TIC TAC TOT - Sarah Markowski - E-Book

TIC TAC TOT E-Book

Sarah Markowski

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Beschreibung

Angelika Behrendt, Krankenschwester und Dreifachmutter, wird tot in ihrem Bett aufgefunden. Auf ihrem Arm trägt sie ein Tattoo mit acht Ziffern - ihr Sterbedatum. Suizid oder Mord? Spätestens als nach fünf Tagen das nächste Opfer auftaucht, ist klar, dass es sich hierbei um einen Serientäter handelt. Nils Johansen ermittelt zusammen mit dem Team der Emdener Mordkommission K11 in diesem Fall und stößt schnell an seine Grenzen. Neue Mordopfer tauchen auf, unschuldige Kinder verschwinden spurlos, und der Täter ist ihnen immer einen Schritt voraus. Der Ermittlungsfortschritt scheint stillzustehen und wird einzig und allein durch den Kontakt zum Mörder vorangetrieben. Er spielt ein Spiel, in dem Gewinn oder Niederlage über das Leben der vermissten Kinder entscheiden. Wie schnell findet die Polizei die Identität der Opfer heraus? Die Uhr tickt, bis zur nächsten Runde TIC TAC TOT.

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Seitenzahl: 511

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Angelika Behrendt, Krankenschwester und Dreifachmutter, wird tot in ihrem Bett aufgefunden. Auf ihrem Arm trägt sie ein Tattoo mit acht Ziffern – ihr Sterbedatum. Suizid oder Mord?

Spätestens als nach fünf Tagen das nächste Opfer auftaucht, ist klar, dass es sich hierbei um einen Serientäter handelt. Nils Johansen ermittelt zusammen mit dem Team der Emdener Mordkommission K11 in diesem Fall und stößt schnell an seine Grenzen. Neue Mordopfer tauchen auf, unschuldige Kinder verschwinden spurlos, und der Täter ist ihnen immer einen Schritt voraus. Der Ermittlungsfortschritt scheint stillzustehen und wird einzig und allein durch den Kontakt zum Mörder vorangetrieben. Er spielt ein Spiel, in dem Gewinn oder Niederlage über das Leben der vermissten Kinder entscheiden. Wie schnell findet die Polizei die Identität der Opfer heraus? Die Uhr tickt, bis zur nächsten Runde TIC TAC TOT.

Sarah Markowski wurde am 14. Januar 1998 in Bad Mergentheim geboren. Wenn sie nicht gerade Zeit mit ihrer Familie in ihrem Heimatdorf nahe Mainz verbringt, lebt sie in Koblenz, wo sie seit März 2018 Soziale Arbeit studiert.

Noch bevor im Sommer 2017 ihr erstes Werk „Der Märchenmörder“ erschien, entstanden die ersten Pläne für Nils Johansens zweiten Fall. Mit „TIC TAC TOT“ konnte sie sich nun noch einmal den Traum eines eigenen Buches erfüllen… Und die Schreibfeder steht nicht still.

Sarah Markowski

TIC TAC TOT

Nils Johansens zweiter Fall

© 2018 Sarah Markowski

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7469-0119-0

Hardcover:

978-3-7469-0120-6

e-Book:

978-3-7469-0121-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Uroma Elfriede,

weil ich weiß, wie liebend gerne dudieses Buch in deinen Händengehalten hättest.

Dem Auge so fern, doch dem Herzen so nah.Begrenzt ist das Leben, unendlich die Erinnerung.

09.11.2017

Die Nadel berührte seine Haut.

Langsam, ganz langsam stach er zu.

Eine Welle von Schmerz durchfuhr seinen Körper.

Guter Schmerz.

Er schloss die Augen und entspannte sich.

Der Schmerz ließ nach. Er drückte fester.

Die Nadel wanderte an seinem Unterarm entlang und hinterließ eine schwarze Spur.

Die Haut färbte sich rot. Es brannte.

Guter Schmerz.

Die schwarze Spur nahm Gestalt an, schmiegte sich um die

schon vorhandenen Linien.

Endlich war es soweit.

Er legte die Nadel beiseite und fuhr mit den Fingerspitzen

über die gerötete Haut. Acht Zahlen.

Endlich war es soweit.

Engel, flüsterte er und lächelte. Mein Engel.

EINS

In Filmen sangen alle Kinder immer fröhlich im Chor, dabei klatschten sie im Takt, selbstverständlich synchron, und tanzten ausgelassen zur Musik, ebenfalls synchron. Der Busfahrer wippte lustig hin und her, während er gut gelaunt die Melodie mitpfiff und dabei mit einer Hand lockerflockig das Lenkrad drehte. Der Bus rollte gleichmäßig und natürlich als einziges Fahrzeug weit und breit über die Autobahn und nach einer erfrischenden Pause an einer blitzblank geputzten Raststätte ging es weiter in Richtung Heimat…

Wunschdenken.

In der Realität sah das nämlich ein wenig anders aus. Bei uns jedenfalls.

Die Jungs in der letzten Reihe hatten direkt beim Losfahren ihre Ohren unter sündhaft teuren Kopfhören versteckt und den Kopf entspannt in den Nacken gelegt. Seitdem hörten sie so laut Musik, dass der ganze Bus mit einem Remix aus Sido, Cro und Kollegah beschallt wurde. Ganz vorne saßen die Lehrer, die sich über das Wetter, Ereignisse der vergangenen Kursfahrt und ihre Planung für das kommende Wochenende unterhielten. Außerdem schlossen sie eine Wette ab, wer wohl die Urlaubsvertretung für Herrn Heineke übernahm. Der Dirigent der Musikklasse war beim alljährlichen Schulfest vor ein paar Wochen nämlich rückwärts von der Bühne gefallen und hatte sich dabei das Steißbein gebrochen. Es gingen zwar einige Gerüchte über seinen Gesundheitszustand herum, die sich in den jeweiligen Details allerdings unterschieden. Fest stand jedenfalls, dass er vorerst arbeitsunfähig war und bis zur vollständigen Genesung nicht mehr unterrichten würde. Den Armen hatte es wohl doch ganz schön erwischt.

Eine Reihe hinter Frau Caspar und Herrn Meiser saßen die Mädchen mit den Designerhandtaschen. Die Sorte, die morgens nicht aus dem Haus ging ohne den Kopf einmal durch die komplette Make-up Palette gewälzt zu haben, und deren Schultern wie immer von gefälschten Pelzkragen geziert wurden. Die Quoten-Zicken, wie sie mein Papa nennen würde, und diesem Namen machten die drei auch alle Ehre. Abwertende Blicke, das überdimensional große Smartphone in den Händen, stets perfekt manikürte Fingernägel, ständiges Geläster und übertrieben lautes, aufgesetztes Gekicher.

„Mara?“

Meine beste Freundin Leonie, die ich bereits seit der Krabbelgruppe kannte, tippte mich von der Seite an und hielt mir eine angebrochene Packung Doppelkekse entgegen.

„Möchtest du noch einen?“

Ich nickte, dankbar für die Ablenkung und drückte meine Hand in die enge Verpackung.

„Dass die aber auch immer so mit dem Material sparen müssen. Wie soll man denn da einen Keks rausbekommen, ohne dass er direkt in fünftausend Einzelteile zerbricht?“, schimpfte ich, drehte energisch meine Hand in alle möglichen Richtungen und fischte umständlich einen Keks heraus. „Danke“, nuschelte ich mit vollem Mund und beobachtete interessiert, wie sich Torben und Julian eine Reihe vor uns beinahe die Köpfe einschlugen.

„Hey, Jungs“, rief ich empört, als einer der beiden aufstand und sein Ellenbogen gefährlich weit über die Rückenlehne schoss. Ich drückte mich etwas fester gegen die Sitzlehne, um so viel Sicherheitsabstand wie möglich zu halten und wartete, bis wenigstens einer der beiden Streithähne reagierte.

„Könnt ihr vielleicht ein bisschen aufpassen? Andere Leute wollen ihre Nase behalten.“

Torben schaute mich verwirrt an und kassierte in diesem Moment der Unachtsamkeit prompt einen Schlag auf den Hinterkopf.

„Ach ja, und ein bisschen leiser fluchen wäre auch ganz schön. Wir wollen uns nämlich unterhalten und eure unnötigen Zankereien sind ja kaum zu übertönen.“

Ich lehnte mich betont entspannt zurück und grinste ihm frech ins Gesicht. Torben schaute mich an, als hätte ich soeben die Bibel auswendig aufgesagt – vorwärts und rückwärts, Psalmen und Briefe inbegriffen. Er schüttelte stumm den Kopf, schaute zu Julian, dann zurück zu mir und schließlich zu den Lehrern, die immer noch in ihr Gespräch vertieft waren und scheinbar nichts um sich herum wahrnahmen. Schließlich ließ er sich zurück auf seinen Platz fallen und schaute demonstrativ aus dem Fenster.

„Danke“, murmelte ich triumphierend während ich zufrieden den Keks entgegennahm, den mir Leonie vor die Nase hielt.

„Denen hast du es aber gezeigt.“

„Irgendeiner muss es doch tun.“

Ich zuckte grinsend mit den Schultern und fegte mit einer gekonnten Bewegung die Kekskrümel von meinem Schoß. Zurück blieben ein paar Schokoladenspuren, die auf der hellen Hose natürlich nicht zu übersehen waren.

„Noch einen?“

Leonie hielt mir die geöffnete Brotdose entgegen, doch ich schüttelte den Kopf.

„Nein, danke. Ich brauche jetzt erst mal etwas Richtiges zu essen. Irgendwo müsste doch noch das Brötchen sein…“

Ich bückte mich nach unten und durchsuchte meinen Rucksack nach dem Reiseproviant, den ich mir, wie alle anderen auch, vor Verlassen des Schiffes mitgenommen hatte. Ein Körnerbrötchen wahlweise mit Wurst oder Käse, ein Apfel und ein Müsliriegel, da konnte man nicht meckern. Hungrig biss ich in das halb zerdrückte Brötchen und fragte mich, wann wir wohl endlich ankommen würden. Mittlerweile waren wir schon fast sieben Stunden unterwegs und langsam konnte ich wirklich nicht mehr stillsitzen. Von Texel nach Greetsiel dauerte es laut Aussage des Busfahrers viereinhalb bis fünf Stunden. Dazu musste man allerdings die Fähre übers Ijselmeer rechnen und vermutlich noch Toiletten- und Essenspausen dazuzählen. Außerdem schien heute jeder Mensch in Richtung Ostfriesland fahren zu wollen… zumindest sah die momentane Autobahnsituation ganz danach aus. Der Bus bewegte sich ruckelnd vorwärts, hielt immer wieder an und fuhr dann ein paar Meter weiter, bis er schließlich wieder zum Stehen kam.

Ich rückte mein dickes Kissen zurecht und lehnte den Kopf ans Fenster. Mittlerweile war ungewohnte Stille eingekehrt und sogar Torben und Julian hatten aufgehört sich wegen jeder Kleinigkeit in die Haare zu kriegen. Allgemeine Unlust machte sich breit und auch der Busfahrer trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad. Er rieb sich die Augen, streckte seinen Rücken und fluchte leise vor sich hin.

Winschoten, stand auf einem Ortsschild am Straßenrand. Wir waren also immer noch in den Niederlanden.

„Weck mich, wenn wir da sind“, murmelte ich und schloss die Augen.

Eins, zwei, drei, … kleine weiße Schäfchen hüpften nacheinander über ein Gatter aus Holz. Vier, fünf, sechs, … doch es wollte nicht funktionieren. Frustriert hob ich den Kopf und seufzte.

„Kann ich bitte doch noch einen Keks haben?“

ZWEI

Es war halb fünf, als der Reisebus auf den Parkplatz des Johannes-Althusius-Gymnasiums fuhr, langsam ausrollte und schließlich zum Stehen kam.

Draußen stand schon eine Horde Eltern bereit, die sehnsüchtig darauf warteten, ihre Kinder nach zehn Tagen Segelfreizeit auf dem Ijselmeer endlich wieder in die Arme schließen zu können. Ich reckte meinen Hals und suchte vergeblich nach meiner Familie, auch Leonies Eltern waren noch nicht zu sehen. Ungeduldig stand ich auf und drückte mich auf den Gang hinaus, um endlich diesen stickigen Bus verlassen zu können. Meine Beine waren eingeschlafen und fühlten sich nach der langen Fahrt an wie Wackelpudding. Ich zog meine beste Freundin hinter mir her, und wir kämpften uns gemeinsam in Richtung Ausgang. Die Lehrer riefen genervt durcheinander, doch niemand schenkte ihnen auch nur einen Funken Aufmerksamkeit.

Draußen angekommen streckte ich meinen Rücken, schüttelte Arme und Beine und atmete ein paar Mal tief durch. Die kühle Nordseeluft füllte meine Lungen und das Dröhnen in meinem Kopf wurde sofort ein wenig leiser. Ich schulterte meinen Rucksack und lief einmal um den Bus herum, um auf der anderen Seite meinen Koffer abzuholen. Der mürrische und wenig gesprächige Busfahrer zog ein Gepäckstück nach dem anderen heraus, warf es neben sich auf den Boden und ignorierte die Rangeleien um Koffer und Taschen, die er mittlerweile gewohnt war.

Ich entdeckte meinen roten Rollkoffer an der Spitze des Stapels und zog in blitzschnell herunter, bevor er von einem anderen Gepäckstück begraben werden konnte.

„Mara“, hörte ich ein paar Stimmen hinter mir rufen.

„Mara, hier sind wir!“

Ich drehte mich herum und suchte die Menschenmenge nach bekannten Gesichtern ab. Auf einmal erkannte ich das blau-rot-karierte Holzfällerhemd meines Vaters und seine unverkennbaren Locken, die mal wieder in alle Richtungen vom Kopf abstanden. Er winkte mir zu und traf dabei prompt die Mutter eines Mitschülers am Kopf, die sich soeben auf Zehenspitzen gestellt hatte um ihren Sohn auf sich aufmerksam zu machen. Natürlich entschuldigte er sich sofort für den kleinen Unfall und redete so lange auf sie ein, bis ihn die Frau lächelnd beruhigte und ihm zum zehnten Mal versicherte, dass sie sich auch wirklich nichts getan hatte.

Inzwischen hatte es auch meine Mama geschafft, sich mit den Zwillingen durch das Gedränge zu kämpfen.

„Mara!“

Die beiden kamen freudestrahlend auf mich zu gerannt und umarmten mich so schwungvoll, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor und nach hinten umkippte.

„Wir haben dich vermisst“, stellte Emilia fest und blickte mich mit ihren wunderschönen, großen, smaragdgrünen Augen an.

„Ist das so?“

Ich lachte und fuhr liebevoll durch ihre strohblonden Löckchen. Meine Schwester nickte und klammerte sich an meinen Arm, als befürchtete sie, ich würde nicht mit nach Hause kommen. Malte untersuchte derweil mein Gepäck und stellte enttäuscht fest, dass die Fanta-Flasche im Außenfach meines Rucksacks bereits leer war.

„Pass auf, ich habe sogar etwas viel Besseres für euch gefunden“, sagte ich zwinkernd und kniete mich auf seine Augenhöhe hinunter.

„Echt?“

Seine Augen strahlten vor Neugier. „Was denn?“

„Später“, antwortete ich geheimnisvoll und begrüßte nun endlich meine Eltern, die schon wieder in ein Gespräch mit Leonies Mutter Christiane verwickelt waren. Ihr Vater war Geschäftsmann und mal wieder auf Reisen. Er verbrachte viel Zeit im Ausland, und wenn er einmal zu Hause war, dann saß er die meiste Zeit im Büro in der Firma oder machte Homeoffice.

„Na du Landratte, bist du auch nicht seekrank geworden?“

Ich verdrehte lachend die Augen und boxte meinen Vater spielerisch gegen die breite Schulter. Er mimte wie immer den Schwerverletzten, umarmte mich, und griff dann nach meinem schweren Gepäck.

Als wir uns endlich von Leonie und Christiane losreißen konnten war der Parkplatz wie leergefegt. Nur noch vereinzelt standen Schüler und Eltern herum, die entweder auf jemanden warteten oder ebenfalls in ein Gespräch vertieft waren. Mittlerweile war es halb sechs und schon fast dunkel. Ich vergrub das Gesicht in meinem großen Schal und steckte die Hände in die Jackentaschen. Der für Ostfriesland charakteristische Wind pfiff mir unangenehm um die Ohren, und ich zitterte nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Müdigkeit. Die Nächte auf dem Schiff waren deutlich kürzer als zu Hause gewesen und wer erst nachts um drei ins Bett ging, konnte am Morgen nun mal nicht erwarten, ausgeschlafen und voller Tatendrang in den Tag zu starten.

„Mara, kommst du?“

Erst als mich die Stimme meiner Mutter in die Realität zurückholte, merkte ich, dass ich mal wieder geträumt hatte.

„Zum Auto geht es da lang.“

Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm nach rechts und zog mich sanft hinter sich her. „Zu wenig Schlaf, was?“, fragte sie zwinkernd, und ich nickte mit halb geschlossenen Augen. Meine Lider waren schwer wie Blei, und am liebsten hätte ich mich auf der Stelle hingesetzt und ein kleines Nickerchen eingelegt.

Das Auto stand zum Glück nur zwei Seitenstraßen entfernt, und der normalerweise eher unbequeme Ledersitz fühlte sich für mich heute an wie eine samtweiche, dreifach gepolsterte Wolke.

„Spielen wir ein Spiel?“, fragte Malte aufgeregt und rutschte aufgeregt auf seinem Kindersitz herum, als Papa den Motor startete.

„Au ja, ich sehe was, was du nicht siehst!“

Emilia war sofort einverstanden. Sie nickte begeistert und stupste mich von der Seite an.

„Mara, aufwachen!“

„Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist dunkel“, murmelte ich mit geschlossenen Augen und hörte mir die wild durcheinander gerufenen Vermutungen meiner fünfjährigen Geschwister an.

„Das ist ein blödes Ding“, maulte sie, als ich zum fünfzehnten Mal den Kopf geschüttelt hatte. „Jetzt bin ich dran.“

Emilia schaute neugierig aus dem Fenster und entdeckte einen Mann, der mit seinem kleinen Hund spazieren ging und das kleine Tier, das augenscheinlich viel lieber jedes Blatt und jeden Stein gründlich unter die Lupe nehmen würde, ungeduldig an der Leine hinter sich herzog.

„Schau mal, ein Baby-Hund!“

„Das heißt Welpe.“

„Woher weißt du das?

„Was?“

„Na, dass der Baby-Hund Welpe heißt.“

Ich seufzte und gab die Unterhaltung auf, da sie ja doch nur zu einer Diskussion ohne absehbares oder gar zufriedenstellendes Ende führen würde.

„Mara? Mara, schau doch mal!“

Sie zupfte an meinem Ärmel herum und zwang mich dazu, noch einmal die Augen zu öffnen. Ich seufzte, schaute mir den Mann mit Hund an und nickte dann mit fehlender Begeisterung. Doch das schien meine Schwester nicht zu stören, sie hatte bereits etwas Neues, viel Spannenderes entdeckt.

„Ist das deine Schule, Mara?“, fragte sie mit offenem Mund, als wir an dem riesigen Gebäude mit den vielen Fenstern und dem großen Sportplatz vorbeifuhren. „Wenn ich groß bin, darf ich dann auch hier in die Schule gehen?“

„Erstmal kommst du in die Grundschule und dann sehen wir weiter“, antwortete ich und drehte eine ihrer blonden Löckchen um meinen Zeigefinger. Eine pinkfarbene Haarspange hing lose an einer einzelnen Strähne und baumelte bei jeder Bewegung hin und her.

Wir bogen rechts ab, fuhren am Haupteingang vorbei und erreichten schließlich den Parkplatz, auf dem der Bus vor etwa einer Stunde gehalten hatte. Inzwischen waren alle Schüler abgeholt worden, und nichts erinnerte mehr an das turbulente Treiben, das dort vor nicht einmal sechzig Minuten geherrscht hatte. Ich schaute gedankenverloren aus dem Fenster, bis auf einmal eine dunkle Gestalt mit einem großen Koffer meine Aufmerksamkeit erregte. Mein Vater musste sie auch gesehen haben, da er kurz nach dem Parkplatz das Tempo drosselte und rechts an den Straßenrand fuhr.

„Steht da noch jemand aus deiner Klasse?“, fragte er, als er sich zu mir herumgedreht hatte. Ich zuckte mit den Schultern und schaute hinten zur Heckscheibe hinaus, konnte aber nichts erkennen.

„Soll ich mal nachschauen?“

Ich hatte mich schon abgeschnallt und war gerade dabei die Tür zu öffnen, als mein Vater mich zurückhielt.

„Aber nicht alleine!“

Ich verdrehte die Augen, doch er meinte es ernst.

„Als ob mir hier an der Schule etwas passiert“, flüsterte ich, beließ es aber dabei. Ich wollte jetzt wirklich keine Diskussion anfangen. Papa stellte den Motor ab und stieg aus dem Auto. Wir liefen zusammen die paar Meter zurück, bis ich die Gestalt wieder entdeckte. Erst als wir näherkamen erkannte ich Larissa, ein Mädchen aus meinem Stammkurs. Sie war ruhig, zurückhaltend und eher unscheinbar. Ich hatte bisher kaum ein Wort mit ihr gewechselt.

„Larissa?“, rief ich und lief ihr entgegen. Sie drehte sich zu mir herum und stolperte beinahe über den Rucksack der zwischen ihren Füßen stand. „Was machst du noch hier?“

„Meine Mama holt mich gleich ab. Sie hat sich bestimmt nur ein bisschen verspätet.“

„Sollen wir dich mitnehmen?“, fragte ich mit einem Blick zu meinem Vater, der sofort nickte und mit dem Kinn aufs Auto deutete.

„Nein, danke“, sie schüttelte freundlich lächelnd den Kopf und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Sie müsste gleich da sein.“

Ich blickte fragend zu meinem Papa, der ihrer Aussage scheinbar genauso wenig Glauben schenkte wie ich.

„Es ist wirklich kein Umweg. Du könntest deine Mama anrufen und ihr sagen, dass wir dich nach Hause bringen.“

Larissa antwortete nicht, doch ich ließ nicht locker. „Außerdem haben wir sowieso noch einen Platz frei, da wäre es doch unsinnig, Sprit zu verschwenden“, sagte ich zwinkernd und damit hatte ich sie endlich überzeugt.

„Also gut, aber nur wenn es wirklich keine Umstände macht.“

Sie stierte unsicher auf ihre Fußspitzen und ich hatte Mühe, ihre leise Stimme zu verstehen.

„Auf keinen Fall“, antwortete ich und griff nach ihrem Koffer. „Aber jetzt komm‘ endlich, hier draußen frieren einem ja die Finger ab.“

Tatsächlich hatte es seit Sonnenuntergang um einiges abgekühlt. Der Wind pfiff uns um die Ohren, und ich zog frierend die Schultern nach oben. Obwohl es erst Mitte Oktober war, fühlte es sich an, als hätten wir bereits Minusgrade, und ich fragte mich ernsthaft, wann es wohl zum ersten Mal schneien würde.

Zusammen hievten wir Larissas Gepäck in den Kofferraum, verstauten es zwischen meinem Koffer und meinem Rucksack und kletterten dann nebeneinander in den VW-Bus. Der Motor knatterte, und das Licht im Autoinnenraum erlosch. Ich lehnte meinen Kopf gegen das beschlagene, eiskalte Fenster und gähnte. Obwohl ich so müde war, dass ich auf der Stelle hätte einschlafen können, hielt mich das aufgedrehte Geschnatter und Gekicher meiner kleinen Geschwister wach. Ich seufzte, schloss die Augen und versuchte vergeblich, die Hintergrundgeräusche auszublenden. Das Auto holperte über die Landstraße zwischen Emden und Greetsiel. Wir waren das einzige Fahrzeug weit und breit, die einzigen Lichter in der Umgebung.

Manchmal stellte ich mir die Frage, wo ich wohl wohnen würde, hätten meine Eltern den alten Bauernhof an der Nordsee nicht gekauft. Hätte meine Mama die Stelle als Tierärztin nicht angenommen, wären wir vielleicht an das andere Ende von Deutschland gezogen? Hätte mein Papa dort ebenfalls eine eigene Schreinerei gehabt? Hätten wir dort unsere Tiere und das große Grundstück, auf dem sogar Oma und Opa ein eigenes Haus hatten? Oder säßen wir vielleicht zu sechst in einer Zweizimmerwohnung, dicht aufeinander, weil wir uns die hohe Miete für eine größere Immobilie nicht leisten konnten?

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, die Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Ich liebte Ostfriesland, liebte meine Freunde, die ich hier hatte und liebte den kleinen Fischerort, in dem wir wohnten. Ich konnte mir kein anderes, besseres Leben vorstellen als das, welches ich hier auf dem Bauernhof führte, den wir so mühevoll renoviert hatten. Bald würde auch der alte Stall fertig sein, an dem mein Vater zusammen mit seinem Papa in jeder freien Minute arbeitete. Im nächsten Sommer sollten aus dem alten Gebäude fünf Ferienwohnungen entstehen, die Eltern und ihren Kindern das Leben auf dem Bauernhof ein wenig näherbringen sollten. Anderen Menschen den Umgang mit und gegenüber Tieren beizubringen war seit vielen Jahren der Traum meiner Eltern und ich gönnte ihnen von ganzem Herzen, dass sie diesem Wusch schon so viel nähergekommen waren. Der Bauernhof am Rande Greetsiels war nun seit fast sechs Jahren unser Zuhause, doch es fühlte sich so an, als hätte ich in meinem Leben noch nie woanders gelebt.

DREI

Larissa saß auf der Rückbank des VW-Busses und schaute angespannt zur beschlagenen Scheibe hinaus. Mara lehnte auf der anderen Seite am Fenster und hatte die Augen geschlossen. Sie atmete in gleichmäßigen Zügen ein und aus und schien bereits friedlich zu schlafen.

Larissa zog ihr Handy aus der Hosentasche und drückte mit dem Zeigefinger auf den kleinen Knopf an der Seite. Das Display leuchtete auf und gab den Blick auf das Hintergrundbild frei. Es war Sommer, der Geburtstag ihrer Oma. Larissa und ihre Geschwister saßen zu dritt auf der blau-weiß gestreiften Hollywoodschaukel und grinsten fröhlich in die Kamera. In der Hand hielt jedes der Kinder einen Stock mit zwei gebräunten Marshmallows, die sie gerade über dem Grill geröstet hatten. Der Bildschirm wurde wieder schwarz und beim Gedanken an Leni und Luis, ihre beiden Geschwister, die vermutlich zu Hause schon sehnsüchtig auf ihre Rückkehr warteten, wurde ihr ganz warm ums Herz. Sie ließ den Bildschirm erneut aufleuchten und versicherte sich zum zehnten Mal, dass das Handy auch wirklich Empfang hatte. Sie hatte ihrer Mutter eine Nachricht geschrieben, dass sie von einer Klassenkameradin mitgenommen wurde und sie sich nicht die Mühe machen müsse, Larissa vom Bus abzuholen. Sie solle mit den anderen zu Hause bleiben und dort auf sie warten. Dennoch beschlich Larissa ein mulmiges Gefühl, da es normalerweise gar nicht die Art ihrer Mutter war, zu spät zu kommen. Angelika Behrend war üblicherweise immer die Erste und lieber eine halbe Stunde zu früh als zu spät am vereinbarten Treffpunkt.

Immer noch keine Nachricht. Larissa wurde langsam unruhig. Sie hatte fast eine ganze Stunde gewartet, bis Maras Familie sie aufgegabelt und mit nach Greetsiel genommen hatte. Mittlerweile fuhr das Auto bereits von der Schnellstraße ab, sie waren also fast zu Hause, doch ihre Mutter hatte sich noch immer nicht gemeldet. Larissas Telefon hatte vollen Empfang, und die beiden grauen Häkchen rechts neben der Nachricht verrieten ihr, dass sie bereits versandt und zugestellt worden war. Je weiter sie sich Greetsiel näherten, desto nervöser wurde das Mädchen. Sie nestelte nervös am Reißverschluss ihrer neuen Windjacke herum, während beide Beine unruhig auf und ab wippten.

Maras Papa schaute in den Rückspiegel und suchte Larissas Blickkontakt. Sie riss sich zusammen, versuchte soweit wie möglich normal zu wirken, und lächelte ihm freundlich zu.

„Sagst du mir, wo ich hinfahren muss?“

„Kapitänsring 24“, antwortete sie und leitete ihn bis ans Ende des kleinen Fischerortes. Das Haus der Familie Behrend stand ganz hinten, direkt an den angrenzenden Feldern. Schon Larissas Papa war hier groß geworden und mächtig stolz darauf, das Haus nach fast vierzig Jahren nun mit seiner eigenen Familie bewohnen zu können.

Jürgen Kleefeld hielt am Straßenrand und stellte den Motor ab. Mara zeigte immer noch keine Regung, sie schien wirklich tief und fest zu schlafen. Larissa stieg vorsichtig über sie hinweg, bei jeder Bewegung darauf bedacht, das Mädchen nicht zu wecken.

Draußen schlug ihr die kalte Meeresluft ins Gesicht und Larissa zog automatisch den Reißverschluss bis unters Kinn. Sie bedankte sich bei Maras Papa und versicherte ihm, dass sie den Weg bis zur Haustür alleine finden würde. Er gab nicht nach und bestand darauf, das Gepäck zumindest bis ans Gartentor zu tragen, wo sie ihn dann zum Glück doch überreden konnte, zurück ins Auto zu steigen. Larissa winkte ihnen nach, wartete bis der graue VW-Bus um die Ecke gebogen war und stand regungslos auf dem Kiesweg zwischen den Rhododendron-Büschen, bis das quietschende Gartentor hinter ihr ins Schloss fiel. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie, als sie mit schweren Schritten die Treppenstufen zur Haustür erklomm. Die Rollläden waren oben, die Vorhänge nicht zugezogen. Mittlerweile war es halb sieben und stockdunkel, doch im Haus brannte kein Licht. Larissa drückte auf den Klingelknopf und wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis sie es erneut versuchte. Nichts tat sich. Sie lief ein paar Schritte nach rechts, stellte sich auf Zehenspitzen und spähte durchs Fenster in die Küche hinein. Der Raum war dunkel, doch sie konnte trotzdem die benutzte Teetasse erkennen, die neben der aufgeschlagenen Zeitung auf dem Tisch stand.

Sie stieß sich von der Wand ab, lief wieder zurück zur Haustür und klopfte diesmal an die schwere Holztür. Obwohl sie keinerlei Hoffnung mehr hatte, redete sie sich ein, dass vielleicht nur die Klingel defekt war. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass die Elektronik in dem alten Haus versagte.

Gerade als Larissa das Telefon aus der Hosentasche holen wollte, wurde die Tür auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgerissen und Helga Berger stürzte heraus. Sie winkte das Mädchen fröhlich zu sich herüber und empfing sie mit einer warmen Umarmung.

„Larissa-Kind, wir haben uns solche Sorgen gemacht!“

Sie musterte das Mädchen von oben bis unten und schüttelte besorgt den Kopf. „Wo bist du nur so lange gewesen?“

Seit Larissa denken konnte gab es die nette Nachbarin, die mit ihrem Mann Walter und dem verschmusten Rauhaardackel Willy im Backsteinhaus gegenüber wohnte. Helga Berger war die Mutter von Papas bestem Freund, der mittlerweile jedoch mit seiner Frau in der Nähe von Mainz wohnte und nur noch selten zu Besuch kam. Seit sie in Rente war, passte sie öfter auf Larissas jüngere Geschwister auf, wenn beide Eltern arbeiteten und erst spät abends nach Hause kamen. Sie freute sich immer über Gesellschaft, backte den weltbesten Hefezopf und liebte es, die Nachbarskinder nach Strich und Faden zu verwöhnen.

„Wir kamen ein bisschen später an als gedacht.“ Sie löste sich sanft aus der festen Umarmung und blickte vom schlechten Gewissen geplagt zu Boden. „Ich hätte mich melden sollen.“

„Das hätte uns ein paar besorgte Stunden und einen verbrannten Apfelkuchen erspart.“

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, einen ernsten Tonfall zu halten, doch das verkniffene Lachen, das die Grübchen der älteren Dame noch stärker betonte, verriet eindeutig, dass sie viel mehr erleichtert als sauer war. „Aber du glaubst gar nicht, was sich alles mit ein paar Streuseln und einem guten Berg Sahne kaschieren lässt.“

Schmunzelnd fuhr sie durch Larissas lange dunkelbraune, fast schwarze Haare und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Ich nehme an, du hast nichts gegen ein gutes Stück Kuchen und einen heißen Kakao?“

Larissa schüttelte voller Vorfreude den Kopf. Sie stellte ihre Stiefel neben die breite hölzerne Garderobe und hängte den Mantel an einen der wenigen freien Kleiderhaken. Aus der Küche drang der Duft von Äpfeln und Zimt in ihre Nase, und sofort fühlte sie sich ein bisschen entspannter. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern im Krankenhaus mal wieder so viel zu tun, dass sie schlicht und einfach die Zeit vergessen hatten. Als OP-Ärzte kam es nicht selten vor, dass sie ein paar Überstunden einlegten, um sich um Notfallpatienten und längst überfällige Operationen zu kümmern. Die beiden waren jede Stunde, die sie im Krankenhaus verbrachten, mit Leib und Seele bei der Arbeit, und Larissa konnte ihnen nicht einmal verübeln, dass sie so wenig Zeit für ihre Kinder hatten.

Wenn sie selbst die Möglichkeit gehabt hätte, Menschenleben zu retten, dann hätte sie diese bestimmt auch ergriffen.

„Larissa!“

Leni saß mit weit ausgebreiteten Armen auf der Eckbank in der Küche und empfing ihre Schwester mit einer freudigen Umarmung. Vor ihr auf dem Tisch lagen ein Stapel Papier, drei tropfende Pinsel und ein bunt verschmierter Wasserfarbkasten. Larissa setzte sich neben sie auf die Bank und betrachtete interessiert die vielen Kunstwerke, die zum Trocknen auf der Fensterbank lagen.

„Das ist für dich!“

Leni drehte sich herum und zog ein noch nasses Blatt herunter, das sich aus physikalischen Gründen natürlich sofort nach unten bog. Die Farbe lief in bunten Strömen an Lenis Hose hinunter und hatte sich keine zwei Sekunden später bereits in die helle Jeans gesaugt.

„Ups“, war alles, was das Mädchen zu sagen hatte, als ihre Schwester ihr reflexartig das Papier entriss und sie so vor noch mehr Schäden bewahrte. Larissa brachte das Gemälde vorsichtshalber außer Reichweite der Fünfjährigen in Sicherheit und verdonnerte sie zum Händewaschen. Als die Schwestern das Gröbste entfernt hatten, setzten sie sich nebeneinander an den nun wieder sauberen Küchentisch und warteten zusammen auf den himmlisch duftenden Apfelkuchen, den Helga Berger versprochen hatte.

„Ich hatte eigentlich schon ein Stück“, sagte Leni und blickte verschwörerisch zu Frau Berger hinüber, die ihren Blick genauso erwiderte, als hätten die beiden in ihrer Abwesenheit einen geheimen Pakt geschlossen. „Aber weißt du was? Weil ich die Streusel verteilt habe und sogar die Sahne gehauen habe, darf ich noch eins haben!“

Sahne geschlagen, nicht gehauen, dachte Larissa schmunzelnd und beobachtete, wie ihre kleine Schwester mit leuchtenden Augen die Sahne vom Kuchen löffelte, anschließend die Streuselschicht abpulte und jeden Krümel einzeln genoss.

„Hallo, Erde an Larissa“, Leni hatte sich auf die Bank gekniet, weit nach vorne gelehnt und wedelte nun mit der Gabel vor Larissas Gesicht herum. „Willst du den nicht mehr?“

Sie zeigte auf den Kuchen, der immer noch vor ihr auf dem Tisch stand und dem mittlerweile schon die Spitze fehlte.

„Doch, den möchte ich noch“, antwortete Larissa und schob sich ein großes Stück Apfelkuchen in den Mund. „Außerdem hattest du heute schon mehr als genug.“

„Man redet nicht mit vollem Mund“, antwortete die Kleine frech und hüpfte mit einem Satz von der Eckbank.

„Recht hat sie trotzdem“, warf nun auch Frau Berger ein, die gerade die Spülmaschine mit dreckigem Geschirr belud. „Ich möchte ja nicht, dass deine Mama nachher mit mir schimpft, weil du mit schlimmen Bauchschmerzen im Bett liegst.“

„Aber ich verrate es ihr doch nicht“, versuchte es Leni erneut. Doch auch der gut geübte Dackelblick mit den großen haselnussbraunen Augen konnte heute nicht überzeugen. Schmollend zog sie sich in die Ecke zurück und betrachtete staunend die vielen Magnete aus aller Welt, die in einem bunten Durcheinander am Kühlschrank hafteten.

„Wann kommt Mama endlich und holt uns ab?“

„Leni, das ist nicht fair“, mischte sich Larissa ein, doch Frau Berger winkte grinsend ab. Sie wusste genau, dass die Kleine nur nach ihrer Mama fragte, weil sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte und nun Eine gegen die Andere ausspielen wollte.

„Ich bin mir sicher, dass sie bald Feierabend hat. Du weißt doch, dass Notfall-Operationen nicht einfach auf morgen früh verschoben werden können.“

„Bin ich kein Notfall?“

„Nein, zum Glück nicht.“

Frau Berger beugte sich zu Leni hinunter und strich ihr den widerspenstigen, vor einiger Zeit selbst geschnittenen Pony aus dem Gesicht. Sie fixierte ihn mit einer pinkfarbenen Haarspange, die lose an einer Haarsträhne baumelte und strich ihr dann liebevoll über den Kopf. „Aber du bist ihre Tochter und deshalb bin ich mir ganz sicher, dass sie alles dafür gibt, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.“

„Bist du dir da ganz sicher?“

„Ganz sicher. Indianerehrenwort.“

Leni nickte zufrieden und setzte sich wieder neben ihre Schwester auf die Bank.

„Ich glaube, wir sollten uns auch langsam auf den Weg machen und zu Hause auf Mama und Papa warten. Es ist schon fast acht, ihr solltet eigentlich gerade auf dem Weg ins Bett sein.“

Leni maulte nur kurz, als sie von Larissa sanft aus der Küche geschoben wurde, gab dann aber nach und bot sogar an, ihren Bruder aus dem Keller zu holen. Seit etwa drei Wochen nutzten er und Helgas Mann Walter jede freie Minute, die sie zusammen verbrachten, um die alte Märklin-Eisenbahn und das gesamte zugehörige Modelldorf auf Vordermann zu bringen.

„Luis!“, rief Leni und rannte dann die Kellertreppe hinunter.

„Vorsicht!“, rief Frau Berger, doch Leni war schon außer Hörweite. Sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und schüttelte den Kopf. „Irgendwann bricht sich dieser kleine Wirbelwind noch alle Knochen.“

„Solange ich sie heute heil ins Bett bekomme…“

Larissa lachte und nahm ihre Windjacke vom Kleiderhaken. „Ich befürchte, der Zuckerschock reicht noch bis morgen Abend.“

Sie schulterte ihren Rucksack und beugte sich dann leicht genervt über das Geländer der Kellertreppe. „Leni, Luis? Wo bleibt ihr?“ Wir wollen heute noch zu Hause ankommen!“

Ungeduldig lief sie zur Tür und wartete darauf, dass sich der Junge endlich von der Eisenbahn trennte. Eine gefühlte halbe Stunde später standen sie tatsächlich draußen in der Kälte und verabschiedeten sich von Helga und Walter.

„Danke, dass ihr auf Leni und Luis aufgepasst habt.“

„Aufgepasst? Nein, die beiden leisten uns doch nur Gesellschaft, nicht wahr?“

Luis nickte und erzählte voller Stolz von der Eisenbahnbrücke, die er heute fast ganz alleine aufgebaut hatte.

„Ach ja, und danke für den Kuchen!“

Larissa drehte sich noch einmal um, als ihr Blick auf den mit Alufolie bedeckten Teller fiel, den sie hoch konzentriert auf der rechten Handfläche balancierte.

„Vergiss nicht, kurz aufgewärmt schmeckt er am besten.“

„Das weiß ich doch“, antwortete Larissa mit einem Zwinkern, bevor sie sich erneut verabschiedete. Der Kies unter ihren Füßen knirschte, als sie den schmalen Weg entlangliefen, der sich zwischen den gepflegten Beeten hindurchschlängelte. Jedes Mal, wenn der Koffer wieder an einem kleinen Steinchen hängen blieb und umzufallen drohte, fluchte sie leise, erntete dafür einen vernichtenden Blick ihrer fünfjährigen Schwester und entschuldigte sich sofort für die bösen Wörter, die im Hause Behrend strengstens verboten waren.

Als sie es endlich geschafft hatte, mitsamt Gepäck auf der gegenüberliegenden Straßenseite anzukommen, wartete Luis bereits ungeduldig an der Haustür auf seine beiden Schwestern.

„Da seid ihr ja endlich, ihr lahmen Enten! Ich warte schon seit Stunden und erfriere fast.“

Gespielt empört verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Du kannst mir jetzt entweder den Kuchen abnehmen oder die Tür aufschließen.“

Luis überlegte.

„Obwohl, nimm lieber den Schlüssel. Es wäre schade um den schönen Kuchen“, fügte Larissa schnell hinzu und stellte sich seitwärts hin, sodass Luis den Schlüssel einfach aus ihrer Jackentasche ziehen konnte.

„Der Große“, sagte sie, als sich der Junge bemüht, aber erfolglos an der Haustür zu schaffen machte.

„Weiß ich doch“, entgegnete er schnippisch, während er gewaltsam den Schlüssel ins Schlüsselloch drückte.

„Wenn du ihn jetzt abbrichst, dann können wir hier draußen in der Kälte warten bis Mama und Papa nach Hause kommen.“

Larissa seufzte entnervt und drückte ihrer Schwester, die ungewohnter Weise bisher nur stumm die Diskussion mitverfolgt hatte, den schweren Porzellanteller in die Hand.

„Lass mich mal.“

Luis machte nur widerwillig Platz, sah dann aber auch ein, dass seine Schwester wohl geübter im Türöffnen war, er es aber trotzdem noch einmal versuchen wollte, wenn es draußen wärmer und vor allem heller war.

„Hereinspaziert.“

Larissa öffnete die Tür, drückte mit der freien Hand auf den Lichtschalter und stellte ihr Gepäck im Flur neben der Kommode ab. Durchs Haus ging ein kalter Zug, doch entgegen ihrer Erwartung waren alle Fenster fest verschlossen. Sie drehte die Heizung auf und lief zurück in den Flur, um ihrer Schwester zu helfen, die immer noch mit dem Reißverschluss ihrer Stiefel kämpfte.

„Ich hab‘ Hunger!“

Luis tigerte ungeduldig durch die Küche und öffnete eine Schublade nach der anderen.

„Ist kein Brot mehr da?“

Larissa warf einen Blick in den Brotkasten, schloss ihn aber bei dem Anblick des verschimmelten Endstücks sofort wieder und holte stattdessen zwei Scheiben Toastbrot aus der Tüte direkt neben dem Toaster.

„Da ist man einmal eine Woche auf Klassenfahrt und ihr lebt hier von Pizza und Burger?“

Kopfschüttelnd hob sie den Pizzakarton vom Boden auf und drückte ihn in den ohnehin schon überfüllten Mülleimer. Ihre Eltern hatten viel zu tun, das wusste sie. Sie kamen spät am Abend von der Arbeit zurück und hatten kaum Zeit um einkaufen zu gehen, geschweige denn frisch zu kochen. Trotzdem war sie es leid, jeden zweiten Tag nach der Schule noch zum Supermarkt zu rennen, anschließend die Geschwister von Kindergarten und Hort abzuholen und zu Hause auf sie aufzupassen. Ihre Eltern wussten es zu würdigen, doch half ihr das auch nicht weiter, wenn dafür die Schule auf der Strecke blieb. Larissa war zwar keine schlechte Schülerin, aber für gute Noten musste sie sich dennoch anstrengen und jeden Tag ein bis zwei Stunden hinter den Schreibtisch klemmen.

„Der Toast ist fertig!“

Luis stellte sich auf Zehenspitzen und versuchte angestrengt, sein Abendessen zu erreichen.

„Vorsicht!“, rief Larissa und zog ihren Bruder gerade noch rechtzeitig von der Anrichte weg, bevor er sich die Finger am heißen Toaster verbrannte. Sie legte die beiden Brotscheiben auf einen Teller und suchte im Kühlschrank nach etwas, das sich als Belag eignete und weder vertrocknet noch abgelaufen war.

„Kann ich bitte Käse haben?“,

Luis lehnte seinen Kopf gegen ihre Schulter.

„Salami hätte ich im Angebot.“

„Och nö, nicht schon wieder…“

„Ist Marmelade auch okay?“

Er nickte begeistert – süße Aufstriche gab es normalerweise nur zum Frühstück – und hielt ihr den Teller mit den Broten entgegen.

„Kannst du mir bitte ein Messer aus der Schublade geben?“, fragte sie, während sie mit aller Kraft versuchte, das klebrige Marmeladenglas aufzubekommen.

„Soll ich mal?“

Luis hielt ihr die Handfläche entgegen, doch da hatte es schon geknackt und der Deckel ließ sich endlich bewegen.

Sie stellte das fertige Essen auf den Tisch und erkundigte sich nach ihrer Schwester, die jedoch noch satt von den zwei Stücken Apfelkuchen am Nachmittag war und daher vorerst auf das Abendessen verzichtete.

„Du kannst schon mal ins Bad gehen und Zähne putzen.“

„Aber-“

„Nichts aber“, fiel ihr Larissa ins Wort und schickte sie mit einer unmissverständlichen Geste ein Stockwerk höher. Leni warf ihr einen vernichtenden Blick zu, packte ihre Puppe Anna an der Schulter und zog sie unsanft hinter sich her. Sie gab sich Mühe, die Treppe so laut wie möglich hoch zu poltern und schlug mit einem unüberhörbaren Knall die Badezimmertür zu.

„Rums…“, murmelte Larissa, verdrehte die Augen und setzte sich neben ihren Bruder auf die Eckbank. „Stellst du bitte das Geschirr auf die Spüle, wenn du fertig bist? Ich schau‘ mal nach deiner Schwester.“

Er nickte kauend, während er die angebissene Toastscheibe auf dem Teller ablegte.

„Danach kannst du auch nach oben kommen und Zähne putzen, einverstanden?“

Wieder nickte er und wischte mit dem Handrücken über seinen Marmeladenbart. Larissa drückte sich von der Bank hoch und machte sich auf den Weg nach oben. Schon von Weitem hörte sie Lenis aufgebrachte Stimme, die anscheinend gerade mit ihrer Puppe über ihre große Schwester herzog.

„Darf ich reinkommen?“, fragte Larissa vorsichtig, als sie nach dreifachem Klopfen immer noch keine Antwort bekam.

„Leni?“

Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und musste sich ein Lachen verkneifen, als sie die Kleine mit zusammengezogenen Augenbrauen und einer bösen Grimasse auf dem Waschbecken sitzend vorfand.

„Kommst du, damit du dich entschuldigen kannst?“

„Eigentlich komme ich, um dir beim Zähneputzen zu helfen.“

„Dann kannst du wieder gehen. Das kann ich nämlich schon alleine.“

Sie würdigte sie keines Blickes und fummelte konzentriert an den geflochtenen Zöpfen ihrer Puppe herum.

„Das weiß ich doch.“

Larissa trat näher an sie heran und hob sie sanft vom Waschbecken herunter. Als sie sich hinkniete, um auf gleicher Augenhöhe zu sein, sah sie, dass ein paar Tränchen an Lenis Wangen hinunterliefen.

„Leni, was ist denn los?“, fragte Larissa erschrocken, da sich das kleine vorlaute Mädchen normalerweise nicht so schnell aus der Fassung bringen ließ.

„Mama hat uns vergessen“, stellte sie trocken fest und stierte immer noch auf ihre Füße, die in zwei verschiedenen Socken steckten.

„Wie meinst du das?“

„Sie hat vergessen uns abzuholen.“

„Bei den Bergers?“

Leni nickte.

„Aber du weißt doch, dass Mama und Papa viel zu tun haben und deshalb erst spät nach Hause kommen. Sie würden uns niemals vergessen! Sag mir bitte, dass du das weißt.“

Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Augenwinkel und antwortete nicht.

„Leni, bitte! Das kann doch nicht dein Ernst sein.“

Larissa wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Stattdessen nahm sie die Kleine fest in den Arm und strich ihr sanft über den Rücken.

„Mama arbeitet nicht.“

„Natürlich arbeitet sie, das weißt du genau.“

Leni schüttelte den Kopf.

„Mama schläft.“

„Was hast du gesagt?

Sie schwieg.

„Leni, was hast du gesagt?“

Larissa drückte sie ein Stück weit von sich weg, sodass sie ihr in die Augen sehen konnte.

„Ich wollte nur die Uhrzeit sehen.“

Sofort dachte Larissa an den Wecker im Elternschlafzimmer. Er projizierte die Ziffern an die Wand und das faszinierte das kleine Mädchen.

„Mama schläft schon.“

Larissa konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihre Schwester damit meinte. Für sie ergab das alles keinen Sinn.

Verwirrt stand sie auf und verließ wie fremdgesteuert das Badezimmer. Der Flur kam ihr endlos lang vor. Sie lief vorbei an der Treppe, stieg automatisch über den Arztkoffer und das Stethoskop, Geschenke zu Lenis letztem Geburtstag, und trat aus Versehen auf eine der vielen Mullbinden, die überall auf dem Boden verstreut lagen. Ihre Mutter hasste Unordnung; man merkte, dass sie in den letzten Tagen kaum Zeit zuhause verbracht hatte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie das Elternschlafzimmer. Larissa legte eine Hand auf die Klinke und zitterte, als ihre Fingerspitzen das kühle Metall berührten. Die Tür knarzte und gab langsam den Blick auf das Bett frei. Die grau melierte Tagesdecke lag wie immer glatt gestrichen auf der Matratze, die Kissen aufgeschüttelt nebeneinander am Kopfende platziert. Larissa trat einen Schritt näher ans Bett heran und erschrak. Reflexartig bewegte sie sich ein paar Meter zurück. Sie taumelte, stolperte und bekam gerade noch die Türklinke zu fassen. Ihr Kopf dröhnte und die Welt vor ihren Augen fing an sich zu drehen. Larissa umklammerte die Klinke mit beiden Händen und starrte wie in Trance auf das Bett. Sie wusste es. Wieso hatte sie es geahnt? Woher war die schreckliche Vorahnung gekommen? Sie hatte versucht, sie zu verdrängen, und es war ihr gelungen. Bis jetzt. Der Boden unter ihren Füßen begann zu schwanken. Larissas Atem wurde schnell und schwer. Sie keuchte. Eine Welle von wilden Zuckungen durchfuhr ihren Körper, bis sie auf einmal in ein tiefes Loch fiel, in sich zusammensackte und am Boden nach Halt suchte.

VIER

Larissa zitterte am ganzen Körper. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Sie hatte es geahnt und trotzdem verdrängt. Wie konnte sie nur so dumm sein?

Sie dachte an ihre kleine Schwester. Hatte sie die Mutter wirklich schlafend gesehen? Oder hatte auch sie sich die Realität so zurechtgelegt, wie sie es am liebsten gehabt hätte.

Durch die Nase einatmen und durch den Mund ausatmen, das hatte sie in einem freiwilligen Yogakurs in der zehnten Klasse gelernt, als die Schule an einem landesweiten Wettbewerb zur Entspannung der Schüler und Abwechslung im Schulalltag teilgenommen hatte. Damals hatte sie sich zwischen Wassergymnastik und Yoga entscheiden können, und da ihr Wasser noch nie wirklich geheuer gewesen war, war nur noch die völlig überfüllte Alternative übriggeblieben.

Ein, aus, ein, aus… wenigstens einmal im Leben kam ihr eine der unzähligen Atemtechniken zu Gute. Sie merkte, wie sich ihr Herzschlag langsam beruhigte und die Atmung dadurch automatisch wieder normale Züge annahm. Larissa schaute auf, wandte den Blick aber sofort wieder dem hellen Laminatboden zu. Sie konnte den Anblick einfach nicht ertragen. Dennoch stand sie auf und tastete sich blind vorwärts. Sie erkannte den Schrank und hangelte sich an der Kommode entlang in Richtung Fenster. Beinahe wäre sie über einen Stapel Klatsch-und-Tratsch-Magazine gestolpert, die achtlos auf dem Boden vor dem Nachttischschränkchen verteilt lagen. Larissa zählte in Gedanken von eins aufwärts. Die Augen öffnete sie jedoch erst, als sie schon bei weit über fünfzig war.

„Mama?“

Ihre Stimme klang so weit, weit entfernt.

„Mama, ich bin‘s.“

Larissa kniete sich nieder und fuhr behutsam mit der Hand über den Arm ihrer Mutter. Sie zuckte augenblicklich zurück, als ihre Finger die kalte Haut berührten.

„Mama, mach dir keine Sorgen. Wir sind jetzt da. Ich hole Hilfe.“

Eine Träne tropfte neben ihrem Daumen auf den Bauch der Mutter.

„Ich hole Papa, okay? Halte durch.“

Sie hielt einen Moment inne und suchte den Körper nach irgendeinem Lebenszeichen ab.

„Bitte“, flüsterte sie flehend und schluckte tapfer die Tränen hinunter. In Zeitlupe zog sie das Handy aus der Hosentasche, den Blick immer auf ihre Mutter gerichtet, aus Angst, sie könnte irgendeine noch so kleine Bewegung verpassen. Das Display leuchtete hell auf, und der Anblick der drei fröhlich lachenden Kinder verursachte einen Knoten in ihrem Magen. Am liebsten wäre Larissa aufgesprungen, aus dem Zimmer gerannt und bis zum Ende dieses Albtraums unter ihrer Bettdecke verschwunden. Sie schluckte, denn das hier war kein Traum. Die kalte weiße Haut, die leeren Augen, der halb geöffnete Mund…

Tot, dachte Larissa und verbannte den Gedanken sofort wieder aus ihrem Kopf.

Tot, drei blutrote Buchstaben tanzten auf weißem Hintergrund vor ihrem inneren Auge hin und her.

„Tot“, murmelte sie und schrie. Sie schrie und schrie, bis ihre Lippen taub wurden und ihre Stimmbänder vor Erschöpfung keinen einzigen Ton mehr erzeugten.

***

Es war Freitagabend, 20.47 Uhr. Nils saß auf seinem Schreibtischstuhl und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er lehnte sich zurück und beobachtete gespannt, wie sein ehemaliger Kollege Ludwig Beyer einen Umzugskarton nach dem anderen nach draußen ins Auto brachte.

„Mein Angebot steht immer noch.“

Nils nahm einen Schluck Wasser und verkniff sich das Lachen, als Beyer mit einer riesengroßen Kiste gegen den Türrahmen stieß.

„Nein danke, das schaffe ich schon alleine“, gab dieser zwischen Ächzen und Schimpfen zurück und fuhr sich mit der rechten Hand schnaufend über die Stirn. Die Kiste kam gefährlich ins Wanken, Beyer ebenso und beinahe wären sie zusammen, mitsamt Inhalt, umgekippt.

„Puh“, Beyer atmete erleichtert aus und drehte sich noch einmal zu seinem ehemaligen Partner um. „Den Rest hole ich morgen. Ulli wartet sicher schon mit dem Abendessen auf mich.“

Nils lachte und nickte in Richtung Tür.

„Na dann aber schnell, Frauen lässt man bekanntlich nicht warten.“

„Das gilt auch für dich, mein Freund.“

Ludwig Beyer warf ihm einen vielsagenden Blick zu, schlängelte sich am Schreibtisch vorbei und machte sich auf den Weg nach draußen. Nils konnte durchs Fenster sehen, wie er den schweren Karton in den Kofferraum hievte und sich anschließend die schmerzenden Hände rieb.

Mehr als vierzig Jahre war er Mitglied der Emdener Mordkommission gewesen. Seinen Renteneintritt hatte er bis zum letzten Tag hinausgezögert und gehofft, bis an sein Lebensende dort arbeiten zu dürfen. Ludwig Beyer hatte für seinen Job gelebt, und seiner Aussage nach machte ein Leben außerhalb der Polizeiwache nur noch halb so viel Spaß. Nils glaubte ihm aufs Wort, obwohl er sich an den meisten Morgen nichts sehnlicher wünschte, als zu Hause zu bleiben und sein warmes Bett nie wieder zu verlassen. Er selbst hatte die Ausbildung vor noch nicht allzu langer Zeit beendet und letztes Jahr seinen ersten eigenen Fall geleitet. Dass Ludwig dabei eine entscheidende Hilfe gewesen war, war keine Frage. Er hatte all seine Fragen seelenruhig beantwortet und selbst die unnötigsten Zweifel ernst genommen. Beyer hatte ihn miteinbezogen und ihm jedes Mal aufs Neue die Angst vor Verantwortung im Beruf genommen. Auf einmal war Nils nicht mehr der kaffeeholende Neuling gewesen, sondern ein Teil der Mordkommission. Dass er das zum größten Teil dem nun pensionierten Beyer verdankte, wusste er sehr zu schätzen.

Nils drehte seinen Schreibtischstuhl herum und betrachtete die nun kahle Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Büros. Der sonst so unordentliche Arbeitsplatz war wie leergefegt und alles wirkte trostlos und irgendwie falsch. Gedankenverloren drückte er auf seinem Kugelschreiber herum, das gleichmäßige Klicken beruhigte ihn. Gleichzeitig fragte er sich, wer wohl Beyers Nachfolger werden und vor allem, ob dieser ins Team passen würde. Der „Neue“, dessen Namen sich Nils nicht hatte merken können, sollte nächste Woche von Norden nach Emden versetzt werden und laut Anweisung von oben sofort eingearbeitet und miteinbezogen werden. Bei der erschreckend schnell steigenden Kriminalitätsrate in den letzten Wochen konnten sie sich keinen Personalmangel erlauben und waren deshalb dankbar um jede Hilfe.

„Johansen?“

Arne Lassen streckte seinen Kopf zur Tür herein. Nils fuhr erschrocken herum und blickte in die grünen Augen seines ebenfalls noch jungen Kollegen. Die dunklen, etwas längeren Haare umspielten locker seine markante Gesichtsform und brachten die glühenden Wangen noch mehr zum Ausdruck.

„Wir brauchen dich, schnell!“

„Was ist passiert?“

Nils zog verwundert die Augenbrauen zusammen.

„Keine Zeit. Das erkläre ich dir auf dem Weg.“

Er ließ die Tür offen stehen und war so schnell verschwunden wie er aufgetaucht war. In Rekordzeit schnappte Nils seine Jacke vom Kleiderhaken, steckte den Dienstausweis in die Brusttasche und stellte resigniert fest, dass sich der Feierabend mal wieder um ein paar Stunden nach hinten verschob. Er zog die Tür hinter sich zu und spurtete über den langen Gang in Richtung Empfangshalle. Am Ein- und Ausgang nickte er der Dame am Informationstresen freundlich zu und verschwand dann nach draußen. Kalter Nordseewind schlug ihm ins Gesicht und er beeilte sich, neben seinen Kollegen in das schön vorgewärmte Auto zu steigen – Standheizung sei Dank. Kaum hatte er die Beifahrertür zugeschlagen, gab Lassen Vollgas und raste die ungewöhnlich verlassene Straße hinunter.

„Kapitänsring 24 in Greetsiel. Kannst du das bitte eingeben?“

Arne Lassen deutete mit dem Kinn aufs Navigationsgerät, ohne dabei den Blick von der Straße zu nehmen. „Meinst du, du schaffst das ohne meine Hilfe?“, fügte er mit einem belustigten Grinsen hinzu und erntete dafür keine zwei Sekunden später einen Hieb gegen den Oberarm. Nils‘ komplizierte Beziehung gegenüber technischen Geräten war kein Geheimnis mehr und hatte auf der gesamten Polizeistation schnell die Runde gemacht. Nicht selten kam es vor, dass ihn irgendein Spaßvogel damit aufzog. Mittlerweile hatte er sich jedoch ein dickes Fell zugelegt und quittierte solche Einwände nur noch mit Augenrollen oder einer Geste, wie er es bei Kollege Lassen getan hatte. Immerhin kam er seit kurzem mit seinem neuen Smartphone zurecht, das ihm seine Verlobte zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Monatelang hatte er sich dagegen gewehrt und ihr erfolgreich immer wieder neue Argumente aufgetischt, warum er in seinem Leben auch mit einem alten Nokia Handy zurechtkam. Dass er auch im Dienst besser mit einem Smartphone gestellt war, hatte er ihr allerdings verschwiegen; aber wahrscheinlich war das letzten Endes doch der ausschlaggebende Punkt, warum er das neue Telefon überhaupt in die Hand genommen und sich mühevoll mit der komplizierten Bedienungsanleitung auseinandergesetzt hatte.

„Erzählst du mir im Gegenzug dann endlich, warum ich gerade aufopferungsvoll auf meinen wohlverdienten Feierabend verzichte?“

„Du barmherziger Samariter hättest einen Orden verdient, der deinen Wohltaten gerecht wird“, gab Lassen lachend zurück und setzte den Blinker.

Mit dieser Antwort war Nils alles andere als zufrieden, die Adresse gab er trotzdem brav ins Navi ein.

„Die Route wird berechnet“, ertönte eine monotone weibliche Computerstimme aus dem Lautsprecher neben dem Display in der Mitte des Armaturenbretts.

„Also?“

Nils schaute seinen Kollegen auffordernd an, damit dieser endlich mit der Sprache rausrückte.

„Eine Leiche in einem Einfamilienhaus. Die Tochter hat ihre Mutter leblos aufgefunden und anschließend die Polizei verständigt“, sagte er und machte eine kurze Pause. Vermutlich dachte er gerade, genau wie Nils, darüber nach, wie schrecklich dieses Ereignis für das Mädchen gewesen sein muss. Die eigene Mutter tot aufzufinden…

„Art und Zeitpunkt des Todes stehen noch nicht fest. Genauere Ergebnisse werden wir erst nach der Obduktion erhalten.“

Aber sie gehen von einem Mord aus, dachte Nils, sprach seinen Gedanken aber nicht laut aus. Sonst hätten sie nicht die Mordkommission dazu gerufen.

Er war noch ganz am Anfang seiner Berufslaufbahn und fragte sich immer noch, ob er sich wohl jemals an den Anblick eines Toten gewöhnen würde. Doch das war nicht das Einzige, das ihn bis in seine Träume verfolgte; die Nachricht zu überbringen und hilflos zuschauen zu müssen, wie die Angehörigen zusammenbrachen, die Fassung verloren oder sogar wild um sich schlugen war ein weiterer Teil, auf den er getrost verzichten könnte.

„Die Kollegen aus Norden sind auch schon vor Ort. Im Moment warten sie aber noch auf die Spusi und den Rettungswagen.“

Nils nickte geistesabwesend und versuchte sich vorab schon einmal auf die Situation vorzubereiten, indem er sich mögliche Szenarien vorstellte, die ihn vor Ort erwarten könnten. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, da keiner der beiden ein Gesprächsthema fand, das der Situation angemessen erschien.

„An der nächsten Kreuzung links abbiegen“, meldete sich die Stimme aus dem Navigationsgerät. Lassen folgte ihren Anweisungen und bog in den schmalen Weg ein, der nach Greetsiel führte. Die Silhouetten der Zwillingsmühlen begrüßten jeden Besucher, der den Ortseingang passierte. „Wenn möglich, bitte wenden.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst.“

Arne warf dem Gerät einen vernichtenden Blick zu, fuhr letztendlich doch rechts ran und gab die Route erneut ein.

„Fünfhundert Meter der Straße folgen.“

„Na siehst du, geht doch.“

Triumphierend startete er den Motor ein weiteres Mal und begab sich wieder auf den Weg in Richtung Ortskern. Der Kapitänsring lag etwas außerhalb, direkt am Feldrand, angrenzend an eine eingezäunte Weide, auf der tagsüber vermutlich Pferde oder Kühe grasten. Arne parkte den Wagen auf der eingezeichneten Fläche vor dem urigen Backsteinhaus, das auf Nils sofort einen gemütlichen und einladenden Eindruck machte. Einzig und allein der Rettungswagen, der quer auf der Straße stand und dessen Blaulicht die gesamte Nachbarschaft in kühles Licht hüllte, zerstörte das idyllische Bild.

„Auf geht’s“, Lassen stellte den Motor ab und klapperte auffordernd mit dem Schlüsselbund. Nils schlug die Autotür hinter sich zu und lief neben seinem Kollegen die Treppenstufen zum Eingang hinauf. Die Haustür stand offen, und im Innern herrschte wildes Durcheinander.

„Ah, dann wären wir ja endlich komplett.“

Heiko Kaiser begrüßte die beiden mit einem freundlichen Nicken. „Ich würde euch ja gerne die Hand geben, aber…“, er hob einen Klarsichtbeutel in die Höhe und hob entschuldigend die Schultern. An seinen Händen trug er cremefarbene Gummihandschuhe, und er selbst steckte in einem unförmigen, weißen Ganzkörperanzug. Auf dem Kopf trug Heiko Kaiser eine Haube, die den Tatort vor fremder DNA schützen und die Ermittler vor unnötigen Spuren bewahren sollte und eher an eine Metzgerhaube als an einen Teil der Spurensicherungsuniform erinnerte.

„Kommt ihr gut vorwärts?“

Nils lehnte sich über das rot-weiße Absperrband und schaute sich neugierig im Raum um.

„DNA- Spuren gibt es genug“, antwortete Kaiser und warf einen Blick in den Beutel, den er in der Hand hielt. „Ob es die richtigen sind, steht leider noch in den Sternen.“

Er nickte und schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass sie wenigstens einen winzig kleinen Anhaltspunkt fanden, der auf die Art des Todes oder auf die Identität des Täters hinwies.

„Moin“, die beiden Rettungssanitäter, die soeben eine abgedeckte Bahre die Treppe hinuntertrugen, grüßten freundlich und schlängelten sich durch den engen Flur. Ein Dritter stand am Eingang, hielt die Tür geöffnet und dirigierte seine beiden Kollegen in Richtung Ausgang. Lassen ging einen Schritt zur Seite und machte Nils mit einer stummen Geste deutlich, dass er sich mit ihm zusammen gerne einmal im Obergeschoss umsehen würde.

Der Flur in der ersten Etage des Einfamilienhauses war groß und geräumig, ganz im Gegenteil zum Eingangsbereich im Untergeschoss. Bis auf einen Raum waren alle Türen geschlossen, und Nils musste lediglich seiner Intuition folgen, um den Ort des Geschehens zu finden. Auf den ersten Blick deutete nichts auf einen Mord hin. Die Decke des Doppelbettes lag ordentlich auf der Matratze und selbst die Kissen waren fein säuberlich drapiert und aufgeschüttelt worden. Das ganze Zimmer machte den Eindruck, als wäre es direkt aus einem Möbelkatalog entsprungen. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Ehepaar nächtigte. Der Spiegel an der Tür des riesengroßen Kleiderschrankes war blitzblank geputzt und wies sogar bei näherem Hinsehen nicht einen einzigen Fingerabdruck auf. Es gab keinen Stuhl, auf dem sich benutzte Klamotten oder ein Wäscheberg häufte. Selbst die Utensilien auf dem weißen Schminktisch waren in Reih und Glied aufgestellt worden, und Nils war sich nicht sicher, ob die Hälfte aller Flacons der Parfümsammlung auf der Kommode überhaupt schon angebrochen war.

„Ich habe in meiner Laufbahn schon einiges gesehen, aber so ein ordentliches Zimmer kenne ich normalerweise nur aus Einrichtungshäusern oder Werbespots“, brachte Arne Lassen Nils‘ Gedanken auf den Punkt. Er kniete sich nieder und warf neugierig einen Blick unters Bett. Triumphierend streckte er den Arm in die Höhe und zeigte Nils zufrieden, was er darunter entdeckt hatte.

„Ich wusste es“, sagte er und schnippte den Staubfussel durch den Raum. „Niemand ist perfekt.“

„Meinst du, es war Mord?“, fragte Nils ohne auf den Fund seines Kollegen einzugehen. Arne zuckte mit den Schultern und betrachtete interessiert das Bild, das auf dem Nachttisch des Opfers stand.

„Dazu wissen wir zu wenig. Ich meine, schau dir mal das Zimmer an. Kein Blut, keine Unordnung… nichts, das auf eine Auseinandersetzung hindeutet. Wäre ich Opfer, würde ich zumindest versuchen, mich zu wehren.“

„Tödliche Tropfen hinterlassen keine Spuren“, sagte Nils, ohne zu merken, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte.

„Also gehst du von Mord aus?“

„Nicht unbedingt.“

Er schüttelte den Kopf und winkte ab. „Das war nur so ein Gefühl.“

„Gefühl, Gefühl…“, murmelte Lassen und warf neugierig einen Blick hinter den Vorhang. Nils hatte keine Ahnung, nach was er dort suchte. „Sag das ja nicht Hartmann. Der macht dich sofort einen Kopf kürzer, wenn du ihm mit Gefühl und Intuition kommst.“

Wolfgang Hartmann war seit vielen Jahren der Chef der Emdener Mordkommission K11. Seine Beliebtheit bewegte sich ganz am unteren Ende der Skala und wenn er nicht aus Wut oder ungezügelter Aggression einen Bleistift nach dem anderen zerbrach, regte er sich gerne über zu kalten Kaffee oder die Unfähigkeit seiner Abteilung auf.

„Das weiß ich doch, es war ja nur so ein Gedanke.“

„Gedanken sind wichtig, mein Lieber, du solltest sie anfangs nur für dich behalten, wenn du nicht unseriös wirken willst“, sagte Lassen zwinkernd und wandte sich direkt wieder ab. Nils‘ kleinlaute Antwort bekam er schon nicht mehr mit, da ein eingerahmtes Bild auf dem Nachttisch neben dem Fundort der Leiche seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Nils trat einen Schritt näher heran und betrachtete die eingerahmte Fotografie, die vermutlich die Tote mit ihrer Familie zeigte. Der Mann und die Frau saßen Händchen haltend auf einer Holzkiste, dahinter ein schneeweißes Leintuch, das die einheitlichen schwarzen T-Shirts der Familienmitglieder noch stärker zu Geltung brachte. Auf der rechten Seite des Mannes saß ein Mädchen, das fröhlich in die Kamera lächelte und die Hand des kleinen Jungen hielt, der auf dem Schoß des Vaters saß und eine Grimasse zog. Direkt daneben, in den Armen der Mutter, lag ein Neugeborenes, das die Augen geschlossen und von dem ganzen Trubel vermutlich wenig mitbekommen hatte. Ein Fotografenbild, tippte Nils aufgrund der Professionalität, mit der Blickwinkel und Kulisse ausgewählt wurden. Auch die Qualität des Fotos und das kleine verschnörkelte Logo in der unteren Ecke deuteten darauf hin. Nils wusste nicht warum, aber die Familie war ihm auf Anhieb sympathisch.

„Das ist sie, oder?“, fragte er und stellte den Bilderrahmen zurück auf seinen ursprünglichen Platz.

„Ja, eindeutig.“

Nils wollte gerade zu einer weiteren Frage ansetzen, als er Schritte und ein Räuspern auf dem Flur vernahm. Er drehte sich um und sah einen der Rettungssanitäter im Türrahmen stehen.

„Das Opfer ist auf dem Weg zum Gerichtsmediziner“, teilte er ihnen mit und machte bereits Anstalten, wieder gehen zu wollen.

„Ist die Melderin vernehmungsfähig?“, fragte Arne, bevor der Mann ins Untergeschoss verschwinden konnte.

„Sie steht unter Schock-“

„Verständlicherweise“, warf Lassen ein, ohne ihn aussprechen zu lassen. Doch der Sanitäter ließ sich davon nicht beirren.

„Uns konnte sie nicht viel sagen, aber vielleicht schaffen Sie es ja, etwas mehr aus dem Mädchen herauszubekommen. Inzwischen sind auch die Nachbarn da und kümmern sich um die Kinder.“

„Vielen Dank.“

„Nicht dafür.“

Der Mann verabschiedete sich mit einem festen Händedruck und machte sich dann auf den Weg nach unten. Als Nils und sein Kollege nach einer kurzen Besprechung ebenfalls im Erdgeschoss ankamen, verschwand der Rettungswagen gerade hinter der nächsten Ecke.

Das Wohnzimmer war dafür, dass hier drei Kinder wohnten, ebenfalls sehr sauber, machte aber immerhin einen bewohnteren Eindruck als das Schlafzimmer der Eltern. Eine dunkelbraune Ledercouch stand in der Ecke neben einem großen Kamin, der der blitzblanken Scheibe nach zu urteilen noch nicht oft in Gebrauch gewesen sein konnte. Auf einer hölzernen Kommode stand eine Reihe von eingerahmten Bildern, die die Kinder in allen möglichen Altersstadien zeigte. Der Esstisch auf der anderen Seite des Zimmers war groß und erstreckte sich von der Tür bis zur großen Fensterfront, von der eine Tür raus auf die Terrasse führte. Nils‘ Schätzung nach konnten hier mindestens zehn Leute sitzen, ohne sich gegenseitig einzuengen oder auf die Füße zu treten.

Das Mädchen saß angespannt auf dem Sofa und wartete allem Anschein nach schon auf das Gespräch mit den Polizisten. Sie hielt den Blick gesenkt und hatte die Hände zwischen ihre Oberschenkel geklemmt. Neben ihr hatte eine ältere Frau Platz genommen, die Nils als die Nachbarin einordnete, von der der Sanitäter bereits gesprochen hatte. Sie hatte den Arm um die Schultern des Mädchens gelegt und redete mit ruhiger Stimme auf sie ein, ließ