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Stell dir vor, du wachst auf. In einem klinisch weißen Raum mit ebenso strahlendweißem Mobiliar und fünf weiteren Personen. Du hast einen Filmriss, und kannst dich nicht daran erinnern, wie du hierher kamst. Es gibt keinen Ausweg. Du trägst anstatt deiner normalen Kleidung eine helle Leinenhose und ein weißes Shirt mit einem Schriftzug über der Brust: MIA. Du denkst, das bist du nicht? Noch nicht. Denn du nimmst an einem Schauspielkurs teil, bei dem es darum geht, Aufgaben zu erfüllen. Nacheinander müsst ihr einen Textauszug auswendig lernen und wiedergeben, fehlerfrei. Du verkörperst die Figur, um die es in deinem Ausschnitt geht. Ganz einfach? Nein. Denn machst du einen Fehler, wird die Aufgabe so lange wiederholt, bis der Regisseur zufrieden ist. Du bist also Mia. Mia, die von einem Fabrikgebäude stürzt und auf der Stelle tot ist. Jetzt du. Fehlerfrei. Gehorchst du den Anforderungen, auch wenn du dabei deinem eigenen Tod ins Auge blickst? Helena befindet sich in genau dieser Situation. Helena muss eine Entscheidung treffen, und auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubt, springt sie in die Tiefe. Aus einem ganz bestimmten Grund.
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2020
Stell dir vor, du wachst auf. In einem klinisch weißen Raum mit ebenso strahlendweißem Mobiliar und fünf weiteren Personen. Du hast einen Filmriss, und kannst dich nicht daran erinnern, wie du hierher kamst. Es gibt keinen Ausweg. Du trägst anstatt deiner normalen Kleidung eine helle Leinenhose und ein weißes Shirt mit einem Schriftzug über der Brust: MIA. Du denkst, das bist du nicht? Noch nicht. Denn du nimmst an einem Schauspielkurs teil, bei dem es darum geht, Aufgaben zu erfüllen. Nacheinander müsst ihr einen Textauszug auswendig lernen und wiedergeben, fehlerfrei. Du verkörperst die Figur, um die es in deinem Ausschnitt geht. Ganz einfach? Nein. Denn machst du einen Fehler, wird die Aufgabe so lange wiederholt, bis der Regisseur zufrieden ist.
Du bist also Mia. Mia, die von einem Fabrikgebäude stürzt und auf der Stelle tot ist.
Jetzt du. Fehlerfrei. Gehorchst du den Anforderungen, auch wenn du dabei deinem eigenen Tod ins Auge blickst?
Helena befindet sich in genau dieser Situation. Helena muss eine Entscheidung treffen, und auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubt, springt sie in die Tiefe.
Aus einem ganz bestimmten Grund.
Sarah Markowski wurde am 14. Januar 1998 in Bad Mergentheim geboren. Wenn sie nicht gerade Zeit mit ihrer Familie in ihrem Heimatdorf nahe Mainz verbringt, lebt sie in Koblenz, wo sie seit März 2018 Soziale Arbeit studiert.
Noch bevor im Sommer 2016 ihr erstes Werk „Der Märchenmörder“ erschien, entstanden die ersten Pläne für Nils Johansens zweiten und dritten Fall. Mit „Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.“ konnte sie sich nun ein drittes Mal den Traum eines eigenen Buches erfüllen… Und da alle guten Dinge nicht nur drei sind, steht Schreibfeder auch weiterhin nicht still.
Sarah Markowski
Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.
Nils Johansens dritter Fall
© 2020 Sarah Markowski
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-02861-6
Hardcover:
978-3-347-02862-3
e-Book:
978-3-347-02863-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
„Jeder Abschied ist ein kleiner Tod,
aber jeder Tod ein großer Abschied.“
- Alphonse Allais
Aus diesem Grund möchte ich dieses Buch meinem Opa Werner widmen, von dem wir uns im November 2018 leider viel zu früh verabschieden mussten.
Weil du von den Anfängen und Plänen noch erfahren hast, dieses Buch aber leider nicht mehr in den Händen halten und lesen konntest, möchte ich dir diese Zeilen widmen. Deine Geschichte hat viel zu früh ein Ende genommen. Aber wie du es sagen würdest: „C’est la vie.“
Geeignet. Sie tritt nach vorne, sieht den Abgrund. Es ist viel höher.
Überprüfung. Sie schließt die Augen und springt.
Fehlgeschlagen. Der Aufprall. Gebrochene Knochen, Kribbeln.
Unbrauchbar. Ein nicht aufhörendes Echo in ihrem Kopf.
Sie schaut an sich hinunter, tippt auf ihre Beine, spürt nichts.
Taub, aber immerhin sind die Schmerzen weg.
T E I LE I N S
„Lesen heißt, mit einem fremden Kopfe
statt dem eigenen zu denken.“
- A. Schopenhauer
Samstag, 29.06.2019, 07: 50 Uhr
- Mia -
Ein unangenehmes Piepsen reißt Mia aus dem Schlaf. Augenblicklich wird es hell. Es erinnert sie an das unangenehme Gefühl auf dem Zahnarztstuhl; angespannt, und das grelle Licht der Lampe direkt im Gesicht. Sie kneift die Augen zusammen, öffnet sie einen Spalt breit, Millimeter für Millimeter, bis sie sich endlich an die Helligkeit gewöhnt haben. Mia schlägt die Decke zur Seite und richtet sich auf. Das schneeweiße Nachthemd steht ihr nicht, lässt sie noch blasser aussehen als sie es ohnehin schon ist. Sie gähnt. Die anderen sind schon wach, reiben sich müde die Augen, starren resigniert Löcher in die Luft oder laufen ruhelos auf und ab.
„Guten Morgen“, sagt sie, obwohl er das nicht ist – gut. Niemand antwortet. Ein Surren ertönt, sie kennt das schon. Frühstückszeit. Mit dem gewohnten Pling öffnen sich die Türen des Speiseliftes. Zum Vorschein kommen fünf identische Tabletts, allesamt mit einer silberfarbenen Haube abgedeckt und einem Namensschildchen versehen. Mia ist die erste, die sich regt, denn sie hat Hunger und möchte nicht riskieren, dass der Aufzug das Frühstück wieder dort mit hinnimmt, wo er es hergebracht hat. Ein Tablett nach dem anderen nimmt sie aus dem Schacht, stellt sie auf den runden Tisch in der Mitte des Raumes und schließt zum Schluss die Aufzugtür. Das Surren ertönt, und der Lift verschwindet.
Samstag, 29.06.2019, 08: 00 Uhr
- Theo -
„Rührei mit Speck und Toast“, stellt Mia freudig fest, als sie die Cloche über ihrem Teller anhebt und neugierig einen Blick darunter wirft. „Und Erdbeeren!“
Dass Cloche vom französischen Wort für Glocke stammt und die korrekte Bezeichnung für diesen Deckel ist, den man wahrscheinlich am ehesten aus Restaurants der feinen Küche kennt, weiß Theo allerdings auch erst seit seiner Ausbildung zum Koch vor fast vier Jahren. Angefangen hat er direkt nach dem Abitur mit einem Studium im Fachbereich Ingenieurwesen. Dass das jedoch nichts war, was er sich auf Dauer vorstellen konnte, merkte Theo schon ziemlich früh. Abgebrochen hat er das Studium trotzdem erst nach vier Semestern. Was ihn so lange dort hielt, war lediglich die Angst davor, seine Eltern zu enttäuschen. Hätte er schon früher gewusst, dass sie ihm auch bei der Ausbildung jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehen, hätte er schon viel früher einen Schlussstrich unter das Kapitel Studium gezogen. Wobei er sich immer noch daran erinnern kann, dass es sein Vater gewesen war, der sich mit abschätzigen Kommentaren über seine damaligen Klassenkameraden geäußert hatte, die trotz Abitur nicht an die Uni gingen und stattdessen nur eine Ausbildung anfingen.
Im Nachhinein ist man immer schlauer, denkt Theo und beobachtet, wie sich Mia ausgehungert über ihr Frühstück hermacht.
„Schmeckt wirklich gut! Probier‘ doch mal.“
Theo zwingt sich zu einem müden Lächeln und schiebt sein Tablett in die Tischmitte.
„Hast du keinen Hunger?“
Die Scheibe Toast knackt, als sie hineinbeißt. Theo schüttelt den Kopf. „Schmeckt aber; vor allem die Erdbeeren.“
„Wenn du möchtest, kannst du meine auch noch haben.“
Er nimmt die Schale mit dem Obst von seinem Tablett und schiebt sie ihr entgegen.
„Echt?“ Das Mädchen strahlt. „Danke.“
„Unter einer Bedingung.“
Sie stockt mitten in der Bewegung, die Gabel mit der aufgepiksten Erdbeere schwebt in der Luft.
„Und die wäre?“
„Gib mir etwas von deiner guten Laune ab.“
Mia lächelt, ihre Gesichtszüge entspannen sich. Als sie das unnatürlich rot glänzende Stück Obst in ihren Mund schiebt, fallen Theo ihre beinahe symmetrischen, strahlend weißen Zähne auf. Ob das einer Zahnspange geschuldet ist oder nicht, dieses perfekte Gebiss stellt jedes Zahnpasta-Model in den Schatten. „Oder verrate mir wenigstens das Geheimnis, wie du es schaffst, trotz all dieser Umstände immer noch so positiv zu bleiben.“
Theo lässt seinen Blick durch das Zimmer schweifen, in dem sie seit Tagen zusammen eingepfercht sind. Ohne Fenster, ohne Türen, kein Tageslicht, nur diese grellen Scheinwerfer, die jeden Tag zur gleichen Zeit an- und ausgehen. Ab zwanzig Uhr verbleibt nur noch der fade Lichtschein der Nachttischlampen, die glücklicherweise selbst gesteuert werden können. Glatter Linoleumboden, Wände mit einer seltsamen Verkleidung, die Möbel sind alle aus demselben Material, weiß. Der Tisch mit den fünf Stühlen, die Betten, die Regale an der Wand – alles identisch, alles in reinweiß gehalten, und alles strahlt so sehr im kühlen Licht der Lampe, dass es Kopfschmerzen verursacht. Es gibt keine Ecken, alles ist rund. Sogar das kleine angrenzende Badezimmer hebt sich optisch nicht vom Rest des Raumes ab. Nur der Speiselift lässt darauf schließen, dass der Raum noch in irgendeiner Weise mit der Außenwelt verbunden ist. In regelmäßigen Abständen bekommen sie Nachrichten oder Anweisungen über einen Projektor, der auf die kahle Wand gerichtet ist. Wann die letzte Nachricht kam, weiß Theo nicht mehr. Ebenso wenig weiß er, wann und warum er hierher gebracht wurde. Warum gerade er, und was verbindet ihn mit den anderen vier Personen, die ebenfalls hier festgehalten werden? Nach Gemeinsamkeiten haben sie bereits gesucht, vergebens. Es gibt scheinbar nichts, was sie auch nur ansatzweise verbindet. Theo schwitzt. Wie lange soll es noch so weitergehen? Wie lange muss er das noch aushalten? Wie lange kann er das noch aushalten? Theo merkt, wie seine Hände anfangen zu zittern. Er versteckt sie unter dem Tisch und versucht, ruhig durchzuatmen. Früher hat das immer geholfen. Doch es ist nicht die Platzangst, unter der er seit seiner Kindheit leidet, es ist die Ungewissheit, die ihn psychisch kaputt macht.
Samstag, 29.06.2019, 08: 26 Uhr
- Mia -
Sie dreht und wendet die Gabel in ihrer Hand, betrachtet schweigend die Erdbeere. Hunger hat sie plötzlich keinen mehr, im Gegenteil, es fühlt sich so an, als hätte sie ihren Magen soeben mit einem Haufen Backsteinen gefüllt.
„Hey, du solltest deine gute Laune nur mit mir teilen und sie nicht komplett ablegen“, scherzt Theo, doch ihr ist nicht zum Lachen zumute. „Alles in Ordnung?“
Nichts ist in Ordnung.
Ihre positive Fassade bröckelt. Die Schutzmauer, die sie so mühevoll aufrechterhalten hat, droht einzustürzen.
Lächeln, ermahnt sie sich selbst, doch es nützt nichts, macht alles nur noch schlimmer. Theo ist verwirrt. Sie sieht an seinem Gesichtsausdruck, dass er sich gerade den Kopf darüber zerbricht, was er falsch gemacht oder gesagt hat.
Gute Laune, beinahe hätte sie lachen müssen. Dabei weiß sie doch um ihr schauspielerisches Talent. Gefühle verstecken, Emotionen unterdrücken, anderen etwas vorspielen und Sicherheit geben, während sie selbst innerlich zerbricht, das alles ist ein leichtes Spiel für Mia; das war es schon immer. Seit dem Kindergarten ist sie das brave Mädchen, der kleine Sonnenschein, später die Musterschülerin, everybodys darling. Stets gut gelaunt, ein Lächeln auf den Lippen, gehorsam, angepasst, nie aufmüpfig oder gar rebellisch. Perfekt eben, wie es nicht nur ihre Eltern, sondern auch die Eltern von Freunden oder Mitschülern und ausnahmslos alle Lehrer zu sagen pflegten. Sie war schon immer ein von Grund auf positiver Mensch, keine Frage, aber Emotionen wie Wut, Ärger und Neid zuzulassen hätte nicht ins Bild gepasst, das die anderen von ihr hatten. Und die Maske, die sie sich schon als kleines, Pferde liebendes, mit Puppen spielendes Mädchen zugelegt und stets trainiert hat, scheint heute zu bröckeln.
„Mia?“, fragt Theo vorsichtig. Erschrocken zuckt er zusammen, als sie sich so ruckartig von ihrem Stuhl erhebt, dass dieser schwungvoll über den glatten Boden nach hinten gleitet. Mit einem lauten Knall prallt er an der gegenüberliegenden Wand ab und fällt dann scheppernd zu Boden. Es ist still, niemand regt sich, alle Augen sind auf sie gerichtet.
„War ja klar, dass hier jemand früher oder später austickt.“
Mia nimmt die Stimme des straßenköterblonden Jungen wahr, der bisher noch kaum den Mund aufbekommen und den sie insgeheim als Muttersöhnchen abgestempelt hat. Doch sie reagiert nicht darauf. Dieses Mal hält die Stille länger an. Theo ist der erste, der eine Regung zeigt. Nervös rutscht er auf seinem Stuhl herum, weiß nicht, was er tun oder sagen soll.
„Mi-“
Sie lässt ihn nicht ausreden, denn das wäre einmal Mia zu viel gewesen.
„Ich bin nicht Mia!“, schreit sie den Gedanken heraus, der sie schon so lange belastet. Am Anfang dachte sie noch, sie wäre hier falsch, ein Irrtum läge vor. Doch mit der Zeit hat sie herausgefunden, dass Mia eine Art Codewort ist, mit dem sie hier, in diesem Raum, angesprochen wird. Ihr Bett, ihre Kleidung, ihr Waschzeug, alles trägt diesen Namen. Auch Nachrichten, die Informationen über sie selbst enthalten und eindeutig an sie adressiert sind, lauten auf den Namen Mia.
„Ich bin nicht Mia“, wiederholt sie, dieses Mal ruhiger, aber dennoch mit Nachdruck. „Mein Name ist Helena.“
Samstag, 29.06.2019, 08: 31 Uhr
- Mia Helena -
Es ist still. So still, dass Helena ihr eigenes Herz schlagen hört – bum, bum, bum. Das Blut zirkuliert in ihren Adern, rauscht durch ihren Körper. Sie spürt wie es pocht, begleitet von einem unangenehmen Kribbeln im ganzen Körper.
„Ich bin Helena, nicht Mia.“
Ihr Blick fällt auf das schlicht bedruckte Namensschild neben ihrem Teller. Sie betrachtet es voller Abscheu, nimmt es in die Hand und zerreißt es in kleine Papierfetzen, die nun langsam zu Boden rieseln. Jetzt fühlt sie sich besser, irgendwie befreiter. Erschöpft lässt sie sich auf den Stuhl sinken, an dessen Lehne sie sich die ganze Zeit über unbewusst festgeklammert hat. Sie zittert, merkt, dass plötzlich alles vor ihren Augen verschwimmt.
Tränen, denkt sie, doch dieses Mal stört es sie nicht. Nicht so wie sonst, nicht im geringsten. Es ist, als hätte der Schutzwall seine Funktion aufgegeben und damit auch seine Bedeutung verloren. Es ist das erste Mal, dass Helena weinen kann, ohne sich dafür schuldig zu fühlen oder zu schämen. Befreiend. Plötzlich spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter, sanft und behutsam. Helena wischt die Tränen mit dem Ärmel aus den Augenwinkeln und schaut langsam auf. Ihr Blick wandert über die helle Leinenhose und das schlichte Shirt hinauf zum Gesicht der jungen Frau, mit der sie bisher noch kein Wort gewechselt hat. Ihre Augenbrauen sind pigmentiert, die Wangenknochen stechen unnatürlich spitz hervor, und die Lippen sind eindeutig professionell aufgespritzt worden, das erkennt Helena auch als Laie.
Unschön, findet sie, aber jedem das Seine.
Bis auf ihr äußeres Erscheinungsbild hat die Barbiepuppe bisher noch keinen bleibenden Eindruck bei Helena hinterlassen. Statt auf gegenseitigen Austausch setzt sie scheinbar lieber auf regelmäßige Schwächeanfälle in schauspielerischer Höchstleistung, verbunden mit Selbstmitleid und der Frage, wie sie ohne Smartphone ihre Abonnenten auf Social Media auf dem Laufenden halten soll.
„Zwanzigtausend“, jammert sie regelmäßig. Dann noch irgendetwas von Content und Kooperationen, doch an dieser Stelle driftet Helenas Aufmerksamkeit meistens ab. Die Barbie macht den Mund auf. Helena rechnet schon damit, dass sie sich ihr nun anschließen und auch ein paar verzweifelte Tränen vergießen wird, schließlich ist seit den letzten eine ganze Nacht vergangen. Allerdings verfällt die Barbie, entgegen ihrer Erwartung, nicht schon wieder in Selbstmitleid. Ihre Mundwinkel zucken.
Ist das etwa ein Lächeln?
„Du bist nicht allein“, flüstert die junge Frau kaum hörbar. Sie lächelt tatsächlich, doch in ihren Augen spiegelt sich Unsicherheit.
„Du meinst, immerhin vegetiere ich hier drinnen nicht völlig einsam vor mich hin“, spottet Helena.
Immerhin drehe ich nicht alleine durch, sondern bin in guter Gesellschaft.
„Nein, das meine ich nicht.“
Helena schaut sie fragend an. Die Barbie zieht ihr T-Shirt straff, deutet mit der Spitze ihres knallpink lackierten Fingernagels auf den aufgedruckten Schriftzug über der linken Brust – Dana. Helena trägt das gleiche Modell, mit dem Unterschied, dass ihr Shirt die Aufschrift Mia trägt.
„Lass mich raten“, sagt Helena, die allmählich versteht, worauf die Barbie hinauswill. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass die anderen im Raum dem Gespräch aufmerksam folgen. „Dein Name ist nicht Dana?“
Die vermeintliche Dana schüttelt den Kopf und hält ihr die Hand entgegen, als hätten sie gerade erst Bekanntschaft miteinander gemacht.
„Mein Name ist Sabrina Wirz, ich bin achtundzwanzig Jahre alt, gelernte Visagistin und leidenschaftliche Turnier-Reiterin. Freut mich, euch kennenzulernen.“
Samstag, 29.06.2019, 08: 38 Uhr
- Theo Oliver -
„Oliver.“
Er hört seine eigene Stimme wie aus weiter Ferne.
Habe ich das gerade gesagt?
Es scheint so, denn nun sind alle Augenpaare auf ihn gerichtet. Neugierige Blicke, Erstaunen, Verwirrung gemischt mit einem Gefühl von Erleichterung. Niemand hier ist allein, es gibt noch andere Personen, die dieses Schicksal teilen. Oliver möchte so viel sagen, fragen, doch ihm fehlen die Worte. Ein Wirrwarr aus Gedanken breitet sich hinter seiner Stirn aus, wie ein Wollknäuel, das immer größer wird und beinahe den gesamten Raum in seinem Kopf einnimmt.
Das Warum hängt unausgesprochen im Raum.
Warum ich? Warum wir?
Warum hier?
Warum überhaupt?
Helena ist die erste, die ihre Stimme wiederfindet. Unruhig zupft sie an den eingestickten Buchstaben auf ihrem T-Shirt herum.
„Sabrina, Oliver, …“
Sie dreht sich zu den anderen beiden herum, deren Denkapparate ebenfalls auf Hochtouren zu laufen scheinen. Niemand kann sich erklären, warum sie hier zusammen festsitzen, mit falschen Namen. Ob es sich wirklich um einen Irrtum handelt? Sollte an seiner Stelle eigentlich eine andere Person hier sitzen? Ein Theo?
„Und wie heißt ihr?“, fragt Oliver an die beiden Männer gewandt, die sich bisher noch gar nicht zum Thema geäußert haben.
„Julius.“
„Und du?“
Der ältere von beiden schaut augenblicklich an sich hinunter. „Deinen echten Namen möchte ich wissen.“
Der Mann läuft rot an und lächelt gequält.
„Ja?“
„Franz“, nuschelt er in seinen kaum vorhandenen Bart. Oliver zieht die Augenbrauen kraus. Er weiß nicht, was an dem Namen so schlimm sein soll. „Franz Brand“, fügt der Mann hinzu, als hätte er seine Gedanken lesen können. „Ihr dürft jetzt lachen, ist schon in Ordnung.“
Tatsächlich muss Oliver schmunzeln, doch zum Glück schafft er es, sein amüsiertes Grinsen noch rechtzeitig zu verbergen.
„Waren deine Eltern Alkoholiker?“
Dieses Mal ist es Julius, offensichtlich der jüngste im Bunde, der sich zu Wort meldet. Franz setzt gerade zu einer Antwort an, doch Oliver schneidet ihm das Wort ab. Er weist den Jungen mit einer unmissverständlichen Geste und einer je nach Sichtweise angemessenen oder unangemessenen Wortwahl zurecht und wendet sich dann wieder Franz zu.
„Sollen wir lieber bei Manni bleiben?“
Zuerst hebt er nur die Schultern und seufzt, doch als er merkt, dass Oliver seine Frage wirklich ernst meint, streicht er langsam mit der linken Hand über den Schriftzug auf seinem Oberteil.
„Das wäre schön.“
Er blickt in die Runde und lächelt glücklich. „Ich bin Manfred, kurz: Manni, zweiundfünfzig Jahre alt und habe das Glück, mein Leben hier an der wunderschönen Nordsee verbringen zu dürfen.“
Samstag, 29.06.2019, 11: 14 Uhr
- Helena -
Helena sitzt auf ihrem Bett und spielt an den Knöpfen ihres Bettbezuges herum. Sie ist so in Gedanken, in Fragen und vielleicht mögliche oder doch eher unmögliche Antworten darauf vertieft, dass sie das markante Surren des Speiseaufzuges völlig überhört. Die anderen wundern sich darüber, denn um diese Zeit wurde der Lift noch nie geschickt. Mittagessen gibt es erst in einer Stunde. Während Helena immer noch ihren Gedanken nachgeht, stehen sie vor dem Aufzug und warten ungeduldig und gleichzeitig mit einem mulmigen Gefühl darauf, dass sich die Türen endlich öffnen. Julius ist der erste, der auf das altbekannte Pling reagiert. Während die anderen drei gespannt danebenstehen, greift er nach dem hellbraunen DIN-A4 Umschlag, der soeben mit dem Lift geschickt wurde.
„Mia“, liest Oliver vor, noch bevor Julius die krakelige Schrift entziffern kann. „Also Helena“, fügt er überflüssiger Weise hinzu, denn mittlerweile hat jeder der Anwesenden die wahren Namen der jeweils anderen verinnerlicht. Sabrina nickt. Sie dreht sich zu Helena herum, doch diese bekommt von alldem nichts mit. Deshalb erschrickt sie auch zu Tode, als Julius völlig unerwartet mit dem Umschlag vor ihrem Gesicht herumfuchtelt.
„Was soll das?“, fährt sie ihn wütend an. „Kannst du mich nicht vorwarnen?“
„Wozu? Dass ich dir in drei Sekunden einen Brief übergebe? Wie unnötig.“
Julius verdreht die Augen. „Aber gut. Achtung Helena, in exakt zwei Komma vier Sekunden wedle ich mit einem Umschlag vor deinem Gesicht herum, um dich darauf aufmerksam zu machen, dass gerade Post für dich kam.“
Zu gerne hätte sie mit einem passenden Spruch gekontert, doch die mysteriöse Post war ihr in diesem Moment deutlich wichtiger als ein unnötiger Streit mit Julius.
„Gib schon her“, fordert sie, während sie ihm das Kuvert bereits aus der Hand reißt. Helena dreht und wendet es, doch bis auf den Namen Mia in unleserlicher Handschrift findet sich dort kein Anhaltspunkt, der auf Absender, Empfänger oder Anlass des Schreibens deuten könnte.
Warum gehe ich eigentlich davon aus, dass es ein Brief ist?, fragt sie sich selbst, denn Nachrichten wurden bisher immer für jedermann sichtbar an die Wand projiziert. Der Beamer hängt noch immer an seinem gewohnten Platz, dessen versichert sie sich mit einem schnellen Blick an die Zimmerdecke. Außerdem hat der Umschlag ein gewisses Gewicht. Er ist nicht schwer, aber nur ein einfaches Schreiben ist dort sicher nicht enthalten.
„Machst du es auch irgendwann auf, oder sollen wir noch ein bisschen rätseln, was die Botschaft von diesem Ding sein könnte?“
Am liebsten hätte Helena Julius dorthin geschickt, wo der Pfeffer wächst, doch dazu hätte er aus diesem Raum gelangen müssen, und gäbe es hier irgendwo einen frei zugänglichen Ausgang, wäre sie schon längst über alle Berge und würde gar nicht erst in dieser Situation stecken. Kurz gesagt: Julius muss leider bleiben.
„Du gehst mir auf die Nerven.“
„Ich meine-“
Sie wirft ihm einen scharfen Blick zu. Er verstummt.
„Ich mache es ja schon auf.“
Helena nestelt umständlich mit den Fingern an der Lasche herum. Vielleicht möchte sie Julius provozieren, vielleicht möchte sie aber auch nur noch ein bisschen Zeit schinden, denn mittlerweile ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich wissen will, was sich in dem Umschlag für Mia verbirgt.
Samstag, 29.06.2019, 11: 27 Uhr
- Oliver -
„Was ist?“
Oliver beugt sich über Helenas Schulter, doch er kann nichts erkennen. Die Sicht ist durch ihre langen, dunkelblonden Haare versperrt, und die Schrift auf dem Papier ohnehin zu klein. „Was hast du?“
Sie reagiert nicht.
„Helena?“
Wieder reagiert sie nicht auf seine Frage. Sie blättert um, liest, blättert zurück und schüttelt ungläubig den Kopf. Oliver platzt bald vor Neugier. Am liebsten würde er ihr die Blätter aus der Hand reißen und sich selbst einen Überblick verschaffen, doch er kann sich gerade noch beherrschen. Verlockend ist es trotzdem.
„Helena…“, drängelt er, doch sie zeigt keine Reaktion. „Bist du taub oder ignorierst du mich einfach?“
Unfair.
In dem Moment reicht sie ihm wortlos die erste Seite, das Deckblatt. Sein Herz pocht bis zum Hals.
Lesen heißt, mit einem fremden Kopfe
statt dem eigenen zu denken.
- A. Schopenhauer
Samstag, 29.06.2019, 11: 30 Uhr
- Helena -
Helenas Augen fliegen über das Blatt Papier, das sie in ihren Händen hält. Sie blättert um und verschlingt die nächsten Zeilen, hat Angst, etwas verpasst zu haben und blättert deshalb noch einmal zurück. Wieder liest sie die erste Seite, dann die Zweite; immer hin und her, bis sie schließlich am Ende angelangt. Sie legt alle acht Seiten fein säuberlich aufeinander und wäre am liebsten alles noch einmal von vorne durchgegangen, doch das wird sie in den nächsten Stunden sowieso tun müssen – wenn sie es richtig verstanden hat.
„Helena…“, drängt Oliver von hinten. Sie spürt die Anspannung, die in der Luft liegt. Auch die anderen warten gespannt darauf, was sie zu erzählen hat. Helena holt tief Luft. Sie rutscht an die Kante der Matratze und richtet sich auf, streckt ihren Rücken und räuspert sich.
„Es ist ein Manuskript.“
Ihre Stimme klingt rau und kratzig, sie muss husten. Es dauert einen kurzen Moment, bis sich der Hustenanfall wieder gelegt hat und sie einen klaren Gedanken fassen kann. Niemand sagt etwas, niemand stellt eine Frage, doch die Fragezeichen zeichnen sich über jedem anwesenden Kopf klar ab. Helena hätte es gerne erklärt, doch sie weiß selbst nicht mehr als das, was nun aus ihrem Mund kommt.
„Es ist eine Geschichte… eine Art Monolog… oder ein Dialog mit sich selbst… ein innerer Dialog. Gibt es das überhaupt?“
Der Anfang ist holprig, doch dann sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Sie beginnt zu erzählen: „Es geht um ein Mädchen, Mia.“
Irgendjemand atmet hörbar ein und hält schließlich den Atem an.
„Mia ist vierundzwanzig Jahre alt, so alt wie ich.“
Es herrscht Stille im Raum. Helena fährt fort: „Sie kommt gerade von einer Geburtstagsparty, hat ein bisschen über den Durst getrunken, ist aber noch bei relativ klarem Verstand. Es ist kurz nach Mitternacht und die Feier noch in vollem Gange, aber Mia hat keine Lust mehr, weil sie gerade ihre beste Freundin dabei erwischt hat, wie sie den Jungen geküsst hat, den Mia absolut vergöttert.“
„Autsch.“
„Mia läuft ein bisschen durch die Gegend, um einen klaren Kopf zu bekommen. Eigentlich möchte sie noch nicht nach Hause gehen, aber zurück zur Party ist für sie auch keine Option. Deshalb steigt sie kurzerhand über die frisch gestutzte, nur noch kniehohe Hecke, tritt dabei ein paar Blümchen kaputt, und durchquert die Einfahrt, bis sie schließlich auf der ruhigen, kaum befahrenen Straße im familienfreundlichen Wohngebiet steht. Mia läuft immer weiter, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Die Abstände zwischen den Straßenlaternen werden allmählich größer, der Lichtschein immer fahler. Mia spielt gerade mit dem Gedanken, wieder umzukehren, als sie plötzlich vor einem alten, mittlerweile verlassenen Fabrikgebäude steht, das sie noch aus ihrer Kindheit kennt. Dort haben sie und ihre Geschwister mit den Nachbarskindern immer Räuber und Gendarm gespielt. Die verwilderte Grünfläche, unbenutzte Container und reihenweise Autowracks eigneten sich wunderbar für Fang- und Versteckspiele. Mia klettert durch das Loch im Zaun, das sie ebenfalls noch von früher kennt, und erkundet das stillgelegte Gelände. Auf der Hinterseite entdeckt sie eine Treppe, die in den ersten Stock des Rohbaus führt – Fenster, Türen, alles ist längst durch Natur oder Menschenhand zerstört worden. Sie klettert ein Stockwerk höher, doch noch weiter nach oben traut sie sich nicht, denn dorthin führt statt einer stabilen Treppe nur noch eine marode Leiter. Mia setzt sich an die Kante des Gebäudes und lässt die Beine baumeln. Sie genießt die angenehme Kühle der Abendbrise, die hier oben durch das stehengebliebene Mauerwerk zieht, trinkt den letzten Schluck Radler aus der Flasche, die sie seit einiger Zeit mit sich herumträgt, und schüttelt sich, denn das Getränk ist mittlerweile warm und ungenießbar. Es klirrt, als sie die Flasche neben sich auf dem rauen Betonboden abstellt. Mias Füße schlagen abwechselnd gegen die Hauswand. Ihre Finger tasten die scharfe Kante des Gemäuers ab; hier muss früher mal eine Wand gestanden haben, die – wie so viele andere auch – mit der Zeit vermutlich abgerissen wurde. Mia weiß, dass das alte Fabrikgebäude hätte erneuert werden sollen, allerdings war das schon mindestens zehn Jahre her; wenn nicht sogar noch länger. Zeitweise hatten sogar Bauarbeiten stattgefunden, die allerdings immer wieder auf Eis gelegt wurden. Von Beschwerden der Anwohner wegen unzumutbarer Lärmbelästigung über finanzielle Knappheit oder sogar Bankrott, bis hin zu potentiellen Bombenüberresten aus dem Zweiten Weltkrieg wurden im Ort alle möglichen Spekulationen verbreitet.“
„Wie das in einem kleinen Örtchen eben so ist“, fügt Manni schmunzelnd hinzu. Helena ist nicht die einzige, die ihn fragend ansieht. „Ich kenne das Fabrikgebäude, vielleicht hätte ich das noch erwähnen sollen; also, zumindest glaube ich das. Die verwilderte Wiese, die Autowracks, die Container, das teilweise abgerissene Gebäude… die Fabrik steht heute noch zwischen Greetsiel und Akkens. Und die Spekulationen über den Grund der andauernden Wechsel zwischen Arbeit und Baustopp kommen mir auch sehr bekannt vor. Hier wird eben viel geredet, wenn der Tag lang ist und wenn interessante Dinge passieren, die jenseits der gewohnten Tagesordnung liegen.“
Manni zwinkert. „Als Reisegruppenbegleiter bekommt man an jeder Ecke den neuesten Klatsch und Tratsch der Einwohner mit.“
„Du bist Stadtführer?“
„Von Greetsiel bis Pilsum.“
Manni nickt stolz. „Ich kenne jeden Winkel, jeden Grashalm und jedes Möwennest hier in der Umgebung.“
Seine Augen leuchten, während er von seiner Arbeit erzählt.
Leidenschaft, denkt Helena traurig, denn im Gegensatz zu ihm führt sie ihren Beruf nur aus, weil der Notendurchschnitt vom Abitur nicht für ein Jurastudium gereicht hat.
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht unterbrechen.“
Helena winkt ab. Sie räuspert sich und beginnt dann endlich weiterzuerzählen.
„Mia sitzt also auf dem Mauervorsprung, als von unten plötzlich eine bekannte Stimme ertönt. Sie schaut hinunter und entdeckt die Silhouette eines jungen Mannes. Es ist zwar eine vergleichsweise helle Sommernacht, aber dennoch zu dunkel, um erkennen zu können, wer ihr bis hierhin gefolgt ist. Mia ruft zurück, eine Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Es ist Marius, ein Junge, mit dem sie damals die Grundschule besucht hat. Mia hat ihn ewig nicht mehr gesehen und freut sich auf eine nette Unterhaltung. Sie bittet ihn, nicht wegzulaufen, und sagt, dass sie sofort hinunter käme.“
Helena stockt mitten in der Erzählung. Bisher fiel es ihr unglaublich leicht, den Inhalt des Manuskriptes sehr detailgetreu wiederzugeben, doch nun fehlen ihr plötzlich die Worte. Sie nimmt die vier voller Spannung auf sie gerichteten Augenpaare wahr und schluckt. Niemand fordert sie auf, weiterzusprechen, doch die Neugier steht jedem einzelnen ins Gesicht geschrieben.
Verständlich, denkt Helena, doch irgendetwas hindert sie daran, weiterzusprechen. Sie holt tief Luft, umklammert das Papier mit zittrigen Fingern und gibt sich einen Ruck. Mit nur einem Satz ist der Rest gesagt: „Sie steht auf, Steine bröckeln vom Rand des Gemäuers, Mia verliert den Halt, rutscht ab und stürzt in die Tiefe. Sie ist auf der Stelle tot.“
Samstag, 29.06.2019, 11: 53 Uhr
- Oliver -
Mannis Kinnlade steht offen. Oliver kann sich vorstellen, was in seinem Kopf vorgeht, denn ihm geht es nicht anders. Sein Blick trifft den von Sabrina. Angst, springt ihm entgegen, obwohl sich ihre Lippen nicht bewegen. Sie ist blass; so blass, dass es nicht einmal mehr die zentimeterdicke Make-Up-Schicht bedecken kann.
„Ich verstehe nicht…“
Es ist Julius, der seine Sprache als erstes wiederfindet. „Ich verstehe nicht, was das alles mit uns zu tun hat.“
Julius scheint trotz sehr erfolgreich abgeschlossenem Abitur nicht gerade der Hellste zu sein. Laut seiner Aussage hat sein Daddy ziemlich viel dafür hingeblättert, dass er die beste Privatschule in der Umgebung besuchen konnte. Oliver konnte sich damals schon seinen Teil dazu denken, denn er kennt die Schule und ihren unumstrittenen Ruf als sichere Abi-Zeugnis-Quelle, wenn man nur einen ausreichend prall gefüllten Geldbeutel besitzt; oder einen Daddy mit genügend grünen Scheinen. Dennoch geht es Oliver im Moment nicht anders als Julius, denn auch er kann sich keinen Reim darauf machen, was es mit dieser Geschichte auf sich hat. Und mit den falschen Namen, die anscheinend irgendeine Bedeutung haben; so viel steht mittlerweile fest.
„War das alles?“
Oliver beugt sich zu Helena hinunter, die mittlerweile mit geschlossenen Augen an der Wand lehnt und nachzudenken scheint. Vielleicht verzweifelt sie auch gerade, beides wäre denkbar. Er wirft einen Blick auf das Manuskript, das aufgeschlagen auf ihren Oberschenkeln liegt.
„Darf ich?“
Helena nickt, ohne die Augen geöffnet zu haben. Obwohl sich irgendetwas in ihm dagegen sträubt, nimmt Oliver den dünnen Stapel Papier in die Hand. Er hat Angst, doch wovor? Unbehagen macht sich in ihm breit, doch die Neugier siegt. Oliver muss einfach selbst einen Blick in dieses Manuskript werfen. Er überfliegt die erste Seite, dann die zweite und die dritte; seine Augen rasen nur so von Zeile zu Zeile. Im Grunde ist es nichts Neues, Helena hat in gekürzter Form bereits alles wiedergegeben. Dennoch löst diese Geschichte etwas in ihm aus. Oliver horcht dem wilden Klopfen seines Herzens. Er hat schon viel gelesen, doch nie war ihm ein Buch so nahe gegangen. Er kann es sich nicht erklären, doch es fühlt sich so an, als hätte er Mia gekannt.
Ich kenne keine Mia.
… oder hätte sie kennen müssen.
Olivers Blick fällt auf die dicken schwarzen Buchstaben am Kopf der Seite: Kapitel 7. Scheinbar handelt es sich um einen Auszug aus einem Text; dem Inhalt nach zu urteilen aus einem Buch oder einem Bericht, doch der Schreibstil lässt eher auf Ersteres schließen. Oliver blättert weiter. Er möchte mehr von Mia und ihrem Schicksal erfahren, doch gleichzeig fürchtet er sich davor. Wieder siegt die Neugier, doch er wird enttäuscht. Mit dem Ende der Seite scheint das Kapitel vorbei zu sein – jedenfalls in diesem Manuskript. Enttäuscht lässt Oliver die Blätter sinken. Was hat er sich erhofft? Plötzlich fällt sein Blick auf ein weiteres Blatt Papier, das unter Helenas Bein hervorschaut.
Steckbrief und Regieanweisung, ist das erste, was ihm ins Auge springt. Vorsichtig zieht er daran; sollte es Helena stören, zeigt sie es nicht. Er streicht das zerknitterte Papier auf seinem Oberschenkel glatt und studiert neugierig den Inhalt.
Mia Geiger,
vierundzwanzig Jahre alt,
Einzelkind,
Lehramtsstudentin,
geboren in München, aufgewachsen in Emden…
Oliver hält den Atem an.
… gestorben in Greetsiel.
Samstag, 29.06.2019, 12: 09 Uhr
- Helena -
„Helena!“
Irgendjemand rüttelt an ihrem Bein. Der Stimme nach zu urteilen ist es Oliver.
„Ja?“
Ihre Augen sind immer noch geschlossen.
„Hast du das gelesen?“
Ohne sie zu öffnen, weiß sie, was er meint.
„Ja.“
„Und, und, …“
Er stottert aufgeregt herum. Helena hält die Augen geschlossen, sie möchte im Moment niemanden sehen, denn dafür ist sie viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und damit, diese irgendwie zu sortieren oder wenigstens annähernd in Ordnung zu bekommen. „Was machst du jetzt?“
Verzweifeln, einen Heulkrampf bekommen, zusammenbrechen?
„Keine Ahnung.“
„Keine Ahnung?“, wiederholt er ihre Worte. Sie spürt förmlich, wie er ungläubig den Kopf schüttelt. Sie nickt langsam, ihr Kopf stößt gegen die Wand.
„Am liebsten würde ich aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Traum war.“
„Helena, Frühstück!“
In Gedanken hört sie die glockenreine Stimme ihrer Mutter.
„Aber das hier ist kein Traum, nicht wahr?“, fragt sie seufzend und öffnet die Augen, die nun so lange geschlossen waren, dass sie sich erst wieder an die Helligkeit gewöhnen müssen.
Alles weiß, schießt es Helena durch den Kopf. Alles so steril. Keine Fenster, kein Eingang, kein Ausgang – keine Verbindung zur Außenwelt.
Am liebsten würde sie schreien, ganz laut schreien, doch sie hält den Drang zurück.
Wo zur Hölle bin ich hier? So etwas gibt es in der Wirklichkeit gar nicht, das muss ein Traum sein!
„Nein“, Oliver seufzt, als hätte er ihre Gedanken gelesen, „kein Traum.“
Doch er hat nur auf ihre vorangegangene Frage geantwortet.
Samstag, 29.06.2019, 16: 03 Uhr
- Oliver -
„Okay, ganz ruhig.“
Oliver hebt beschwichtigend die Hände. „Noch mal von vorne, und dieses Mal voll konzentriert.“
„Ich bin konzentriert!“, schreit Helena und stampft wütend auf den Boden. „Was guckst du so blöd?“
Oliver grinst.
„Jetzt lachst du auch noch?! Was gibt es da zu lachen?“
„Nichts…“
Er schüttelt den Kopf und zwingt sich zu einem mehr oder weniger ernsten Gesichtsausdruck. „Es ist nur… Das ist das erste Mal, dass ich dich so erlebe; so…“
„Echt? Unkontrolliert?“, hilft ihm Manni auf die Sprünge.
„Genau!“
Helena senkt unsicher den Blick, während sie eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger wickelt und die Fußspitze in den Boden zu bohren versucht.
„Entschuldigt… Lasst uns weiter machen.“
Sie strafft die Schultern und schaut auf die Uhr. Ihr erschrockener Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass es bereits später ist als erwartet. Oliver ordnet die Blätter in seiner Hand und sucht die Seite nach der Zeile ab, an der sie hängengeblieben waren. Helena schüttelt den Kopf.
„Fangen wir noch mal von vorne an.“
Oliver nickt.
„Okay, ich bin so weit.“
Helena holt tief Luft. Manni, Sabrina und Julius stehen aufmerksam daneben.
„Warum?“, fängt sie an und bewegt sich theatralisch durch den Raum. „Was sollte das? War das Absicht? Rache dafür, dass ich im letzten Semester besser als sie abgeschnitten habe?“
Helena setzt die imaginäre Flasche an den Mund und trinkt einen Schluck Bier daraus. „Sie ist meine Freundin, sie würde mir niemals so etwas antun! Ja, sie hat das Auto ihrer Schwester zerkratzt, weil es ein neueres Modell als ihr eigenes war. Ja, sie hat das Portemonnaie ihrer Mutter geklaut, als die ihr kein neues Paar Schuhe kaufen wollte und ja, sie hat einer Mitschülerin einmal einen Bob verpasst, weil sie sie wegen ihres schief geschnittenen Ponys ausgelacht hat; aber ist das nicht etwas völlig anderes? Wahrscheinlich…“, Helena stockt mitten im Satz. Oliver wartet einen Moment, bevor er ihr als Souffleur auf die Sprünge hilft.
„Wahrscheinlich hatte sie mal wieder ein Bierchen zu viel…“
„… und wollte das gar nicht“, nimmt Helena den Satz wieder auf. „Vielleicht trägt er auch die Schuld und hat sie angesprochen. Vielleicht habe ich die Situation ganz falsch gedeutet und…“, wieder kommt sie ins Stocken. Doch dieses Mal wartet sie nicht darauf, dass Oliver ihr den Rest des Satzes leise zuflüstert. „Ach Mann, ich kann das einfach nicht! So ein Scheiß!“
Helena rauft sich wütend die Haare, und Manni kann sie glücklicherweise noch rechtzeitig davon abhalten, sie sich in Büscheln auszureißen.
„Hey“, redet er ruhig auf sie ein. „So wird das auch nichts.“
Helena stößt einen resignierten Seufzer aus. Sie zittert am ganzen Körper. „Wie viel Uhr ist es?“
„Kurz nach vier. Wir haben immer noch genug Zeit, um den Text in deinen Kopf zu bekommen.“
Wozu?, fragt sich Oliver, doch er spricht den Gedanken nicht laut aus, um Helena nicht noch mehr zu beunruhigen, als sie es ohnehin schon ist. Sie ist ein nervliches Wrack, und obwohl sie sich größte Mühe gibt, nach außen hin einen gefassten Eindruck aufrecht zu erhalten, ist ihr das deutlich anzumerken. Oliver geht es nicht anders.
„Wie lange genau?“
Sie pilgert ungeduldig hin und her. Manni nimmt das kurze Begleitschreiben in die Hand, das beim vierzehnten Betrachten allerdings auch keine neuen Auskünfte gibt. Wieder gehen sie es von Anfang bis Ende durch; Absatz für Absatz, Zeile für Zeile, Wort für Wort. Erst der Steckbrief, dann die Regieanweisung, und schließlich die Anforderungen, die – obwohl an Mia adressiert – eindeutig an Helena gerichtet sind:
Du bist Mia, die Protagonistin. Erfülle deine Rolle. Sei nicht wie Mia, sei Mia.
Nutze die Zeit bis zum Anbruch der Dunkelheit zum Lernen. Dann muss die Situation skriptgetreu abrufbar sein, eine Alternative gibt es nicht.
Sei Mia.
„Bis zum Anbruch der Dunkelheit“, schimpft Helena, ehe sie sich wieder ihrer Performance widmet. „Das kann doch alles bedeuten! Wenn ich schon kaum Informationen bekomme, dann möchte ich wenigstens wissen, wie lange ich Zeit habe, um meinen Text zu lernen. Warum geht es denn nicht ein bisschen präziser?“
Manni steht ratlos daneben und betrachtet das Mädchen mit einem mitleidigen Blick. Er würde zu gerne helfen, dessen ist sich Oliver sicher, doch ihm geht es wie ihm selbst – er weiß weder wie noch womit.
„21: 08 Uhr“, wirft Julius in den Raum, nachdem er Manni das Skript aus der Hand gerissen und wie wild durch die Seiten geblättert hat. „Um 21: 08 Uhr geht die Sonne unter. In den nächsten Tagen tendenziell früher.“
Oliver wollte seine ursprüngliche Einschätzung bezüglich Julius‘ Intelligenz gerade revidieren, als dieser auf den Mondkalender deutet, der dem Umschlag neben dem Skript und dem kurzen Anschreiben beigelegt wurde.
„Das steht zumindest hier. Ich wusste doch, dass ich es irgendwo gelesen habe.“
Immerhin hat er es gefunden, denkt Oliver, während er sich selbst von Julius‘ Aussage überzeugt. Obwohl ich wahrscheinlich auch noch darauf gekommen wäre.
Samstag, 29.06.2019, 21: 04 Uhr
- Helena -
Helena sitzt auf einem der fünf Plastikstühle, die den nicht weniger strahlend weißen Tisch umrunden, dessen Oberfläche so blitzblank ist, dass sich ihr verzweifeltes Gesicht darin spiegelt. Sie seufzt, rauft sich die Haare und blättert mit zittrigen Fingern durch das Manuskript. Während sie auch die letzte Textpassage noch einmal durchgeht, wippen ihre Beine unter dem Tisch nervös auf und ab.
Warum tue ich mir das eigentlich an?, fragt sie sich in Gedanken. Warum mache ich mir bloß so einen Stress?
Den kompletten Textauszug auswendig zu lernen hat Helena einige Nerven gekostet, doch trotz regelmäßigem Fluchen und immer weiter sinkender, miesepetriger Laune war sie insgeheim froh, durch die Aufgabe endlich mal etwas Ablenkung bekommen zu haben. Allerdings hätte sie ohne Oliver und Manni, die sie die ganze Zeit über tatkräftig unterstützt und mit bestärkenden Worten immer wieder aufgebaut haben, schon längst das Handtuch geschmissen und das Textdokument in zigtausend kleine Fetzen zerrissen.
„21: 07 Uhr“, bemerkt Helena mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. Sie legt das Manuskript beiseite und schiebt den Stuhl mit einem unangenehmen Quietschen zurück. „Ich wäre dann bereit für meinen großen Auftritt.“
Mit siegessicherer Pose baut sie sich vor den anderen auf, doch die Worte klingen aus ihrem Mund nicht halb so optimistisch, wie sie es eigentlich hätten tun sollen.
Samstag, 29.06.2019, 21: 09 Uhr
- Oliver -
„21: 09 Uhr“, sagt Helena und tippt tadelnd mit ihrem Zeigefinger auf die Uhr an ihrem Handgelenk. „Schon eine Minute zu spät.“
Sie dreht sich einmal um die eigene Achse und sinkt dann seufzend auf einem der Plastikstühle zusammen. Mit dem Kopf in den Händen vergraben murmelt sie irgendetwas vor sich hin.
„Was hast du gesagt?“
Helena reagiert nicht, anscheinend war es nicht so wichtig.
„Wenn ich doch nur wüsste, worauf ich warte…“, stöhnt sie und wirft den Kopf in den Nacken. Oliver setzt gerade zu einer Antwort an, als plötzlich das Brummen des Lastenaufzuges zu hören ist. Innerhalb eines Wimpernschlags sind alle Augen auf dessen Türen gerichtet; jeder wartet auf das Geräusch, das wie gewohnt die Ankunft des Liftes ankündigt.
„Vielleicht kommt jetzt die Filmkamera?“
Helenas Satz – mehr als Frage formuliert – wird vom altbekannten Pling beendet.
„Vielleicht auch nicht“, antwortet Julius, als sich die Türen öffnen und den Blick auf einen leeren Innenraum freigeben. Er ist der erste, der sich dem Lastenaufzug nähert und neugierig seinen Kopf hineinsteckt.
„Ist da was?“
Niemand rührt sich vom Fleck. Julius nickt. Es ist so still im Raum, dass alle Anwesenden bei dem plötzlichen, lauten Dong unweigerlich zusammenzucken.
„Was war das?“
Helenas Augen sind schreckgeweitet. Sie steht da, wie zur Salzsäule erstarrt. Julius reibt sich den schmerzenden Hinterkopf und stößt einen Fluch aus.
„Ich habe mir an dieser blöden Kante den Kopf gestoßen“, antwortet er schließlich; und da keiner nachfragt: „Aber keine Sorge, mir geht’s gut.“
Samstag, 29.06.2019, 21: 12 Uhr
- Helena -
Helena hat keine Zeit, die Beule an Julius‘ Hinterkopf zu betrachten und ihn zu bemitleiden. Seinem Aufschrei und Verhalten nach zu urteilen, muss es sich um ein Monstrum handeln, doch ihr Blick gilt einzig und allein dem Schild im Lastenaufzug. Einmal in der Hälfte gefaltet steht es wie ein Platzkärtchen auf Geburtstagsfeiern in der Mitte es Aufzuges. Mia steht darauf, mehr nicht. Helena schluckt. Verunsichert schaut sie sich zu Manni um, doch seine Aufmerksamkeit ist gerade auf den zum Sterben verurteilten Julius gerichtet. Helena wünschte, sie hätte auch nur eine Beule am Kopf. Ihr Blick trifft den von Oliver; in seinen Augen spiegeln sich Sorge, Angst und Ungewissheit – jedenfalls deutet Helena das so, denn auch seine Mimik und Gestik gleichen nicht mehr der des starken, selbstbewussten jungen Mannes, wie sie ihn kennengelernt hat.
„Ich muss dann wohl…“, flüstert Helena. Ihr Herz rast, und vor lauter Angst füllen sich ihre Augen mit Tränen. Sie schluckt den Kloß in ihrem Hals herunter und strafft die Schultern. Mutigen Schrittes nähert sie sich dem Lift, doch als sie direkt davor steht, weigert sich alles in ihr dagegen, einzusteigen.
„Meinst du, du musst da wirklich rein?“
Olivers Stimme zittert. Jetzt ist Helena noch mehr verunsichert.
„Sieht alles danach aus, oder?“
In dem oder steckt so viel Hoffnung. Vielleicht malt sie sich die schlimmen Szenarien gerade völlig umsonst aus… Oliver nickt, weg ist die Hoffnung.
„Dann komme ich mit“, sagt er zu ihrer Überraschung. Helena fehlen vor lauter Erleichterung die Worte. Auf das kurze Glücksgefühl folgt die Ernüchterung.
„Da passen wir doch niemals zu zweit rein. Das Ding hat, wenn überhaupt, einen Quadratmeter Fläche, ich muss mich ja schon zusammenfalten, um alleine hineinzupassen.“
„Helena hat recht“, mischt sich nun auch Manni ein. „Das ist viel zu gefährlich. Solche Kleingüteraufzüge werden normalerweise im Gastronomiebetrieb eingesetzt und sind auch nur für eine bestimmte Gewichtsklasse zugelassen.“
„Willst du damit sagen, dass ich-“
„Nein, will ich nicht.“
Manni tritt einen Schritt näher an den Aufzug heran, um sich noch einmal von Nahem von der Größe des Innenraumes überzeugen zu können.
„Ja.“
Mit einem Nicken bestätigt er seine vorangegangene Aussage. „Das ist eindeutig zu klein für euch beide zusammen.“
„Ich bin trotzdem der Meinung, dass wir Helena nicht einfach so in dieses Teufelsding einsteigen lassen sollten.“
Teufelsding.
Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Helena schmunzeln müssen.
„Aber irgendeine Entscheidung müssen wir treffen, sonst fährt der Aufzug ohne Passagier wieder dorthin zurück, wo er hergekommen ist.“
„Und was wäre daran so schlimm?“
„Ist das dein Ernst, Julius?“
Oliver schüttelt verständnislos den Kopf. „Was glaubst du denn, was passiert, wenn wir uns der Regieanweisung widersetzen?“
Julius nagt an seiner Unterlippe herum und zuckt kaum merklich mit den Schultern.
„Ich wage jetzt einfach mal zu behaupten, dass jemandem, der dazu fähig ist, fünf erwachsene Personen zu entführen, ohne dass sie sich im Nachhinein auch nur an eine klitzekleine Kleinigkeit erinnern können, und in einen fensterlosen Raum, wer weiß wie weit von der Zivilisation abgeschottet, zu sperren, noch ganz andere Dinge zuzutrauen sind. So etwas nennt sich Psychopath. Diese Menschen sind zwar unberechenbar, aber eins kann ich dir sagen: Leg‘ dich nicht mit ihnen an.“
Nach dieser ernsten Ansprache herrscht Stille. Nun ist Helena noch weniger bereit dazu, in den Lift zu steigen. Wer weiß schon, was – oder wer – sie am anderen Ende erwartet.
„Helena alleine gehen zu lassen kommt nicht in Frage. Allerdings fällt mir gerade auch keine andere Option ein.“
Plötzlich kommt Leben in den ältesten der Gruppe. Ehe sie sich versehen kann, wird Helena zur Seite gestoßen. Unsanft stößt sie sich den Ellenbogen, und landet dann zwischen Wand und Stühlen auf dem Boden. Manni zieht den Kopf ein und schwingt ächzend ein Bein nach dem anderen in den Aufzug.
„Manni!“
Oliver stürzt zum Lift. Helena hört nur seinen Schrei.
„Ich gehe.“
„Kommt gar nicht in Frage!“
Vom Boden aus muss sie zusehen, wie er vergeblich versucht, den schweren Mann aus dem Aufzug zu ziehen.
„Pass‘ gut auf die anderen auf!“
Mannis Worte klingen gedämpft hinter den geschlossenen Türen hervor. Mit einem Zischen setzt sich der Aufzug in Bewegung. Durch die Wand spürt Helena an ihrem Rücken ein leichtes Beben. Dann ist alles ruhig.
Samstag, 29.06.2019, 21: 18 Uhr
- Helena -
Helena hat Gänsehaut. Noch immer sitzt sie auf dem kalten Fußboden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und die Beine fest umschlungen. Sie zittert am ganzen Körper.
Ist das gerade wirklich passiert?
Sie wagt einen Blick nach oben, schaut sich im Raum um und stellt enttäuscht fest, dass sie nicht geträumt hat. Manni ist weg. Und mit ihm jeglicher Optimismus, der die Gruppe in dieser schwierigen Situation noch zusammengehalten hat.
„Scheiße!“
Manchmal hilft Fluchen, doch dieses Mal nicht; dieses Mal ist es nur ein Ausdruck der Realität. Helena verschränkt die zitternden Arme vor der Brust und schließt die Augen. Sie spürt, wie das Blut durch ihre Adern fließt, wie es pocht und wie ihr Herz pumpt, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Es schlägt so schnell und stark, dass es weh tut. Helena friert und schwitzt zur selben Zeit.
Was passiert jetzt? Was passiert mit Manni?
Helenas Gedanken fahren Karussell. Auf einmal überrennen sie die Schuldgefühle.
„Ich hätte gehen sollen, nicht er.“
„Niemand hätte gehen sollen.“
Helena erschrickt. Anscheinend hat sie den Gedanken gerade unbewusst laut ausgesprochen.
„Aber-“
„Kein aber, Helena.“
Oliver schüttelt den Kopf und kniet sich zu ihr auf den Boden. „Manni wollte gehen, er hat es selbst entschieden und sich nicht aufhalten lassen.“
„Aber…“
Ein Blick reicht aus, um sie verstummen zu lassen.
„Es ist passiert, wir können es nicht mehr rückgängig machen. Wenn sich jetzt irgendjemand von uns die Schuld dafür gibt, ändert das auch nichts an der Situation.“
Aber ich trage die Schuld, schreit eine Stimme in Helena, doch sie sagt nichts.
„Wir müssen abwarten, wie es weitergeht.“
Olivers Stimme wird brüchig und er räuspert sich. „Ich weiß, es ist schwer, und ich will verdammt noch mal auch wissen, was nun mit Manni passiert, aber wir dürfen hier drinnen nicht verrückt werden. Jetzt die Nerven zu verlieren wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte! Wir müssen stark bleiben, hast du das verstanden? Habt ihr das verstanden?“
Helena weicht seinem Blick aus, doch er lässt sie nicht in Ruhe.
„Ob du das verstanden hast, habe ich gefragt.“
Sie nickt, denn er hat recht. Wer hier drinnen die Nerven verliert, ist geliefert. Und die anderen gleich mit.
Sonntag, 30.06.2019, 08: 44 Uhr
- Helena -
Helena liegt in ihrem Bett und starrt an die Decke. Es ist stockdunkel im Raum und ihre Augen brennen vor Müdigkeit. Sie hat die ganze Nacht wachgelegen und nachgedacht; über Manni, über Oliver, über Julius und Sabrina, über ein weiches Kopfkissen, ein schönes großes Glas gekühltes Sprudelwasser, und über alles Mögliche, was sie sonst noch so vom Schlafen abgehalten hat. Schlagartig wird es hell, gleichzeitig dringt ein ohrenbetäubendes Pfeifen aus dem Lautsprecher an der Decke.
Viertel vor neun, denkt Helena und ein Blick auf die Uhr bestätigt diesen Gedanken. Wie jeden Morgen.
Sie schlägt die Decke zur Seite und quält sich aus dem Bett. Sie fühlt sich wie gerädert. Heute verzichtet sie auf das „Guten Morgen“, denn dass der Tag sowieso nicht gut werden kann, lässt sich nicht bestreiten. Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt und die Ungewissheit kaum auszuhalten. Kaum hat sie ein paar Worte mit den anderen gewechselt, ertönt auch schon das Surren des Speiseaufzuges. Vier Augenpaare sind hoffnungsvoll auf die noch geschlossenen Türen gerichtet. Julius ist der erste, der auf das Pling reagiert.
„Nur das Frühstück, sonst nichts“, sagt er zur Enttäuschung aller. Die Spannung fällt von Hundert auf Null und die Stimmung erreicht einen Zustand, der noch tiefer als der Tiefpunkt ist.
„Wirklich? Schau noch mal genauer hin.“
„Da ist nichts.“
„Bist du dir sicher?“
„Ja!“
Julius wird allmählich sauer. „Schau doch selbst, wenn du mir nicht glaubst.“
Das macht Oliver tatsächlich. Doch auch der kleine Funke Hoffnung, der kurz noch einmal aufkeimte, erlischt sofort wieder als Oliver traurig den Kopf schüttelt.
„Nichts.“
„Sag‘ ich doch“, entgegnet Julius patzig. Er hebt die Cloche von seinem Teller und drückt mit dem Zeigefinger auf das Körnerbrötchen, das darunter liegt. „Frisch aufgebacken, lecker.“
Helena dreht sich der Magen um. Alleine der Gedanke an etwas zu essen verursacht Übelkeit in ihr, da kann das Brötchen noch so frisch aufgebacken und das Ei noch so weichgekocht sein.
„Probier‘ doch mal, schmeckt wirklich gut.“
Julius zeigt auf die silbrig glänzende Cloche auf ihrem Tablett. Er selbst hat die erste Brötchenhälfte bereits verschlungen und leckt sich genüsslich die Erdbeermarmelade von den Fingern. Helena lehnt dankend ab, setzt sich aus Höflichkeit aber zu den anderen an den Tisch, obwohl sie der Unterhaltung kaum folgen kann. Ihre Gedanken driften immer wieder ab.
Wie es Manni wohl geht?
„Möchtest du das echt nicht essen?“
„Nein, heute nicht.“
Julius nickt verständnisvoll und schielt immer wieder zu ihrem Tablett hinüber. Helena hat zwar Kopfschmerzen, aber dumm ist sie nicht. Dass Julius scharf auf ihr Frühstück ist, hat sie längst begriffen.
„Lass‘ es dir schmecken.“
„Echt?“
Seine Augen leuchten vor Freude. „Cool, danke!“
Sie schiebt ihm das Tablett entgegen und lächelt, weil Julius trotz seiner besserwisserischen und manchmal überheblichen Art im Grunde doch ganz niedlich ist. Helena schiebt es auf die Erziehung, denn dass er aus gutem Elternhaus kommt, ist nach verschiedenen Erzählungen mittlerweile mehr als klar. Im Sommer geht er mit seinen Eltern Golfen, spielt leidenschaftlich Polo und im Winter machen sie Urlaub im familieneigenen Chalet in den Schweizer Alpen. Zum achtzehnten Geburtstag hat er einen nagelneuen Audi bekommen, der nur wenig später ausgetauscht wurde, als das neuere Modell auf den Markt kam. Julius redet viel, wenn der Tag lang ist, und das sind die Tage hier. Normalerweise gehen solche Angebereien bei Helena zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus, doch zurzeit ist sie über jede Ablenkung dankbar und hört sich deshalb sogar gerne das Gequatsche über Sabrinas Fingernägel oder ihren nun zwangsläufig stillgelegten Blog auf Social Media an.
„Helena…“
Bereits an Julius‘ Stimme hört sie, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. „Ich glaube, du hättest heute gar kein Frühstück bekommen.“
Neugierig dreht sie sich zu ihm herum und wartet auf eine Erklärung. Warum er die Cloche so fest umklammert, versteht Helena erst, als er sie zögerlich Zentimeter für Zentimeter anhebt. Augenblicklich zieht sich ihr Magen noch mehr zusammen, denn anstelle von Brötchen, Erdbeermarmelade und weichgekochtem Ei klebt dort ein gelber Notizzettel auf dem Teller:
Hinweis: Die Gestaltung des Verlaufes obliegt ausschließlich dem Verfasser. Änderungen der einzelnen Kapitel durch Zweite sind weder vorgesehen noch erwünscht. Vorschläge werden kommentarlos abgelehnt.
Ergänzt durch einen kurzen Kommentar in krakeliger Handschrift:
Kapitel 7 wird heute Abend zur gleichen Zeit wiederholt.
Sonntag, 30.06.2019, 08: 55 Uhr
- Oliver -
„Was bedeutet das?“, fragt Sabrina, die den Zettel als Letzte zu Gesicht bekommen hat.
„Das, was dort steht“, entgegnet Helena giftig. „Das und nichts anderes.“
Sie reagiert immer so, wenn sie unsicher ist. Das ist Helenas Art, mit Stress und Angst umzugehen. Oliver selbst versinkt in solchen Situationen immer komplett in Gedanken und kann alles um sich herum ausblenden. Sabrina wird hysterisch und Julius ist schwer einzuschätzen. Im Gegensatz zu Oliver redet er ständig wie ein Wasserfall und gibt, egal ob zur Situation passend oder nicht, schlaue Ratschläge. Oliver hat eine gute Menschenkenntnis, doch aus Helena wird er nicht schlau. Mal ist sie stumm wie ein Fisch und völlig in Gedanken versunken, mal scheint es, als könne man in ihr lesen wie in einem offenen Buch. Mal schirmt sie sich komplett von den anderen ab und scheint ein emotionaler Eisklotz zu sein, mal erleidet sie einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen und bricht in regelmäßigen Abständen in Tränen aus. In diesen Momenten ist Oliver froh, dass sich noch eine andere Frau im Raum befindet, die jegliches weibliches Klischee erfüllt und Helena mit ihrem Einfühlungsvermögen so schnell wieder beruhigen kann, dass Oliver jedes Mal aufs Neue verblüfft ist. Zwar kennt er Sabrinas Einparkkünste noch nicht, aber in allen anderen Punkten ist sie das Vorzeigemodell des gesellschaftlich geprägten Bildes einer jungen, modernen Frau.
Was völliger Schwachsinn ist, denkt Oliver und schaut an sich hinunter. Seine Größe könnte ihm locker einen Platz im NBA-Team der Houston Rockets verschaffen, seine Leidenschaft für Basketball ebenfalls. Allerdings erinnert sein Körperbau trotz hartem Training eher an einen Zwölfjährigen als an Michael Jordan und mit seinen dünnen, langen Stelzen könnte er den Models bei Germanys Next Topmodel sicher Konkurrenz machen.
Paradebeispiel