Der Mond bricht durch die Wolken - Edmund Crispin - E-Book

Der Mond bricht durch die Wolken E-Book

Edmund Crispin

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Grausame Morde sorgen für Verunsicherung und Unruhe in einem kleinen englischen Dorf in Devon. Erfahrungen mit brutalen Enthauptungen hat hier niemand und die örtliche Polizei ist mehr als ratlos. Bald folgt ein Mord auf den anderen und das gesamte Dorf ist auf der Jagd nach dem Täter. Ein Schuldiger ist schnell gefunden, doch dann geschieht die nächste Tat, während der noch hinter Gittern sitzt. Damit Schluss ist mit dem Verfolgen falscher Fährten, eilt Gervase Fen, Oxford-Professor und Amateurdetektiv, zu Hilfe. Nur er kann es schaffen, die schmutzige Wahrheit ans Licht zu bringen ...

Der Mond bricht durch die Wolken“ ist Edmund Crispins neunter und letzter Roman um den exzentrischen Literaturprofessor Gervase Fen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 457

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Edmund Crispin

Edmund Crispin (eigentlich Bruce Montgomery) wurde 1921 geboren. Er studierte an der Merchant Taylors School und am St. Johns College Oxford moderne Sprachen und war dort zwei Jahre als Organist und Chorleiter tätig. Nach kurzer Lehrtätigkeit widmete sich Crispin ganz dem Komponieren – hauptsächlich von Filmmusik – und dem Schreiben. Einige Jahre war er Krimi-Kritiker bei der Sunday Times in London. Bis zu seinem Tod im Jahre 1978 lebte Crispin in Devon.

Informationen zum Buch

In einem sehr englischen Dorf in Devon folgt ein grausamer Mord dem anderen. Professor Gervase Fen aus Oxford versucht hinter ein raffiniertes Puzzle zu kommen, um den Mörder zu entlarven. Der Pfarrer, der Major und der alte Gobbo spielen mit ihm Detektiv – sehr zum Missvergnügen von Kriminal-Superintendent Ling. Am Ende steht eine Jagd aller gegen alle.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Edmund Crispin

Der Mond brichtdurch die Wolken

Roman

Aus dem Englischen von Tony Westermayr

Die Hauptpersonen

Gervase Fen

Professor für englische Sprache und Literatur in Oxford

Routh

ein Farmer und Tierquäler, zu Beginn der Ereignisse schon ermordet

Hagberd

ein Landarbeiter aus Australien, wegen Mordes in eine Heilanstalt eingewiesen

Der Major

pensionierter Offizier, ehemals Kavallerist mit einer Abneigung gegen Pferde

Der Pfarrer

von Burraford; eine auffällige, laute Erscheinung

Broderick Thouless

ein Komponist von Musik für Horrorfilme

Mrs. Clotworthy

die alte Witwe eines Fleischers

Padmore

ein Journalist aus London, sonst Afrika-Korrespondent seiner Zeitung

Kriminal-Superintendent

leitender Polizeibeamter und Pfeifenraucher

Edward Ling

Kriminalinspektor Charles Widger

sein Untergebener, der die Ermittlungen leitet

Kriminal-Constable Rankine

redseliger Ermittlungsgehilfe

Constable Andrew Luckraft

ein Kollege von ihm

ein Mann in Grau; Pferde; Kühe; ein Hochspannungsmast

Der Roman spielt in einigen kleineren Orten in der Nähe von Plymouth, England

Inhaltsübersicht

Über Edmund Crispin

Informationen zum Buch

Newsletter

1. Kapitel: Erinnerungen des alten Gobbo

2. Kapitel: Alpen sich auf Alpen türmen

3. Kapitel: Youings: eine Widerlegung

4. Kapitel: So trenne ab nur Hand und Kopf

5. Kapitel: In einem englischen Garten

6. Kapitel: Schicksal, Zeit, Gelegenheit, Zufall und Wandel

7. Kapitel: Omnium-Versammlium

8. Kapitel: Befragungen

9. Kapitel: Die kurzen Arme von Zufall und Gesetz

10. Kapitel: Wespe, kauend

11. Kapitel: Major im Galopp

12. Kapitel: Glückseligkeit war es, in diesem Morgengrau’n am Leben nur zu sein

13. Kapitel: Der Chesterton-Effekt

Impressum

1. KapitelErinnerungen des alten Gobbo

Da ist Humor, für den wir unsre heit’ren Freunde haben;

dagegen dann die Denker sich an ’ner Verschwörung laben.

THOMAS BETTERTONoder ANNE BRACEGIRDLEoder

WILLIAM CONGREVEoder ANONYM:

aus dem Vorspruch zu Congreves ›Love for Love‹.

1

»Das ist wieder einer von denen, nicht wahr«, sagte der Major. Wie manche Menschen die Anwesenheit einer Katze im Zimmer erahnen, so konnte der Major einen Journalisten spüren, oder er behauptete es jedenfalls. »Es ist wirklich sehr bedauerlich. Wie lange ist es her, seit Routh ermordet wurde?«

»Acht Wochen, glaube ich.«

»Mindestens acht Wochen. Und noch immer schnüffeln hier Reporter herum wie … wie die Schweine im Périgord. Was, zum Teufel, hoffen sie eigentlich nach dieser langen Zeit noch zu finden?«

»Ich glaube nicht, dass es ein Journalist ist«, sagte Fen. Er aß den Rest Kalbfleisch-Schinken-Pastete – konventionell geschmackloses Zeug, zu dem das ›The Stanbury Arms‹ aber in besänftigender Absicht Mango Chutney servierte – und trank Bier dazu. »Natürlich ist das kein Journalist, Major. Sie haben nur noch Journalisten im Kopf.«

Der Gegenstand ihres Gesprächs, der erst eine Minute vorher in den Schankraum gekommen war, erwies sich als harmlos aussehender Mann Anfang der mittleren Jahre mit schütterem Haar und einem runden, glattrasierten, gelblichen Gesicht. Seine Brauen waren dicht und sahen schmierig aus, wie mit Streichmesser aufgetragen, und er trug einen dunklen Straßenanzug. Als er sein Getränk bezahlte, betrachtete er Fen und den Major grübelnd und kam Augenblicke später, das Glas in der Hand, herüber, um sie anzusprechen.

»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich bin Journalist.« Fen schnaufte verärgert. »Mein Name ist Padmore«, fuhr der Fremde mit verminderter Zuversicht fort. »J. G. Padmore. Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Er blickte sie aus feuchten braunen Augen bange an.

»Nehmen Sie Platz, mein Lieber, nehmen Sie Platz«, sagte der Major verbindlich. Welche Schwächen er sonst auch haben mochte, seine Manieren wurden nie von seinen Vorurteilen beeinträchtigt. »Ich bin der Major, und das ist Professor Gervase Fen aus Oxford.«

»Guten Tag«, sagte Fen. »Meinen Unmut von eben bedaure ich. Es war der Major, über den ich mich geärgert habe, nicht Sie.«

»Ja, ich ärgere die Leute leider oft«, sagte der Major, erfreut über Fens Tribut. »Unter anderem rede ich zuviel. Ja, nun, wie ich gerade sagte, Fen ist Professor und kommt aus Oxford. Er verbringt hier seinen Studienurlaub, um ein Buch zu schreiben. Es soll vom modernen Roman handeln. Vom Nachkriegsroman, meine ich. Vom britischen Nachkriegsroman.« Er schien der Ansicht zu sein, dass Padmores Beruf die Vertrautheit mit allen diesen Einzelheiten erforderte, bevor Weiteres sich zutragen durfte.

»Burgess, Anthony«, steuerte Fen hilfreich bei. »Amis, Kingsley. Lessing, Doris. Howard, E. J., Drabble, Margaret … Brooke-Rose, Christine.«

»Hysteron proteron«, sagte der Major.

»Hysterons Werke kenne ich nicht«, sagte Padmore. »Aber die anderen sind natürlich alle sehr – sind alle sehr –«

»Schön und gut«, schlug der Major vor.

»Aber wie Sie gemerkt haben, bin ich noch immer erst im Karteikarten-Stadium.« Und auch nicht versessen darauf, darüber hinauszukommen, deutete Fens Tonfall an. Er runzelte die Stirn. »Major«, sagte er, »sagen Sie Ihrem Hund, er soll aufhören, meinen Schweinskopf zu beschnuppern.«

Padmore, der in seiner Nähe weder einen Schweinskopf noch einen Hund sehen konnte, schaute sich ein wenig verstört um. Er atmete jedoch halbwegs auf, als er einen kleinen schwarzen Whippet, skelettartig wie der Werbekandidat für eine Art Tier-Oxfam, in einer Ecke an der Schanktheke einen Sack beschnuppern sah.

»Er schnuppert nur«, sagte der Major. »Er wird nicht versuchen, ihn herauszuzerren, nicht wahr; nicht so, wie Sal das tun würde.« Sal war das andere Schoßtier des Majors, eine unermüdlich schrille Cockerhündin, geliebt von keinem außer ihrem Besitzer.

»Es ist ein Schweinskopf zur Sülze«, erklärte Fen Padmore. »Ein Geschenk.«

»Von einer Mrs. Clotworthy«, sagte der Major, in dem noch immer die Mitteilsamkeit gärte. »Eine Fleischerwitwe, die gerade fünfundsiebzig geworden ist. Sie lebt hier in Burraford in einem Cottage.«

»Oh, gut«, sagte Padmore unbestimmt. »Guten Tag«, sagte er. Und dann: »Nun, wenn ich wirklich nicht störe …«

Inzwischen hatte er sich, ohne Rücksicht darauf, ob er störe, auf einer schmalen, alten, schwarzgestrichenen Bank niedergelassen, die neben dem Tisch der beiden an die Wand geschraubt war. Es gab mehrere solche Bänke im Schankraum – zum Gedenken an eine seit Jahrhunderten ausgestorbene Kundschaft mit spitzen Gesäßen –, aber sonst war die Einrichtung ganz modern, von der Eichentheke mit ihren Spiegelwand-Regalen bis zu den grünen Glasplatten-Tischen und den dazu passenden Stühlen mit Kunststoffbezug. Isobel Jones, die Frau des Wirts, summte leise vor sich hin, während sie Gläser polierte. Am Kamin saß ein uralter Mann ohne Hemdkragen regungslos wie ein Reptil, und der Atem pfiff in seiner Nase wie der Wind in einem Kamin. Fred, der Whippet, hatte mit einem tiefen Seufzer auf Fens Sack verzichtet und sich hingelegt; er leckte nun abwechselnd seine Vorderpfoten und starrte den Major traurig an. Für ein Pub an einem sonnigen Samstagvormittag um halb zwölf war das keine große Besetzung, aber dafür gab es einen guten Grund: Fast alle Männer aus der Gegend, die im Vollbesitz ihrer Kräfte waren und sich normalerweise eingefunden hätten, hatte der Pfarrer dazu gezwungen, Stände und Zelte für das Herbstfest der Kirche zu errichten, das an diesem Nachmittag auf dem Grundstück von Aller House stattfinden sollte.

Padmore, der unauffällig einen Teil seines Ale-Schaums unter der vorgeschobenen Oberlippe abgesaugt hatte, stellte sein Glas mit Entschiedenheit auf den Tisch, um zu zeigen, dass er nun sozusagen sein Geschäft geöffnet hatte. »Es handelt sich um Routh«, sagte er. »Und natürlich um Hagberd.«

Da diese Mitteilung weder Fen noch den Major überraschte, sagten sie nichts, sondern nickten nur gleichzeitig und langsam, wie chinesische Mandarine. »Sehen Sie, ich schreibe auch ein Buch«, sagte Padmore. »Ich schreibe auch ein Buch. Über den Fall.« Sie nickten wieder. Plötzlich schien Padmore ein neuer Gedanke zu kommen. »Nein, das tue ich nicht«, sagte er.

Fen sah ihn verwirrt an.

»Sie schreiben kein Buch?«

»Ich meine, nicht jetzt.«

»Angefangen und wieder aufgegeben«, meinte der Major. »Schade. Wäre genau das Richtige gewesen, wenn Sie verzeihen, dass ich das sage.«

»Ich meine, um genau zu sein, es ist fertig.«

»Alles, was recht ist, mein Lieber, Sie sind aber schnell gewesen«, sagte der Major bewundernd. »Erst acht Wochen, seit die Sache passiert ist, und Sie haben schon ein Buch darüber geschrieben.«

»Heutzutage muss man bei Morden schnell sein«, sagte Padmore. »Sonst kommt einem ein Interessierter zuvor, und die Auflage halbiert sich. Ich habe mir Sorgen darüber gemacht, das kann ich Ihnen sagen. ›Wird mir jemand zuvorkommen?‹ frage ich mich. ›Oder habe ich Glück gehabt – führe ich gar das Feld an?‹«

»Ja, ja, mein lieber Freund, natürlich führen Sie es an.«

»Und ich kann nur antworten: ›Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht wissen.‹«

»Sie möchten das herausfinden, wissen können Sie’s natürlich nicht.«

»Alles, was ich tun kann, ist, so schnell wie möglich in Druck zu kommen und das Beste hoffen. Aber es ist nicht richtig.«

»Durchaus nicht richtig«, sagte der Major. »Schrecklich, zu so etwas gezwungen zu sein.«

»Ich meine, der Entwurf meines Buches ist nicht richtig«, erklärte Padmore gereizt. »Das heißt, bei neuerlicher Lektüre sehe ich nicht, dass die beiden Männer, Hagberd und Routh, treffend genug herauskommen. Sie springen einem nicht aus dem Buch entgegen.«

»Hoffentlich nicht«, sagte der Major. »Das wäre ja grauenhaft. Nein, nein, mein Lieber, ich weiß, was Sie meinen. Ich wollte nur einen Witz machen.«

»Nicht richtig abgerundet«, sagte Padmore. Er verstummte in vorübergehender Verwirrung, als sein Blick auf die Fotografie eines klapperdürren Mannequins in einer Zeitung fiel, die neben ihm auf der Bank lag. Dann erholte er sich und sagte: »Und da dachte ich, dass ich mir noch ein paar Tage Zeit nehmen und wieder hierher kommen sollte, um mit einigen von den Leuten zu reden, die sie gekannt haben, und zu versuchen, sie deutlicher zu charakterisieren.« So ausgedrückt, klang das Unternehmen gleichzeitig langwierig und unwirklich, wie Ektoplasma bei einer Seance. »Und dann wohl in gewissem Umfang umzuschreiben«, schloss er freudlos.

»Mich anzusehen, hat da keinen Zweck, fürchte ich«, sagte Fen. »Ich bin erst eine Woche, nachdem es geschehen war, hier eingetroffen. Versuchen Sie es beim Major. Er hat sie gekannt.«

Aber der Major schüttelte bedauernd den Kopf.

»Nur vom Guten-Tag-Sagen. Und ich möchte meinen, dass Sie das von den meisten Leuten hören werden. Schrecklicher Mensch, dieser Routh. Und Hagberd völlig übergeschnappt, der arme Kerl. So stand natürlich niemand in engeren Beziehungen zu ihnen – jedenfalls meines Wissens nicht.«

»Hagberd kam Ihnen eindeutig geisteskrank vor, wie?« fragte Padmore ernsthaft. »Schon vorher?«

»Guter Gott, ja, er war schon seit Monaten so«, sagte der Major. »Fragen Sie, wen Sie wollen. Das lag an der vielen Arbeit.«

»Aber was ich nicht verstehen kann, ist, warum niemand etwas unternommen hat, wenn schon feststand, dass er gefährlich war.«

»Aber, mein lieber Freund, das ist es ja, was keiner von uns begriffen hat. Er konnte natürlich sehr hitzig sein, vor allem gegen Routh und Mrs. Leeper-Foxe, aber wer wäre das schließlich nicht? Außerdem«, sagte der Major mit großer Sachlichkeit, »hat jeder, der auf dem Land lebt, einen leichten Klaps. Wenn wir alle anfangen würden, einander für verrückt erklären zu lassen, bliebe keiner mehr übrig.«

»Der Mord kam also völlig überraschend?«

»Tja …« Der Major legte eine kleine Denkpause ein und fuhr mit der Spitze seines rechten Zeigefingers über seinen schmalen schwarzen Schnurrbart. »Ja und nein. Das ganze Hacken und Hauen danach, nicht wahr – irgendwie passte das durchaus zu Hagberd. Was nicht zu passen schien, war die Tat selbst.« Padmore griff nach seinem Glas.

»Auf Hagberd; das tote Fleisch war totes Fleisch, nicht mehr«, sagte er sonor. Offenkundig zitierte er jetzt aus seinem Buch. »In der Misshandlung«, fuhr er fort, »der Misshandlung des toten Fleisches, heißt das, konnte demzufolge nicht das wahrhaft Böse liegen. Der Schmerz, nicht der Tod, war der Feind.« Fen und der Major merkten sich beide gleichzeitig im stillen etwas vor und verringerten die potentiellen Verkaufsziffern des Buches damit um zwei. »Ist das Ihrer Meinung nach richtig?« fragte Padmore, in die Alltagssprache zurückfallend. »Mehr oder weniger richtig?«

»Ganz richtig, mein Lieber, absolut richtig«, bestätigte der Major. »Und sehr … sehr kraftvoll ausgedrückt. Ja. Die Sache ist nur die – wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich das erwähne –, dass ich den Sinn nicht ganz einsehe, warum es überhaupt ausgedrückt wird, kraftvoll oder nicht. Ich meine, es trifft zwar zu, dass wir alle Hagberd für harmlos hielten, aber er war es doch nicht, oder? Er beachtete unsere Ansichten zum Thema überhaupt nicht und ging hin und ermordete den schrecklichen Routh trotzdem.«

An diesem Punkt mischte sich eine neue Stimme ins Gespräch ein: die Stimme des alten Mannes, der am Kamin saß.

»Hadder gar nich«, sagte sie.

2

Der alte Mann hieß Gobbo.

So wurde er jedenfalls allgemein genannt; sein richtiger Name, Gorley oder Gorman oder so ähnlich, war schon so lange nicht mehr im Gebrauch, dass er ihn vermutlich selbst vergessen hatte. Was den Namen ›Gobbo‹ anging (mit Shakespeare hatte es nichts zu tun), er wurde dem jungen Gorman (oder Godwit) wegen der außergewöhnlichen Unart verliehen, sich in übertriebener Weise zu räuspern und zu spucken. Gobbo räusperte sich und spuckte nicht mehr, da seine dritte Ehefrau ihm diese anstößigen Praktiken mit einiger Mühe ausgetrieben hatte; aber der Spitzname war geblieben (der Lohn für die dritte Frau bestand, nachdem sie erschöpft ins Grab gesunken, darin, dass ein monumentaler Steinmetz, einem Missverständnis erliegend, ›Agnes Lucy Gobbo‹ auf ihren Grabstein meißelte). Was das übrige anging, so erweckte Gobbo, wie viele Bewohner von Devonshire abseits der ausgetretenen Touristenpfade, den Eindruck, unverändert aus einem sehr frühen Roman von Eden Philipotts übriggeblieben zu sein. Er kicherte geil bei Bemerkungen über Liebe und Geschlechterbeziehungen. Er schnorrte Getränke. Er schwelgte in Erinnerungen, schlüpfrig, wenn auch nicht sonderlich fesselnd, über seine Jugend, in der die Hauptbelustigungen offensichtlich aus Wildern und Voyeurtum bestanden. Er offerierte Rezepte für Langlebigkeit. Im Winter bekam er in ›The Stanbury Arms‹ täglich kostenlos einen halben Liter Bitterbier, damit er sich um das Kaminfeuer kümmerte. Manchmal fiel es ihm auch ein, das zu tun. Leise ächzend von der Anstrengung, pflegte er ein großes Scheit auf das Feuer zu werfen, das ein anderes großes Scheit wegstieß, das dann hinauskippte und auflodernd in die Mitte des Raumes rollte.

»Hadder gar nich«, wiederholte Gobbo jetzt.

Padmore, der den Mund geöffnet hatte, um dem Major zu antworten, schloss ihn langsam wieder. Er und der Major drehten sich Gobbo zu wie Geschütztürme eines Kriegsschiffes in der Wochenschau. Fen löffelte versonnen ein ausgewähltes Stück Bengal Club aus dem Glas und aß es mit den Fingern.

Der Major fragte: »Wer hat gar nicht was getan, Gobbo?«

»Er haddnich umgebracht.«

»Hagberd hat Routh nicht umgebracht? Aber, mein lieber Freund, das ist doch Unsinn. Wir wissen, dass er es getan hat.«

»Haddernich«, sagte Gobbo.

Diese Bemerkung hatte, wenn auch undeutlich, eine große Wirkung, so dass der Major sich gehalten sah, ein paar Augenblicke zu pausieren, bevor er das Thema weiterverfolgte. Dann sagte er: »Aber warum, Gobbo? Die Polizei war mehr oder weniger überzeugt. Wie kommen Sie darauf, dass sie sich geirrt hat?«

Gobbo bewegte lautlos den Kiefer. Er dachte nach. Schließlich sagte er: »Will Ihn’ sagen, warum.«

Goldübergossen und gewärmt vom stetigen Oktober-Sonnenlicht, warteten sie so geduldig wie möglich darauf, dass Gobbo weitersprach. Isobel Jones war in einem Nebenraum verschwunden, aus dem Klirren und Poltern verriet, dass sie Flaschenkisten umherhievte. Der Whippet Fred, nicht mehr neugierig auf Fens Sack, hatte sich wieder zu den Menschen gesellt und stieß mit der Schnauze die Gummispitze des angelehnten Spazierstocks an, den der Major wegen seiner Arthritis benutzte. Wie die meisten Hunde verabscheute Fred Gaststuben, und den Stock des Majors umzustoßen war eine seiner gewohnten Methoden, um erkennen zu lassen, dass nach seiner Meinung die Zeit zum Aufbruch gekommen war.

Die Stille dehnte sich.

Fen wischte sich die Finger an seinem Taschentuch ab und zündete sich eine Zigarette an. Endlich begann Gobbo, abrupt zu sprechen.

»Will Ihn’ sagen, warum«, sagte er noch einmal.

Der Stock des Majors fiel klappernd zu Boden.

»Ja, nun, mein lieber Freund, dann erzählen Sie es uns schon«, sagte der Major und hob den Stock mit der Gewandtheit langer Übung auf.

Wieder bewegte sich Gobbos Kiefer, diesmal mit einem schnarchenden Geräusch. Er sammelte Speichel, mutmaßlich in der Absicht, weiterzusprechen. Wieder warteten sie. Als Gobbo aber nach einer spannungsgeladenen Pause immer noch nicht weitersprach, begriffen sie plötzlich, dass sich sein Geist vom Thema gelöst hatte und rasch davon trieb.

»Schnell! Einholen!« sagte Padmore erregt, und der Major rief mit militärischer Schärfe: »Gobbo! Beantworten Sie bitte die Frage!«

Zum Glück war Gobbo nie beim Militär gewesen, so dass das wirkte.

»Ähm«, sagte er. Die Strömung hatte kehrtgemacht, und er näherte sich wieder dem Land.

»Ähm. Ähm, ähm.« Schlagartig erfasste ihn ein Energieanfall. »Hadder gar nich«, begann er doppio movimento, accelerando zu rekapitulieren. »Er haddennich umgebracht. Will Ihn’ sagen, warum. Dieweil«, kam triumphierend die Koda, allegro assai, »ich midd im geredet hab’.«

Padmore starrte ihn an.

»Mit Hagberd geredet?«

»Hja.«

»Wann?«

»Hja.«

»Konzentrieren, Gobbo!« sagte der Major streng. »Sie haben wann mit Hagberd gesprochen?«

»Hja.«

»Konzentrieren! Sie versuchen uns klarzumachen, dass Sie zu dem Zeitpunkt, als er angeblich Routh tötete, mit Hagberg gesprochen haben?«

»Hja.«

»Und sie sind ganz sicher, dass Sie wissen, wann das war? Ich meine: das Datum und die Tageszeit?«

»Voll bekloppt war er.«

»Ja, ja, mein Lieber, das wissen wir alles. Was ich frage, ist, wann war das?«

Gobbo verfiel wieder in Schweigen, aber diesmal erkennbar deshalb, weil er dem fraglichen Thema seine ganze Aufmerksamkeit widmete.

»Zweiundzwanzigster«, verkündete er schließlich entschieden.

»Am zweiundzwanzigsten August … nun, das stimmt allerdings«, sagte der Major, dessen Stimme sich wieder in Zivil geworfen hatte. »Das stimmt durchaus.«

»Montag«, ergänzte Gobbo, von seinem Erfolg ermutigt.

»Ja, das ist ebenfalls richtig. Es war ein Montag. Und die Zeit?«

»Halb acht, wie ich geh’.«

»Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie um halb acht Uhr hier mit Hagberd gesprochen haben?«

»Hja.«

»Aber, mein lieber Freund, das kann nicht sein. Sie wären beide von den Leuten gesehen worden.«

»Wir sin’ draußen unnerm Baum gewes’n.«

»Oh … Sie schieben Gobbo jeden Abend hier um halb acht Uhr hinaus«, flüsterte der Major erklärend Padmore zu, dessen Augen von der Anstrengung, alles zu verstehen, schon glasig waren, »weil die Frau, die ihm sein Abendbrot besorgt, nicht wartet. Aber rund um die alte Ulme draußen ist eine Sitzbank angebracht, und er setzt sich beim Heimweg dort hin und rastet … Sie haben also an jenem Abend mit Hagberd unter dem Baum gesprochen, Gobbo?«

»Hja.«

»Versuchen Sie doch mal, ein bisschen gesprächiger zu sein, mein Lieber, ja?« sagte der Major antreiberisch. »Bei diesem Tempo sitzen wir nächste Woche noch hier. Sie haben an jenem Abend mit Hagberd gesprochen – gut. Also, worüber haben Sie sich unterhalten?«

»Hja.«

»›Ja‹ ist keine passende Antwort, Gobbo.«

»Hja.«

»Nein, ist sie nicht. Ich will es anders ausdrücken. Worüber hat Hagberd gesprochen?«

Gobbo, unverkennbar im Begriff, seine einsilbige Antwort zu wiederholen, korrigierte sich im letzten Augenblick und ersetzte sie durch etwas anderes. Er sagte: »War’ übers Kreuz mit ’ner Sheila, hadder gesagt.«

Diese unwahrscheinliche Ansammlung von Silben hatte eine zeitweilig betäubende Wirkung, nicht ihres Inhalts wegen, sondern weil sie zunächst überhaupt keinen Sinn zu ergeben schien. Nach einigen Augenblicken nickte Fen jedoch in plötzlichem Verständnis.

»Hagberd war Australier, nicht wahr?« sagte er. »Er hatte also Ärger mit einem Mädchen.«

»Mit welchem Mädchen, Gobbo?« fragte der Major.

»Hat sich nich wenich aufgeregt.«

»Wer, das Mädchen?« fragte Padmore verständnislos.

»Er meint den Mann, mein lieber Freund«, erklärte der Major. »Jedenfalls in diesem Zusammenhang.«

»In diesem Zusammenhang?« sagte Padmore schwerfällig. »Ja. Ich verstehe. Aber welches Mädchen denn? Das ist das erstemal, dass ich von einer Frau in diesem Fall höre – ich meine, abgesehen von Mrs. Leeper-Foxe und der kleinen Bust.«

»Ich glaube nicht, dass Hagberd Mrs. Leeper-Foxe als eine Sheila bezeichnet hätte«, sagte der Major. »Sheila ist ein mehr oder weniger schmeichelhafter Ausdruck, nicht?« Er ging wieder zur Attacke über. »Passen Sie auf, Gobbo. Sie sagen, Hagberd hat sich über eine Sheila ausgelassen. Über welche Sheila?«

»Kenn’ keine Sheilas«, gab Gobbo mit fester Stimme zurück, so als wäre ihm etwas vorgeworfen worden. »›Is’n auslännischer Name«, meinte er, Unterhaltung mit Belehrung ergänzend.

»Dann versuchen wir es anders«, sagte der Major. »Gobbo, Sie wissen doch, wo Routh ermordet worden ist, nicht?«

»Hja.«

»Nun, wo?«

»Bawdeys Meadow.«

»Und wie weit ist das von hier?«

Gobbo grübelte.

»Mehr wie zwei Meil’n«, sagte er schließlich.

»Ja, nun, mein Lieber, sehen Sie, wenn Hagberd zwei Meilen von hier entfernt war und Routh ermordete, können Sie unter dem Baum nicht mit ihm gesprochen haben, oder?«

»Hja.«

»Nein, können Sie nicht, Gobbo.«

»Er kann nicht mit ihm gesprochen haben«, sagte Padmore gereizt. »Er meint einen anderen Tag.« Er sprach Gobbo direkt an: »Sie können an dem Abend nicht mit Hagberd gesprochen haben. Oder jedenfalls nicht zu der Zeit, die Sie angeben.«

Gobbo zog würdevoll die Luft durch die Nase.

»’s is aber wahr«, sagte er. »Un’ wenn Sie’s nich glauben woll’n, dann fra’n Sie den da oben«, fuhr er fort und ließ den Kopf zur Decke hinaufzucken. »Der sieht all’s, weiß all’s.«

Diese Hinweise, die für Padmore Gott zu bezeichnen schienen, wurden vom Major weltlicher ausgelegt.

»Jack Jones?« sagte er. Er meinte den Wirt von ›The Stanbury Arms‹, einen notorischen Arbeitsscheuen, der fast die ganze Zeit oben in seinem Bett verbrachte. »Aber wenn er Sie gesehen hätte, wäre er doch wohl gehalten gewesen, das zu erwähnen, möchte ich meinen.«

»Das ist doch alles Unsinn«, sagte Padmore. »Es muss alles Unsinn sein.«

»Immerhin, überlegen Sie, was für einen Knüller Sie in der Hand hätten, mein Lieber, wenn sich herausstellen sollte, dass Hagberd Routh doch nicht umgebracht hat.«

»Ich will keinen Knüller. Ich will einfach nicht fünfundsiebzigtausend Wörter noch einmal schreiben.«

»Da sollte aber jemand mit Jack Jones darüber sprechen«, sagte Fen.

»Aber das ist alles Unsinn.«

»Na, kommen Sie, mein Lieber«, meinte der Major, »wir können die Sache in diesem Stadium doch nicht einfach auf sich beruhen lassen, oder?«

»Wenn etwas daran wäre, hätte dieser Jack Jones, oder wen Sie sonst meinen, das doch erwähnt. Sie haben es selbst gesagt.«

»Ja, aber er weiß vielleicht etwas, wovon er nicht weiß, dass er es weiß. Fen, mein Lieber, halten Sie es nicht für möglich, dass Jack Jones etwas weiß, wovon er nicht weiß, dass er es weiß?«

»Durchaus möglich, würde ich sagen.«

»Na also, dann müssen wir es ausgraben«, sagte der Major, so, als sei Jack Jones eine verlockende Schicht von mineralträchtigem Lehm. »Fragen wir Isobel, ob wir jetzt hinaufgehen und mit Jack sprechen können, ja?«

»Jetzt?« stieß Padmore hervor.

»Ja, warum nicht?«

Und Padmore seufzte.

»Na ja, gut«, sagte er resigniert. »Wir jagen offenkundig Hirngespinsten nach – das hoffe ich wenigstens. Aber meinetwegen.« Sie standen also auf – der Major mühsam, seines arthritischen Hüftgelenks wegen – und gingen zur Schanktheke. Fred, der mit einem Freudengejaule aufgesprungen war, als er gesehen hatte, dass sie sich in Bewegung setzten, ließ sich verzweifelt wieder niedersinken, als ihre Richtung offenbar wurde. Mit der für hohes Alter typischen Plötzlichkeit war Gobbo fest eingeschlafen; sein Mund stand offen und ließ ockerfarbenes, ledernes Zahnfleisch und eine rosige Zunge erkennen. Isobel Jones, aus dem Nebenraum geholt, sagte, ja, natürlich, ihr Mann würde sich freuen, sie zu sehen.

»Augenblick nur, ich gebe ihm Bescheid, dass Sie kommen«, erklärte sie, »damit er sich herrichten kann. Nicht, dass er nicht immer ganz sauber und ordentlich wäre, aber wenn er Besuch bekommt, strengt er sich gerne besonders an.« Sie griff nach einem Besenstiel und klopfte damit leicht an die Decke, und nach einer kurzen Pause tönte von oben ein Antwortklopfen herunter.

»Na also«, meinte Isobel und nickte ihnen strahlend zu.

»So lasst uns denn aufbrechen«, sagte Fen.

3

Jack Jones’ Berufung – sauber, gesund und wohlfeil überhaupt nichts zu tun – war immer einhergegangen mit der vernünftigen Erwartung, dass sie ihn glücklich machte – wenngleich es natürlich Schwierigkeiten gegeben hatte, wie jede wahrhafte Neuerung sie zumindest zu Beginn erleiden muss. In Jack Jones’ Fall war das größte Problem eine Ärztin in Glazebridge gewesen, die es sich vor drei Jahren in den Kopf gesetzt hatte, zu versuchen, die Lizenz für ›The Stanbury Arms‹ widerrufen zu lassen, mit der Begründung, die systematische körperliche Leblosigkeit des Wirtes müsse eine tiefsitzende psychische Störung widerspiegeln, die dazu angetan sei, die Toiletten zu vernachlässigen, den Whisky zu verwässern, eine Rassenschranke aufzurichten und viele ähnliche gesellschaftsfeindliche Katastrophen hervorzurufen; und obwohl die Magistratsbeamten von Glazebridge, bei denen die Ärztin nicht beliebt war, mit der Polizei von Glazebridge zusammengearbeitet hatten, um diesen pragmatischen Unsinn abzublocken, gab es die Ärztin immer noch, und Jack Jones befand sich (oder, um genauer zu sein, lag) in ständiger Furcht vor einer Erneuerung des Angriffs. Aus diesem Grund zwang er sich einmal jährlich zu fieberhafter Aktivität, stand auf, zog sich an und ließ sich nach Glazebridge fahren, alles, um persönlich an der Sitzung für die Vergabe von Schankkonzessionen teilzunehmen und dafür zu sorgen, dass sein Lebensunterhalt nicht noch einmal in aufdringlicher Weise gefährdet wurde. Wie er als erster selbst zugab, waren diese Expeditionen allein vom Aberglauben bestimmt, dass Konzessionäre stets lange vorher unterrichtet werden, wenn sich Einwände gegen sie erheben; aber er wäre trotz der schrecklichen Anstrengungen, die sie verlangten, unfähig gewesen, sie zu unterlassen, so sehr sie ihn auch ermüden mochten.

In jeder anderen Beziehung war sein Dasein jedoch ein sonniges. Nachts schlief er mit Isobel im Schlafzimmer hinten im Haus. Am Morgen zog er, nachdem er sich mit einer Rudermaschine Bewegung verschafft und ein Bad genommen hatte, in ein anderes Bett im Wohnzimmer an der Vorderseite um, das so aufgestellt war, dass er aus dem Fenster auf den Parkplatz hinaussehen und das Kommen und Gehen der Leute während der Schankzeiten verfolgen konnte. Was Isobel betraf, so genoss sie es, die Gastwirtschaft allein zu führen, und sie freute sich darüber, dass ihr Mann die Gelegenheit gehabt hatte, sich eine Lebensführung einzurichten, die ihm so entschieden zusagte.

Jack Jones, ein magerer, herausgeputzter Mann mit Hornbrille, die ihm zu groß zu sein schien, begrüßte das Komitee vom Schankraum mit seiner gewohnten geselligen Wärme.

»Guten Tag«, sagte Padmore, als er vorgestellt wurde. »Ich hoffe, es geht Ihnen besser.«

So mussten Fen und der Major also erklären, dass ihr Gastgeber kein Invalide sei, sondern nur eine tief sitzende Abneigung dagegen besaß, auf den Beinen zu sein.

»Rückkehr in den Mutterschoß, wie man mir sagt«, erklärte Jack Jones und tätschelte die straff gespannte Bettdecke wohlwollend. »Ich bin emotionell unreif – kann den Gedanken nicht ertragen, mich den Problemen des Lebens zu stellen. Nun, es ist wirklich schön, Sie alle zu sehen«, sagte er mit offenkundiger Aufrichtigkeit. »Ich freue mich.«

Sie erwiderten, dass sie sich auch freuten, und der Major erläuterte den Grund ihres Kommens.

»Tja, ich weiß nicht«, sagte Jack Jones und zog die Brauen ein wenig zusammen. »Es ist ein bisschen schwierig. Ich erinnere mich natürlich an den Abend, weil die Polizei alle Leute in der Umgebung darüber befragt hat – selbst mich. Auf diese Weise hat sich mir das natürlich eingeprägt. Und eines kann ich Ihnen sagen: Gobbo ist an diesem Abend tatsächlich ganz pünktlich weggegangen. Ich weiß es, weil ich auf die Uhr schaute, da der Nachmittag wie im Flug vergangen war und ich es kaum glauben konnte, dass es schon so spät sein sollte. Und er setzte sich auch wie üblich unter die alte Ulme. Aber ob er dort mit jemandem gesprochen hat, weiß ich nicht genau. Denn, sehen Sie …«

Mit Bedacht, um zu vermeiden, dass er seine Muskeln unnötig strapazierte, schob Jack Jones sich drei, vier Zentimeter an den Kissen hinauf. Er zeigte zum Fenster hinaus. Um den Kopf des Bettes gedrängt, blickten Fen, Padmore und der Major in die angezeigte Richtung. Dort stand auch wirklich die Ulme mit der Sitzbank rund um den Stamm. Dort stand ebenso der verbeulte graue Morris 1000, den Padmore in Glazebridge gemietet hatte. Und dort stand auch eine viel neuere, größere, glänzendere Limousine. Hunderte von kleinen Vögeln nicht erkennbarer Rasse saßen in Reihen auf den Telefondrähten und pickten emsig unter ihren Flügeln. Ein leichter Wind wehte. In der Mitte des Weges hinter dem Parkplatz hatte eine kauernde Katze einen Erstickungsanfall, bemüht, eine Haarkugel heraufzuwürgen.

»Denn, sehen Sie«, sagte Jack Jones, »von meinem Platz aus« – und seine Betonung machte klar, dass man ihn dort als praktisch unverrückbar betrachten konnte –, »von meinem Platz aus kann man den Baum sehen. Beugen Sie sich weiter vor.« Sie beugten sich weiter vor. »Sie können den Baum sehen – nur dann nicht«, sagte Jack Jones, »wenn etwas davorsteht.«

Der Major richtete sich eher abrupt auf.

»Ja, gewiss, mein Lieber«, sagte er. »Man kann sehr selten etwas sehen, wenn etwas davorsteht. Jedenfalls nicht richtig. An jenem Abend stand also etwas davor, ja? Ein Auto, nehme ich an. Aber könnten Sie in diesem Fall von hier oben nicht trotzdem etwas gesehen haben, wenn –«

»Nein, weil es eine Pferdebox war«, sagte Jack Jones. »Eine von Clarence Tully. Ich habe ihm gesagt, dass er sie jederzeit hier abstellen kann, und an dem Abend tat er es, und deshalb war mein Blick auf die alte Ulme verstellt.«

»Sie konnten Gobbo also gar nicht sehen?«

»O doch, Gobbo konnte ich schon sehen. Na ja, zum Teil.«

»Konnten Sie dann nicht sehen, ob er mit jemandem sprach?«

»Nein, das konnte ich leider nicht. Jeder, mit dem er sprach, wäre von der Pferdebox völlig verdeckt gewesen.«

»Ja, gewiss, aber was ich meine ist, Sie konnten sehen, dass er sich mit jemandem unterhielt, nicht? Sie konnten seine Mundbewegungen sehen und so weiter.«

»Nein.«

»Aber wieso denn nicht, mein Lieber?«

»Weil ich nur Gobbos Rücken sehen konnte. Sein Gesicht sah ich überhaupt nicht.«

»Hm«, sagte Fen, »aber wie war es, als Gobbo ging, um sich wieder auf den Heimweg zu machen?«

»Ich war leider nicht hier. Ich war aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen. Und als ich zurückkam, war Gobbo schon fort … es tut mir leid«, erklärte Jack Jones traurig, »aber so ist das.«

»Rein aus Interesse«, sagte Fen, »war denn überhaupt jemand auf dem Parkplatz, als Sie zurückkamen?«

»Nein, niemand. Nichts, außer der Pferdebox. Montags ist es immer ruhig. Nein, der einzig andere – Aber warten Sie!« sagte Jack Jones plötzlich aufgeregt. »Warten Sie! Der Pfarrer!«

»Der Pfarrer, mein Lieber? Was ist mit ihm?«

»Er kam vorbei.«

»Kam vorbei? Wo? Wann?«

»Kurz bevor ich auf die Toilette ging, war das«, erwiderte Jack Jones, dankbar dafür, endlich etwas Positives gefunden zu haben, das er ihnen sagen konnte. »Der Pfarrer kam ganz schnell heran – Sie wissen ja, mit seinem schlaksigen Gang – und starrte finster den Weg hinauf, der zu Mrs. Clotworthys Haus führt, und als er vor der alten Ulme war, funkelte er auch Gobbo an.«

»Funkelte?« sagte Padmore etwas überrascht. Er hatte offenbar keine Ahnung davon, dass der Pfarrer von Burraford, ein von Natur aus reizbarer Mann, schon beim bloßen Anblick eines Gemeindemitgliedes mit Verärgerung reagieren konnte, gleichgültig, wie harmlos dessen Beschäftigung war. »Funkelte. Verstehe. Ja. Und was hat er dann gemacht?«

»Er ging vorbei.«

»Aber wenn Hagberd dort gewesen wäre und sich mit Gobbo unterhalten hätte, müsste er ihn doch gesehen haben, oder?«

»Nein. Nicht, wenn Hagberd hinter der alten Ulme saß. Überzeugen Sie sich, wie dick der Stamm ist.«

»Ja, das sehe ich, aber – aber – hören Sie, drücken wir es so aus. Blickte Gobbo nach rechts?«

»Nein, nach links.«

»Ich versuche es noch einmal. Ich meinte, blickte Gobbo in die richtige Richtung, um mit Hagberd reden zu können, wenn Hagberd hinter der Ulme saß?«

»Ach, das. Ja, sicher.«

»Wir werden den Pfarrer fragen müssen«, meinte der Major. »Es bleibt nichts anderes übrig.«

»Aber wenn er Hagberd mit Gobbo reden gesehen hätte, hätte er der Polizei das doch gesagt.«

»Ja, mein Lieber, aber was wir vorher schon sagten: Wenn Gobbo beobachtet, wurde, wie er mit irgendeiner Person sprach, würde das seine Behauptung zumindest soweit bestätigen. Wir müssen deshalb weiter nachforschen, scheint mir, solange es etwas zu erforschen gibt. Jack, finden Sie nicht auch?«

»Du meine Güte, ja, Major. Das ist alles sehr interessant – sehr aufregend. Es tut mir nur leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen kann, aber schuld hat der Rhabarber, den Isobel mir an jenem Tag zum Mittagessen gegeben hatte.«

2. KapitelAlpen sich auf Alpen türmen

Obschon wir ›Parson‹ (Pfarrer) anders schreiben,

ist das nur ›Person‹ … und auf lateinisch persona,

und personatus ist ein Pfarrhaus.

John Seiden ›Tischgespräche‹

1

So ließen sie Jack Jones allein und gingen wieder die Treppe zum Schankraum hinunter, der sich inzwischen zu füllen begann. Gobbo schlief noch immer – in einem gefährlich aussehenden Winkel vorgebeugt, so als hielte er den Kopf nach unten, um einer Ohnmacht vorzubeugen –, und Padmore, der ihm weitere Fragen stellen wollte, sagte, es wäre nur human, ihn zu wecken und ihn wieder aufzurichten. Aber der Major war anderer Meinung. Sie sollten zuerst besser den Pfarrer aufsuchen, meinte er, und notfalls später auf Gobbo zurückkommen. Was Gobbos Haltung beträfe, so schlafe er oft so, und sie scheine ihm eher gut zutun, möglicherweise wegen der Minderung des Drucks vom Herzen auf das Zwerchfell oder umgekehrt. Nachdem diese Theorie Padmore vorübergehend zum Schweigen gebracht hatte, holten sie Fred, den Whippet, und Fens Sack und traten in den Altweibersommer hinaus.

Die kleinen Vögel waren verschwunden, ohne Zweifel auf der ersten Teilstrecke nach Süden, auch die Katze war weg. Von den Zwingern der Meute Glazebridge und Umgebung, eine Dreiviertelmeile entfernt, tönte Hundegekläff herüber, auf diese Entfernung unheimlich an das Geschrei von Fußballanhängern in einem Stadion erinnernd. Plötzlich gab es eine dumpfe Explosion, und ein Hinterreifen von Padmores Mietwagen sank zu einem Gummipfannkuchen zusammen.

»Jetzt sehen Sie sich das an«, sagte Padmore.

Aber der Major erklärte, er solle wegen seiner Arthritis ohnehin zu Fuß gehen, so dass sich die Expedition zum Pfarrer, nachdem Padmore das Auto sekundenlang starr fixiert hatte, auf den Weg machte. Mit einem Winken für Jack Jones am Fenster bog sie auf dem Weg in Richtung Aller und Glazebridge nach links ab – vorbei an der Kirche mit ihrem hohen Turm (›papistisch‹, so lautete das Urteil des Pfarrers über Kirchtürme) und ihrem Geläut von sieben Glocken (›papistisch‹); vorbei am alten Pfarrhaus, wo Mrs. Leeper-Foxe beim Frühstück ihr schreckliches Erlebnis gehabt hatte; und so nach etwa zweihundert Metern aus Burraford hinaus in das, was vor dem Eingreifen des Central Electricity Generating Board offene Landschaft gewesen war.

Stromleitungen marschierten mit- und gegeneinander, kreuzten sich in allen möglichen Winkeln wie Kolonnen von Militär-Kradfahrern bei einer Zapfenstreich-Vorführung; das Stromversorgungsamt führte ausländische Besucher mit Vorliebe nach Burraford, wenn es seine Methoden vorführen wollte, nie einen Mast allein zu verwenden, wo drei es genauso gut taten. Unter dem Eisenwerk-Gewirr gab es jedoch Felder, Hecken, Bäume, Bäche, Fußwege und auch Nutztiere. An einem einigermaßen klaren Tag konnte man auf der rechten Seite einen Teil der südöstlichen Landstufe des Hochmoores sehen. Zur Linken gewahrte man die Fassade von Aller House aus dem achtzehnten Jahrhundert. Geradeaus – ungefähr eine Meile entfernt, wo der Weg zu einer Reihe enger Kurven anstieg und die Hecken hohen Steinmauern und Böschungen wichen – lag das Dorf Aller. Dort wohnte der Pfarrer, und dort hatte Fen für die drei Monate seines Aufenthalts ein kleines Landhaus gemietet. Wenn man Aller hinter sich ließ, erreichte man nach etwa fünf Meilen Glazebridge, die kleine, aber wohlhabende Marktstadt, die Mittelpunkt des Bezirks war.

Infolge der Hüfte des Majors kamen sie nur langsam voran, aber Fens Sack war auch schwer genug, so dass Fen froh war, nicht so schnell gehen zu müssen. Und Padmore war selbst zu seinen besten Zeiten kein Sportler gewesen. Sie begegneten Leuten, die grüppchenweise von den Vorbereitungen für das Pfarrfest zurückkehrten. Ein, zwei Meter vor den dreien lief Fred und drehte häufig den Kopf, um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren. Er schien zu befürchten, dass, wenn seine Wachsamkeit nur einen Augenblick nachließ, an der Straße wie durch Zauberei eine Gastwirtschaft emporschießen und den Major verschlucken werde.

Padmore legte Rechenschaft über sich ab.

Er war, wie sich herausstellte, genaugenommen gar kein Polizeireporter. In Wirklichkeit war er Fachmann für afrikanische Fragen und vor drei Monaten mit der unliebsamen Auszeichnung vom schwarzen Kontinent zurückgekehrt, von mehr Entwicklungsländern schneller ausgewiesen worden zu sein als jeder andere Journalist jeder beliebigen Nationalität irgendwo sonst.

»Unterentwickelte Länder mit überentwickelter Empfindlichkeit«, sagte Padmore verdrießlich.

Da seine Zeitung, die ›Gazette‹, es müde geworden war, aufgebrachte Meldungen über die diversen Ausweisungen ihres Sonderkorrespondenten zu bringen, hatte sie ihn schließlich nach London zurückbeordert, ein Ruf, dem er gefolgt war, sobald er das Gefängnis in Sambia hatte verlassen können, in das man ihn wegen eines Artikels gesteckt hatte, der die Aufmerksamkeit der Welt darauf lenkte, wie gut Präsident Kaunda stets gekleidet sei (das war als Versuch gewertet worden, Verschwendung höheren Orts anzudeuten). Man hat ihm bei der ›Gazette‹ keine Schuld zugemessen, aber nicht viel Beschäftigung für ihn gefunden, bis zu dem Abend, als Chief Superintendent Mashman seine Pensionierung nach dreißig Dienstjahren bei der Kriminalpolizei feierte. Alle vier Polizei- und Gerichtsreporter der ›Gazette‹ hatten teilgenommen und auf der Rückfahrt einen Lastwagen von Bird’s-Eye-Kühlkost gerammt, worauf sie ins Krankenhaus gebracht worden waren. Als am folgenden Morgen die sensationelle Nachricht von Rouths Ermordung eingegangen war, hatte man deshalb Padmore beauftragt, darüber zu schreiben; nicht (wie er zugab) weil er dafür besonders qualifiziert gewesen wäre, sondern weil sein Umherirren in der Redaktion allen auf die Nerven zu gehen begonnen hatte.

»In Afrika werden Sie wohl viel Schlimmeres gesehen haben«, hatte sein Redakteur gesagt.

»So fuhr ich nach Glazebridge und blieb eine Woche im ›Seven Tuns‹«, erzählte Padmore, »und da kam ich auf den Gedanken …, warum werden wir plötzlich so schnell?«

Der Major erklärte, sie beeilten sich so, weil sie im Begriff seien, am Pisser vorbeizukommen.

Padmore antwortete: »Aha.«

»Hören Sie das«, sagte der Major. »Er lässt sich wieder vernehmen.«

Es war tatsächlich etwas zu hören, erkannte Padmore, und zwar etwas Beunruhigendes. Es wurde erzeugt von einem großen altmodischen Mast nahe der linken Wegseite; und es sei auf die Grundnatur dieses Geräusches zurückzuführen, erläuterte der Major, dass dieser Mast, der es hervorbrachte, in der ganzen Gegend als der ›Pisser‹ bekannt war. (Selbst überaus achtbare ältere Damen, so behauptete der Major wahrheitsgemäß, pflegten einander anzurufen und zu sagen: »Der Nachmittag ist so herrlich, warum treffen wir uns nicht am Gatter beim Pisser und gehen bis Worthington’s Steep spazieren?«) Lange Vertrautheit mit dem Pisser hatte jedoch nicht zur Gleichgültigkeit geführt. Im Gegenteil, es herrschte allgemein die Ansicht, dass das Geräusch des Pissers eines Tages zu einer Detonation führen würde, so dass die Leitungen herunterfallen würden, die er trägt, und diese auf jeden in der Nähe niederstürzen und ihn durch Starkstrom töten würden. Klagen über die Bedrohung durch den Pisser waren von den E-Werk-Leuten zunächst geringschätzig abgetan worden, um so mehr, als er nur in unregelmäßigen Abständen tätig wurde, so dass die zuerst eingesetzten Techniker ihn so stumm wie eine Auster vorgefunden und voll Empörung darüber, dass ihre kostbare Zeit von falschen Alarmrufen in Anspruch genommen wurde, wieder abgezogen waren. Monate später war der Pisser jedoch von einem hohen Beamten des Werkes belauscht worden, der in der Nähe mit Frau und Kindern bei einem Picknick gewesen war; die Haltung der Behörde hatte einen schlagartigen Wandel erfahren, und der Pisser wurde jetzt häufig von Technikern in Hubschraubern oder Werkstattwagen besucht, in der Hoffnung, ihn bei seiner Geräuscherzeugung zu ertappen und endgültig festzustellen, was dahinter steckte. Im zweiten Teil des Überwachungsprogramms hatten sie bisher keine Erfolge aufzuweisen gehabt, da der Lärm des Pissers nicht nur zwei vollständige Überholungen gemeinhin überstanden, sondern sowohl an Lautstärke als auch an Häufigkeit sogar noch zugenommen hatte. Aus diesem Grund beeilte sich jedermann, wenn er in seiner Nähe war, ihn möglichst rasch zu passieren.

Bis Padmore über das Verhalten des Pissers genau unterrichtet war, hatten sie ihn sicher passiert, aber da der Major vom gleichzeitigen Reden und Hasten außer Atem war, blieben sie zu einer kurzen Rast stehen, wobei ein Pferd sie über die Hecke anstarrte.

»Du schlimmes Tier, du«, sagte der Major zu ihm.

»Ist es in schlechter Verfassung?« fragte Padmore.

»Nein, nein, mein Lieber, es ist ein ganz gewöhnliches, gesundes Pferd«, versicherte der Major. Das Pferd rollte mit den Augen und zitterte mit den Ohren auf seinem Schädel. »Schreckliche, heimtückische Wesen«, sagte der Major. »Beißen einem den Kopf ab, ehe man sich umsieht.«

Wie um das zu bestätigen, bleckte das Pferd große gelbe Zähne und packte einen Eschenschössling, wich zurück und versuchte erfolglos, den Schössling aus seiner Verankerung in der Hecke zu reißen.

»Aber ich dachte, Sie wären bei der Kavallerie gewesen«, sagte Fen zum Major, als sie weitergingen. »Bevor Panzergrenadiere daraus wurden, meine ich.«

»Ganz richtig, mein Lieber. Zwanzig Jahre lang, in Indien.«

»Aber haben Sie sich da nicht an Pferde gewöhnt?«

»Nein, im Gegenteil«, erwiderte der Major. »Je mehr ich von Pferden sah, desto weniger konnte ich mich an sie gewöhnen. Ich war eine Woche lang betrunken«, gestand er, »um den Tag zu feiern, an dem sie abgeschafft wurden. Denn als sie fort waren, nicht wahr, konnte ich nicht mehr stürzen.«

»Sie wollen sagen, Sie sind oft gestürzt.«

»Nein, gar nicht. Ich hatte nie einen Sturz, selbst als ich in meiner Kindheit reiten lernte nicht. Sie können jetzt verstehen, was das bedeutete. Das Gesetz der Wahrscheinlichkeit, und so weiter«, sagte der Major, mit Hilfe seines Stockes flott ausschreitend. »Je länger ich ohne Sturz blieb, desto wahrscheinlicher wurde es, dass ich einen haben würde. Am Ende zerrte das ein bisschen an den Nerven, weil jedes Mal, wenn ich auf ein Pferd stieg, die Chancen ungefähr eine Milliarde zu eins standen, dass ich nicht stürzen würde. Ich habe aber gewonnen«, sagte er stolz. »Ich überlebte. Kein Sturz. Ich bin noch da, um davon zu berichten. Padmore, reiten Sie?«

Padmore verneinte.

»Lassen Sie sich nie verlocken, es zu versuchen«, sagte der Major. »Außer, es gefällt Ihnen, auf einem beweglichen Doppelbett zu sitzen, das von zehn mordlustigen Irren getragen wird.«

Auf der linken Seite kamen sie an der geraden, steinigen Wagenspur vorbei, die, auf beiden Seiten mit Draht eingezäunt, zum Grund von Aller House führte; zwischen den Bäumen und den vielen Masten erhaschten sie Blicke auf die Stände und Zelte des Pfarrfestes. Als sie nach einer Biegung in das Dorf Aller gelangten, ging es auf der rechten Seite vorbei an dem Weg, der zu Broderick Thouless’ Bungalow, zu Youings Schweinefarm und zum Cottage der Dickinsons, das Fen bewohnte, führte.

Schließlich erreichten sie nach einer zweiten Biegung das Haus des Pfarrers, ein riesiges dräuendes Bauwerk aus der mittleren viktorianischen Periode in einem angenehm großen Garten.

Das Haus des Pfarrers hieß ELFENPEIN.

2

Die Familie des Pfarrers lebte schon in Aller, seit einer seiner ferneren Vorfahren nach Devon geflüchtet war, um zu vermeiden, dass er unter Maria der Blutigen wegen Protestantismus auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Entschiedene Einreißer und Wiederaufbauer, hatten sie an derselben Stelle ein Haus nach dem anderen errichtet, eine Gewohnheit, die ihren Schwung bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts beibehalten hatte, als der Urgroßvater des Pfarrers das Familienvermögen in eine Arsenmine von Tavistock investierte und alles verlor. Nicht, dass die Burges selbst dann ganz arm gewesen wären. Im Laufe von fünf Jahrhunderten hatten sie eine unfassbare Menge an Möbelstücken, Gemälden, Porzellan, Silber, Büchern, Brokaten und dergleichen angesammelt. Vieles davon war wertlos, aber einiges außerordentlich wertvoll. Trotz der Tatsache, dass ein großer Teil davon während der letzten hundert Jahre verkauft worden war, blieb immer noch genug, um drei der fünf Mansardenzimmer zu füllen, in denen einst die feuchten Seelen von Hausmädchen verzagt gesprossen waren (fünfunddreißig Meilen von der nächsten Music Hall entfernt).

Der Pfarrer, lange Jahre in Indien tätig gewesen, hatte nach seiner Rückkehr erstaunt festgestellt, dass das Haus von den Mietern, einem Ehepaar aus Hinchley Wood, getauft worden war, hatte aber nichts weiter unternommen.

Als die Gruppe von ›The Stanbury Arms‹ an der Pforte des Pfarrgartens eintraf, sah sie dahinter einen geparkten grauen Mini stehen.

Besuch.

Sie traten trotzdem ein.

Das Grundstück des Pfarrers war in einem beunruhigenden Ausmaß schlicht mit Hecken bepflanzt – riesige, ungepflegte, staubige, von Spinnen bewohnte Mauern aus Lonicera und Lorbeer und Eibe; sich zwischen ihnen zu bewegen, vermittelte das Gefühl, sich in einem Labyrinth zu befinden. Und dass Fen und Padmore und Fred und der Major sich ihren Weg zumindest zwischen einigen von ihnen würden suchen müssen, zeigte sich sofort. Irgendwo im Freien, zur rechten Seite der kleinen Gruppe, erhob sich im Zorn die Stimme des Pfarrers, die man, selbst wenn sie Vertrauliches mitteilte, Felder weit hören konnte.

»Mir ist das egal«, sagte sie. »Mir ist das egal. Meinetwegen kann die Bevölkerung von Plymouth ihre Häuser mit Talgkerzen beleuchten. Mast, ha! In meine Koppel stellen Sie keinen Mast, das steht fest. Und ich will Ihnen noch etwas sagen …«

Geleitet von diesem Lärm und zum Teil vom Major, der gestand, sich auszukennen, stürzten sie sich in die Vegetation und erreichten bald den Ort des Getöses, der sich als eine überwucherte, runde, in der Mitte mit einer uralten Sonnenuhr versehene, ringsum von Hecken umgebene Graslichtung erwies. Mehr mit Gewalt als mit Geschick war der Pfarrer im Begriff, diese Hecken zu stutzen, die demzufolge das Aussehen einer kubistischen Achterbahn anzunehmen begannen. Er war von seiner Staffelei heruntergestiegen und schwenkte seine Heckenschere bedrohlich vor einem entsetzten kleinen Mann in Grau.

»Ha!« sagte der Pfarrer.

Wenn man den Pfarrer von oben nach unten musterte, sah man als erstes eisengraues Haar über einer hohen, edlen Stirn. Unter dieser Stelle verfiel jedoch alles zusehends. Kein Zweifel, das eigentliche Gesicht des Pfarrers war affenähnlich – so dass die Gesamtwirkung die war, als sei Jekyll auf halbem Weg, sich in Dr. Hyde zu verwandeln, steckengeblieben. Die Kleidung war von zerknittertem, lorbeerbestreutem Klerikerschwarz mit geistlichem Kragen und übergroßen, rissigen schwarzen Schuhen. Trotz der O-Beine betrug seine Größe einsneunzig, und der Körperbau war eindrucksvoll. »Ich gehöre nicht zu denjenigen, denen man nachts gern unerwartet begegnet«, hatte der Pfarrer einmal selbstzufrieden erklärt.

Der Major sagte: »Morgen, Pfarrer. Das ist Padmore, der zu Besuch hier ist.«

»Tag«, sagte der Pfarrer. »Morgen, Fen. Was haben Sie da in dem Sack?«

»Einen Schweinskopf. Eigentlich Mrs. Clotworthys Geburtstags-Schweinskopf. Ich habe ihn heute früh an ihrer Tür abgeholt. Sie hat ihn mir geschenkt, weil ich Magister bin.«

»Die arme Frau verkalkt offenbar langsam«, sagte der Pfarrer. »Nun ja, das geht uns allen so, wenn wir lang genug leben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mir so geht, wohlgemerkt, aber den meisten.«

Der entsetzte kleine Mann in Grau sagte: »Ich bin von Sweb.«

»Guten Tag«, sagte Padmore. »Von wo?« fragte er.

»Akronym«, erklärte der Major. »Steht für ›South Western Electricity Board‹. Sie glauben, wenn sie sich Sweb nennen, nicht wahr, freunden sich die Leute mit ihnen an.« Er schüttelte bei dem Gedanken an so viel Unschuld, ausgesetzt in einer rauen Welt wie Säuglinge auf den Felsen um Sparta, traurig den Kopf.

»Der Mann will doch tatsächlich einen Leitungsmast in meine Koppel stellen«, sagte der Pfarrer.

»Sie wollen überall Masten hinstellen«, nickte Fen.

»Es wird alles getan, um die Annehmlichkeiten zu sichern«, sagte der Mann von Sweb mit hoher, bebender Stimme. »Alles.«

»Ich kann meine Annehmlichkeiten ohne Ihre Hilfe sichern, vielen Dank«, sagte der Pfarrer. »Gehen Sie hin und sichern Sie anderer Leute Annehmlichkeiten. Ach, weil ich übrigens gerade daran denke und da Sie schon in der Gegend sind, können Sie heute Nachmittag beim Pfarrfest vorbeischauen. Tut Ihnen gut.«

Der Mann von Sweb grinste unglücklich. Er war adrett wie eine Glucke, ganz in Grau, bis auf die Krawatte und die Schuhe. Trotz des warmen Tages trug er einen Mantel und einen Homburg mit ganz schmaler, aufgebogener Krempe. Sein Gesicht war rund und rosig (ein gleichmäßiges klares Rosa wie das Mäulchen einer jungen Katze); seine Augen waren blau und vorquellend. Er war glattrasiert. Sein kleiner Spitzbauch hielt die Mantelknöpfe beschäftigt, ohne sie allzu auffällig zu strapazieren.

»Pfarrfest? Ich – ich fürchte, ich bin nicht religiös«, brachte er schließlich heraus.

»Wenn Sie nicht religiös sind, haben Sie Anlass, sich zu fürchten«, sagte der Pfarrer. »Ich bin aber froh, sagen zu können, dass wir Geld auch von Heiden nehmen. Wenn Sie nicht zum Fest kommen wollen, dürfen Sie Ihren Beitrag gleich hier an mich leisten.«

»Ich – ich fürchte, dass es im Augenblick nicht – nicht ganz gelegen kommt, um zu – zu –«

»Nicht nur Heide, sondern auch noch geizig«, bemerkte der Pfarrer. »Also, ich hoffe, Sie sind sich über diesen Vorschlag mit dem Mast im klaren. Ich lehne ihn ab.«

»S-sie begreifen, dass wir b-befugt sind, Z-z-zwangsmassnahmen einzuleiten«, sagte der Mann von Sweb tapfer.

»Versuchen Sie nicht, mir zu drohen, guter Mann«, sagte der Pfarrer beinahe gütig. »Ich habe meine Entscheidung getroffen, und damit ist der Fall erledigt. Also fort mit Ihnen!« Er runzelte ein wenig die Stirn, offenbar in der Meinung, dass diese Schroffheit der christlichen Barmherzigkeit wegen ein wenig gemildert werden sollte, vielleicht durch einen Anflug von Humor. »Fort mit Ihnen!« wiederholte er, »oder ich schneide Ihnen die Füße mit der Schere da ab und lasse Sie auf den blutigen Stümpfen weglaufen.«

Daraufhin stieß der Mann von Sweb einen kleinen ächzenden Schrei aus, drehte sich um und stolperte aus der Lichtung. Sie hörten ihn mit abnehmender Lautstärke gegen Sträucher und Hecken taumeln, während er sich bemühte, zum Gatter zurückzufinden.

»Unhöflicher Mensch«, meinte der Pfarrer. »Hatte nicht einmal den Anstand, sich zu verabschieden. Also, was kann ich für Sie tun?«

Sie erklärten es ihm.

»Gobbo!« rief der Pfarrer. »Ja, gewiss habe ich Gobbo an jenem Abend gesehen, an dem Abend, als Routh umgelegt wurde. Warum sollte ich ihn nicht gesehen haben?«

»Durchaus kein Grund, mein Lieber«, bestätigte der Major. »Aber wenn ich so sagen darf, scheinen Sie das Wesentliche nicht begriffen zu haben. Die Frage ist, haben Sie auch Hagberd gesehen?«

»Nein, denn er war unterwegs, um Routh zu ermorden.«

»Ja, aber Gobbo sagt, das stimme nicht.«

»Ah«, meinte der Pfarrer großzügig. »Jetzt verstehe ich. Sie haben sich vorher durchaus nicht klar ausgedrückt mit Ihrem Chorgesang. Ob ich Hagberd mit Gobbo zusammen gesehen habe, fragen Sie.«

»Ja.«

»Nein.«

»Er war nicht da?«

»Er kann da gewesen sein«, räumte der Pfarrer ein. »Ich sage nur, dass ich ihn nicht gesehen habe. Es wäre möglich gewesen, wenn er hinter der Pferdebox oder hinter der Ulme war.«

»Das ist alles Unsinn«, sagte Padmore.

»Gobbo hat geredet, wohlgemerkt«, betonte der Pfarrer.

»Das hat er?«

»Ja. Könnte aber auch ein Selbstgespräch gewesen sein. Oder er könnte sogar gebetet haben«, sagte der Pfarrer zweifelnd. »Aber beachten Sie das lieber nicht«, riet er, obwohl keiner von ihnen daran dachte, es zu beachten. »Da ich Kleriker bin, geht mein Sinn häufig zum Gebet.«

»Jack Jones sagte«, meinte Fen, »dass Sie, kurz bevor Sie das Gasthaus erreichten, den Weg hinaufblickten, der zu Mrs. Clotworthys Haus führte, und jemanden anfunkelten.«

»Anfunkelten?« sagte der Pfarrer böse funkelnd. »Ich funkle nie. Und außerdem kann ich mich nicht erinnern, dass ich –« Aber dann fiel es ihm ein. Er schnalzte mit den schwieligen Fingern, dass es krachte, und sagte: »Doch, doch. Es war Youings.«

»Wer ist Youings?« fragte Padmore gespannt.

»Ein Schweinezüchter, mein Lieber.« Der Major begann, Freds Rücken zerstreut mit der Gummispitze seines Stocks zu kraulen. »Wohnt gleich oben an der Straße.«

»Er kam von Mrs. Clotworthy«, sagte der Pfarrer. »Oder vielleicht nahm er nur die Abkürzung von der Chapel Lane.«

»Youings«, murmelte Padmore. Er schien bedrückt zu sein über diesen Neuzugang bei den dramatis personae, die sich um Gobbos lästige Offenbarungen versammelten. »Youings. Youings. Youings.«

Der Major sagte: »Ist Youings Ihnen gefolgt, als Sie am Gasthof vorbeigingen, Herr Pfarrer?«

»Weiß nicht«, sagte der Pfarrer. »Kann sein. Sie müssen ihn selbst fragen.«

»Das Haus, das Jack gebaut«, sagte Fen.

»Also, ich spreche jetzt noch einmal mit Gobbo«, erklärte Padmore. »Er ist die Hauptfeder.«

»Rostige alte Hauptfeder«, sagte der Pfarrer. »Und wenn Sie auf meinen Rat hören, achten Sie nicht auf den ganzen Unsinn, den er verzapft hat.« (»Genau«, sagte Padmore.) »Amüsieren Sie sich durchaus damit«, sagte der Pfarrer, so als offeriere er ihnen einen wertvollen päpstlichen Erlaubnisbrief. »Nehmen Sie es nur nicht ernst, das ist alles.« Zu Padmore sagte er: »Vergessen Sie übrigens nicht, zum Fest zu kommen. Große Belustigung. Ja, und wenn Sie dort sind, vergessen Sie nicht, sich den Botticelli anzusehen.«

»Den Botticelli?« fragte Padmore schwach.

»Nun, natürlich ist es in Wirklichkeit kein Botticelli«, sagte der Pfarrer. »Eigentlich ein schreckliches Riesengeschmiere aus dem neunzehnten Jahrhundert, groß wie ein Scheunentor. Maria Himmelfahrt oder dergleichen. Papistisch. Immerhin, die Misses Bale halten das Bild für einen Botticelli, so dass sie aus der Fassung geraten, wenn nicht genug Leute hingehen und es sich ansehen. Man zahlt fünf Shilling und geht allein hinein, setzt sich davor und meditiert zehn Minuten.«

»Tut man das?« fragte Padmore hilflos.

»Ja, weil es das ist, wozu die Mutter der Misses Bale deren Vater gezwungen hat. Schreckliche Frau. Ich glaube nicht, dass sie es wirklich für einen Botticelli hielt, aber ihren Töchtern machte sie das immer weis, und nun kriegen sie das nicht mehr aus dem Kopf. Sonst sehr nette Frauen, wohlgemerkt; tun viel für die Kirche.«

»Der Botticelli ist aus der Schule von Burne-Jones«, sagte der Major. »Und er wird heutzutage ziemlich gesucht. Neulich abends gab es eine Sendung über ihn im Fernsehen.«

»Fernsehn, Fernsehn, Fernsehn, Fernsehn«, sagte der Pfarrer, so als rufe er eine Katze. »Alles, woran Sie denken, ist das Fernsehn.«

»Ich sehe mir nicht viel an, außer den Werbesendungen«, meinte der Major bescheiden. »Und auch die nur wegen der Liedchen.«

Das entsprach der Wahrheit. Der Major hatte, obwohl geschickter Aquarelllist und unersättlicher Leser, sein ganzes Leben lang an fehlendem musikalischen Gehör gelitten und so keinerlei Begriff von Musik gehabt, bis ITV erschienen war und die Kunst auf solche Kürze und so absolute Banalität vermindert hatte, dass sogar der Major sich in die Lage versetzt gesehen hatte, sie zu erfassen.