Der mechanische Prinz - Andreas Steinhöfel - E-Book

Der mechanische Prinz E-Book

Andreas Steinhöfel

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Beschreibung

Er war, so scheint es ihm, von Anfang an das egalste Kind der Welt. Das traurigste ... Das sprachloseste ... Dann, eines Morgens vor der U-Bahn, erhält Max von einem einarmigen Bettler ein unglaubliches Geschenk Und ein goldenes Ticket, mit dem er an Orte reisen kann, wo nur wenige hinkommen: die Refugien. Nur dort kann Max sich seiner Traurigkeit stellen, nur dort kann er sein Leben verändern und sein Herz retten. Versagt er, wird Der mechanische Prinz, der Herrscher über die Refugien, ein schreckliches Pfand von ihm einbehalten, und, beinahe noch schlimmer, sein elendes Leben wird weitergehen wie bisher ... "

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Außerdem von Andreas Steinhöfel im Carlsen Verlag erschienen:Die Mitte der Welt Beschützer der Diebe David Tage Mona Nächte Der mechanische Prinz Defender Paul Vier und die Schröders Dirk und ich Es ist ein Elch entsprungen Froschmaul Geschichten Trügerische Stille O Patria Mia! Rico, Oskar und die Tieferschatten Rico, Oskar und das Herzgebreche CARLSEN Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. Die Arbeit an diesem Buch wurde mit dem Erich-Kästner-Stipendium der Stiftung Preußische Seehandlung, Berlin, gefördert. Veröffentlicht im Carlsen Verlag Copyright © 2003, 2004 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg Umschlagbild: Dirk Steinhöfel Umschlaggestaltung: Doris K. Künster / Britta Lembke Corporate Design Taschenbuch: Dörte Dosse Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-646-92046-8 Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de

Für James Matthew Barrie, der trotzdem erwachsen wurde Für Roald Dahl, der trotzdem Kind blieb Für Michael Moorcock, dem ich zwei Herzfinster stahl Und für Werner Siemens, der die erste elektrische Straßenbahn baute

PROLOG: EINE ABMACHUNG

Dies ist die Geschichte eines Jungen namens Max.

Max … Unter uns gesagt, konnte ich diesen Namen noch nie leiden, weder in seiner kurzen noch in der langen Fassung: Maximilian. Für mich gibt es keinen schlimmeren Namen. Ich erkläre euch auch gern, warum: Ich kannte mal einen Max, der aus schierer Bosheit jedes Kind zusammenschlug, das nicht schnell genug auf den Bäumen war, sobald er um die Ecke bog. Dieser Max war ein Albtraum auf zwei langen, dünnen Beinen. Spinnenmax nannten ihn die Kinder.

Mit siebenundzwanzig Jahren wurde der Spinnenmax von einer Straßenbahn erfasst und überrollt. Als ich davon erfuhr, freute ich mich kein bisschen, obwohl ich jedes Recht dazu gehabt hätte. Ich selbst möchte in einem kuscheligen Bett sterben, nach einem erfüllten Leben, im Kreise meiner Lieben, und das sollte man jedem Menschen gönnen. Trotzdem kann ich nicht behaupten, um den Spinnenmax getrauert zu haben. Als sein Schicksal ihn ereilte, besaß er zwar ein Bett, aber er hatte weder Frau noch Kind. Er hatte nicht mal einen Hund – Kampfhunde klemmten den Schwanz ein und fegten winselnd die Straße herunter, wenn sie ihn anrücken sahen – und nur wenige Tage nach dem Unfall stiftete ein unbekannter Spender der Straßenbahn eine goldene Stoßstange.

Nein, absolut keine Trauer. Wer sich sein ganzes unerfülltes Leben lang blöd benimmt, der muss sich nicht wundern, wenn ihm am Ende keiner nachweint.

Dass trotz meiner Abneigung gegen diesen Namen der Junge, den ihr gleich kennen lernen werdet, Max heißt, hat einen einfachen Grund: Seine Geschichte ist nicht erfunden, sondern tatsächlich passiert. Max persönlich bat mich bei unserem dritten Treffen darum, sie aufzuschreiben, und ich willigte ein, denn es ist eine großartige Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Aber ich stellte eine Bedingung.

»Der Junge darf auf keinen Fall Max heißen«, forderte ich.

»Hey, ich heiße aber nun mal so!«

»Na und? Glaub bloß nicht, dass ich dich deshalb bemitleide. Beschwer dich bei deinen Eltern. Ich hasse diesen Namen, also werde ich den Jungen anders nennen … was hältst du von Florin?«

»Nee.« Max schüttelte heftig den Kopf. »Aber was hältst du davon, wenn ich die Geschichte einem anderen Schriftsteller schenke?«

»Pass mal bloß auf«, knurrte ich, »dass du als Erwachsener nicht unter eine Straßenbahn gerätst.«

Die meisten Kinder, das dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben, sind hinterhältige kleine Erpresser und Max bildet da keine Ausnahme. Er grinste mich frech an und wischte mit einer Schuhspitze durch den Sand. Wir saßen nebeneinander auf einer Bank, nahe dem schönen Spielplatz im südwestlichen Teil des Berliner Tiergartens. Ein wunderbar warmer Wind fuhr in das Laub der Bäume und brachte es zum Rascheln. Wenn alles schief geht, hatte Max vor einer Minute seine Geschichte beendet, bleibt mir immer noch Tanelorn. Ich dachte über seine Worte nach und lauschte dabei dem Geschrei der herumtobenden Kinder, die sich auf die Rutsche schwangen, das Karussell belagerten oder ihren Müttern und Vätern freundlich erklärten, dass sie sich gleich ein bisschen in die Hosen machen würden – und zwar groß –, wenn sie nicht sofort ein Überraschungsei bekämen.

»Einverstanden«, sagte ich schließlich. »Aber dafür darf ich eine Sache in die Geschichte einbauen, die ich mir ausdenken werde. Eine einzige.«

Jetzt überlegte Max. Er brauchte dazu eine geschlagene Minute; er kann schrecklich lange nachdenken. Im Sandkasten begann ein kleiner Junge zu plärren, weil er sein Überraschungsei nicht bekam, und dann brüllte auch schon seine Mutter los, die genau wusste, wo ihr Überraschungsei soeben gelandet war. Als wäre sie nicht gewarnt gewesen.

»Solange du nichts weglässt«, sagte Max endlich neben mir. »Nicht das kleinste bisschen. Versprochen?«  

Ich lachte kurz auf. »Bist du verrückt geworden? Das wäre mein Untergang als Kinderbuchautor! Die Kritiker würden mir das Buch um die Ohren schlagen.«

Keine Antwort.

Vogelgezwitscher.

Die Schuhspitze wischte geduldig durch den Sand.

»Versteh doch, Max, ich kann das einfach nicht machen! Die Geschichte ist so erschreckend, sie ist so grauenvoll, dass man sie Kindern nicht zumuten kann.«

»Ich hab sie auch überlebt.«

»Außerdem würde sie mir sowieso keiner abnehmen«, überging ich den trotzigen Einwand. »Sie ist zu phantastisch, das wirst du doch wohl zugeben?«

Er zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Ist mir so schnurz wie piepe.«

Ich gab auf. Was blieb mir auch anderes übrig? Wenn Max auf stur schaltete, war nichts zu machen. Und es war eine gute Geschichte. Die beste, die ich je gehört hatte.

»Also gut«, seufzte ich.

»Es bleibt also alles drin?«

»Alles.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Wir gaben uns die Hand. Es war ein feierlicher Moment.

»Wann fängst du mit dem Schreiben an?«, sagte Max.

»Heute Abend noch.«

»Gut, dann geh ich jetzt.« Er blickte mit gerümpfter Nase in Richtung des kleinen Jungen, der das Plärren aufgegeben hatte und jetzt mit einer Hand an seinem Hosenhintern herumzupfte. »Hier stinkt’s nämlich.«

Von draußen fallen die letzten goldenen Strahlen der Abendsonne durch das Fenster meines Arbeitszimmers. Auf dem abgewetzten roten Teppichläufer vor dem Kamin liegt Nana und schläft. Nana ist die älteste Hündin der Welt und schon ein bisschen blind auf den Augen. Nebenbei bemerkt, ist sie auch die hässlichste Hündin der Welt. Ich kenne sogar Leute, die bezweifeln, dass sie überhaupt ein Hund ist. Früher hatte sie andere Besitzer, aber weil deren Kinder, diese undankbaren Bälger, von Nanas Anblick Albträume bekamen, wurde sie in ein Tierheim abgeschoben, aus dem ich sie wieder herausholte.

Nun, wie auch immer …

Abendsonne.

Ein schlafender, hässlicher Hund.

Im Tiergarten, viele Kilometer von meinem klobigen alten Schreibtisch entfernt, packen die Mütter und Väter ihre Siebensachen und setzen ihren Erpressernachwuchs in die Fahrradsitze. Und ich … ich schreibe die ersten Worte einer unglaublichen Geschichte auf und löse damit ein Versprechen ein.

Max, ausgerechnet.

Da kommt mir wirklich die Galle hoch.  

DAS GOLDENE TICKET

Es gibt Ereignisse, die ein ganzes Leben verändern. Manche Menschen warten Jahrzehnte auf ein solches Ereignis, ohne dass es eintrifft. Sie werden darüber alt und grau und verbittert, und wenn sie sterben, glauben sie immer noch fest daran, das alles besser gekommen wäre, wenn doch bloß damals, irgendwann, wenigstens ein bisschen …

Max hingegen musste nicht lange warten. Sein Leben änderte sich an einem Samstag, und da wurde es auch allerhöchste Zeit. Ich wage sogar zu behaupten, dass es dafür am Sonntag bereits zu spät gewesen wäre.

Warum?

Max erklärte es einem Mädchen, das er an jenem Samstag traf. Das Elend hätte schon damit angefangen, sagte er zu dem Mädchen, dass seine Mutter nicht dabei gewesen wäre, als er geboren wurde. Er wusste natürlich, wie absolut blödsinnig sich das anhören musste. Doch im Wesentlichen meinte Max damit genau das Richtige: Er war seiner Mutter vom Tag seiner Geburt an egal gewesen. Wie er auch, seit er sich erinnern konnte, seinem Vater schon immer egal gewesen war. Tatsächlich war Max mit dem schrecklichen Gefühl aufgewachsen, eines der egalsten Kinder auf der Welt zu sein. Meistens wurde er von seinen Eltern einfach übersehen. Manchmal versäumten sie, ihm zu essen zu geben. Wenn sein Vater ihn mit gerunzelter Stirn ansah, wusste Max, dass er gerade überlegte, wie wohl der Junge hieß, der da vor ihm stand. Dieser Junge trug zu kurze Hosen und seine Jacke war zu eng, weil seine Mutter nie daran dachte, ihm neue Klamotten zu kaufen. Sein Geburtstag wurde regelmäßig vergessen, und Weihnachtsgeschenke bekam er nur, damit er die Klappe hielt. Schön war das alles nicht. Manchmal fragte sich Max, wie es ihm überhaupt gelungen war, das zarte Alter von elf Jahren zu erreichen. Und er fragte sich, ob es einen Zeitpunkt gab, an dem ein Mensch so egal geworden war, dass er verschwand. Sich in Luft auflöste wie ein Nebelstreif, weil er es einfach nicht mehr aushielt. Sich aus lauter Traurigkeit ganz tief in sich selbst versteckte, so dass er unerreichbar wurde für die Welt und alles Schöne. Oder einfach vor Kummer starb. An einem Sonntag zum Beispiel.

Das Mädchen verstand ihn sofort.

»Meine Mutter war auch nicht dabei, als ich geboren wurde«, sagte sie, »deshalb habe ich diesen blöden Namen. Es war meinen Eltern völlig wurst, wie ich heiße. Also hab ich ein T davor gesetzt, jetzt ist er hübscher.«

Max bewegte die Lippen und ließ seinen Mund mehrfach leise den Namen ausprobieren. »Ich finde, er klingt sehr hübsch«, sagte er dann.

Das Mädchen ließ zufrieden eine große, rosafarbene Kaugummiblase vor ihrem Mund zerplatzen. »Sag ich doch.«

Gemeinsam gingen sie alle Buchstaben des Alphabets durch, aber es fand sich kein passender, den man vor Maxhätte setzen können. Und das, entschied Max, war nun eigentlich wirklich egal. Er lächelte und hielt dem Mädchen die rechte Hand entgegen.

»Hallo, Tanita. Schön, dich kennen zu lernen.«

»Freut mich auch, Max ohne was davor.« Eine weitere Kaugummiblase zerplatzte. »Und jetzt komm mit, ich muss dir was zeigen.«

Tanita ergriff ihn bei der ausgestreckten Hand und zog ihn hinter sich her. Max’ Blick fiel dabei auf die Anzeige seiner Armbanduhr. Es war zehn Uhr dreiundzwanzig.

Als um sieben Uhr dreißig, also etwa drei Stunden zuvor an diesem Samstagmorgen, der Wecker geklingelt hatte, hatte Max längst wach im Bett gelegen. Aus der Küche ertönten laute Stimmen. Seine Eltern hatten sich in den Haaren. Er lauschte ihrem Geschrei schon seit einer ganzen Weile. Er stellte den piepsenden Wecker ab, dann stöhnte er leise auf und zog sich die Decke über den Kopf. Traurigkeit schwappte über ihn hinweg wie eine mächtige, schäumende Welle. Wann immer seine Eltern sich anbrüllten, was etwa alle zwei bis drei Tage der Fall war, stieg ein Bild vor seinen Augen auf: Es war das Bild eines Schwarms angriffslustiger Insekten. Die Worte seiner Eltern waren wie Wespen, die einander wütend umsurrten, immer auf der Suche nach einem Ziel, in das sie ihre Stacheln senken konnten. An solchen Tagen, das hatte Max gelernt, musste man sich in Acht nehmen. Wenn man Pech hatte, geriet man sonst unvermutet selbst in die Schussbahn dieser schwarzgelben Torpedos. Besser, man trat die Flucht an.

Er schob die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Ihm war schwindelig.

»… und du hast es wieder nicht getan, obwohl du es inzwischen wirklich besser wissen solltest, tust du es nicht, aber dir …«

Er öffnete die Vorhänge. Sonnenstrahlen fielen in den Vorgarten, der Himmel leuchtete blau. Schien ein schöner Tag zu werden. Er schlappte durch den Flur ins Badezimmer. Die Küchentür stand einen Spalt offen. Dahinter bewegten sich die Schatten seiner Eltern an den Wänden. Sie glitten aufeinander zu und wieder voneinander fort, wurden mal kleiner, mal größer, verschmolzen miteinander und trennten sich wieder, zwei rabenschwarze Gespenster bei einem unglücklichen Tanz.

»… weil es davon nicht besser wird, ganz bestimmt nicht, auch wenn du hundertmal behauptest …«

Im Badezimmer pinkelte er, putzte sich die Zähne, wusch sich Gesicht und Hände und fuhr sich mit der Bürste durch die Haare. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er fühlte sich schrecklich benommen, das konnte unmöglich nur daran liegen, dass er so traurig war. Vielleicht wurde er krank. Er ging in sein Zimmer zurück, zog sich hastig an und schulterte seinen Rucksack. Vor der Garderobe im Flur überlegte er, ob er an einem so warmen Tag eine zu enge Jacke brauchte, und entschied sich dagegen. Er schlüpfte in seine gerade noch passenden Turnschuhe, dann steckte er den Kopf in die Küche.

»Ich gehe später zu Jan. Nach der Schule.«

Keine Antwort. Kein guten Morgen, keine Aufforderung, etwas zu frühstücken. Das Einzige, was aus der Küche laut und deutlich zu vernehmen war, war das giftige Summen und Sirren der Wespen.

»… aber du gehst einfach darüber hinweg, wie immer, und ich sehe verdammt noch mal nicht ein …«

Jan war der beste Freund und Kumpel, den man sich vorstellen konnte. Okay, vielleicht kam er manchmal auf Ideen – auf fiese Ideen –, die Max selber nie gehabt hätte. Außerdem waren sie nicht immer einer Meinung, was hin und wieder zu Streitereien führte. Aber dafür hatte Jan andere Qualitäten. Er hatte jede Menge Witze auf Lager, er war groß und er war verdammt stark. Mit Jan an seiner Seite musste man keine Schlägertypen fürchten. Noch besser war, dass man ihm alles erzählen konnte. Alles, was einem das Herz schwer machte. Zum Beispiel, dass es den eigenen Eltern egal war, ob man morgens ein Butterbrot aß, ob man sich gewaschen hatte oder ob einem die Klamotten passten. Und dass man deshalb wütend wurde, so unsagbar wütend, dass man am liebsten …

»Wir wollen Fußball spielen. Heute Nachmittag.«

Endlich wurde jemand auf ihn aufmerksam.

»Ist gut.«

»Kann ich auch zum Abendessen bei ihm bleiben?«

Stille und Schweigen.

Prima. Keine Antwort war auch eine Antwort.

Und jetzt nichts wie raus hier.

Als die Haustür hinter ihm zugefallen war, hielt Max inne und atmete ein paar Mal tief durch, um das Schwindelgefühl zu vertreiben. Ein und aus. Ein … und aus.

Schon besser.

Langsam ging er durch den kleinen Vorgarten. Im Frühjahr hatte seine Mutter eine Rabatte unterhalb des Küchenfensters bepflanzt, dort leuchtete es gelb und rot im Sonnenlicht. Gestern Abend hatten die Blumen die Köpfe hängen lassen, wie immer nach einem heißen Sommertag. Also hatte Max sie gegossen. Wenn er es nicht tat, tat es keiner. Dann mussten die Blumen verwelken. Andererseits waren sie nicht besonders hübsch und würden sowieso bald verblühen, da konnte man sich die Arbeit eigentlich sparen, oder?

Oder?

Sein rechter Fuß machte sich selbständig und kickte nach einer Dahlie. Der Kopf der Pflanze nickte vorwurfsvoll nach links, nach rechts, nach links … hässliches Ding. Genau. Diesen Kackpflanzen hatte er das letzte Mal Wasser gegeben.

Er holte noch einmal tief Luft und trat auf den Gehsteig. So früh war in diesem Teil der Straße noch nicht besonders viel los. Ein paar Autos fuhren vorbei, aber man sah kaum Menschen. Das änderte sich auf dem Weg zur U-Bahn-Station, vorn an der Hauptstraße. Bis man dort ankam, sah man immer mehr Leute, die aus allen Richtungen zielstrebig den bogenförmigen Eingang zur Station ansteuerten. Die meisten von ihnen wollten zur Arbeit. Samstags herrschte weniger Andrang in der U-Bahn als unter der Woche.

Andere Kinder sah Max weit und breit nicht.

Samstags hatte er keine Schule.

Niemand hatte am Samstag Schule.

Max stand vor dem Fahrscheinautomaten. Das war doch echt das Letzte! Er hatte sein Portemonnaie vergessen, weil ihm so schwindelig gewesen war. Seine Monatskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel steckte darin. Die Monatskarte und sein ganzes Geld. Und alles zusammen steckte, natürlich, in der verdammten zu engen Jacke. Aber er würde auf keinen Fall zurück nach Hause gehen, um sie zu holen. Das Summen der Wespen und dieses Schwindelgefühl hatten ihm ganz und gar nicht gefallen.

Er überlegte. Wenn man beim Schwarzfahren erwischt wurde, zahlte man eine saftige Geldstrafe. Natürlich würde er behaupten, seine Monatskarte vergessen zu haben. Er konnte wunderbar unschuldig gucken, wenn er die Mundwinkel ein bisschen nach unten zog und dabei mit den Augen klimperte. Vielleicht machten die Kontrolleure, falls sie ihn erwischten, eine Ausnahme.

Vielleicht aber auch nicht.

Drauf gepfiffen, er würde das Risiko trotzdem eingehen. Sollten doch seine Eltern zusehen, wie sie mit dem Ärger fertig wurden, falls die Sache schief ging. Dann hatten sie endlich mal was anderes zu tun, als sich gegenseitig schon am frühen Morgen das Leben zur Hölle zu machen und ihre blödsinnigen Schattenspiele zu veranstalten.

»Lass es bleiben«, sagte eine Stimme in seinem Rücken.

Max drehte sich langsam um. Auf dem grauen Betonboden, unmittelbar vor einer der altrosa getünchten Wände der Station, hockte im Schneidersitz ein Mann auf einer zerschlissenen Decke. Seine grauen Haare glänzten fettig, um sein Kinn lag der dunkle Schatten eines Dreitagebarts. Der Mann grinste ihn an. Er hatte ein Gebiss zum Davonlaufen, ihm fehlten ein paar Zähne. Es fehlte auch noch etwas anderes. Der linke Arm des Mannes steckte in einem karierten Hemd und sah völlig normal aus. Doch der rechte Hemdsärmel war aufgerollt, so dass man den kurzen rosigen Stumpen sehen konnte, der unnütz vom Schultergelenk herabbaumelte und dessen Farbe Max an die Marzipanschweine erinnerte, die vor Weihnachten im Bäckerladen auslagen. Im Gegensatz zu den Marzipanschweinen war dieser Stumpen allerdings nicht besonders appetitlich. Er sah aus wie achtlos abgeschnitten und verknotet. Wenn man ihn zu lange betrachtete, zog sich einem im Bauch alles zusammen und man war heilfroh, dass an einem selbst noch alles dran war.

Max kannte den Einarmigen vom Sehen. Der Mann saß nicht jeden Tag hier, nur einmal, höchstens zweimal pro Woche. Alle Bettler in der Stadt hielten das so. Sie wechselten regelmäßig die Standorte, damit den Leuten von ihrem Anblick nicht langweilig wurde und sie ihnen etwas Geld gaben. Der Einarmige sammelte das Geld in einer alten Tabaksdose. Max spähte in die Büchse. Viel war nicht drin, nur ein paar kleine Münzen, aber es war ja auch noch früh am Morgen.

»Was soll ich bleiben lassen?«, sagte er. Er war sich nicht sicher, ob der Ausruf tatsächlich ihm gegolten hatte. Er war sich auch nicht sicher, ob es schlau war, überhaupt darauf reagiert zu haben, aber jetzt war es zu spät. Der Mann winkte ihn mit seinem gesunden Arm zu sich herüber.

»Komm mal her! Nun komm schon, ich beiß dich nicht!«

Zögernd näherte er sich dem Einarmigen.

»Heute sind die Kontrollettis unterwegs. Du kannst nicht ohne Ticket fahren. Die sehen dir auf einen Kilometer an, dass du keins hast.«

Max warf einen verlegenen Blick nach rechts und links. Ein paar der vorbeilaufenden Leute grinsten. Es war ihm peinlich, dass alle den Einarmigen hören konnten.

»Ich hab meine Monatskarte zu Hause vergessen«, sagte er, als er vor dem Mann stand.

»Ach, Kokolores, hör doch damit auf! So ’ne Kontrolletti-Typen, die sind hart wie Granit, an denen beißt du dir die Zähne aus. Weißt du, was die mit dir machen, wenn sie dich ohne Ticket erwischen?«

Was sollten sie schon machen, außer ihn aufzuschreiben und seine Eltern zu informieren?

Der Mann beugte den Oberkörper so weit vor, dass Max befürchtete, er würde ihm gleich entgegenkippen. »Die reißen dir den rechten Arm ab, wenn sie dich erwischen, das machen die! So haben sie mich damals auch gekriegt.«

Er brach in lautes Kichern aus, amüsiert über seinen eigenen Witz. Der rosige Stumpen wedelte auf und ab. Das Gelächter des Mannes schien die Wände rauf- und wieder runterzukullern. Es war unmöglich zu überhören, und doch sahen die meisten vorbeigehenden Leute immer noch weg.

Das Lachen erstarb. »Hab was für dich«, sagte der Einarmige nüchtern. »Ein passendes Ticket für kleine Jungs, die von zu Hause weglaufen. Darf’s selber nicht mehr benutzen, es bringt mich nirgendwo mehr hin. Ich geb’s dir für ’n bisschen Kleingeld.«

»Ich habe kein Kleingeld.«

»Doch, hast du. Rechte Hosentasche.«

Max schob die rechte Hand in die Hosentasche. Seine Finger schlossen sich um drei, vier Münzen. Kleingeld eines davonlaufenden Jungen. Wie konnte der Mann das wissen?

»Nun guck nicht so, als wärst du vor den Bus gelaufen! Meinst du, ich erkenn einen Ausreißer nicht, wenn ich ihn sehe? Meinst du, ich wüsste nicht, dass in jeder Hosentasche ein bisschen Kleingeld schlummert?«

»Warum sollte ich Ihnen das Geld geben?«, sagte Max.

Alle Zahnlücken des Mannes wurden gleichzeitig sichtbar. »Weil du sonst das hier nicht kriegst.«

Als hätte er es aus der Luft gegriffen, hielt er Max plötzlich ein Ticket entgegen. Der Fahrschein war völlig abgegriffen, er musste uralt sein, durch hundert, nein, durch tausend Hände gegangen. Außergewöhnlich daran war lediglich, dass er matt schimmerte. Wie mit Goldfarbe bestrichen. Einem Ticket für die U-Bahn sah er nicht im Entferntesten ähnlich.

»Das soll wohl ein Witz sein«, murmelte Max.

»Kein Witz«, erwiderte der Einarmige ernst. »Ich geb zu, es ist ein bisschen verknittert und hat seine besten Tage schon lange hinter sich … genau wie ich. Aber es ist immer noch gültig, o ja, das ist es! Ich darf’s nicht mehr benutzen, darf ich nicht, aber es ist immer noch gültig.«

»So sieht es aber nicht aus«, sagte Max misstrauisch.

»Drauf geschissen, wie es aussieht! Aussehen bedeutet gar nichts. Das Äußere ist nur eine Hülle, ein Versteck für erbärmliche Feiglinge.«

Der Mann wedelte ihn noch näher heran. Max machte einen letzten Schritt auf ihn zu, befahl seinem zusammengezogenen Bauch sich endlich zu entspannen und beugte sich nach vorn. Er hörte etwas klimpern. Seine rechte Faust war irgendwie aus der Hosentasche geschlüpft, hatte sich geöffnet und die Münzen in die alte Tabaksbüchse fallen lassen.

»Mit dem Ticket kommst du überallhin«, flüsterte der Einarmige eindringlich. »Aber viel wichtiger ist, dass du auch überall damit aussteigen kannst.«

Max verzog abschätzig den Mund. Toll, hatte man so was schon gehört, ein Ticket, mit dem man sogar aussteigen konnte, wo man wollte! Für wie blöd hielt ihn dieser Kerl? Aber da er nun mal sein Kleingeld dafür geopfert hatte …

Er griff nach dem Ticket. »Tja, also – danke. Und tschüs. Ich geh dann jetzt mal. Ich muss noch wohin.«

»Und ob du das musst, und ob.« Der Einarmige sah zu ihm auf. »Aber erst gibst du mir die Hand.«

»Was?«

»Die Hand sollst du mir geben! Wenn man sich für etwas bedankt oder wenn man sich verabschiedet, gibt man sich die Hand. Oder sind gute Manieren aus der Mode gekommen?«

Nein, das waren sie nicht. Beschämt streckte Max die linke Hand aus.

»Die nicht. Die andere.« Der Mann vollzog eine kleine Drehung mit seinem Oberkörper. Der rosige Armstumpf schob sich Max auffordernd entgegen. »Das gute Händchen.«

O nein, dachte Max, bitte nicht!

Im nächsten Moment umfassten seine Finger wie von selbst den Stumpf. Er war warm und weich, er fühlte sich lebendig an und kein bisschen eklig. Es war einfach nur ein Stumpf, an dem sich früher der Rest eines Arms und eine Hand befunden hatten, und irgendwie, fand Max, irgendwie waren auch beide noch da, Arm und Hand, nur eben nicht sichtbar. Aber das Äußere war nur eine Hülle, nicht wahr? Ein Versteck für Feiglinge.

»Ehm, dann also nochmals vielen Dank für das Ticket«, sagte er, während er den Stumpf auf und ab schüttelte. »Ich werde es gleich ausprobieren. Und wenn es nicht funktioniert, bringe ich –«

»Keine Sorge, es hat immer funktioniert«, unterbrach ihn der Mann. »Seit man sich erinnern kann. Immer und immer und immer.«

»Bestimmt, das hat es sicher«, sagte Max und dachte: Nur für dich nicht mehr, oder was? Deine Lügengeschichten kannst du sonst wem erzählen. Er ließ den Armstumpf los. Der Mann war ohne Zweifel nicht ganz dicht im Kopf. »Auf Wiedersehen.«

»Gute Fahrt, Junge«, antwortete der Mann. Er zwinkerte Max mit einem Auge zu. »Und hüte dich vor dem mechanischen Prinzen.«

»Klar, ehm … auf jeden Fall. Tu ich doch immer!«

Wenn ich schon schwarzfahre, überlegte Max, als er auf die Treppe zuging, die zum Bahnsteig hinunterführte, dann habe ich mit einem falschen Ticket wenigstens ein besseres Gefühl dabei. Er stellte sich das Gesicht der Kontrolleure vor, wenn er ihnen diesen schäbigen Papierschnipsel unter die Nase hielt. Sie würden ihn auslachen. Sie würden sich dermaßen ausschütten vor Lachen, dass er sich in dieser Zeit unbemerkt aus dem Staub machen konnte. Genau. Wenigstens etwas. Im Weiterschlendern betrachtete er das Ticket genauer. Das Papier glänzte nicht mehr mattgolden wie noch vor einer Minute, sondern es schien aus sich selbst heraus zu leuchten. Das musste am Lichteinfall liegen. Buchstaben und kleine Zahlen waren darauf gedruckt, alle verschwommen oder verschmiert, kein Mensch würde das entziffern können.

Außer natürlich, dachte Max, der mechanische Prinz.

O Mann! Mann, o Mann … Er schüttelte den Kopf. Der Einarmige hatte ihn angeschmiert, um an sein Kleingeld zu kommen. Verärgert drehte er sich zu ihm um. Er sah den grauen Boden und die rosa getünchte Wand. Über den Sommerhimmel hinter dem Eingang zur Station flatterte ein Taubenschwarm.

Der Mann war verschwunden.

Seit er denken konnte, liebte Max die U-Bahn. Hier draußen, in den äußeren Bezirken, wo sie oberirdisch fuhr, war es noch ein bisschen langweilig. Hier stand man auf dem Bahnsteig wie, na ja, wie in einem stinknormalen Bahnhof. Aber in der Innenstadt lagen die Stationen unterirdisch, und das war etwas ganz anderes. Er liebte es, über Steinstufen oder Rolltreppen den Weg unter die Erdoberfläche zu nehmen, wo im Sommer erstickend warme, im Winter eiskalte Luft einen Weg aus den Tunnelschächten nach oben suchte. Er liebte es, auf dem Bahnsteig zu stehen, das Auftauchen der Scheinwerfer aus dem undurchdringlichen Dunkel der Tunnel abzuwarten, die gelben Züge polternd einfahren zu hören. Er liebte die Mäuse, die zwischen den Gleisen herumhuschten. Das Netzwerk der U-Bahn besaß an die einhundertundfünfzig Stationen, und jede von ihnen sah anders aus. Es gab zugige, eintönig gekachelte Haltestellen, wo ausgedrückte Zigarettenkippen und Spuckeflecken den dunkelgrauen Boden bedeckten; Haltestellen, die man gern verließ, weil es dort nichts zu versäumen gab. Es gab unterirdische Kathedralen, von Säulen getragen und mit Mosaiken geschmückt, an deren vielen Farben und liebevollen Einzelheiten man sich nicht satt sehen konnte. Es gab ultramoderne Stationen, wo der Blick an allgegenwärtigen Plexiglaswänden abrutschte, weil er nichts Schönes fand, woran er sich festhalten konnte, und es gab Stationen, die schon vor dem letzten Weltkrieg so ausgesehen hatten wie jetzt, aus gemütlichem rotem Backstein und gelbem Sandstein gemauert, deren Namen in Frakturschrift riesige Emaille-Schilder zierten, Blau auf Weiß.

Ja, und dann das Fahren selbst. Am besten war der Moment, wenn die Bahn langsam anfuhr und sich von einem der Tunnel verschlucken ließ. Auf den ersten, noch von der Stationsbeleuchtung erhellten Metern konnte man an den Mauerwänden ablesen, wie weit irgendwelche Jugendlichen sich hier hineingewagt hatten, um ihre krakeligen Graffiti anzubringen. Jan hatte sich natürlich auch längst irgendwo verewigt …

Von Süden kommend, näherte sich rumpelnd die U1. Max stieg in einen der vorderen Wagen. Hinter ihm schloss die Tür sich mit einem hydraulischen Zischen. Er suchte sich einen Platz im Mittelteil des Wagens, zwischen einem jungen Mann mit zerlöcherten Hosen und unzähligen silbernen Ringen an den Fingern und einer alten Dame, die einen Hut und einen Pelzmantel trug, völlig bescheuert, bei diesem Wetter! Es würde warm werden heute, womöglich richtig heiß. Aber in der U-Bahn stieß man immer wieder auf die seltsamsten Leute.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Max sah aus dem gegenüberliegenden Fenster. Ein aufgeschütteter Bahndamm, Gras, abgeblühte Büsche und blauer Himmel. Hier draußen rollten die Wagen leise dahin, aber auf manchen Strecken erklang ein Kreischen wie vom Wiehern elektrischer Pferde. Im nächsten Moment glitt man wieder wie auf Wolken oder Wasser über die Schienen, dann war plötzlich kein Laut mehr zu hören und man konnte sich vorstellen, in alle Ewigkeit weiterzufahren … weiter und immer weiter.

Inzwischen fragt ihr euch möglicherweise, goldenes Ticket hin oder her, wohin Max überhaupt damit fahren will.

Gute Frage.

Manchmal fährt Max in den Westteil der City, zum Ku’damm und auf den Tauentzien, wo er so lange durch die teuren Geschäfte bummelt, bis irgendein breitschultriger Türsteher ihn rausschmeißt. Manchmal schlendert er einfach nur herum, überlässt sich dem Sog der Menschenmengen und beobachtet irgendwelche Leute dabei, wie sie sich auf offener Straße in der Nase bohren oder am Hintern kratzen. Meistens aber fährt Max einfach blind drauflos und sucht Orte auf, die er bisher gar nicht oder nur wenig kennt. Man schafft es in hundert Jahren nicht, jede Straße und jeden Winkel zu durchforsten. Die Stadt ist immer um einen herum, von allen Seiten, sie dröhnt und pulsiert, als hätte sie irgendwo ein geheimes, in seinem ganz eigenen Takt schlagendes Herz, und es ist diese Lebendigkeit, die Max anzieht.

Bei einem seiner Ausflüge, das ist schon eine Weile her, verschlug es ihn nach Neukölln. Neukölln liegt im Ostteil Berlins und dort sind die Leute verdammt herbe drauf, wie Jan es auszudrücken pflegt. Es gibt dort viele Menschen, die keine Arbeit haben. Sie tragen bunte Jogginganzüge aus billigem Stoff, weil sie sich teure Klamotten nicht leisten können oder weil sie sich fragen, für wen oder was sie sich schick machen sollen, wenn sie auf die Straße gehen; es kommt ja sowieso nicht darauf an. Mütter brüllen mit ihren Kindern hier ein bisschen lauter als die Mütter in anderen Stadtteilen, und die Kinder brüllen lauter zurück. Manche Männer führen Kampfhunde an der Leine spazieren und rotzen bei jeder Gelegenheit auf den Gehsteig. In einer solchen Gegend wird einem schnell mulmig zumute.

Aber genau hier, in einer abgelegenen Seitenstraße Neuköllns, stießen Max bei jenem zurückliegenden Ausflug zwei schöne Dinge zu. Es war einer dieser seltenen Tage, an denen es in Strömen regnete, während gleichzeitig die Sonne schien. Die Stadt sah aus, als würden Diamanten über ihr ausgegossen. Max war nicht nur in sehr bedrückter Stimmung, sondern auch schon ziemlich durchnässt, und er überlegte gerade, ob er sich nicht besser irgendwo unterstellen sollte, als er den kleinen Jungen bemerkte. Der Knirps war höchstens fünf Jahre alt und ganz allein unterwegs. Er trug kurze Hosen und ein T-Shirt, und der tropfende, klopfende Regen störte ihn nicht im Geringsten. Er hatte ein Papierschiffchen in den überlaufenden Rinnstein gesetzt, das dort schnell Fahrt aufnahm, und rannte nun, lachend und schreiend vor Begeisterung, über den Gehsteig nebenher. Ein kleiner Kapitän.

Max lauschte dem Jauchzen des Jungen und aus irgendeinem unerklärlichen Grund verwandelte seine gewohnte Niedergeschlagenheit sich plötzlich in helle Freude und machte ihn eins mit der Welt. Sein Herz schlug so frei, wie es noch nie geschlagen hatte. Die Sonne schien warm auf sein Gesicht, Regentropfen perlten ihm über die Wangen, das Wasser im Rinnstein funkelte golden und das Schiffchen tipperte munter voran. Es geriet ins Trudeln, neigte sich bedrohlich zur Seite, fing sich wieder. Natürlich würde der nächste Gully es verschlucken, doch mit etwas Glück ging es dabei nicht unter, sondern fuhr weiter. Erst durch die dunklen Abwasserkanäle der Stadt, die es in einen Bach schwemmten. Weiter auf dem Bach, der außerhalb der Stadt in einen Fluss mündete. In einen Fluss, der sich wiederum in ein Meer ergoss. Und weiter fuhr das Schiffchen, jetzt auf einem endlosen blauen Ozean, und trug dabei das verzauberte Lachen und die pure Seligkeit eines kleinen Jungen in die Welt hinaus.

Das Meer, dachte Max.

Eines Tages werde ich das Meer sehen.

Das blaue Meer.

Wind kam auf. Schiffchen und Kapitän verschwanden um die nächste Straßenbiegung. Die Sonne verzog sich hinter eine graue Wolke, der Regen wurde heftiger. Max fröstelte. Höchste Zeit, endlich ein trockenes Plätzchen zu finden. Er blickte sich suchend um. Und so entdeckte er, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, den Kiosk, zu dem es ihn in den nächsten Wochen immer wieder hinziehen sollte – bis zwei oder drei Monate später ein handgeschriebenes Schild an der Ladentür hing, auf dem Der Kiosk bleibt geschlossen stand und er sich neue Ziele in der Stadt suchen musste.

Das Erste, was er beim Betreten des Ladens bemerkte, war dessen Besitzerin, eine unglaublich dicke, bunt geschminkte Frau. Schwer über den Tresen gebeugt, vom Gewicht ihrer immensen Oberweite unweigerlich nach vorn gezogen, glich sie einem gestrandeten Wal. Das Zweite, was er sah, war das Regal mit den Comics sowie den etwas älteren Jungen, der davor auf dem Boden hockte, als gehörte er zur Einrichtung. Der Junge war völlig in eines der bunten Heftchen versunken, nichts und niemand auf der Welt würde ihn aus der Ruhe bringen.

In den folgenden Wochen tat Max genau dasselbe: Jeden Samstag besuchte er den Kiosk, um dort Comics zu lesen. Der dicken Frau schien es nichts auszumachen, im Gegenteil. Sie lächelte nur und nickte ihm aufmunternd zu. Wann immer er eintrat, war ihr winziger runder Mund mit einem neuen, knallbunten Lippenstift bemalt, glänzte auf ihren Fingernägeln ein neuer, exotischer Nagellack. Mal war der ältere Junge bei diesen Gelegenheiten da, dann wieder nicht. Einmal nahm Max allen Mut zusammen und sprach ihn an. Er sprach ihn, genauer gesagt, zweimal an, bevor der Junge von seinem Comic aufblickte, so unwillig, dass Max es schon bedauerte, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben. Plötzlich war er sich ganz sicher, dass dieser Junge ebenfalls ein Egalkind war. Ein etwas älteres Egalkind als er selbst, aber das spielte keine Rolle.

»Kommst du öfters hierher?«, fragte Max.

»Dauernd.«

»Hast du keine Eltern?«

»Nicht richtig.« Der Junge senkte die Stimme zu einem Flüstern, als wollte er verhindern, dass die dicke Kioskbesitzerin ihn hörte. »Meinen Vater kenn ich nicht und meine Mutter hab ich seit Jahren nicht gesehen. Ich bin sozusagen eine Halbvollwaise.«

Na bitte, dachte Max triumphierend, hab ich’s doch gewusst!

»Und«, fragte er und zeigte auf das Regal, »hast du ’nen Lieblingscomic?«

»Klar.«

Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als der ältere Junge endlich lächelte. Das Lächeln wirkte ungeübt in dem kantigen Gesicht – in dem kantigen und dennoch seltsam verträumten Gesicht.

»Weißt du, was das Geile an Comics ist?«, sagte der Junge. »Du liest sie und denkst dir dabei, dass du jemand anders wärst. Einer aus den Comics. Danach tust du so, als wärst du er. Und dann pisst dir kein Schwein mehr ans Bein, Kleiner, verstehst du?«

Zuerst verstand Max nur, dass sein Schatz an Schimpfworten soeben um eine sehr hübsche Variante bereichert worden war. Aber später, auf dem Nachhauseweg, dachte er über die Worte des Jungen nach und kam zu dem Schluss, dass es gut klang und richtig klang, ein anderer zu sein. Noch später an diesem Tag unterhielt er sich darüber sehr lang und ausführlich mit Jan.

Ob Max sich heute mit Jan treffen wird, wie er das zu Hause angekündigt hat, steht allerdings noch in den Sternen. Heute, beschließt er beim Einsteigen in die U-Bahn, wird er nämlich auf jeden Fall zuerst nach Kreuzberg fahren. Es gibt dort einen Platz, wo es von Tauben nur so wimmelt. Ihr Gurren ist beruhigend und Beruhigung ist genau das, was er sucht.

Doch bevor er in Kreuzberg ankommt, wird Max etwas Merkwürdiges erleben. Tatsächlich ist der nächste Teil dieser Geschichte so merkwürdig, dass Max in wenigen Minuten vor lauter Verwirrung eine Station zu früh aussteigen wird, nicht an der Gneisenaustraße, sondern am Mehringdamm, und dann ein gutes Stück Weg zu Fuß zurücklegen muss. Dabei wird er nachdenken. Die Sache mit dem Einarmigen zum Beispiel war schon ungewöhnlich genug – was sollte der Firlefanz mit dem goldenen Ticket und die überflüssige Bemerkung, man könne mit diesem Ticket überall aussteigen? Ganz zu schweigen von der rätselhaften Erwähnung des mechanischen Prinzen.