und Kuscheltiere hervor, bis er anschließend ihre Trinkflasche in der Hand hielt. Freudig nahm die kleine Schwester ein paar gierige Schlucke und hielt die Flasche anschließend ihrer Schwester hin.
„Nein, das ist dein Trinken. Teil es dir gut ein.“
Dankend lehnte Juna ab und ließ sich neben Namik auf den Boden sinken.
„Soll ich die Decken ausbreiten?“, fragte er und zeigte auf die geöffnete Reisetasche. Juna schüttelte den Kopf und beobachtete, wie Malina ihren Kopf auf das Kuscheltierschaf bettete und mit einem leisen Seufzen die Augen schloss.
„Noch nicht. Wir bleiben auch nicht lange.“
„Aber was ist mit heute Nacht?“, fragte er mit einem enttäuschten Blick.
„Wir werden es sehen“, gab sie zurück und stand langsam auf. Ihre Knie schmerzten bei jeder Bewegung und erst jetzt fühlte sie, wie sehr ihr Fuß pochte und glühte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank sie zurück auf den Hallenboden und zog vorsichtig den Schuh aus. Auf ihrem Strumpf war ein großer, bereits getrockneter Blutfleck zu sehen und im Augenwinkel registrierte sie, wie Namik erschrocken auf ihr Bein schaute.
„Ich muss ihn mir vorhin aufgeschürft haben“, sagte sie und er nickte.
„Sieht aber nicht sehr gut aus… soll ich nach einem Pflaster fragen?“
„Nein danke, ist schon okay.“
Juna zog den Strumpf über ihren Knöchel und betastete die Blutkruste an der Seite des Fußes.
„Siehst du, es ist ja schon getrocknet.“
Sie versuchte zu lächeln und den Schmerz herunterzuspielen und Namiks Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass er es zumindest teilweise glaubte.
Juna streckte die Beine aus und merkte erleichtert, dass es ihr ohne Schuh, der gegen die Wunde gedrückt hatte, schon viel besser ging.
„Warum hast du ihn angelogen?“, wollte Namik wissen, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten.
„Wen?“
Juna drehte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn.
„Den Mann, der uns hier her geführt hat.“
Sie zuckte beschämt mit den Schultern, da ihr die Lüge immer noch unangenehm war.
„Du hast gesagt, dass unsere Eltern nachkommen. Das stimmt aber nicht, das weißt du.“
„Klar weiß ich das“, gab sie zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was wäre mir denn deiner Meinung nach anderes übrig geblieben? Ein Glück hat er nicht nach unseren Namen gefragt oder sogar mit uns gewartet.“
„Aber wieso wäre das so schlimm? Vielleicht hätten wir etwas zu Essen oder zu Trinken bekommen.“
„Namik, kapierst du es nicht??“
Sie seufzte und schaute ihrem jüngeren Bruder tief in die Augen. „Ohne Eltern bringen sie uns weg! In ein Kinderheim, verstehst du?!“
Betreten nickte er und zog die Knie näher an den Körper.
„Wir schaffen das schon, hörst du?“
Er hatte den Kopf zwischen den Armen vergraben und nickte schüchtern.
Juna legte ihm die Hand auf die Schulter und bereute, dass sie ihn so angefahren hatte.
„Es tut mir Leid.“
Er schniefte und wischte die Tränen mit dem Ärmel weg.
„Die Angst hat dich lügen lassen, stimmt’s?“
Mit einem stummen Nicken gab Juna ihrem Bruder recht und lehnte den Kopf an seine Schulter.
Sie brauchten alle ein bisschen Schlaf, um wieder klar denken zu können. Heute würden sie erst einmal hier bleiben. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.
Erleichtert ließ ich den Stift sinken und pustete die Radiergummifussel vom Blatt. Ich steckte die Kappe auf meinen Füller und verstaute alles im Mäppchen. Ich schaute auf die Uhr, warf einen letzten Blick auf das Zahlengewirr auf meinem Blatt und räumte alles in meinen Schulrucksack.
„Jetzt aber wirklich zum Ende kommen.“
Frau Fischer lief auffordernd durch die Reihen und sammelte unsere Arbeitshefte ein.
Sie war noch jung, hatte schulterlange dunkelbraune Haare, war klein und zierlich gebaut und fiel zwischen all den Schülern nicht wirklich als Lehrerin auf. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren war sie neu an der Schule und hatte uns erst dieses Halbjahr übernommen, nachdem unsere alte Lehrerin in Mutterschutz gegangen war.
Neben Mathe unterrichtete sie noch Deutsch und war mit Abstand meine Lieblingslehrerin.
Leonie vergrub ihren Kopf zwischen den Händen, schien letztendlich doch aufzugeben und klappte mit einem tiefen Seufzer das Heft zu.
Wir zogen unsere Jacken an, gaben die Hefte ab und machten uns auf den Weg nach draußen, nachdem wir uns verabschiedet hatten. Auf dem Schulhof tummelten sich immer noch Schülergrüppchen verschiedener Altersklassen und drängten sich um den Bauzaun rund um den Eingang der Turnhalle.
Weiße Wölkchen bildeten sich beim Ausatmen vor Mund und Nase und ich beobachtete, wie sich die Wolken am Himmel immer weiter zuzogen. Die Sonne war verschwunden und ich trat zitternd vom rechten Fuß auf den linken.
Neben mir unterhielten sich die anderen über die Arbeit und ich schaltete meine Ohren absichtlich auf Durchzug. Ich hatte jetzt keine Lust mich über Fehler aufzuregen, die ich sowieso nicht mehr verbessern konnte.
Ich stellte meinen Rucksack auf den Boden, öffnete den Reißverschluss und kramte von ganz unten meine Brotdose hervor. Selbstgebackenes Brot mit Käse, Tomaten und ein Müsliriegel mit Haselnüssen. Trotz Alltag mit vier Kindern, Stress beim Hofumbau und der Versorgung von all unseren Tieren schaffte es meine Mutter immer wieder, Brot zu backen, frisch zu kochen und das meiste Obst und Gemüse sogar selbst anzubauen. Schon seit ich denken konnte, lebten wir vegetarisch und mittlerweile hatte sich sogar mein Vater daran gewöhnt. Vor genau dreieinhalb Jahren, ein halbes Jahr nachdem die Zwillinge geboren wurden, hatten wir den alten Hof außerhalb Greetsiels gekauft und waren nach Unterschreiben des Kaufvertrags sofort eingezogen. Es war schon immer der Wunsch meiner Eltern gewesen, ein altes Bauernhaus zu renovieren und einen Teil der Ställe zu nutzen, um Ferienwohnungen zu bauen und anderen Kindern, und deren Eltern, somit während ihres Aufenthalts das Leben und die Verantwortung mit und gegenüber Tieren näherzubringen.
Uns war von Anfang an klar gewesen, dass es viel zu tun gab und auch Oma und Opa, die ihre eigene Wohnung neben dem Haupthaus haben, hatten viel mit angepackt. Trotz der ganzen Arbeit waren wir heute immer noch nicht komplett fertig. Immerhin hatten die Tiere wunderschöne neue Ställe bekommen und genug Auslauf auf den Weiden hinter dem Haus. Die vier Ferienwohnungen waren fertig umgebaut, die Fenster und Türen waren ausgewechselt worden und das Dach wurde schon neu gedeckt und gedämmt. Trotzdem würde es bis zur Eröffnung noch eine Weile dauern, da die Möbel neu angeschafft werden mussten und Geld bekanntlich leider nicht auf Bäumen wächst.
Gedankenverloren biss ich in mein Käsebrot, als es auch schon zum Pausenende klingelte.
Ich schulterte meinen Rucksack und lief neben den anderen durch die Glastür hindurch, den Gang entlang in Richtung Musiksaal.