Der Mongole - Das Grab in der Steppe - Ian Manook - E-Book
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Der Mongole - Das Grab in der Steppe E-Book

Ian Manook

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Beschreibung

Ein Mädchen, lebendig begraben in der mongolischen Steppe. Grausame Morde in der Hauptstadt. Und ein Ermittler, der von seiner düsteren Vergangenheit eingeholt wird ...

Kommissar Yeruldelgger hat selten gute Tage, aber heute ist ein besonders schlechter: Erst wird in der mongolischen Steppe die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden, tief in der Erde vergraben auf seinem Dreirad. Kurz danach entdeckt man in der Hauptstadt die entstellten Leichen chinesischer Geschäftsleute. Zwei Fälle, die Kommissar Yeruldelgger vor ein Rätsel stellen. Er ahnt noch nicht, dass die Verbrechen zusammenhängen. Und dass sie Teil eines perfiden Plans sind, der Jahre zuvor sein Leben fast zerstört hat – und ihm jetzt das wenige zu nehmen droht, das ihm noch geblieben ist ...

Die unabhängig voneinander lesbaren Romane der Yeruldelgger-Reihe bei Blanvalet:

1. Der Mongole. Das Grab in der Steppe

2. Der Mongole. Kälter als der Tod

3. Der Mongole. Tod eines Nomaden

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Seitenzahl: 814

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Buch

Kommissar Yeruldelgger hat selten gute Tage, aber heute ist ein besonders schlechter: Erst wird in der mongolischen Steppe die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden, tief in der Erde vergraben auf seinem Dreirad. Kurz danach entdeckt man in der Hauptstadt die entstellten Leichen chinesischer Geschäftsleute. Zwei Fälle, die Kommissar Yeruldelgger vor ein Rätsel stellen. Er ahnt noch nicht, dass die Verbrechen zusammenhängen. Und dass sie Teil eines perfiden Plans sind, der Jahre zuvor sein Leben fast zerstört hat – und ihm jetzt das wenige zu nehmen droht, das ihm noch geblieben ist …

Der Autor

Ian Manook arbeitete als Journalist und leitete eine Kommunikationsagentur, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Sein Debütroman »Der Mongole. Das Grab in der Steppe« ist mehrfach preisgekrönt, unter anderem mit dem renommierten Krimipreis Quais du Polar, und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ian Manook lebt in Paris.

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IAN MANOOK

DER

MONGOLE

Das Grab in der Steppe

Kriminalroman

Aus dem Französischen

von Wolfgang Seidel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die französische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Yeruldelgger« bei Éditions Albin Michel, Paris.

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2019 bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © Éditions Albin Michel, Paris 2013

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Stephan Johann Kleiner, Alexandra Baisch

JB · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-20279-8V003

www.blanvalet.de

Für Bus,

für Larroque und Salgado,

für Annabelle und Sophie,

für mich!

1

So etwas wie Glück …

Yeruldelgger starrte völlig verdattert auf den Gegenstand. Kurz zuvor hatte er den Blick noch ungläubig über die ausgedehnte Grassteppe von Delgerchaan schweifen lassen. Die weitläufige Landschaft rundherum wirkte wie ein vom Wind aufgepeitschtes grünes Meer aus Gras und Kraut mit Wellenbergen und Wellentälern. Eine Weile verharrte er schweigend, um sich zu vergewissern, dass er hier wirklich am richtigen Ort und ganz bei Sinnen war. Gerade hier, im Süden der Provinz Chentii-Aimag, wo es im Umkreis von Hunderten von Kilometern außer der unendlich weiten Landschaft so gut wie nichts gab, hätte man einen derartigen Gegenstand am wenigsten erwartet.

Der zuständige örtliche Polizeibeamte hinter ihm hielt respektvoll etwa einen Meter Abstand. Die Nomadenfamilie, die den Polizisten alarmiert hatte, stand ihnen einige Meter entfernt gegenüber. Alle Augen waren gespannt auf ihn gerichtet, und alle warteten ab, welchen Reim er sich auf dieses Ding machen würde, das da schief aus der Erde aufragte. Yeruldelgger seufzte tief, rieb sich die schlaffen Wangen mit seinen Pranken und kauerte sich vor den Gegenstand, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.

Er fühlte sich leer, ausgebrannt, wie ausgewrungen von seinem Kriminalbeamtendasein, bei dem er nichts mehr richtig im Griff hatte. Bereits um sechs Uhr heute früh hatten sie ihn rausgeklingelt, weil drei mit Messern malträtierte, verstümmelte Leichen in einem Büroraum der Direktion einer chinesischen Fabrik in einem Vorort der Hauptstadt Ulaanbaatar entdeckt worden waren. Und jetzt, fünf Stunden später, fand er sich mitten in der Steppe wieder, ohne recht zu verstehen, was er hier eigentlich verloren hatte. Er wäre viel lieber in der Stadt geblieben, um mit seinen Leuten in diesem Chinesen-Massaker zu ermitteln. Aus Erfahrung wusste er, dass sich die entscheidenden Hinweise zur Aufklärung von Verbrechen meist aus den Beobachtungen ergaben, die in den allerersten Stunden am Tatort gemacht wurden. Ihm war gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass er jetzt nicht dort sein konnte, auch wenn er volles Vertrauen in Inspektorin Oyun hatte, die nun die Ermittlungen vor Ort leitete. Sie wusste, was zu tun war, und würde ihn auf dem Laufenden halten.

Der örtliche Polizist wagte es nicht, sich neben ihn zu kauern. Er stand halb nach vorn gebeugt da, mit angewinkelten Knien und gekrümmtem Rücken. Im Gegensatz zu Yeruldelgger versuchte er aber nicht im Geringsten zu verstehen, was er da sah. Das überließ er ganz dem Kommissar aus der Hauptstadt. Die Nomaden hingegen waren quasi gleichzeitig mit Yeruldelgger in die Hocke gegangen. Der Vater wirkte schon ziemlich alt mit seinem von der Sonne zerknitterten Gesicht unter der typischen kegelförmigen Trachtenkappe der Mongolen. Er trug einen alten Deel, den hochgeschlossenen, robenartigen mongolischen Sommermantel, aus grünem Satin mit gelben Stickereien und dazu weiche lederne Reiterstiefel. Die Frau war in eine ähnliche, hellblaue, seidenweiche Mantelrobe mit einer breiten rosa Seidenschärpe als Gürtel gekleidet. Sie sah sehr viel jünger aus als der Mann. Ihre drei Kinder hatten sich wie die Orgelpfeifen der Größe nach aufgestellt: zwei Jungen und ein kleines Mädchen, die rote, gelbe und grüne Gewänder trugen. Yeruldelgger schätzte, dass der Altersunterschied zwischen ihnen in etwa je ein Jahr betrug. Die ganze Familie machte einen recht vergnügten Eindruck – breit lächelnde Gesichter mit der typischen von Steppenwind, Wüstensand und Eiseskälte geröteten Haut. Genau wie sie war Yeruldelgger ein Kind dieser Steppen, auch wenn das schon lange zurücklag.

»Und, Kommissar?«, wagte sich der Polizist vor.

»Na ja, das ist eben ein Pedal. Ein ziemlich kleines natürlich. Ich nehme an, du hast schon mal ein Pedal gesehen?«

»Jawohl, Kommissar. Mein kleiner Sohn besitzt ein Fahrrad.«

»Na, welch ein Glück«, seufzte Yeruldelgger, »dann erkennst du ein Pedal, wenn du eins siehst?«

»Jawohl, Kommissar.«

Lächelnd folgte die Nomadenfamilie ihnen gegenüber dieser Unterhaltung. In einiger Entfernung hinter ihnen stand ihre weiße Jurte, ansonsten gab es weit und breit nichts als die vom Wind geformte, wellige Graslandschaft, bis in der bläulichen Ferne am Horizont die ersten Hügel anstiegen. Man konnte nicht einmal die schmale Straße erkennen, auf der sie mit dem kleinen russischen Geländewagen bis zu ihrer Jurte gefahren waren.

Wie ein Sumoringer presste Yeruldelgger seine riesigen Hände auf die Oberschenkel und zog den Kopf zwischen die Schultern, um seine aufsteigende Wut zurückzuhalten. »Und wegen so was lässt du mich hierherkommen?«

»Jawohl, Kommissar …«

»Soll das etwa heißen, dass ich drei Stunden lang auf dieser elenden Piste von Ulaanbaatar bis hierher fahren musste, um mir ein Fahrradpedal anzusehen, das schief aus dem Boden herausragt?«

»Nein, Kommissar, es ist wegen der Hand.«

»Wegen der Hand? Was für eine Hand?«

»Die Hand unter dem Pedal, Kommissar.«

»Wie? Unter dem Pedal ist eine Hand?«

»Genau, Kommissar. Unter dem Pedal da befindet sich eine Hand.«

Ohne sich zu erheben, drehte Yeruldelgger den Kopf, musterte diesen Ortspolizisten schräg von unten. Wollte der ihn etwa auf den Arm nehmen?

Der Mann verzog jedoch keine Miene. Kein Anzeichen von Belustigung. Keine Spur von Intelligenz. Dieses Gesicht drückte nicht mehr als den gewohnheitsmäßigen, unterwürfigen Respekt gegenüber Höherrangigen und eine gewisse Zufriedenheit über die eigene Inkompetenz aus. Um nicht vor Wut aus der Haut zu fahren, konzentrierte sich Yeruldelgger wieder ganz auf den ominösen Gegenstand, mit dem es nun vielleicht doch eine beunruhigendere Bewandtnis hatte. Ein kleines Fahrradpedal, das leicht schräg aus der Erde herausragte und unter dem sich womöglich eine Hand verbarg. »Und woher willst du wissen, dass darunter eine Hand steckt?«

»Weil die Nomaden sie ausgegraben haben, Kommissar«, erwiderte der Polizist.

»Ausgegraben?! Was soll das heißen: ausgegraben?«, wetterte Yeruldelgger.

»Sie haben sie ausgegraben, Kommissar. Sie haben hier ein bisschen gegraben … also, eben ein bisschen Erde weggeschaufelt. Nachdem die Kinder beim Spielen das Pedal entdeckt hatten, wollten sie es ausgraben, und dabei ist eine Hand zum Vorschein gekommen.«

»Eine Hand? Und da sind sie sich sicher? Eine menschliche Hand?«

»Eine Kinderhand, jawohl, Kommissar.«

»Eine Kinderhand?«

»Genau, Kommissar. Eine kleine Hand. Wie die eines Kindes.«

»Und wo ist sie jetzt, diese Kinderhand?«

»Unten drunter, Kommissar.«

»Unten drunter? Unter was?«

»Unter dem Pedal, Kommissar.«

»Willst du damit sagen, sie haben sie wieder eingegraben? Sie haben die Hand also wieder eingegraben?«

»So ist es, Kommissar. Genau wie das Pedal, Kommissar.«

Yeruldelgger richtete den Blick auf die Nomadenfamilie in den farbenfrohen Deels, die ihm vor dem tiefblauen Himmel immer noch mustergültig aufgereiht gegenüberhockte. Alle sahen ihn an und nickten eifrig, als wollten sie dem Bericht ihres Ortspolizisten Nachdruck verleihen. Wieder drehte Yeruldelgger den Kopf so, dass er den örtlichen Kollegen von unten betrachten konnte. »Sie haben also alles wieder eingegraben? Ich hoffe, du hast sie wenigstens gefragt, warum sie das gemacht haben.«

»Selbstverständlich, Kommissar: um den Tatort nicht zu kontaminieren.«

»Wie bitte?«

»Um den Tatort nicht zu kontaminieren«, wiederholte der Polizist, und ein Hauch Stolz schwang in seiner Stimme mit.

»›Um den Tatort nicht zu kontaminieren.‹ Wo um alles in der Welt haben sie das denn her?«

»Aus CSI: Miami. Sie haben mir erzählt, dass sie keine Folge von CSI: Miami verpassen und dass Horatio, der Chefermittler, immer darauf hinweist, wie wichtig es ist, den Tatort nicht zu kontaminieren.«

»CSI: Miami!«, rief Yeruldelgger. Langsam und mit einem Ausdruck äußerster Müdigkeit und Niedergeschlagenheit richtete er sich wieder auf. Sein Blick war auf die Jurte der Nomadenfamilie gerichtet, die sich gleichzeitig mit ihm erhob. Yeruldelgger befürchtete, jetzt zu sehen, was ihm schon bei seiner Ankunft hätte auffallen sollen. Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und entdeckte hinter dem alten Familienvater die große, auf den weiten, unschuldigen Himmel gerichtete Satellitenschüssel. Und irgendwo im Inneren der Jurte befand sich auch jener Flimmerkasten, der all diesen Blödsinn selbst im entlegensten Winkel von Chentii-Aimag auf die Mattscheibe zauberte. »Hauptsache, sie haben Satellitenfernsehen – dem Himmel sei Dank«, seufzte Yeruldelgger resigniert. »Und was haben sie dir sonst noch erzählt?«

»Sonst nichts, Kommissar. Seitdem haben sie auf Sie gewartet. Wenn Sie noch mehr darüber wissen wollen, müssen Sie das mit Horatio besprechen.«

»Mit Horatio?«

»Horatio Caine. So heißt der Chefermittler bei CSI: Miami.« Der Polizist lachte und deutete mit dem Kinn auf den alten Nomaden.

Yeruldelgger drehte sich daraufhin zu ihm um und fixierte ihn mit einem wutentbrannten Blick, der das idiotische Grinsen des Mannes in Sekundenbruchteilen auslöschte.

»Wenn du es ihm gegenüber noch einmal am gebührenden Respekt fehlen lässt, binde ich dich am Schwanz an sein galoppierendes Pferd. Hast du mich verstanden?«

»Jawohl, Kommissar«, entschuldigte sich der Polizist kleinlaut.

»Ich meine deinen und nicht den des Pferdes.«

»Meinen was, Kommissar?«

»Deinen Schwanz!«

»Verstanden, Kommissar.«

»Wurde aber auch Zeit!«

Sobald Yeruldelgger einen Schritt auf die Nomadenfamilie zu gemacht hatte, gingen sie wie zum Spaß in Habtachtstellung. Er wandte sich in zuvorkommendem, sanftem Ton an den Familienältesten, womit er dessen Alter und den Traditionen der Nomaden Respekt zollte. »Großvater, ich benötige eine Schaufel für den Polizisten und einen Eimer für mich. Kannst du mir so etwas leihen?«

Der alte Nomade betrachtete ihn einen Moment lang, ohne sich zu rühren. Dann drehte er sich rasch zu dem älteren Jungen und signalisierte ihm, er solle die Dinge holen, um die der Kommissar gebeten hatte. Sobald er beides in den Händen hielt, warf Yeruldelgger die Schaufel dem Polizisten zu, der sie ungeschickt auffing. Den Eimer stellte er verkehrt herum neben dem kleinen Pedal auf den Boden und ließ sich darauf nieder wie auf einem Hocker. Dann zog Yeruldelgger ein iPhone aus der Manteltasche und winkte den Jungen zu sich. Mit strahlendem Lächeln eilte der herbei und ging neben ihm in Stellung. »Weißt du, wie man so ein Ding bedient?«

»Ja, Kommissar!«

»Weißt du auch, wie man damit Fotos macht?«

»Ja, Kommissar!«

»Hast du in CSI: Miami gesehen, wie das geht?«

»Ja, Kommissar! Und in CSI: Las Vegas auch schon, Kommissar!«

Der Junge konnte lügen wie gedruckt, und er wäre dabei vor Lachen beinahe geplatzt. Yeruldelgger zeigte ihm schnell, wie das Fotografieren mit dem iPhone funktionierte. Dann erhob er sich, um weitere Anweisungen zu erteilen. »Große Schwester, darf ich dich jetzt um ein großes weißes Stück Tuch bitten. Und ihr Kinder grabt dieses Ding jetzt möglichst genauso aus wie beim ersten Mal. Mit den Händen und bitte nicht zu schnell. Und die Erde legt ihr dann auf das Tuch, das eure Mutter gleich bringt, verstanden?«

Die drei Kinder und der Alte nickten.

Yeruldelgger wandte sich wieder an den älteren Jungen. »Und du wirst das Ganze fotografieren. Kannst du schon bis fünfzig zählen?«

»Ja, Kommissar!«, erwiderte der Knirps unter erneutem Strammstehen. »Eins, zwei, drei, vier …«

»Schon gut, schon gut, ich glaub’s dir ja. Du zählst leise bis fünfzig, dann machst du ein Foto und fängst wieder von vorn an zu zählen und so weiter, bis ich dir sage, dass du aufhören kannst, verstanden? Zwischendurch werde ich dich bitten, noch Fotos von der Erde auf dem Tuch zu machen. Klar?«

»Klar, Herr Kommissar!«

Als Nächstes wandte sich Yeruldelgger wieder an den Polizisten. »Sobald die Kinder etwas entdecken beziehungsweise offenlegen, gräbst du mit mindestens fünfzig Zentimeter Abstand dazu die Erde ab, ohne allzu tief zu gehen. Schaffst du das?«

»Ähm … ja … ich denke schon, Kommissar.«

Die junge Frau kam mit einem weißen Tuch zurück. Yeruldelgger breitete das Tuch auf dem Boden aus und ließ die Nomaden anfangen.

Nun ging alles recht zügig vonstatten. Die Kinder gruben die Erde erneut mit den Händen weg und warfen sie auf das Tuch, wo Yeruldelgger sie kritisch beäugte. Von Zeit zu Zeit sammelte er mit den Fingerspitzen etwas auf, ohne dass die anderen erkennen konnten, was es war. Das Aufgehobene steckte er in kleine durchsichtige Plastiktütchen, die er aus seiner Tasche gezogen hatte. Danach schüttelte er das Tuch behutsam aus und breitete es wieder im Gras aus. Es dauerte nicht lange, bis der Großvater diese Aufgabe übernahm; er schien stolz zu sein, dass auch er dem Kommissar zur Hand gehen konnte. Yeruldelgger war mit seinen Helfern recht zufrieden.

Nach und nach wurde das ganze Pedal freigelegt, das von einer rutschfesten weißen Gummischicht überzogen war. Danach kam die etwas abgesplitterte verchromte Tretkurbel zum Vorschein, gleich anschließend ein Stück des Tretlagers und das gezahnte Kettenblatt sowie ein Teil des rosafarbenen, eingedellten Kettengehäuses samt einem Stückchen Kette. Yeruldelgger ließ alle innehalten, stand auf und trat näher, um alles besser in Augenschein zu nehmen. Erneut schaute er nach oben in den Himmel, dann atmete er langsam durch die Nase aus und konzentrierte sich wieder voll und ganz auf den Fund. Ihm gefiel nicht, was er da sah. Ihm gefiel auch nicht, was er daraus schlussfolgern musste, und noch weniger, was das alles noch nach sich ziehen würde. Es handelte sich um ein Kinderfahrrad. Ein rosafarbenes Kinderrad. Kurze Beinchen, wie er der Länge der Tretkurbel entnahm, mit denen das Kind sicherlich freudig in die Pedale getreten und ungestüm herumgeflitzt war. Von der Länge der Beine wiederum konnte er ungefähr auf die Größe des Kindes schließen und damit auf sein Alter: ungefähr vier oder fünf Jahre. Ein junges, unbeschwertes Kind. Und nun war es ein kleiner Leichnam, dessen Mund voll Erde war … Er durfte nicht daran denken. Er musste sich zwingen zu vergessen. Sich auf etwas ganz anderes konzentrieren, nur nicht darauf.

Yeruldelgger richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die freigelegten Teile des Kinderrads. Es lag seitlich in der Erde, das Vorderrad sogar deutlich tiefer, was auf den ersten Blick ungewöhnlich war. Obwohl der rosafarbene Kettenkasten ziemlich zerbeult war, ließ er Rückschlüsse auf die Position des Rads in der Erde zu. Auch der Winkel, in dem das Pedal zum Vorderrad stand, verstärkte diesen Eindruck. Yeruldelgger versuchte sich die noch in der Erde verborgenen Teile des Rads vorzustellen, um dessen Größe besser abschätzen zu können. Als er glaubte, eine ausreichend präzise Vorstellung zu haben, kratzte er die Umrisse mit seinem Schuhabsatz in den Boden und wies den Polizisten an, die Erde von dieser Umrisslinie bis zur Mitte abzutragen. Es dauerte nicht lange, bis das Gestänge des kleinen Fahrrads vollends zum Vorschein kam. Yeruldelggers Vermutung bestätigte sich, es handelte sich nicht um ein normales Fahrrad, sondern um ein Dreirad. Deswegen lag das Vorderrad tiefer im Boden. Diese Erkenntnis machte ihn richtig wütend. Ein normales Kinderrad, das war etwas für Jungen und Mädchen, die gerne mal etwas waghalsiger unterwegs waren und durchaus ein Risiko eingingen. Ein Dreirad hingegen war nun wirklich etwas für die ganz Kleinen. Wenn die Nomaden mit ihrer Behauptung recht hatten, dann würde er darunter ein Mädchen finden, das unter Umständen umgebracht und dessen kleiner Leichnam einfach hier zurückgelassen worden war. Für Verbrechen gegen Kinder fehlte ihm jedes Verständnis. Schon allein die Vorstellung, sie könnten sterben, war ihm unerträglich.

»Kommissar, schauen Sie her. Die Hand ist direkt hier drunter«, sagte der Großvater und deutete auf eine Art Metallabdeckung in der rosa Farbe des Rads.

Yeruldelgger kniete sich neben die freigelegte Stelle und beugte sich vor, um unter das Metall zu schauen, das eines der Kinder mit den Fingerspitzen vorsichtig freikratzte. Das war eine kleine Hand, zweifellos. Eine kleine Kinderhand, die auf ihn zu zeigen schien und deren Finger in ihrer leicht verdrehten Bitthaltung schon halb verwest waren. »Mach dir keine Sorgen«, murmelte Yeruldelgger vor sich hin. »Jetzt bin ich ja bei dir. Wir kümmern uns um dich. Du bist nicht mehr allein.«

Es gab wahrlich nicht viel, woran er glaubte, aber dass die Toten in Frieden ruhen sollten, war eine seiner tiefsten Überzeugungen. Das Leben war schwer genug zu ertragen, und jeder Mensch musste so vieles durchmachen, dass seiner Meinung nach jede Seele nach dem Verlassen des menschlichen Körpers ein Recht auf Frieden, Ruhe und Respekt hatte. Damit verlangte man einem Gott doch wohl wahrlich nicht zu viel ab, wenn er schon zuließ, dass kleine Kinder mit dem Mund voller Erde starben, oder? Dass sie wenigstens in Frieden ruhen könnten, wie die Christen es so überaus passend nannten? Das war das Einzige, was ihn auf ein Leben im Jenseits hoffen ließ: die Aussicht, in Frieden ruhen zu können.

»So, alle mal stopp jetzt. Ich brauche noch ein Tuch. Egal welche Farbe. Kinder, ihr geht mal alle ein gutes Stück zur Seite, außer dem Jungen, der die Fotos macht. Wir Erwachsenen packen jetzt zusammen an, holen das Dreirad heraus und legen es auf das weiße Tuch. Dann holen wir das Kind heraus und legen es auf das andere Tuch. Alles klar? Anschließend nehme ich beides mit nach Ulaanbaatar ins gerichtsmedizinische Institut. Na dann mal los.«

Es handelte sich tatsächlich um ein kleines Dreirad und um ein ziemlich kleines Mädchen. Sie legten zuerst das rosa Dreirad auf das weiße Tuch, und Yeruldelgger konnte es nun ganz aus der Nähe betrachten. Die Rohre des Metallrahmens und des Lenkers steckten voller Erde, was sicherlich demjenigen zuzuschreiben war, der alles vergraben und die Erde danach festgetrampelt hatte, sowie den üblichen, heftigen Gewitterstürmen des Sommers, durch die die Erde nass und schwer geworden war. Yeruldelgger hob die vier Enden des Tuchs an und verknotete sie über dem Dreirad. Damit würde sich das Labor auseinandersetzen müssen.

Kaum hatte er die Zipfel miteinander verknotet, hatten die anderen bereits den kleinen Leichnam exhumiert. Er war zusammengekrümmt wie ein Kind, das sich vor dem Einschlafen fürchtete. Das Gewebe war bereits weitgehend verwest, sodass schon viel vom Skelett zu sehen war. Aber man konnte noch Fetzen von Kleidungsstücken und ein paar blonde, gelockte Haarsträhnen ausmachen. Zwei Finger der kleinen Hand, die er als Erstes in der Erde gesehen hatte, lösten sich bereits ab. Ganz automatisch gab Yeruldelgger Anweisung, vorsichtiger vorzugehen, und suchte mit dem Blick nach der anderen Hand. Hier war das Fleischgewebe sehr viel besser erhalten. Das arme Ding hatte die Hand zu einer festen kleinen Faust geballt. Yeruldelgger konnte nur hoffen, dass diese Geste eher ein Ausdruck des Zorns und der Abwehr als eine der Angst war. Wobei das, wenn er genauer darüber nachdachte, eigentlich gar keinen Unterschied machte.

Yeruldelgger hatte die Nomaden darum gebeten, tief und in einem etwas größeren Radius zu graben, damit die sterblichen Überreste des Kindes möglichst zusammen mit der umgebenden Erde geborgen wurden. Der alte Mann kniete sich vor dem Grabloch hin, streckte die Arme nach unten und hob das Skelett heraus. Yeruldelgger verstand, dass der Alte den Leichnam so tragen wollte, wie man ein Kind auf den Armen trägt. In dieser Geste des alten Mannes erkannte er sowohl eine kreatürliche Liebe für das kleine Wesen als auch Respekt vor dem Tod. Einen Augenblick blieb der Mann mit dem vor der Brust gehaltenen Gerippe am Rande des Grabes stehen, und Yeruldelgger nahm an, dass er im Stillen betete. Dann drehte sich der alte Nomade um, ging die wenigen Schritte bis zu dem zweiten im Gras ausgebreiteten roten Tuch und ließ sich auf die Knie nieder. Ganz behutsam und sanft legte er die sterblichen Überreste in der Mitte des Tuchs ab. Das, was einst ein kleines, fröhlich jauchzendes Mädchen mit blondem Lockenkopf auf einem rosa Dreirad war, war jetzt nicht mehr als ein paar Knochen und Hautfetzen, vertrocknete Eingeweide und Lehmreste.

Überrascht hatte Yeruldelgger vorhin beobachtet, dass die junge Frau mit einem roten Tuch aus der Jurte zurückgekehrt war. Bei allen Beerdigungen, an denen er bisher teilgenommen hatte, waren die Leichen immer in weiße Tücher gewickelt gewesen.

Der Großvater hatte seine Irritation bemerkt. »Wenn es sich nicht um einen natürlichen Tod handelt, sondern um einen Unfall, dann verlangen die Lamas, dass der Tote in ein rotes Tuch gewickelt wird.«

»Warum?«, wollte Yeruldelgger wissen.

»Weil die Lamas es sagen«, erwiderte der Alte ganz selbstverständlich. »Mach dir darüber keine Gedanken. Es wird gut und richtig für sie sein«, erklärte er, ohne den Blick von dem kleinen Leichnam abzuwenden. »Wenn du dort bist, sorge dafür, dass sie eine anständige Wiege bekommt. Sie sollte auf ein grünes Tuch gebettet werden, als ob sie sich hier auf der Steppe auf dem Gras ausruht. Und der Deckel über ihr sollte mit blauem Tuch bespannt sein wie der Himmel über der Steppe. Sorge auch dafür, dass an dem blauen Stoff direkt über ihrem Kopf sieben kleine weiße Baumwollkügelchen angebracht werden. Sie stehen für die sieben Gottheiten des Großen Bären, die für ihr Seelenheil auf ihrer Jenseitsreise einstehen. Denke immer daran: Da du sie der Erde entrissen hast, verlangt die Tradition, dass du sie sicher in den Himmel geleitest.«

»Großvater, dir ist hoffentlich klar, dass nichts darauf hindeutet, dass dieses Mädchen aus dieser Gegend hier stammte.«

»Das weiß ich, aber sie ist hier gestorben, und sie ist ganz allein. Daher gehört sie jetzt zu uns, und es ist deine Pflicht, dich um sie zu kümmern.«

Yeruldelgger betrachtete den alten Mann. Seine Hände waren vom Hantieren mit Seilen und der Kälte ganz rissig, seine Wangen ausgetrocknet vom ewigen Wind und die Augen schmal wegen des gleißenden Schnees im Winter. Reglos stand er neben ihm da, in seinem mit einer breiten Schärpe gegürteten langen Deel und in seinen Reiterstiefeln. Und aus seinen Worten war keinerlei Zorn herauszuhören. Nichts von jenem Zorn, jener Wut, die mittlerweile jedes Mal in Yeruldelgger aufstieg, wenn er in einem derart grausamen Verbrechen ermitteln musste, wenn er die unschuldigen Opfer sah, die sinnlos vergeudeten Leben. Jene rachsüchtige Wut, die zu zähmen ihm von Tag zu Tag schwerer fiel. Immer häufiger musste er die Fäuste in den Hosentaschen ballen, den Kopf zwischen die Schultern ziehen und seinen Pulsschlag beruhigen. Der alte Mann hingegen verströmte eine Ruhe, die so tief war wie ein See und so endlos wie diese Weiten hier. Mit einem Mal beschlich Yeruldelgger das Gefühl, der Alte sei gar nicht mehr richtig bei ihnen. Er war einfach nur da, wie die Steppe, wie die Hügel am Horizont oder die ringsum verstreuten Felsblöcke und der Wind, der sie seit Millionen von Jahren zersetzte. Dieser kleine alte Mann kam ihm gar nicht mehr wie ein Mensch vor, sondern eher wie einer dieser Felsbrocken. Ganz in sich ruhend. Fest und solide. Menschen verharrten oft in Unbeweglichkeit, wenn sie auf etwas warteten, doch er war völlig reglos. Selbst die Zeit schien stillzustehen. Dann kam eine kleine Brise auf, wehte zwischen ihnen hindurch, drückte die blauen Kräuter nieder und wirbelte spielerisch weiter über die Ebene hinweg. Diese umfassende Freiheit der weiträumigen Steppe mit ihren schillernden Gräsern, wo die Wildpferde übermütig herumtollten, war wie ein Stich ins Herz für Yeruldelgger. Dann spürte er, wie der Alte ihm die Hand auf den Arm legte, und es war, als wachte er aus einem Traum auf.

»Ihre Seele befindet sich nun in deiner Obhut«, sagte der Nomade. »Ihr gehört jetzt zusammen, bis du sie dorthin gebracht hast, wo sie hingehört.«

»Nein, tut mir leid, Großvater. Ich werde mich ihrer annehmen, das kannst du mir glauben. Aber ich gehöre nicht zu ihr, und wir gehören auch nicht zusammen. Ich gehöre niemandem.« Yeruldelgger wollte mit derlei Mysterien nichts zu tun haben.

Er respektierte durchaus die verschiedensten kulturellen Traditionen und glaubte auch an manche unerklärlichen Gegebenheiten. Geheimnisvolle Beeinflussungen, merkwürdiges Zusammentreffen von Ereignissen, sogar irgendwelche Schwingungen. Aber für ihn selbst kam dabei allenfalls die Rolle des Beobachters infrage. Er war schon vollauf damit beschäftigt, die Bruchstücke seiner eigenen Existenz irgendwie zusammenzuhalten; wenn er sich jetzt auch noch mit anderen Dingen und Einflüssen herumschlagen müsste, die nicht seinem Willen unterlagen, wäre er alsbald überfordert. Sein Leben war schon längst in ein kaltes, stummes Nichts abgeglitten. Er hatte erst sein süßes kleines Kind verloren, dann seine geliebte Frau, die es ihm geschenkt hatte, und gerade war er dabei, auch noch seine große Tochter zu verlieren, die alles an ihm hasste. Das Leben was alles andere als einfach.

Kommissar Yeruldelgger Khaltar Guichyguinnkhen was schon seit Langem für niemanden mehr einfach zu ertragen. Wie hätte er da akzeptieren können, dass das Heil einer unschuldigen kleinen Seele ausgerechnet von ihm abhing?

Er entschied, nach Ulaanbaatar zurückzukehren. Hier konnte er nichts mehr tun – weder für das arme Kind noch zum Schutz des Tatorts oder weiterer Indizien. Er hatte nichts dabei, um den Platz abzusperren. Er bat die Nomadenfamilie, mit hellen Kieselsteinen einen Kreis um den Fundort zu markieren, den bis auf Weiteres niemand betreten durfte. Vielleicht würden Solongo und ihre Forensiker hier später nach weiteren Indizien suchen müssen.

Weitere Indizien – Yeruldelgger überraschte sich selbst dabei, dass er bei diesem Ausdruck innerlich grinsen musste. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie der zum Rotschopf mutierte Großvater mit gespreizten Beinen und in die Hüfte gestemmten Händen aus der Froschperspektive gefilmt würde, den Kopf zur Seite geneigt, über seine verspiegelte Ray-Ban-Sonnenbrille hinwegblickend. Natürlich hatte er selbst auch schon oft genug CSI: Miami geschaut, wenn er sich todmüde vor den Fernseher fläzte. Horatio Caine war ihm bestens bekannt. Selbst er hatte noch ein bisschen Privatleben. Hin und wieder, abends, zwischen zwei Albträumen.

»Hör zu, Großvater, ich verspreche dir, dass ich tue, was ich kann, aber ich bin nur ein einfacher Kriminalkommissar. Mein Leben besteht darin, Leichen einzusammeln. Da kann ich mich nicht auch noch mit den Seelen der ganzen Toten befassen.«

In dem Moment bemerkte Yeruldelgger einen Hund mit gelblichem Fell am Fundort der Leiche, der mit geradezu obszöner Besessenheit in der frisch aufgewühlten Erde herumkratzte. Als er sah, wie der Köter sich gierig einen der winzigen Finger schnappte, die von dem kleinen Leichnam abgefallen waren, bückte sich Yeruldelgger, warf unbarmherzig einen Stein nach ihm und jagte den Hund so wutentbrannt davon, dass alle sprachlos zuschauten.

»Ich verstehe«, sagte der alte Mann zu ihm.

Er drückte sich leicht auf die Zehenspitzen, legte dem Kommissar seine rauen Hände auf die kräftigen Schultern und sah ihm direkt in die Augen. Ein Lächeln breitete sich auf seinem wettergegerbten Gesicht aus.

»Ich verstehe«, wiederholte er, »aber es ist nicht an dir, darüber zu entscheiden. Das ist Sache der Seelen selbst. Und die Seelen der drei fremden Toten, die du dort zurücklassen musstest, bedürfen deiner auch. Du darfst auch sie nicht vergessen!«

Als der Polizist ihren Wagen rumpelnd zur Straße steuerte, beobachtete Yeruldelgger im Rückspiegel, wie die junge Frau ihre Fahrt segnete. Mit der einen Hand hielt sie ein Schälchen mit frisch gemolkener Milch in Augenhöhe vor sich; dann tauchte sie die Fingerspitzen der anderen Hand hinein und spritzte die Milchtröpfchen mit einer rituellen Geste in alle vier Himmelsrichtungen. Und obwohl sie ein winziges zusammengekrümmtes Skelett befördern mussten und drei übel zugerichtete Leichen in Ulaanbaatar auf ihn warteten, empfand Yeruldelgger so etwas wie Glück bei dem Gedanken, Teil eines Landes zu sein, in dem man Reisende mit Gesten in alle vier Himmelsrichtungen segnete und Sarg und Wiege ein und dasselbe Wort waren. So etwas wie Glück …

2

Das habe ich mir schon gedacht!

Oyun suchte nach den Hoden des Chinesen.

Nach den Hoden und dem, was sonst noch so dazugehörte.

Eigentlich fehlte sein ganzes Gehänge.

Natürlich benötigte sie es nur für die Aufklärung des Falles; der Chinese würde es nie mehr brauchen. Der andere Chinese übrigens auch nicht. Zu dem dritten Chinesen, der genauso nackt war wie die beiden ersten, konnte Oyun bislang nichts Genaues sagen, da sie den auf dem Bauch liegenden Leichnam noch nicht umgedreht hatten. Sie wussten nicht, wie sie vorgehen sollten, solange der abgebrochene Besenstiel so tief in seinem Anus steckte. Ansonsten war das ein ganz interessanter Tatort. Drei nackte Leichen, jede mit einem Loch in der Stirn. Jedenfalls ging Oyun auch im Hinblick auf den dritten davon aus, denn ganz offensichtlich war die Kugel am Hinterkopf wieder ausgetreten. Bei den ersten beiden waren Rumpf und Bauch vermutlich mit einer Rasierklinge oder einem scharfen Cutter aufgeschlitzt und übel zugerichtet worden; beim dritten war es der Rücken. Oyun wäre jede Wette eingegangen, dass auch ihm mit einem spitzen Gegenstand das gleiche Zeichen in die Stirn geritzt worden war wie seinen beiden Landsmännern: eine Art Stern.

»Weiß jemand, was das zu bedeuten hat?«, fragte die junge Frau in die Runde.

»Du weißt doch sonst immer alles«, antwortete ein weiterer Inspektor, der gerade überlegte, wie man die Analpenetration bei dem dritten Chinesen am besten rückgängig machen könnte.

»Vermutlich irgendein Teufelszeichen«, sagte Oyun und betrachtete die Blutspritzer an der Wand des kleinen Zimmers genauer.

»Also hat es was mit einem Satanskult zu tun?«

»Das ganze Blut, die Ähnlichkeiten zu einer rituellen Tötung, dazu der eindeutig sexuelle Einschlag und die ›Dreifaltigkeit‹ der Opfer – warum nicht?«

Oyun beugte sich über die Leiche des ersten Chinesen. Ein Mann um die dreißig, schlank, fast mager, das Brustbein ein wenig eingesunken, wie es bei Tuberkulosekranken typisch ist; eingefallenes Gesicht, glatte Haare. Trotz seines noch recht jungen Alters hatte er zwei Goldzähne und eine hässliche Narbe im Bereich des Blinddarms. Das Durchschussloch in der Stirn war rund, die Ränder glatt; es stammte von einem relativ kleinkalibrigen Geschoss, das, ohne zu flattern, auf sein Ziel getroffen war. Mit anderen Worten: ein Schuss aus nächster Nähe. Vielleicht war die Waffe sogar aufgesetzt worden. Der Mann war auf einem Stuhl zusammengesackt, sein Kopf oberhalb der Rückenlehne nach hinten gekippt, die Arme hingen schlaff an den Seiten herab. Die Schnitte auf dem Rumpf ergaben keinerlei Muster. Sie ließen nur auf ungeheure Raserei und auf beispiellose Hysterie schließen. Seine Beine waren ausgestreckt und weit gespreizt.

Oyun versuchte sich den mit Todesangst erfüllten Menschen vorzustellen, der nackt auf einem Stuhl sitzt und mit einer an die Stirn gehaltenen Waffe bedroht wird, die dann abfeuert. War es eine natürliche Abwehrreaktion, die Beine zu spreizen und auszustrecken, wenn man in so einer Situation einer Waffe ausweichen wollte? Oder war diese Haltung nicht vielmehr eine Reaktion auf den Schuss – erst ein Zusammenkrümmen und anschließend ein Erschlaffen der Glieder? Oder hatten seine Folterer ihm die Beine auseinandergedrückt, um ihm die Geschlechtsteile besser abschneiden zu können?

»Mehrere Täter«, sagte sie laut in die Kollegenrunde hinein. »Ich würde sagen, mindestens drei. Die Opfer wurden nicht gefesselt. Die beiden anderen sind bestimmt massiv bedroht worden, als man den ersten umgebracht hat, sonst hätten sie eingegriffen. Sie wurden exekutiert, einer nach dem anderen, und hatten keine Möglichkeit, sich zu wehren. Die Schnitte und Verstümmelungen wurden ihnen wahrscheinlich erst post mortem zugefügt. Es ist unmöglich, ein ungefesseltes Opfer derart zu misshandeln; es würde sich widersetzen, auch bei vorgehaltener Waffe. Das muss natürlich erst noch bestätigt werden …«

Bei dem zweiten Mordopfer handelte es sich um einen Chinesen zwischen vierzig und fünfzig. Er war klein, rundlich, fast glatzköpfig und hatte kaputte Zähne und schlechte Nägel. Seine Leiche lag neben seinem umgekippten Stuhl in einer Pose, die noch wesentlich obszöner wirkte als die des ersten Opfers. Er lag auf dem Rücken, mit aneinandergepressten Fußsohlen und angewinkelten Knien; sein Unterleib war verstümmelt und stark blutverschmiert.

Oyun musste sich zwingen, den Blick von dieser Wunde abzuwenden. Durch sie war der Körper des Chinesen nur noch ein Leichnam, als hätte er einen wesentlichen Teil seiner Identität verloren, als würden wir erst durch die Geschlechtsteile zu dem gemacht, was wir sind. Wollten die Mörder sie etwa nicht nur töten, sondern den Opfern, indem sie sie verstümmelten, darüber hinaus auch wesentliche Teile ihrer Identität rauben?

Das dritte Opfer lag bäuchlings auf einem Holztisch. Die Arme hingen zu beiden Seiten hinunter; der Kopf lag mit dem Kinn auf der Tischplatte, das Genick war gebrochen. Das Opfer lag da, wie man häufig gebratenes Wild am Stück präsentierte, musste Oyun denken, zwang sich jedoch sofort, derart unprofessionelle Assoziationen aus ihren Gedanken zu verscheuchen. Im Vergleich zu den beiden anderen war dieser Mann sehr viel größer und dicker; er hatte fette, weiche, gelbliche Schenkel, zwischen denen der abgebrochene Besenstiel steckte.

Oyun sah sich am Tatort nach dem anderen Teil des Besenstiels um, und fand ihn unter dem Tisch. Wie bei den beiden anderen Leichen waren die zugefügten Schnitte eher oberflächlich und konnten nicht zum Tod geführt haben. Auch die Position der misshandelten und verstümmelten Leiche bestätigte ihre Hypothese. Es wäre schon sehr erstaunlich, wenn dieser dritte Chinese zuerst bäuchlings auf dem Tisch liegend gefoltert und anschließend durch den Schuss in die Stirn getötet worden wäre. Oyun konnte sich nur schwer vorstellen, dass sich der Mörder die Mühe gemacht hatte niederzuknien, um dem auf dem Bauch liegenden Opfer eine Kugel in die Stirn zu jagen. Offenbar war auch dieser Mann von vorn erschossen worden; erst danach hatte man den Körper umgedreht und post mortem misshandelt.

»Also, Leute, bitte mal einen Moment lang herhören«, wandte sich Oyun an die übrigen Kollegen im Raum. »Hört mal kurz mit eurer Arbeit auf.«

»Hey, unser kleines Genie hält sich jetzt wohl schon für Yeruldelgger persönlich, was?«

»Halt die Klappe, Chuluum, und schalte lieber dein Hirn ein. Also: Ich möchte, dass ihr folgende Hypothesen im Hinterkopf behaltet, während ihr mit eurem Job weitermacht: Wir haben es vermutlich mit drei oder mehr Tätern zu tun; die Misshandlungen der Leichen erfolgten erst nach der Tötung. Zwei unterschiedliche Vorgehensweisen: Das Erschießen der Opfer erfolgte kaltblütig, präzise und mit großer Entschlossenheit, die Schändungen post mortem dagegen unkontrolliert – ein regelrechter Exzess. Deswegen sollten wir eine dritte Vorgehensweise hinzufügen, die sich mit einer der beiden anderen verknüpfen lässt: eine Inszenierung wie bei einem Ritualmord, aber angesichts der Symbole auf der Stirn der Opfer und der Kastration könnte es sich auch um die bewusste Vortäuschung eines Ritualmordes handeln. Selbstverständlich verfolgen wir auch alle möglichen anderen Fährten, aber lasst uns das nicht vergessen.«

»Was denkst du, was wir die ganze Zeit über schon gemacht haben, du Superhirn?«, erwiderte Inspektor Chuluum ein bisschen zu frech, auch wenn er es nicht wagte, seine Kollegin dabei direkt anzusehen.

»Es ist doch immer das Gleiche, Chuluum: Jeder von uns sammelt Unmengen Indizien, die dann mühsam in stundenlanger Arbeit sortiert und ausgewertet werden müssen. Zumindest von denjenigen, die massenweise Überstunden machen, um das Chaos zu entwirren, im Gegensatz zu den anderen, die ihnen den ganzen Dreck vor die Füße werfen und nach Hause gehen, wo sie sich in aller Ruhe vor den Fernseher setzen.«

»Was willst du damit sagen, kleines Genie? Nicht alle von uns haben ein persönliches Interesse daran, die ganze Nacht mit Yeruldelgger zu verbringen.«

»Du mieser kleiner –« Das Klingeln ihres Mobiltelefons unterbrach Oyuns Wutanfall. Der Kommissar war am Apparat.

»Hallo, wo bist du gerade?«, fragte sie.

»Auf der Straße nach Öndörchaan, wir haben gerade den Cherlen überquert und sind gleich in Arhust. In einer guten Stunde müsste ich wieder zurück sein. Seid ihr immer noch am Tatort?«

»Ja.«

»Wie kommt ihr voran?«

»Chuluum geht mir mal wieder tierisch auf die Nerven. Davon abgesehen ist diese Sache hier ziemlich undurchsichtig. Und was war bei dir?«

»Hier haben Nomaden ein kleines Mädchen gefunden, das mitten in der Steppe unter seinem Dreirad vergraben war, ungefähr dreißig Kilometer südlich von Dschargaltchaan, auf dem Weg nach Delgerchaan.«

»Oh, Mist. Das hört sich nicht schön an. In der Ecke ist doch nicht sonderlich viel los, oder? Ist das vielleicht ein illegales Grab?«

»Mit einem Dreirad drin?«

»Mein Großvater wollte unbedingt zusammen mit seinem Pferd begraben werden.«

»Und das habt ihr gemacht? Ihr habt das Pferd getötet, damit es mit ihm begraben werden konnte?«

»Das Pferd ist schon vor ihm gestorben. Aber wir mussten ihm versprechen, dass wir es wieder ausgraben, um es zusammen mit ihm zu begraben.«

»Tja, warum auch nicht?«, gab Yeruldelgger zurück. »Und? Was hat es mit den Chinesen auf sich?«

»Es wird Zeit, dass du zurückkommst und dir selbst ein Bild davon machst, bevor Chuluum und seine Deppentruppe hier alles kaputt trampeln.«

»Ich habe den Tatort doch schon heute Morgen kurz gesehen, bevor sie mich wegen dieser Dreiradsache abberufen haben.«

»Trotzdem solltest du hierher zurückkommen. Es gibt da ein paar Dinge, auf die höchstens du dir einen Reim machen kannst.«

»Also ehrlich, Oyun! Sie haben mich um sechs heute früh wegen des Chinesen-Massakers rausgeklingelt, dann musste ich drei Stunden lang wegen eines Kindes und eines Dreirads in dieser Blechkiste herumgurken, und die Rückfahrt sieht nicht anders aus. Ich bin fix und fertig, ich bin schließlich keine zwanzig mehr. Außerdem muss ich die Leiche des Mädchens für die Autopsie noch bei Solongo abladen.«

»Ja, okay. Trotzdem solltest du danach unbedingt hierherkommen. Ich habe das Gefühl, dass dieser Fall uns noch um die Ohren fliegen wird. Wenn hier erst mal weitere Chinesen aufkreuzen, dann können wir eine ordentliche Ermittlung knicken. Komm einfach auf eine knappe Stunde vorbei. Wir schicken Chuluum mit deiner Leiche zu Solongo, und anschließend lade ich dich zum Abendessen ein.«

»Na gut«, seufzte Yeruldelgger, »aber vergiss Chuluum. Ich bringe die Leiche lieber selbst zu Solongo.«

»Einverstanden.« Oyun lachte aufgekratzt. »Das habe ich mir schon gedacht!«

3

Wir sollten nach dieser Frau suchen

In der Nacht trafen die Chinesen ein. In zwei großen Limousinen mit getönten Scheiben. Im ersten Wagen saßen die Leibwächter. Der völlig verängstigte Direktor der Fabrik saß auf der Rückbank des zweiten Wagens, eingezwängt zwischen zwei erzürnten Angehörigen der Botschaft. Einer von Yeruldelggers Spitzeln hatte ihn bereits über ihr Eintreffen informiert, also erwartete er sie am Eingang des Gebäudes, um ihnen den Zutritt zu verwehren. Der Fahrer des ersten Wagens fuhr Oyun und den beiden Kriminalbeamten fast bis an die Schienbeine, ehe er anhielt. Damit hatte Oyun schon gerechnet und sich eigentlich vorgenommen, keinen Schritt zurückzuweichen, allerdings machte sie dann doch leise fluchend einen kleinen Satz nach hinten. Yeruldelgger bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Er sah zu, wie die beiden Zerberusse aus dem ersten Wagen ausstiegen und nach hinten liefen, um dem kleinsten und ältesten der beiden Botschaftsangehörigen die Tür aufzureißen.

»Lassen Sie uns gefälligst durch!«, herrschte der Zwerg in seinem eng sitzenden schlechten Imitat von einem englischen Anzug die Polizisten an.

Er hatte schwere Tränensäcke unter seinen geröteten Augen und roch nach einer merkwürdigen Mischung aus Kölnisch Wasser und teurem Parfum. Yeruldelgger vermutete, dass der dickbäuchige Mann mitten aus einem Schäferstündchen herausgerissen wurde, und sich nur rasch frisch gemacht hatte, um hierherzueilen. Das erklärte auch seine Wut. Der Grund für seine Arroganz war nichts anderes als die übliche Einstellung eines Chinesen in der Mongolei.

»Lassen Sie mich durch!«, wiederholte er. Seine Nasenspitze reichte Yeruldelgger gerade bis an die Brust.

»Kommt nicht infrage, das hier ist ein Tatort.«

»Dieser Betrieb befindet sich auf chinesischem Hoheitsgebiet. Was hier passiert, unterliegt nicht Ihrer Jurisdiktion!«, empörte sich der Diplomat.

»Nein, diese chinesische Fabrik befindet sich auf mongolischem Gebiet«, widersprach Yeruldelgger. »Hier wurde ein dreifacher Mord begangen. Das fällt in unsere Zuständigkeit.«

»Sie haben ja keine Ahnung und sind völlig inkompetent«, erwiderte der Chinese. »Sämtliche Verträge über den Betrieb von Produktionsstätten der Volksrepublik China in der Mongolei enthalten eine Exterritorialitätsklausel für chinesische Staatsangehörige hinsichtlich Verbrechen und anderen Delikten. Ich befehle Ihnen hiermit, eingelassen zu werden.«

Die Selbstsicherheit des chinesischen Diplomaten verunsicherte Yeruldelgger. Es war ihm noch nie untergekommen, dass jemand meinte, ihm irgendetwas »befehlen« zu müssen. Er hatte zwar schon einmal vage etwas von dieser Exterritorialitätsklausel gehört, musste sich bei früheren Ermittlungen aber noch nie damit auseinandersetzen.

Geistesgegenwärtig sprang Oyun ihm bei. »Es tut uns leid, aber die Identität der drei Mordopfer ist noch nicht abschließend geklärt. Möglicherweise handelt es sich bei einer der Leichen nicht um einen chinesischen, sondern um einen mongolischen Staatsangehörigen. In einem solchen Fall sehen die Vereinbarungen und unsere Vorschriften vor, dass die Zuständigkeit für den Tatort bei uns verbleibt, bis die Nationalität der Opfer endgültig geklärt ist.«

Ganz offensichtlich wollte der Diplomat sich von einer Frau nichts sagen lassen, auch wenn sie Polizistin war. Er baute sich direkt vor Yeruldelgger auf, als wollte er sich nur von Mann zu Mann mit ihm unterhalten, aber Oyuns Argument überzeugte. Er gab nach. »Das ist unerhört. Ich werde sofort unseren Botschafter in Kenntnis setzen. Wir werden uns offiziell bei Ihrer Regierung beschweren.«

»Ganz wie Sie wollen«, antwortete der Kommissar lediglich, der bereits kehrtgemacht hatte und wieder ins Gebäude zurückging. Dann fügte er noch hinzu: »Und erinnern Sie meine Regierung bei der Gelegenheit doch daran, dass sie mit der Zahlung meines Gehalts zwei Monate im Verzug ist und dass mir noch vierundsiebzig Tage Urlaub zustehen.«

Die beiden Limousinen wendeten, und die Fahrer gaben sich alle Mühe, mit quietschenden Reifen durchzustarten. Aber sie wirbelten lediglich ein bisschen Kies auf, der auf ein großes Schild prasselte, das auf Chinesisch verkündete, dieser Betrieb diene der Völkerfreundschaft zwischen China und der Mongolei.

Allem Anschein nach stellte die Fabrik Ziegelsteine und Dachschindeln her, die hauptsächlich dazu dienten, weitere chinesische Betriebe in der Region zu errichten. Vermutlich waren hier Hunderte mongolischer Werktätiger beschäftigt, wie es im offiziellen Jargon hieß, darunter auch Frauen und Kinder, die der Aufsicht chinesischer Vorarbeiter unterstanden. Zu diesen zählten wohl auch die drei kastrierten und getöteten Männer in dem kleinen Pausenraum, der vielleicht so etwas wie eine »Offiziersmesse« war.

»Ich wusste gar nichts von dieser Ausnahmeklausel in den Exterritorialitätsvereinbarungen«, bemerkte Yeruldelgger und sah Oyun dabei an.

»Ich auch nicht«, gestand sie unumwunden. »Aber der Typ von der Botschaft offensichtlich auch nicht. Und bis er das überprüft hat, können wir die Nacht über in Ruhe arbeiten!«

»Moment mal. Ich habe dir bereits klipp und klar gesagt, dass ich nicht die Absicht habe, mir hier die Nacht um die Ohren zu schlagen.«

»Ich weiß, ich weiß!«, erwiderte sie lachend. »Du musst ja noch unbedingt und höchstpersönlich den Kinderleichnam bei Solongo in der Gerichtsmedizin abliefern. Schon verstanden.«

Yeruldelgger erwiderte nichts, sondern ging schweigend mit ihr über den schummrig beleuchteten großen Innenhof zur Baracke mit den drei Toten.

»Einer der drei ist also gar kein Chinese?«, wollte Yeruldelgger wissen.

»Wie?«, erwiderte Oyun mit breitem Grinsen. »Wer hat das denn behauptet?«

Er blieb stehen, betrachtete seine Kollegin erstaunt und lachte plötzlich schallend los. Dann legte er ihr den Arm um die Schultern, und gemeinsam steuerten sie den Schauplatz des blutigen Verbrechens an. »Oyun, du bist nicht nur ein kleines Genie! Du bist sprichwörtlich mein guter Geist!«

Sobald sie den kleinen Kantinenraum betraten, verhielten sich die beiden angesichts der übrigen anwesenden Polizisten wieder vollkommen sachlich und professionell.

Oyun fasste die bisherigen Feststellungen am Tatort zusammen: »Wir gehen von Folgendem aus: Irgendwann im Lauf der Nacht sind hier mehrere Täter eingedrungen, mindestens drei. In das Gebäude zu gelangen dürfte nicht schwierig gewesen sein, aber noch ist nicht klar, warum die drei Chinesen überrumpelt werden konnten. Die Täter waren auf jeden Fall bewaffnet. Sie hielten die Opfer zunächst in Schach und zwangen sie, sich auszuziehen. Den Grund dafür kennen wir noch nicht. Dann sind die drei Männer einer nach dem anderen auf kurze Distanz exekutiert worden. Sie wurden vermutlich mit einer Waffe bedroht und hatten keine Möglichkeit, sich zu wehren. Die Untersuchung der Blutspritzer lässt eindeutig den Schluss zu, dass die beiden ersten auf den Stühlen erschossen wurden, der dritte auf dem Tisch. Wir vermuten, dass das letzte Opfer alles versuchte, um zu entwischen, dann aber aufgehalten, auf den Tisch gepresst und mit einer Kugel in die Stirn hingerichtet wurde wie die anderen beiden auch. Wir haben das Geschoss im Holz des Tisches gefunden. Die Täter sind methodisch vorgegangen, waren bestens vorbereitet und haben kaltblütig gemordet. Erst von da an wird es etwas komplizierter. Das dritte Opfer auf dem Tisch wurde auf den Bauch gedreht und mit dem abgebrochenen Besenstiel post mortem misshandelt. Rache oder Demütigung? Ein Ritualmord? Ein sadistischer Exzess im Alkoholrausch? Das wissen wir noch nicht. Die beiden anderen wurden nach vorläufigen Feststellungen von einem Rechtshänder entmannt. Die satanischen Zeichen auf der Stirn hat vermutlich ein Linkshänder eingeritzt. Dann haben die Täter fast blindwütig mit dem Cutter auf die Leichen eingestochen. Die Schnittverletzungen lassen darauf schließen, dass jeder Leichnam von mehreren Tätern malträtiert wurde …«

»Du ahnst wahrscheinlich schon, was ich dich als Nächstes fragen werde?«, unterbrach Yeruldelgger sie.

»Klar: Was ist mit ihren abgeschnittenen Eiern und Schwänzen passiert?«

»Stimmt. Weiß man das schon?«

»Nein. Aber sieh dir mal die Wände genauer an. Hier siehst du Blutspritzer, die sicher von den Hinrichtungen herrühren. Und das da sind aller Wahrscheinlichkeit nach Spuren, die von der Raserei der Täter in ihrem Blutrausch stammen. Aber hier, da und auch an dieser Stelle – was siehst du da?«

An den von Oyun bezeichneten Stellen entdeckte Yeruldelgger handflächengroße Blutflecken mit winzigen, sternförmig angeordneten Spritzern darüber und ein paar langen Tropfnasen nach unten. Einer der Flecken wirkte leicht verschmiert. Auch der Boden unter jedem dieser merkwürdigen Flecken war blutverschmiert.

»O nein!«, seufzte er. »Sag bloß nicht, das sind …«

»Doch. Diese Dreckskerle haben sich anscheinend einen Spaß daraus gemacht, die Weichteile der Chinesen gegen die Wände zu klatschen. Vielleicht haben sie sich sogar damit amüsiert, sie sich gegenseitig ins Gesicht zu werfen!«

»O Scheiße, bloß das nicht! Bloß das nicht, nicht hier, nicht bei uns!«

»Mir wäre es auch lieber, ich würde mich irren, aber ich fürchte, so war’s!«

»Ja, das glaube ich auch. Gibt es Hinweise darauf, dass auch Frauen hier anwesend waren?«

»Frauen? Wieso das?«

»Weißt du denn nicht, was die Chinesen gestern Abend gefeiert haben? Es war die siebte Nacht des siebten Monats.«

»Ja und? Was hat das zu bedeuten?«

»Diese ›Nacht der Siebenen‹ ist so eine Art chinesischer Valentinstag. Normalerweise muss sich die chinesische Frau an diesem Tag gegenüber ihrem Machoehemann von ihrer allerbesten Seite zeigen. Aber wenn der grobschlächtige Dummkopf an diesem Tag weit weg von zu Hause ist, nutzt er die willkommene Gelegenheit gerne, sich zur Feier des Tages mit irgendeinem Flittchen zu vergnügen. Hast du nicht den Puffgestank des alten Herrn von der Botschaft bemerkt?«

»Willst du damit sagen, dass die drei Chinesen hier bei einer kleinen Orgie überrascht wurden?«

»Wäre doch möglich. Das würde auch erklären, warum sie nichts mitbekommen haben. Und es würde erklären, warum sie nackt waren.«

»Aber wo sind dann die Frauen abgeblieben? Kommen sie für dich als Täterinnen infrage? Meinst du, sie haben den Chinesen eine Falle gestellt?«

»Warum nicht? Immerhin hat man ihnen die Geschlechtsteile abgeschnitten. Das könnte doch durchaus der Rache einer Frau gleichkommen, oder nicht?«

»Na, wenn das mal keine ziemlich sexistische Hypothese ist! Bisher haben wir keinerlei Indizien dafür gefunden. Sollte es hier irgendwelche Spuren von Sperma oder von Blut geben, das nicht von den drei Opfern stammt, wird Solongo uns das nach der Obduktion mit Sicherheit sagen.«

»Ja, das werden wir sehen«, meinte Yeruldelgger und ließ den Blick noch einmal langsam über den Tatort schweifen.

Am Fuß eines kleinen Schreibtischs schien er etwas entdeckt zu haben, denn er kniete sich dort hin und hob mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Gegenstand vorsichtig vom Boden auf; ohne aufzustehen, wandte er sich Oyun zu. »Und was ist das hier?«

Sie trat zu ihm und beugte sich über seine Schulter. »Das ist eine dicke Haarsträhne, die dieser Trottel von Chuluum auf jeden Fall als Beweismittel hätte sichern müssen.«

»Genau«, bestätigte Yeruldelgger und erhob sich wieder. »Eine schöne, lange Strähne gepflegtes Haar liegt ausgerissen nur drei Meter vom Schauplatz einer Hinrichtung entfernt. Meiner Meinung nach befand sich außer den drei Chinesen mindestens eine Frau hier am Tatort, und ich vermute, dass sie mit den Chinesen gefeiert hat. Aber ich verstehe nicht, wie einer von denen ihr die Haare ausgerissen haben könnte. Einzig der dritte hat sich möglicherweise gewehrt, der auf dem Tisch … und der steht am anderen Ende des Raumes. Also war die Frau entweder schon vor der Gewalttat hier, und die Haarsträhne auf dem Boden ist die Folge von zu wilden Sexspielchen, oder aber sie war nur bei der Hinrichtung anwesend, und damit hätten wir aller Wahrscheinlichkeit nach ein weiteres Opfer. Entweder wir finden ihre Leiche irgendwo, oder wir haben eine Zeugin, der die Flucht gelungen ist. Auf jeden Fall sollten wir gleich morgen früh nach dieser Frau suchen.«

4

Sammle du inzwischen mal ein, was von den Chinesen noch fehlt!

Bereits achtmal hatte sie ihre Jurte abgebaut und in einem anderen Stadtviertel wieder aufgebaut. Sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen, in einem Haus zu leben, zumal ihre Jurte nichts zu wünschen übrig ließ, auch im Vergleich zu den neorussischen Datschas der neureichen Bürgerschicht, die neuerdings in der Umgebung von Ulaanbaatar immer häufiger errichtet wurden. Bei den ersten fünf Umzügen – sie sprach immer von ihrem persönlichen Nomadentum – war sie immer näher an die Stadt herangerückt, bis sie ihre Jurte schließlich auf einem ummauerten kleinen Pachtgrundstück keine fünfhundert Meter vom Hilton mitten im ersten Bezirk aufschlagen ließ. Ihre strahlende Schönheit, ihr Zelt im Herzen der Stadt und ihr Job bei der Polizei – damit wurde sie in kürzester Zeit zum Star des wilden Nachtlebens der aufstrebenden Hauptstadt. Sie hätte nur mit den Fingern schnipsen müssen, um sich so ziemlich jeden dieser reichen Kandidaten als Ehegatten zu angeln. Egal ob alteingesessene Adlige, russische Oligarchen oder chinesische Potentaten: Alle träumten sie davon, sie zu einem Candle-Light-Dinner ins Hilton einzuladen und sie anschließend bei Kerzenlicht in ihrer bescheidenen Hütte zu bumsen. Aber die schöne und stolze Mongolin hatte sie alle abblitzen lassen.

Dabei könnte sie inzwischen längst eine Datscha am Waldrand im Norden sowie ein Nomadenlager mit Pferden im Gorchi-Tereldsch-Nationalpark haben, dazu einen großen Toyota-SUV mit getönten Scheiben für die Stadt und einen fürs Land sowie zwei kleine Stadtautos für ihre Shoppingtouren. Egal welchen dieser reichen Typen sie geheiratet hätte, sie würde ihn zum Golfen an der Olympic Street begleiten oder sich etwas abseits davon die Zeit bis zu seiner Rückkehr beim Tennisspielen mit kapriziösen Ausländergattinnen vertreiben. Sie würde ihn mit seinen Kumpels zu Jagdausflügen ins Altai-Gebirge fahren lassen, wo er sich zusaufen und sie mit russischen Huren betrügen würde, während sie sich selbst nach Lust und Laune mit einem westlichen Liebhaber vergnügen würde.

Aber sie hatte sich verändert. Bestimmt durch ihren Beruf, die ständige Gegenwart des Todes, die Leichen, die Bilder all dieser Seelen, die Yeruldelgger auf ihrem Tisch ablud. Die Stille bei den Autopsien, die Gelassenheit des Todes und die Hässlichkeit der Leichen. All die durchwachten Nächte, in denen sie sich über zerstörte Existenzen beugte und sich am Ende fragte, was an der eigenen Existenz eigentlich real war. Sie hatte geglaubt, sich der Antwort auf diese Frage entziehen zu können, indem sie sich mit Haut und Haaren dem Strudel des Lebens überließ, seiner Geschwindigkeit, seinem unwiderstehlichen Sog. Erst als sie vom Tod eingeholt wurde, verstand sie, dass sie nicht davor weglaufen konnte. Eines Morgens war Yeruldelgger mit einer Kinderleiche in den Armen zu ihr in den Autopsiesaal gekommen. Es war sein eigenes Kind. Sein kleiner Liebling. Seine wunderbare kleine Kushi.

Sie hatte zugesehen, wie der Mann, den sie bewunderte, dieser unerschütterliche Fels, Risse bekam und sich auflöste, bis nur noch eine Gipshülle übrig war. In Tränen aufgelöst stand er vor ihr, und sein Schweigen war so brutal, dass es auch jetzt noch, zehn Jahre später, in ihr nachhallte, wenn sie daran zurückdachte.

Nach der Zeit ihrer wilden Nächte hatte sie sich in den Norden der Stadt zurückgezogen, ganz ans Ende der Tokyo Street, zwei schmale Nebenstraßen hinter dem Altai Mongolian Grill Restaurant. Ihre Jurte hatte sie auf einem ehemaligen Parkplatz aufgeschlagen, bis sie dort einer beschwipsten Ausländergattin über den Weg lief, als diese gerade aus dem Restaurant kam, das bei Touristen höchst angesagt war. Also brach sie ihre Zelte erneut ab und ließ sich an dem Ort nieder, den keine ihrer alten Bekannten jemals aufsuchen würde. Im sechsten Bezirk zwischen der Schule Nummer 79 und dem Gebrauchtwagenmarkt. In diesem Viertel der Gauner, Gangster und Ganoven kam nur Yeruldelgger gelegentlich bei ihr vorbei, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Und das reichte ihr völlig. Mehrmals hatte er sie durch die verrufenen Gässchen begleitet, vorbei an Schrottplätzen und illegalen Garagen. Sie hatten sich dann in einer der winzigen Kneipen etwas zu essen bestellt, in einer dieser Bruchbuden, die den Mechanikern als Bar dienten. Yeruldelggers Schatten hatte sie danach stets durch die dunklen Gassen nach Hause begleitet, wo man jedem, dessen Weg man kreuzte, direkt in die Augen sah. Sobald allen im Viertel klar war, dass die junge Frau unter Yeruldelggers Schutz stand, ließ man sie in Ruhe. Dieses Arrangement hatte sogar dazu geführt, dass selbst die übelsten Typen des Viertels sie verteidigten, wenn sie von irgendwelchen zudringlichen Durchreisenden belästigt wurde, weil sich niemand Ärger mit dem Kommissar einhandeln wollte.

Seit jener Zeit war die junge Frau auch dazu übergegangen, ihn die Nacht über bei sich zurückzuhalten. Um die Angst zu beschwichtigen, die sie immer mal wieder wie ein Aufschluchzen übermannte.

Solongo hatte zwar ein Extrabett für ihre Gäste in der Jurte, aber er nahm sich immer drei oder vier Bettdecken und legte sich zum Schlafen direkt auf den Boden. Vor dem Einschlafen lag Solongo auf der Seite in ihrem traditionellen, in Rot und Gelb gestrichenen Lager und betrachtete den breiten, kräftigen Rücken von Yeruldelgger und wie er sich beim Atmen hob und senkte. Seine Anwesenheit wirkte auf sie so beruhigend wie ein heiliger Stein in einem japanischen Zen-Garten. Sein leichtes Röcheln im Schlaf schien alle Ängste und Befürchtungen einfach wegzublasen. Es dauerte nie lange, bis sie im gleichen Rhythmus atmete und in einen ruhigen und erholsamen Schlaf versank. Es hatte gut und gern drei Jahre gedauert, bis Yeruldelgger sich dazu überreden ließ, bei ihr im Bett zu schlafen – aber nur unter der Bedingung, dass sie nie ein Paar würden.

»Du bist schon auf?«, wunderte er sich.

»Ja. Ich habe heute ein kleines Mädchen und drei Chinesen bei mir auf dem Tisch, vergiss das nicht!«

»Meine Güte, stimmt ja«, seufzte Yeruldelgger und schob die Bettdecken von sich.

Solongo trank bereits sehr heißen, salzigen Buttertee in winzigen Schlucken aus einer Schale, die sie mit beiden Händen festhielt. Sie trug ein dunkelrotes, fast bodenlanges Hausgewand mit Stickereien, das einem Deel ähnelte. Sie war wirklich eine sehr schöne Frau, dachte er, während sie zusah, wie er sich splitternackt erhob.

»Wir beide geben schon ein bemerkenswertes Paar ab, findest du nicht?«

»Wieso? Bloß weil wir nackt im gleichen Bett schlafen, ohne miteinander zu schlafen?«

»Ja, teils deswegen und teils wegen allem anderen.«

»Also, ich komme damit bestens klar«, sagte Yeruldelgger und zog den Vorhang der kleinen Dusche zu.

Für den Kommissar stellte Solongo ein Rätsel dar. Durch ihre Leidenschaft für die Naturwissenschaften legte sie bisweilen ein merkwürdiges Verhalten an den Tag, das ihn einerseits fassungslos machte, andererseits war er genau deswegen bis über beide Ohren in sie verliebt. Da war beispielsweise diese Tafel mit den chemischen Elementen, ihr mendelejewsches Periodensystem. Es war die einzige Dekoration sowohl in ihrer Jurte als auch in ihrem Büro in der Gerichtsmedizin. Er konnte verstehen, wie fasziniert sie angesichts dieser überschaubaren Liste mit den wenigen chemischen Elementen war, aus denen das gesamte Universum bestand, sie hingegen sprach davon, dass ihr beim Anblick dieser Symbole schwindelte. Tatsächlich mochte er es, wie inkompetent und unwissend er sich angesichts ihrer wissenschaftlichen Erklärungen und weiterführende Spekulationen auf diesem Gebiet fühlte. Als er eines Tages verwirrt auf die Zeitanzeige auf einem Leuchtschirm blickte, ohne zu verstehen, wie so eine Digitalanzeige funktioniert, hatte sie ihm gesagt, er solle sich einen Schwarm Plattfische vorstellen, zum Beispiel Seezungen. Idealerweise so flach, dass man sie von vorn gar nicht sehen könne. Erst wenn sie durch einen kleinen Stromstoß dazu veranlasst werden, sich zur Seite zu drehen, könne man sie erkennen. Seitdem musste er bei solchen Leuchtziffern immer an elektrisierte Fischschwärme denken – er liebte Solongo für diese Magie, die sie solchen Dingen verlieh.

Nachdem sie eine Zeit lang in dem Viertel mit dem Gebrauchtwagenhandel gelebt hatte, beschloss Solongo eines Tages, sich nicht mehr vor ihren Gespenstern zu verstecken, sondern sich in einem Stadtteil von Ulaanbaatar niederzulassen, in dem sie sich richtig wohlfühlte. Lange Zeit hatte sie erwogen, an den nördlichsten Rand der Stadt zu ziehen, wo die Wälder der Gebirgsausläufer begannen, aber sie wollte lieber in der Stadt bleiben. Es war ein Sonntag, als Yeruldelgger ihr zum ersten Mal den Stadtteil Keshaar im Osten der Stadt zeigte. Sie entdeckte hier einen weitgehend unbebauten grünen Streifen, der sich bogenförmig nach Süden zog. Hier war der Erdboden tief und sehr feucht, zu morastig für Häuserfundamente und zu nass für das Aufstellen von Jurten. Ein ehemaliges Flussbett schlängelte sich von Norden nach Süden; der Fluss war irgendwann über die Ufer getreten und hatte früher in den Tuul gemündet. Durch eine leichte Senke bildete das ausgedehnte Steppengelände hier ein feuchtes Becken, aber Solongo fand eine hübsche, trockene Stelle ganz am Ende des Viertels, hinter der großen psychiatrischen Anstalt. Sie verkaufte ihre alte Jurte an einen entfernten Verwandten und schaffte sich eine neue, sehr viel größere an, eine von denen, die jetzt auch als Restaurantzelte in den Hotelanlagen verwendet wurden. Zum ersten Mal ließ sie sie mit einem Holzboden auslegen und richtete sich nach traditionellem Vorbild komfortabel darin ein. Was Yeruldelgger jedoch die größte Entspannung verschaffte, wenn er dorthin kam, war der Garten, den sie zwischen der Jurte und der Steppe angelegt hatte. In dieser Stadt aus Stein und Staub, die seit einiger Zeit im Begriff war, sich in eine Stadt aus Beton und Glas zu verwandeln, in diesem Land, wo so viele Bäume gefällt wurden, dass man sagen könnte, hier sei die Wüste erfunden worden, hatte Solongo ihr Grundstück in eine grüne Oase verwandelt. Sie hatte eine Linde und eine Kiefer gepflanzt, und Yeruldelgger hatte ihr eine Weißbirke geschenkt. Hier wuchs nun Thymian, es gab einen Heckenrosenstrauch, einen Rhododendronstrauch und den von Yeruldelgger beigesteuerten Rhabarber. Sie hatte dann noch Heidelbeer- und Johannisbeersträucher ausgesucht und er etwas Fingerkraut. Ferner hatte sie Wermutkraut, Enzian und Geranien ausgewählt, Yeruldelgger wollte Astern. Zum Schluss waren noch eine Kiefer und eine Lärche dazugekommen, und Yeruldelgger hatte ihr drei junge Pappeln geschenkt. Solongos Garten war so schön geworden, dass die Passanten, die die Blumen und das Blattwerk über die Holzbalustrade hinweg betrachteten, meistens annahmen, hier verberge sich ein Kloster. Ein Stück weiter im Norden nutzten etliche Gemüsebauern das frische Flusswasser für den Anbau von Tomaten, Gurken und Früchten, mit denen sie die Märkte der Stadt belieferten. Es dauerte nicht lange, bis vor ihrem grünen Stückchen Land weitere Gemüse- und Obstgärten angelegt wurden, deren Früchte in den verschiedensten Farben leuchteten. Solongo war begeistert und Yeruldelgger ebenfalls.

»So gefällt es mir jetzt sehr gut«, wiederholte er mehrmals, als er, inzwischen angezogen und eine Schale Heidelbeeren löffelnd, draußen vor dem Eingang den Garten betrachtete. Sein Telefon klingelte, und auf dem Display erschien Oyuns Name. »Hallo, Oyun.«

»Ich habe die Hoden der Chinesen gefunden!«

»Was du nicht sagst! Und wo?«

»Tja, Kommissar, da musst du schon selbst herkommen und dir das ansehen, um es tatsächlich zu glauben.«

»In Ordnung. Wo soll ich hinkommen?«

»Das sage ich dir gleich. Aber ich rate dir, vorher nicht zu frühstücken. Das ist kein schöner Anblick.«

»Zu spät. Schon fast aufgegessen.«

»Na, dann gebe ich dir einen guten Rat: Steck dir vorher einen Finger in den Hals. Wir treffen uns beim Containermarkt, dem hinter dem Schwarzmarkt, wenn du Richtung Osten aus der Stadt rausfährst. Genau gegenüber dem Umspannwerk.«

»Okay. Ich löffle nur noch diese köstlichen Heidelbeeren mit Sahne zu Ende, dann komme ich.«