Der Mongole - Kälter als der Tod - Ian Manook - E-Book
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Der Mongole - Kälter als der Tod E-Book

Ian Manook

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Beschreibung

Nach dem vielfach preisgekrönten Debüt nun der zweite Fall für Yeruldelgger, den härtesten Kommissar der Mongolei!

Die mongolische Steppe im Winter ist ein erbarmungsloser Ort. Eisige Winde und meterhohe Schneeberge beherrschen die karge Natur. Doch die Leiche, die unter einem gefrorenen Yak-Kadaver gefunden wird, scheint nicht der Kälte, sondern einem Mörder zum Opfer gefallen zu sein. Und es ist nur der erste in einer Reihe seltsamer Funde, die Kommissar Yeruldelgger beschäftigen. Die Spur führt ihn aus der Kälte der Mongolei nach Frankreich und zu einem grausigen Fund in einem Schiffscontainer. Er ahnt nicht, dass er mit seinen Untersuchungen in ein Wespennest aus politischen Verwicklungen und persönlichen Rachefeldzügen sticht – und er mitten in dessen Zentrum steht.

Die unabhängig voneinander lesbaren Romane um Kommissar Yeruldelgger:

Der Mongole. Das Grab in der Steppe

Der Mongole. Kälter als der Tod

Der Mongole. Tod eines Nomaden

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Seitenzahl: 637

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Buch

Die mongolische Steppe im Winter ist ein erbarmungsloser Ort. Eisige Winde und meterhohe Schneeberge beherrschen die karge Natur. Doch die Leiche, die unter einem gefrorenen Yak-Kadaver gefunden wird, scheint nicht der Kälte, sondern einem Mörder zum Opfer gefallen zu sein. Und es ist nur der erste in einer Reihe seltsamer Funde, die Kommissar Yeruldelgger beschäftigen. Die Spur führt ihn aus der Kälte der Mongolei nach Frankreich und zu einem grausigen Fund in einem Schiffscontainer. Er ahnt nicht, dass er mit seinen Untersuchungen in ein Wespennest aus politischen Verwicklungen und persönlichen Rachefeldzügen sticht – und er mitten in dessen Zentrum steht.

Der Autor

Ian Manook arbeitete als Journalist und leitete eine Kommunikationsagentur, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Sein Debütroman Der Mongole. Das Grab in der Steppe ist mehrfach preisgekrönt, unter anderem mit dem renommierten Krimipreis Quais du Polar, und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ian Manook lebt in Paris.

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IAN MANOOK

DER

MONGOLE

Kälter als der Tod

Kriminalroman

Aus dem Französischen

von Alexandra Baisch

Die französische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Les Temps Sauvages« bei Éditions Albin Michel, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Deutsche Erstveröffentlichung 2020 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © Éditions Albin Michel, Paris 2015

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Redaktion: Stephan Johann Kleiner

JB Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-20280-4V003

www.blanvalet.de

Für Françoise.

Für all jene,

die ich getroffen habe

und die

mein Leben ausmachen.

Für mich!

»Aber doch, etwas schwelte und faulte da leise innen,

etwas fing an abzusterben.«

Stefan Zweig, Untergang eines Herzens

1

… und legte den Finger auf den Abzug.

Eingezwängt in ihre gefütterte Jacke, versuchte Inspektorin Oyun das aufgetürmte Gebilde zu verstehen. Sie kauerte vornübergebeugt im knirschenden Schnee, um es besser betrachten zu können. Die schneidende Kälte brannte in ihren Augen, und die eiskalte Luft stach ihr bei jedem Atemzug schmerzhaft in den Kopf, fast so, als atmete sie Glassplitter ein. Um sie herum wütete ein weiterer schrecklicher Dsud, der die unbefleckte Steppe unter einer Eisschicht erstarren ließ. Das dritte Jahr in Folge wurde das Land vom Weißen Unglück erschüttert. Zu lang anhaltende Polarwinter, die auf zu kurze Hitzesommer folgten. Mehrtägige Blizzards, sodass man die eigene Jurte nicht mehr vor Augen sah und nur einen Meter davon entfernt erfrieren konnte. Dann wieder strahlend blauer Himmel, wie mit Lack überzogen, den eine gleißende Sonne über dem vereisten Land durchbohrte. Oyun konnte sich nicht daran erinnern, in ihrer Kindheit je einen so heftigen Dsud erlebt zu haben. Der erste, an den sie sich erinnerte, war der von 2001. Ein Winter so hart und lang, dass sieben Millionen Tiere im Land daran zugrunde gegangen waren. Vor Oyuns geistigem Auge zeichnete sich das Bild von Abertausenden wenige Monate zuvor noch so stolzen und stattlichen Nomaden ab, die daraufhin in Ulaanbaatar gestrandet waren, wo sie bettelten und in stummer Erstarrung in der Kanalisation der Stadt ihr Leben ließen. Die Männer hatten all ihre Pferde verloren, die Frauen alle Yaks und Ziegen und die Kinder alle Lämmer und sogar ihre kleinen Welpen. Dieser Winter hatte der Mongolei mehr Seelen abverlangt als die Flugzeuge den Twin Towers in Manhattan. Und in den beiden darauffolgenden Jahren hatten weitere Dsuds die ohnehin schon geschwächten Herden noch mehr schrumpfen lassen. Da gab es die Schwarzen Unglücke, die mehrfach über das Land hereinbrachen, diese glühend heißen Sommer, die die rissigen Böden bis in tiefste Lagen hinein verbrannten, und die Weißen Unglücke, während derer der Schnee die Steppe unter einer eisigen Schicht begrub. Diese beiden Unglücksarten stürzten die Herden den Winter über in Verwirrung. Auf der Suche nach Nahrung verstreuten sich die Tiere, verirrten sich und kamen vor Hunger und Kälte um. Ihre ausgemergelten, vom Schnee gegerbten und gebeutelten Kadaver fand man erst im Frühjahr wieder, zu Tausenden. Oder gar zu Millionen, wenn sich das Schwarze und das Weiße Unglück zu einer noch viel größeren Katastrophe vereint hatten.

Über viele Kilometer ringsum war dieser kleine Hügel von Kadavern vor ihr die einzige Erhebung in der Steppe. Oyun fragte sich, weshalb er ausgerechnet hier war, vermied es jedoch, den Blick zu heben, um den Horizont nach einer Antwort abzusuchen. Die Linien der Bergkämme stachen in der schneidenden Luft so deutlich hervor, dass ihr die Augen davon brannten. Sie konzentrierte sich stattdessen auf die aufgetürmten Kadaver. Der Soldat, der das vorsintflutliche sowjetische Halbkettenfahrzeug hergefahren hatte, stieg aus der Kabine seines alten AT-Ls aus. Sie hörte die Tür zuschlagen, ein trockenes Geräusch wie das Brechen eines morschen Asts, dann das Knirschen von Schnee, der unter seinen Stiefeln zusammengequetscht wurde, als würde man von einem Baiserstückchen abbeißen. Wortlos kauerte er sich neben sie, reichte ihr eine Blechtasse und holte eine Thermoskanne aus seinem gefütterten Deel hervor.

»Das ganz oben ist ein Hausyak, so viel ist sicher!«, stellte der Mann fest.

»Entweder das oder ein Dzo«, korrigierte Oyun. »Die Nomaden hier haben eigentlich nur gekreuzte Tiere. Ganz selten Wildyaks.«

»Oder ein Dzo«, räumte der Mann ein, während er den Deckel der Thermoskanne mit seinen riesigen, mit Schaffell gefütterten Fäustlingen abschraubte.

Er schenkte sich selbst siedend heißen salzigen Buttertee ein, bevor er Oyun welchen anbot. Hausyak oder Dzo, das änderte nicht viel. Das Tier lag mit aufgeschlitztem Bauch auf den anderen Kadavern. Der Frost hatte sein Fell und seine Gedärme mit Raureif überzogen und kleine perlenartige Zöpfe darin gebildet. Es hatte alle viere von sich gestreckt, lag obszön gespreizt auf dem, was es unter seinen eisigen Gedärmen begrub. Wenigstens stank es nicht. Im Sommer, bei über vierzig Grad, hätte dieser Berg Aas einen unerträglichen Gestank verströmt. Die eisige Luft desinfizierte alles, selbst das Grauen. Der Mann beugte sich vor, um zwischen den gebrochenen Rippen des Tieres hindurchzusehen, dann steckte er eine Hand zwischen die harten, steifen Gedärme …

»Eine Dzum!«, sagte er. »Eine Yakkuh.«

»Na wunderbar!«, erwiderte Oyun seufzend, umklammerte ihre Tasse Tee mit beiden Händen. »Und das darunter?«

»Das darunter ist ein Pferd«, antwortete der Mann ohne Zögern.

Das konnte man an den Hufen der vier ausgerenkten Beine erahnen, die zwischen denen des Yaks lagen. Oyun glaubte zu erkennen, dass der Rücken des Tieres gebrochen war. Der Kadaver einer aufgeschlitzten Yakkuh auf dem zerschmetterten Kadaver eines Pferdes, bei minus fünfundzwanzig Grad, fünfhundert Kilometer von Ulaanbaatar entfernt, das war nun wirklich keine Angelegenheit für die Kripo. Liebend gern hätte sie die Sache einfach der örtlichen Polizei überlassen. Wäre da nicht das Bein gewesen. Das Bein mit dem Stiefel, das noch im Steigbügel steckte und zwischen dem gefrorenen Rücken des toten Pferdes und dem gläsernen Bauch des Yaks herausragte.

»Das ist der Reiter«, erklärte der Soldat.

»Das dachte ich mir schon«, entgegnete Oyun, die mit einem Mal spürte, wie sich ihr unterer Rücken vor Kälte und Müdigkeit zusammenzog. »Jetzt gilt es herauszufinden, was er hier zu suchen hatte.«

»Der saß auf dem Pferd«, meinte der Soldat.

»Ja, und jetzt ist er unter dem Yak«, sagte sie genervt. »Irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?«

»Nein«, erwiderte der Mann. »Wir haben ja nur sein Bein.«

»Und du hast nicht versucht, es freizulegen und ein paar Hinweise zu finden?«

»Ich bin Soldat«, verkündete der Soldat lakonisch.

Oyun wandte den Kopf und musterte ihn ungeniert. Yeruldelgger hatte ihr schon von diesen zu Beamten mutierten Nomaden erzählt. Alles, was die Vorzüge des Nomaden ausmachte, erwies sich beim Beamten als Nachteil. Vor allem, wenn er beim Militär war.

»Trotzdem kann man doch versuchen herauszufinden, wer das ist, oder?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, kniete Oyun sich in den Schnee und griff nach dem Stiefel, der durch das Eis fest mit dem Steigbügel verbunden war. Erfolglos versuchte sie, den Fuß der Leiche freizubekommen. Das Bein, das so steif war wie ein versteinerter Baumstamm, bewegte sich keinen Millimeter. Um die Hebelwirkung zu erhöhen, beugte sie sich nach unten, stützte sich mit der Schulter an dem toten Yak ab und fing dabei kurz den Blick des Soldaten auf. Er schien nicht gutzuheißen, was sie da vorhatte.

»Was?«, blaffte sie, kurzatmig durch die Anstrengung.

Sie schwitzte unter ihrem Parka und hatte zugleich das Gefühl, dass ihre Lunge von innen mit einer Eisschicht überzogen wurde. Sie war nicht in der Stimmung, die resignierte Gelassenheit eines Soldaten zu ertragen.

»Das sollte man nicht tun«, murmelte der Mann vorwurfsvoll.

»Ach nein? Und warum nicht?«, fragte sie und zog an dem Bein wie ein Galeerensklave am Ruder.

»Wegen dem Frost.«

»Weil du glaubst, dass es …«

Unvermittelt brach etwas, und sie fiel mit einem dumpfen Knirschen rücklings in den festgetretenen Schnee. Als sie sich aufrichtete, ihr Gesicht von der Kälte malträtiert, schreckte sie vor Entsetzen zusammen und warf das Bein des Mannes von sich.

»Ich habe gesehen, wie Birkenstämme im Dsud durch und durch gefroren sind, bis sie so zerbrechlich waren wie Glas«, erklärte der Soldat. »Und ein Bein …«

»Das glaube ich einfach nicht«, murmelte Oyun, die das eisesstarre Bein wieder aufhob.

Knochen und Fleisch waren sauber in der Mitte des Oberschenkels abgebrochen, genau wie der Stoff der Hose. Das hatte nichts mehr von einem menschlichen Körperteil.

»Jetzt habe ich wenigstens, was ich brauche, um eine DNA-Analyse durchführen zu lassen …«

Sie warf einen letzten Blick auf den Haufen toter Leiber, dachte einen Augenblick lang nach und winkte den Soldaten dann heran.

»Meinst du, wir könnten eine Kette um den ganzen Haufen legen und ihn mit deinem Wagen ziehen, damit er sich vom Boden löst?«

»Da würdest du bloß das Pferd zerbrechen und den Reiter vielleicht gleich mit.«

»Wir können das doch nicht den ganzen Winter über hierlassen! Die Aasgeier werden noch darüber herfallen.«

»Kannst du zwei Tage hierbleiben?«

»Hier?«, rief Oyun.

»Bei mir, auf dem Posten.«

»Und inwiefern soll mich das weiterbringen?«

»Wenn du deine drei Kadaver mitnehmen willst, müssen wir sie auftauen, und ich weiß, wie man das macht.«

»Ja, daran habe ich auch gedacht«, sagte Oyun. »Wir könnten ein paar Feuer machen …«

»Die würden nicht die ganze Nacht durch brennen. Auf der Station gibt es eine alte Jurte, die Nomaden nach einem Dsud zurückgelassen haben. Die stellen wir um den Haufen herum auf zwei kleine Heißluftgeneratoren. Innerhalb von achtundvierzig Stunden sollte alles geschmolzen sein. Dann kannst du mit deinem verkrüppelten Haufen zurück in die Stadt fahren.«

»Hey, ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf! Wir haben hier ein Opfer.«

»Ich habe dem Typen das Bein nicht abgebrochen«, sagte der Soldat grinsend.

»Okay. Aber erweise ihm trotzdem etwas Respekt. Mir tut es schon leid genug, was ich ihm angetan habe.«

»Das muss es nicht, kleine Schwester, du hast ihm einen Gefallen getan.«

»Ach ja?«

»Ja. Unsere Vorfahren dachten, man müsste die Knochen der Toten zertrümmern, damit ihre Seelen entkommen können. Sie legten ihre Überreste in die Steppe, ohne sie zu begraben, damit die wilden Tiere ihre Kadaver abnagten und so ihre Seelen befreiten.«

Oyun fiel ein, dass Yeruldelgger ihr schon einmal etwas Ähnliches erzählt hatte. Sie erinnerte sich auch an all das, was er ihr über den Respekt vor den Jurten beigebracht hatte.

»Ich bin einverstanden mit der Jurte, aber kränke die Geister nicht, die darin gelebt haben.«

»Mach dir keine Gedanken. Die Geister haben diese Zelte längst verlassen. Außerdem stellen wir sie ohne Filzmatte auf und decken sie nur mit dem großen Segeltuch ab. Die Seelen der Ahnen stecken im Filz. Die werden wir nicht stören.«

»Gut«, sagte Oyun, die diesen Soldaten mit den immer weniger militärischen Anwandlungen und dafür umso stärker hervortretenden Nomadenseiten allmählich ganz angenehm fand. »Ich komme mit dir hierher zurück. Das bin ich dem armen Kerl schuldig.«

Bevor sie zu dem Halbkettenfahrzeug zurückgingen, betrachtete sie die Kadaver ein letztes Mal, und der Soldat erriet ihre Gedanken.

»Ich habe schon gesehen, dass Yaks trotz ihres Gewichts wie Ziegen herumgetollt sind. Man hält sie für gleichgültig und phlegmatisch, aber wenn man sie piesackt, können sie ziemlich ungestüm und aggressiv werden. Der Reiter hat der Yakkuh vielleicht nachgesetzt, um sie einzufangen und mitzunehmen. Dabei könnte sein Pferd gestürzt sein, und die Dzo hat vor lauter Panik einen Satz gemacht und ist auf ihn draufgesprungen, bevor er vom Pferd springen konnte.«

»Und dabei hat sie dem Pferd den Rücken gebrochen?«

»So eine stattliche Dzo wiegt schon um die dreihundert Kilo.«

»Aber warum ist die Dzo dann aufgeschlitzt?«

»Wir wissen ja nicht, wie der Reiter darunter aussieht. Vielleicht hatte er eine Urga dabei. Vielleicht ist seine Urga beim Sturz abgebrochen und hat die Dzo gepfählt?«

»Gepfählt vielleicht, aber aufgeschlitzt?«

»Vielleicht hat er versucht, sich mit dem Messer freizuschneiden, bevor er von den Gedärmen erstickt wurde.«

»Das ergibt keinen Sinn«, befand Oyun.

Einen Augenblick lang schwiegen sie beide, standen Seite an Seite in der eisigen Umgebung da und betrachteten die Gerippe.

»Oder aber …«, murmelte sie, beendete ihren Satz jedoch nicht.

Er drehte sich zu ihr um, dann sah er nach oben, folgte ihrem Blick. Lange standen sie so schweigend da und versuchten sich von dem zu überzeugen, was sie sich nicht vorzustellen wagten.

»Die Hälfte der Masse mal Geschwindigkeit hoch zwei«, sagte der Soldat schließlich, ohne den Kopf zu senken.

»Was redest du da?«

»,½ . m . v². Die kinetische Energie eines Körpers im freien Fall. Das ist Physik.«

»Und du kennst dich mit Physik aus?«

»Als Kind habe ich im Winter in der Jurte Bücher darüber gelesen, wenn es sonst nichts zu tun gab.«

Erstaunt schwieg Oyun, bevor sie ihre mit Raureif überzogenen Augenbrauen hochzog.

»Und weiter?«

»Im Fall einer Yakkuh, die durch den Dsud ein bisschen abgemagert ist und nur noch zweihundert Kilo wiegt, würde das beim Aufschlag mehreren Tonnen entsprechen. Das reicht, um ein Pferd zu zerschmettern.«

»Inklusive Reiter …«

»Inklusive Reiter!«

»Aber es spielt doch auch eine Rolle, aus welcher Höhe und mit welcher Geschwindigkeit sie fällt, oder nicht? Wie errechnet man das?«

»Wenn wir uns hier umsehen, dann gibt es weit und breit nichts, von wo die Yakkuh hätte herunterspringen können. Also kann sie nur vom Himmel gestürzt sein. Dazu kommt noch, dass ein Körper, unabhängig vom Gewicht, ab einer bestimmten Fallhöhe die Maximalgeschwindigkeit von ungefähr 300 Stundenkilometern nicht übersteigen kann. Rein physikalisch.«

»Na klar«, meinte Oyun und betrachtete ihn mit neuen Augen. »Rein physikalisch.«

Plötzlich schüttelte sich der Soldat, als wäre er nach einer kurzen mathematischen Abwesenheit wieder ins Hier und Jetzt zurückgekehrt.

»Okay, wir sollten los, wenn wir beizeiten mit der Jurte zurückkommen wollen.«

Er wollte Oyun am Arm fassen, um ihr zu helfen, aber sie entwand sich mit überraschender Heftigkeit aus seinem Griff und stapfte vor ihm durch den tiefen Schnee. Das Halbkettenfahrzeug war eine alte Artilleriezugmaschine aus dem Zweiten Weltkrieg, die die sowjetische Armee zu Beginn der Sechzigerjahre ausgemustert hatte. Es war ein zuverlässiges, schweres Gefährt, mit dem sich gut arbeiten ließ. Sein langgezogener Motorblock, abgeschaut von den amerikanischen Trucks, und seine aus drei abnehmbaren Scheiben zusammengesetze Windschutzscheibe verliehen ihm ein bebrilltes, sturköpfiges Aussehen. Die in russischer Manier verkleinerte Fahrerkabine war eingekeilt zwischen der langen Kühlerhaube und der kleinen Wanne, die hinten fixiert war. Das alles ruhte flach auf den beiden Gleisketten mit den fünf Laufrollen und den beiden kleineren und leicht erhöhten Antriebs- und Führungsrädern an jedem Ende. Oyun fragte sich, wer sich die Mühe gemacht hatte, den Panzerwagen weiß anzumalen, damit er im Schnee nicht auffiel. Außerdem fragte sie sich, ob dieser Soldat, der sich so gut mit Physik auskannte, nicht auch bei ihr eine ganz konkrete physische Idee im Hinterkopf hatte, so wie er ihr die Tür des Panzers aufhielt, um ihr beim Einsteigen in die Kabine behilflich zu sein. Erneut machte sie sich von seinem Arm frei, was ihm ein Schmunzeln entlockte.

»Wer hat dich eigentlich informiert?«, fragte er. »Ich habe noch nicht mal meinen Bericht für die Vorgesetzten geschrieben und hätte eher erwartet, dass ein einfacher Provinzpolizist hier aufkreuzt. Ich war ziemlich überrascht, als ich dich am Basislager abholen sollte.«

»Keine Ahnung«, erwiderte Oyun. »Auf dem Polizeirevier ist eine Nachricht eingegangen. Mit einem Foto von dem Kadaverhaufen als Anhang.«

»Verfluchte Smartphones! Wenn sich jetzt auch noch die Nomaden direkt in Ulaanbaatar melden …«, sagte der Soldat kopfschüttelnd. »Andererseits mache ich da vielleicht einen guten Tausch.«

»Wie das?«

»Ich bekomme dich anstelle eines Polizisten aus der Provinz, das ist doch wirklich besser, findest du nicht? Auch wenn man den Unterschied unter dem Parka noch nicht so richtig erkennen kann …«

Oyun zog es vor, nichts zu erwidern. Es würde eine Stunde dauern, bis sie wieder im Lager waren, und schon bald fragte sie sich, ob das Fahrzeug wirklich durchhalten würde, das wie ein gepanzerter Käfer über die Schneewehen hinwegkroch, statt sie plattzuwalzen.

»Die Maschine überlebt uns!«, versicherte ihr der Soldat und lachte laut auf.

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte Oyun irritiert, die bei jeder Erschütterung mit der Schulter gegen die Scheibe prallte.

»Ich habe es Schraube für Schraube, Mutter für Mutter auseinandergenommen«, sagte er mit gespielter Bescheidenheit.

»Das ganze Ding?«

»Alles. Karosserie, Motor, Ketten, alles. Hat mich einen ganzen Sommer lang beschäftigt.«

»Sag bloß nicht, dass …«

»Doch! Nach den Physikbüchern habe ich als Kind Bücher über Maschinenwesen gelesen, wenn es sonst nichts zu tun gab«, erklärte er, ohne groß zu prahlen.

Nachdenklich saß Oyun da und betrachtete den Mann am Steuer. Dieses Fahrzeug war für den Krieg gedacht, nicht für Spazierfahrten. Keinerlei Heizmöglichkeit im Inneren. Somit saßen sie beide in ihre Parkas eingepackt da, hatten ihre Uschankas tief in die Stirn und die fellbezogenen Ohrenklappen über die Ohren gezogen. Sie versuchte unterdessen, sich diesen Soldaten vorzustellen, allein auf seinem Posten mitten in der glutheißen, von trockenen Sommergewittern erschütterten Steppe. Weshalb zerlegte man ein Halbkettenfahrzeug der sowjetischen Armee von 1939 bis auf die letzte Schraube? Welcher Typ Mensch machte sich freiwillig an eine derart unnütze Aufgabe? Sie dachte an einen italienischen Roman, den Yeruldelgger ihr für eine Observation empfohlen hatte. Die Irgendwas-Wüste. Vielleicht die Tartarenwüste. Männer, die verloren an irgendwelchen Grenzen auf irgendetwas warteten. So stellte sie sich den jungen Soldaten vor, wie er sein Fahrzeug auseinander- und wieder zusammenbaute, um die Langeweile totzuschlagen. Hin und wieder ein besorgter Blick zum Horizont, um sich zu vergewissern, dass hier niemals etwas passieren würde, wie eine Sehnsucht, die sich nicht entfalten darf …

Etwas später als gedacht erreichten sie den Posten, der nichts weiter als eines dieser großen Barackenlager war, überragt von einem jener mit Antennen gespickten Masten, die das frühere Sowjetregime wie verirrte Wachposten quer über das Land verteilt hatte. Oyun sprang sofort aus der Kabine, um sich nach drinnen zu flüchten. Der Soldat hastete los, um ihr die Tür aufzuhalten, und sie trat ein. Das Tageslicht schwand immer weiter. Die Temperatur musste inzwischen auf minus fünfundzwanzig Grad gesunken sein. Kaum dass sie eingetreten war, erdrückte sie die bleierne Hitze, und sie zog so rasch wie möglich die Kapuze herunter und die Fäustlinge aus, damit ihr nicht übel wurde. Zur Rechten lag ein Raum, der zugleich als Büro, Werkstatt und Küche diente. Zur Linken erahnte sie ein spartanisch eingerichtetes Zimmer. Direkt vor ihr ein unangemessen offenes, türloses Badezimmer. Eine altmodische Wanne unter einem großen, mit Dämmmaterial umwickelten elektrischen Boiler, daneben die Toilette. Als einziges Zugeständnis an etwas Intimität hing ein undurchsichtiger Plastikvorhang an einer alten chromfarbenen, leicht abgeblätterten Stange. In jedem Raum bollerte ein Kanonenofen auf Hochtouren.

»Wie hübsch!«, machte sich Oyun lustig, während sie ihren Parka aufknöpfte.

»Ausreichend«, korrigierte der junge Mann.

»Internet?«

»Wenn es gut aufgelegt ist, aber für heute Abend ist es zu spät. Der Generator stellt sich in sieben Minuten ab.«

»Und was ist mit der Jurte?«

»Keine Zeit mehr, sie aufzubauen, aber ich werde trotzdem bis zum nächsten Camp weiterfahren und sicherstellen, dass wir morgen die nötige Hilfe bekommen. In einer Stunde bin ich wieder zurück.«

Oyun glaubte, eine leichte Ironie im Tonfall des Soldaten herauszuhören.

Sie beschloss, ein paar Dinge sofort klarzustellen.

»Erwarte nicht, dass ich den Tisch decke, Kamerad. Der Typ Frau bin ich wirklich nicht.«

»Kein Problem«, erwiderte er und lachte schallend. »Ich bin auch nicht wirklich dieser Typ Mann. Übrigens hat seit heute Morgen keiner das Warmwasser aufgebraucht. Nutz die Gelegenheit für ein Bad. Eine Stunde dürfte doch für deinen Typ Frau ausreichend sein, oder?«

Als sie hörte, wie der Motor angelassen wurde, lauschte sie dem Geräusch und stellte sich vor, wie sich das Gefährt in der bereits lauernden Nacht verlor. Sie verriegelte die Tür, überprüfte, dass auch alle Fenster verschlossen waren, und ließ sich ein heißes Bad ein. Sobald sie nackt war, blieb ihr Blick im Spiegel an ihrem geschundenen Körper hängen. Ihre Brüste waren mit den Narben verheilter Bisswunden übersät. Lange Schnittwunden zeichneten ihre Schultern und ihren unteren Rücken für immer. Und direkt über ihrer linken Brust kreiste sie mit dem Finger über die kleine Narbe, wo die Kugel eingedrungen war, die sie hätte töten sollen. Sie kämpfte dagegen an, sich erneut von der Erinnerung an die Vergewaltigung übermannen zu lassen. Dann stieg sie in das heiße, schaumlose Wasser, winkelte die Beine an und ließ sich hineingleiten, bis die Wärme auch ihren Nacken und ihre Schultern umfing. Sie hätte einschlafen können, doch seit jenem Tag tat sie sich schwer damit, an fremden Orten die Augen zu schließen, vor lauter Angst, die Bande könnte erneut auftauchen.

Das Geräusch des Motors ließ sie aus ihrer Benommenheit aufschrecken. Die Müdigkeit und die unerwartete Wohltat des heißen Bades hatten ihre Angst überwogen. Sie war eingedöst. Triefend nass sprang sie aus dem Wasser, schnappte sich ein Handtuch, sammelte ihre Kleider auf, rannte in das Zimmer und schloss die Tür. Die knallte jedoch nur gegen den Türstock und schwang genau in dem Moment weit auf, als der Mann hereinkam. Ein eisiger Windstoß wirbelte ein kleines Schneegestöber herein, das um Oyuns nackten Körper herumwehte und sich senkte, als der Soldat die Tür mit der Ferse zuknallte, wobei er den Blick nicht von der jungen Frau nahm.

»Was ist?«, zischte sie, versuchte aber nicht, sich zu verstecken.

»Diese ganzen Narben …«

»Das ist weiter nichts. Und es geht dich nichts an«, antwortete sie abwehrend.

»Wer hat dir das angetan?«

Ungeniert starrte er sie an, und ihr war unbegreiflich, weshalb sie es zuließ. Sie versuchte nicht, ihre Nacktheit zu verbergen, und dachte, es müsse wohl an ihrer Wut liegen, der Provokation dienen.

»Was juckt dich das?«, fragte sie aufbrausend.

»Nicht schwer zu erraten, was dir zugestoßen ist.«

»Keiner weiß, was mir zugestoßen ist!«

Der Soldat zog seine Fäustlinge und seine Uschanka aus, und noch immer ruhte sein Blick auf ihr. Er betrachtete ihre Brüste, ihre Hüften, ihren Bauch, all diese Male der Vergewaltigung. Auch als er den Reißverschluss seines Polaranzugs aufzog, sah er sie noch unverwandt an.

»Stimmt«, sagte er, »vermutlich kann ich nicht nachvollziehen, was dir widerfahren ist.«

»Das ist Schnee von gestern, es ist vorbei!«

»Das sieht man weder deinem Körper noch deinen Augen an«, erwiderte er mit ruhiger Stimme und trat langsam ins Zimmer.

»Komm nicht weiter rein und mach gefälligst die Tür zu!«

»Du hast doch gesehen, dass sie nicht schließt!«, sagte er und kam weiter auf sie zu.

»Keinen Schritt weiter!«, drohte Oyun und zog ihre Waffe zwischen den Kleidern unter ihrem Arm hervor.

»Oder was?«, fragte der Soldat provokant, während er sich den Pulli über den Kopf zog.

Er näherte sich immer weiter und stand mit einem Mal so dicht vor ihr, dass sie den Lauf ihrer Waffe gegen seine Stirn presste.

»Oder ich bringe dich um.«

»Du bringst mich um? Und weshalb?«

»Weil ich mir geschworen habe, jeden umzubringen, der meinen Körper ohne Liebe anfasst.«

Er lächelte, knöpfte sein Hemd auf, presste seine Stirn entschlossen gegen das Metall des Laufs und sah Oyun diesmal fest in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand und legte den Finger auf den Abzug.

2

Sie sind extra deswegen aus Ulaanbaatar angereist .

»Was soll ich denn jetzt sehen?«, fragte Yeruldelgger, dessen Wangen vor Kälte ganz taub waren.

Er lehnte an dem weißen Yak, das der andere Grandgoschier nannte, suchte Schutz vor dem scharfen Wind, indem er sein Gesicht dessen streng nach Tier riechendem warmem Atem zuwandte. Trotz der zwei Mäntel meinte er zu spüren, wie seine Knochen sich zusammenzogen, so sehr fror es ihn.

»Da«, sagte der Professor und zeigte auf einen Stein unter der verschneiten Schneekruste des Gletschers.

»Professor, wir haben unter dreißig Grad minus. Wenn du mich mitten im Dsud mit diesem abscheulichen Wiederkäuer durch die Gegend ziehen lässt, nur um hier irgendwelche Kieselsteine einzusammeln …«

»Das ist kein Kieselstein«, erklärte der Professor, dem der eisige Wind nichts auszumachen schien. »Das ist ein Knochen.«

»Knochen oder Kieselstein, das ist mir schnuppe«, knurrte Yeruldelgger und presste sich an den Hals des Yaks. »Hättest du das nicht mit zu dir nach Hause nehmen und es mir dort zeigen können, wo es warm ist, vor deinem Kamin?«

»Das ging nicht«, antwortete der Professor und drehte einer plötzlichen Bö den Rücken zu.

»Ich gehe mal davon aus, ich soll dich fragen, weshalb?«, sagte Yeruldelgger ungeduldig.

»Ich ging eigentlich davon aus, du würdest das verstehen.«

»Professor«, platzte es aus ihm heraus, »du weißt, wie meine Tage und Nächte als Bulle aussehen, und trotzdem wagst du es, mich mitten im schlimmsten Dsud, der mir je untergekommen ist, auf diesen verfluchten Gletscher zu schleppen, wo ich mir einen abfrieren und Steine einsammeln soll?«

»Knochen«, korrigierte der Professor ihn erneut.

»Knochen oder Stein, wo ist da schon der Unterschied?«, brummte Yeruldelgger missmutig.

»Tja, mit Steinen wäre das Ganze kein Tatort«, antwortete der Professor sachlich.

»Ein Tatort? Willst du damit sagen, dass …«

»Dass das ein menschlicher Knochen ist, in der Tat. Ein Stück eines Oberschenkelknochens, um genau zu sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach eines linken Oberschenkelknochens.«

Umgehend fand Yeruldelgger seine professionelle Konzentration wieder und schalt sich für seine Forschheit. Die Kälte hatte seine Gedanken gelähmt.

»Sind da noch mehr?«, fragte er.

Sie waren einen einstündigen Fußmarsch von der behaglichen Zuflucht des Museums entfernt. Je weiter sie in diese enge Schlucht vorgestoßen waren, desto stärker hatte sich der Gletscher zwischen den Wänden nach vorn gewölbt. Das vom Winter komprimierte Wasser türmte sich zu Séracs auf, um das Tal im langsamen, beharrlichen Rhythmus eines stummen Baggers zu erodieren. Auf dem Weg hierher hatten sie Gletscherspalten umgehen müssen, bis zu jener Stelle, an der ein schneidender Wind eine Schneewolke durch den schmalen Gang peitschte, die Flocken so rau wie grobe Salzkörner. Yeruldelgger spürte, wie ihm der steife Wind in der Nase brannte und seine Wangen malträtierte.

»Davon gehe ich aus«, antwortete der Professor. »Sollen wir ihn mitnehmen?«

Er war ein sehniger Mann mit kurzen Beinen und trotz des Sturms nur halb so dick eingepackt wie Yeruldelgger. Er trug eine dünne khakifarbene Uschanka aus Nylon, hatte jedoch einen breiten Wollschal in den Farben Rot, Gelb und Blau um Kopf und Ohren gewickelt. Sein schwarzer Bart schien ihm als Schutz für den Hals auszureichen. Gewissermaßen war der Mann ein inoffizieller Bewahrer dieses Teils des streng geschützten Gebiets im Changai-Gebirge, dem Otgon Tenger Uul. Seit er es auf sich genommen hatte, ein kleines Museum aufzubauen, das sich der Fauna und Flora dieser Region widmete, nannten ihn alle schlicht »Professor«.

»Den schon«, billigte Yeruldelgger zu, der schnellstmöglich wieder in die beheizten Räume des Museums zurückkehren wollte. »Wenn du noch andere findest, lässt du sie an Ort und Stelle, deckst sie ab und markierst den Fundort mit irgendwas. Weiß man, wie er hierhergekommen ist?«

»Na klar doch: Zu Boden plumpst’ er schwer, schuld dran ist Voltaire!«, sagte der Professor in gutem Französisch.

Yeruldelgger drehte sich zu ihm um, und der Professor missverstand die Überraschung, die er in seinem Blick las.

»Das ist Französisch, und Voltaire ist ein …«

»Ich weiß, wer Voltaire ist!«, unterbrach ihn Yeruldelgger, »und ich weiß, wer das gesagt hat!«

»Wer hat das gesagt?«, fragte der Mann ungläubig.

»Victor Hugo, in Die Elenden. Gavroche.«

Der Professor sprang mit weit ausgebreiteten Armen im Schnee auf, als wollte er den Himmel zum Zeugen nehmen.

»Das glaube ich jetzt nicht! Ein Bulle, ein Polizist, ein Gendarm, der Voltaire und Hugo kennt! Dem Himmel sei Dank, die Welt ist also noch nicht ganz verloren! Du kennst Die Elenden? Hast du den Roman gelesen? Hast du ihn wirklich gelesen?«

»Ich habe an der Alliance Française in Ulaanbaatar ein paar Kurse belegt«, räumte Yeruldelgger ein, als beichtete er einen Fehler. »Auf meiner Leseliste stand ein Auszug.«

»Wunderbar! Hervorragend! Beeindruckend! Du bist der erste Polizist der Aufklärung, den ich treffe!«, rief der Professor begeistert aus und warf sich in seine Arme.

Yeruldelgger schob ihn unsanfter als beabsichtigt von sich, aber er wollte seinen Ermittlerabstand wieder einnehmen.

»Wer ist denn dieser Voltaire?«, fragte er, um eine seriöse Haltung bemüht.

»Aber ich dachte, dass … Das ist der Autor von … Aber nein, ich scherze nur! Voltaire ist der Spitzname, den ich dem Bartgeier von Schiller gegeben habe!«

»Dem wem von was? Ich verstehe kein Wort von diesem Kauderwelsch.«

»Seit vielen Jahren erforsche ich das Verhalten von Bartgeiern. Diese Greifvögel sind die am meisten …«

»Ich weiß, was Bartgeier sind!«, wetterte Yeruldelgger.

»Offensichtlich weißt du so einiges für einen Bullen. Bist du dir sicher, dass du wirklich ein Bulle bist? Nur ein Scherz, nur ein Scherz. Tatsächlich beobachte ich ein halbes Dutzend Bartgeier, die ich voneinander unterscheide, indem ich ihnen die Namen französischer Autoren der Aufklärung gegeben habe. Diderot nistet weit weg von hier, Montesquieu in einem Tal weiter hinten, D’Alembert beim See, Rousseau sehr viel weiter nördlich. Beaumarchais ist letztes Jahr verschwunden, und hier sind wir in Voltaires Gebiet.«

Yeruldelgger war sprachlos. Es wollte ihm noch nicht so richtig in den Kopf, dass er gerade mitten im Massiv des Otgon Tenger Uul stand und mit einem Mann sprach, der den Greifvögeln die Namen französischer Autoren verliehen hatte.

Ein »Schiller ist aber kein französischer Autor der Aufklärung« konnte er sich dennoch nicht verkneifen.

»Schiller ist ja auch kein Vogel«, erwiderte der Professor. »Von seinem über zwei Meter großen Nest aus, das sich geschützt am Rand oder in der Nische eines schroffen Felsvorsprungs befindet, verteidigt jeder Bartgeier ein Jagdrevier von mehreren Dutzend Quadratkilometern. Jedem Felsvorsprung habe ich den Namen eines deutschen Romantikers gegeben. Es gibt …«

»Ja, ja, schon gut! Schon gut! Willst du etwa behaupten, ein Bartgeier könnte dieses Stück menschlichen Oberschenkelknochen aus seinem Nest geworfen haben?«

»Aber nein«, erklärte der Professor. »Bartgeier sind Aasfresser. Sie ernähren sich von den Knochen diverser Kadaver. Sie sind versessen auf Sehnen und Bänder, vor allem aber auf Knochenmark; dementsprechend ziehen sie lange Knochen wie diesen Oberschenkelknochen vor. Um jedoch an das substantialische Mark zu gelangen, wie Rabelais gesagt hätte … Kennst du Rabelais?«

»Professor!«, rief Yeruldelgger entnervt.

»Um also das substantialische Mark zu extrahieren, fliegen diese Vögel, die man auch ›Knochenbrecher‹ nennt, mit ihrer Beute mehrere hundert Meter über Felsen oder Gestein in die Höhe, um sie von dort herunterfallen und zerbrechen zu lassen. Und da wir hier bei ihm sind, ist Voltaire daran schuld, wenn dieser Knochen hier auf dem Stein zerschmettert wurde.«

»Hör zu«, bat Yeruldelgger inständig, dem die Kälte allmählich zusetzte, »wir haben unter dreißig Grad minus, uns steht noch ein einstündiger Rückweg zu deinem Museum bevor, und ich bin schon jetzt so durchgefroren, dass mir das Blut in meinen Nieren wie ein eisiges Blutgerinnsel vorkommt – wenn du also noch irgendwas von Bedeutung für meine Ermittlung beizusteuern hast, dann sag es schnell, oder ich schlitze dich auf, um meine Hände zwischen deinen Gedärmen aufzuwärmen.«

»Tja, das bedeutet, dass sich der Leichnam, der zu diesem Oberschenkelknochen gehört, auf Voltaires Gebiet befinden muss. Die Bartgeier sind ihrem Jagdrevier ebenso treu wie ihrer Partnerin.«

»Na prima«, stöhnte Yeruldelgger, der versuchte, Grandgoschier zum Umdrehen zu bewegen, um dem Professor zu bedeuten, dass er zurückwollte. »Wenn sein Gebiet mehrere Dutzend Quadratkilometer groß ist, dann ist das, als würde man einen weißen Aarul mitten im Schneesturm suchen!«

»Oh, ich bin ganz verrückt nach diesen sauren Röllchen von getrocknetem Käse«, erwiderte der Professor genüsslich.

Er trat zu dem Yak, streifte ihm sanft über das Maul und brachte es mit dieser Geste dazu, das schwerfällige Manöver zu vollführen, zu dem Yeruldelgger es mithilfe von Rempeleien gegen seine Schulter zu bringen versucht hatte.

»Genau deshalb habe ich dich angerufen, und genau deshalb solltest du noch etwas hierbleiben. Die Stelle hier gehört immer noch zum Revier von Voltaire, aber es ist eher die Ecke, die er zur Ruhe und Erholung nutzt. Der Ort, wo er nach Nahrung sucht, liegt mehrere Kilometer weiter westlich. Als ich den Knochenbrecher hier sein Theater vollführen sah, wurde ich neugierig und habe ihn gut beobachtet. Und dabei habe ich das gesehen …«

Er holte sein Fernglas für die Vogelbeobachtung aus der Tasche, reichte es Yeruldelgger und deutete auf eine schroff abfallende Klippe über ihnen.

Eine lange vertikale Spalte durchzog die Klippe, und Yeruldelgger entdeckte es sofort. Da war etwas weniger Mineralisches, weniger Hartes, weniger Schwarzes als der Fels. Etwas, was in der Felsspalte steckte wie ein Stück Stoff in einer Kerbe. Etwas Verrenktes. Er sah durch das Fernglas, und ihm graute bereits vor dem, was er mit größter Wahrscheinlichkeit zu entdecken glaubte.

»Seit wann ist er da?«

»Voltaires Gehabe hat mich vor etwa zehn Tagen zum ersten Mal neugierig gemacht. Vorgestern habe ich dann das hier entdeckt und sofort die Polizei informiert.«

»Weiß man, wer das ist? Ist jemand aus der Gegend verschwunden? Nicht auffindbar?«

»Nein, anscheinend niemand.«

»Ein Tourist? Ein Alpinist?«

»Kein Tourist, nein. Die kommen für gewöhnlich in Begleitung hierher. Vielleicht ein Kletterer. Du weißt schon, diese Jungspunde, die sich einen Adrenalinkick verschaffen, indem sie überall raufkraxeln. Aber ich habe kein Seil und keine Felshaken entdeckt. Es könnte natürlich ein Freeclimber sein, das wäre möglich.«

»Mitten während eines Dsuds? Das ist doch Selbstmord!«

»Vielleicht wollte er genau das?«

»Selbstmord in den Bergen? Kommt nicht oft vor … Außerdem wollen Selbstmörder, dass ihre Leiche gefunden wird. Er hätte am Fuß der Klippe liegen müssen, nicht da oben festhängen!«

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, räumte der Professor ein. »Es gibt keine Erklärung dafür, was die Leiche da oben zu suchen hat oder wie sie da hingekommen ist.«

Erneut suchte Yeruldelgger die Klippe mit dem Fernglas ab. Er sah einen zerrissenen Anorak, eine Hand, Haare, aber kein Gesicht. Er kehrte zu der Hand zurück, wobei ihm auffiel, dass sie keinen Handschuh trug. Auf dem Kopf nichts als eine dunkle Wollmütze. Instinktiv schätzte er ihn als einen eher jüngeren Mann ein, der nicht für diese eisige Kälte ausstaffiert war. Yeruldelgger suchte nach weiteren Hinweisen. Ein Stück Stoff, Gurte, Seile, ein Klettergurt …

»Kommt man irgendwie da hoch?«

»Das würde im Winter niemand wagen. Ich weiß nicht mal, ob man jemanden dort von einem Hubschrauber aus hochziehen könnte. Er steckt viel zu tief in der Felsspalte fest. Da muss man auf bessere Tage warten«, sagte der Professor.

»Es sei denn, dein Voltaire verspeist inzwischen die Indizien!«

»Indizien? Woran denkst du denn?«

»Nur durch einen Sturz oder einen Fehltritt wäre der Typ niemals so tief in die Spalte gelangt«, erläuterte Yeruldelgger.

»Wie dann?«

»Er ist von weiter oben heruntergestürzt«, murmelte Yeruldelgger und sah dabei in den weißen Himmel hinauf.

»Wie jetzt, vom Himmel gestürzt, als hätte ihn ein Bartgeier heruntergeworfen?«

»Wieso nicht? ›Es gibt Menschen, die sind wie die gemeinsten Tiere; und alle können Schaden anrichten.‹«

»Voltaire?«

»Voltaire!«

Schweigend kehrten sie ins Museum zurück, klammerten sich am langen zotteligen Fell des weißen Yaks fest, um nicht auszurutschen. Das war eine Schrulle des Professors, im Winter immer in Begleitung seines Yaks unterwegs zu sein. Aus Angst, lächerlich zu wirken, hatte Yeruldelgger es abgelehnt, sich auf das Tier zu setzen, allerdings half es ihm zu wissen, dass es diesen Ausweg aus der stechenden Kälte gab.

Als sie beim Museum eintrafen, ließ der Professor Grandgoschier draußen stehen, ohne ihn anzubinden. Erst wenn die Temperatur unter minus vierzig Grad fiel, bot er dem Tier einen Unterschlupf. Bei etwas weniger extremen Temperaturen sonderte das Yak ein Öl gegen die Kälte ab, das es ebenso sehr schützte wie seine dichte Unterwolle oder sein langes Fellkleid. Und wenn er den großen, kurzsichtigen Wiederkäuer wieder brauchte, musste der Professor ihn nur leise rufen. Das Yak hörte seine Stimme auch mitten im Sturm über einen Kilometer Entfernung hinweg.

Sobald sie drinnen waren, bat der Professor Yeruldelgger, ihn in sein Büro zu begleiten, das übervoll mit Büchern und ausgestopften Tieren war. Er warf ein paar trockene Yakfladen in den gusseisernen Ofen und stellte zwei Gläser und eine Flasche Alkohol auf den Tisch. Yeruldelgger hielt es für Archi, Alkohol aus gegorener Yakmilch, aber der Professor servierte ihnen Artz, das Ergebnis einer zweiten Destillation des Archi. Er hatte mindestens vierzig Prozent und brannte die Kehle hinunter, ehe er aufstieg und die Augen wässrig werden ließ. Yeruldelgger wartete, bis seine Stimmbänder wieder einen Laut hervorbrachten, bevor er den Professor bat, in Ulaanbaatar anrufen zu dürfen. Er wollte seine Rückreise vom Flughafen in Uliastai in die Wege leiten, da der Professor angeboten hatte, ihn dorthin zu begleiten. Das lange Schweigen des jungen Beamten am anderen Ende der Leitung raubte ihm schon bald die Geduld.

»Was ist denn los? Gibt’s ein Problem?«, bellte Yeruldelgger.

»Also, es ist so … Tatsächlich ist es nicht sinnvoll, dass Sie nach Uliastai fahren, Inspektor …«

»Ach ja? Und weshalb nicht?«

»Weil bereits ein Auto unterwegs ist, um Sie abzuholen, Inspektor …«

»Ein Auto? Willst du sagen, es kommt hierher, zum Otgon Tenger Uul, bei diesem Wetter? Und warum?«

»Ich bin nicht befugt, Ihnen das zu sagen, Inspektor. Das werden sie Ihnen selbst erklären. Sie sind extra deswegen aus Ulaanbaatar angereist.«

3

Findet Yeruldelgger, und zwar schnell!

Am späten Vormittag traf der Leichnam bei Solongo ein. Eine junge Frau, um die dreißig, noch nicht identifiziert. Offensichtliche Todesursache: Verbluten durch einen Kehlschnitt. Sie unterschrieb die Transferunterlagen und leitete die Sanitäter zu dem Autopsietisch, an dem sie arbeiten wollte. Kurz darauf lag die Leiche auf dem Stahltisch, eingehüllt in ihr Leichentuch aus schwarzem Plastik, dessen Reißverschluss noch geschlossen war. Sie streifte sich die Autopsiehandschuhe über, setzte sich eine Atemschutzmaske auf Mund und Nase und wartete, bis die Sanitäter durch die automatische Schiebetür verschwunden waren. Sie ertrug den morbiden Hang der Krankenwärter nicht, darauf zu warten, dass sie die Leiche aus ihrem makabren Kokon herausholte. Der Leichensack, in den die Toten gepackt wurden, kam für sie einer Filmblende gleich. Er unterteilte den Ablauf in zwei gänzlich unterschiedliche Sequenzen. Eine gewaltsame, aufgewühlte, laute mit den Ermittlern und den Rettungskräften am Tatort, in der die Leiche inmitten von Zeugen, Polizisten, Voyeuren und Sanitätern exponiert war, dazu das Blaulicht von Einsatzwagen und die Fotoapparate von Kriminalbeamten. Und dann war da ihre Sequenz. Die schweigsame Begegnung mit einer unbekannten Person. Das lange Untersuchen, um sie kennenzulernen. Sie ausziehen, sie mit sanftem Wasserstrahl langsam und sorgfältig waschen. Sie von ihrem Blut säubern, ihrem Erbrochenen, all den Verunreinigungen, die anhand der zuvor gesicherten Spuren ihre letzten Momente erzählen würden. Dann ihren Körper aufschneiden und nacheinander jede Spur von ihrem Leben bis hin zu ihrem Tod festhalten. Dieser Leichnam würde ihr in der Intimität der Leichenkammer beichten, was ihm widerfahren war, was er getan und was ihn umgebracht hatte.

Als sie sich bereit fühlte, schaltete Solongo die große verstellbare Lampe über dem Tisch ein und brachte das Mikrofon an, um ihre Beobachtungen zu diktieren. Dann zog sie den Reißverschluss auf, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als sie das Gesicht der jungen Frau sah.

»O nein!«, rief sie aus.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie meinte, ihr Herz würde gleich stehen bleiben. Sie nahm die Maske wieder ab, zog die Handschuhe aus und griff zum Telefon.

»Findet Yeruldelgger, und zwar schnell!«

4

… nachdem er mit dem Auto ihren Namen in den Schnee geschrieben hatte.

Oyun umklammerte eine Schale Buttertee mit beiden Händen. Nur in Unterhose und einem offen stehenden Hemd, das ihre Brüste bedeckte, saß sie an der Ecke eines kleinen Tisches inmitten des Zimmers, das verschiedene Funktionen hatte. Sie hatte den alten Kühlschrank durchstöbert und dabei etwas Creme aus Yakmilch und Heidelbeermarmelade vom Chöwsgölsee gefunden. Kein Brot. Den Blick in den dampfenden Tee versenkt, nahm sie sich Messerspitze um Messerspitze von der Creme und der Marmelade.

Er kam mit einer Hose bekleidet aus dem Schlafzimmer, barfuß und mit nacktem Oberkörper, und ging hinter ihr zum Waschbecken, um sich rasch etwas frisch zu machen.

»Heute Nacht ist nichts passiert!«, sagte sie scharf.

»Es ist nichts passiert«, akzeptierte er lächelnd.

»Denk dir bloß nichts dabei!«

»Ich denke mir gar nichts!« Wieder lächelte er. »Was geschehen ist, reicht mir.«

»Es ist nichts geschehen.«

Sie stand auf, deponierte die Schale und das Messer in der Spüle, wo er sich gerade das Gesicht wusch, rempelte ihn unsanft mit der Schulter an und ging dann ins Zimmer.

»Steh nicht so rum, zieh dich an!«, befahl sie.

»Das würde ich ja gerne, aber du hast mein Hemd an.«

Sie blieb stehen, warf es ihm von Weitem zu, machte kehrt und ging dann ins Schlafzimmer, dessen Tür sie in dem Wissen zuknallte, dass sein Blick dabei auf ihrem Hintern ruhte.

»Ach, und wo du schon nicht danach fragst, ich heiße Gourian!«

Gestern Abend hatte sie ihm noch den Lauf ihrer Waffe an die Stirn gepresst, bereit, ihm das Gehirn rauszupusten, sollte er es wagen, sie anzufassen. Und heute Morgen wachte sie an ihn geschmiegt auf, in seinem Bett, gequält und zornig gemacht von einer Sache, an die sie sich erinnerte, und von einer anderen Sache, an die sie sich nicht erinnerte. Die Erinnerung, bei der sich alles in ihr sträubte, war das Vergnügen, das dieser Mann ihr bereitet hatte, ihr, die sich dieses Vergnügen seit über einem Jahr verweigerte.

Sie erinnerte sich an ihren steifen, fast schon verkrampften Körper, weil sie sich ihm nicht hingeben wollte, an ihr panisches Zittern, an ihren angespannten Hals. Sie erinnerte sich, mit unerwarteter Zärtlichkeit geliebt worden zu sein, einzig mit Küssen und Streicheln, ohne dass ihr Geschlecht oder seines involviert gewesen wären. Er war nicht in sie eingedrungen. An all das erinnerte sie sich, noch wütender machte sie jedoch, dass sie sich nicht erinnern konnte, was er gesagt hatte. Was hatte er nur gesagt, um ihre Schutzwälle der Angst und der Abscheu nacheinander einzureißen? Wie hatte er die richtigen Worte gefunden, um ihre Albträume zu überwinden? Gegen diese wiedererlangte Schwäche richtete sich ihre Wut. Sie hatte geglaubt, nach der Vergewaltigung so stark geworden zu sein, und nun war sie schwach geworden, ohne auch nur zu wissen, weshalb.

Sie schlüpfte in ihre Arbeitskleidung der Polizei, als würde sie eine Ritterrüstung anlegen, und verließ das Zimmer. Auch Gourian war bereit.

»Aha, dann sind wir jetzt wieder nur Bullen?«, sagte er, wie um einen Frieden der Tapferen zu schließen.

»Ich bin Bulle, du bist Soldat!«, korrigierte sie, und es überraschte sie selbst, dass ihr nach Scherzen zumute war.

Sie zogen sich warm an, doch als er die Tür öffnete, kniffen sie beide aufgrund der Kälte die Augen zusammen. Drei Nomaden warteten beim Raupenfahrzeug auf sie. Sie hatten die Jurte zusammen mit ein paar Fässern Heizöl und den beiden Generatoren für Heißluft auf die Pritsche geladen.

»So wie wir zwei hier gemeinsam aus der Tür kommen, denken sie noch, wir sind so spät dran, weil wir noch eine Nummer geschoben haben«, sagte Gourian und begrüßte die Nomaden mit einem breiten Grinsen.

Dieser Typ war vielleicht dreist.

»Du gehörst nicht zu der Sorte Liebhaber, wegen denen sich ein Mädchen verspätet.«

»Na, wenigstens bin ich ein Liebhaber, das ist ja schon mal was.«

»Ja, das ist schon mal was. Aber wenn du noch mal so was abziehst, verpasse ich dir keine Kugel zwischen die Augen, sondern in die Eier.«

»Was, willst du dich etwa noch mehr bestrafen?«

Ihr war sehr wohl bewusst, dass sie ihm dafür eine Ohrfeige verpassen oder ihn vor den anderen mit Beschimpfungen überschütten hätte müssen. Aber alles, was sie zustande brachte, war ein kumpelhafter Faustschlag gegen die Schulter.

Die drei Nomaden bestanden darauf, auf der Pritsche zu fahren. Oyun hätte nicht sagen können, ob ihr Grinsen ein von der Kälte erstarrter Gesichtsausdruck oder aber ein vielsagendes Schmunzeln wegen ihr und dem Soldaten war. Genauso wenig hätte sie sagen können, ob Gourian sein Gefährt absichtlich in die Schlaglöcher oder die Schneeverwehungen hinauf lenkte. Jedenfalls knallten sie mehrfach gegeneinander und verkniffen sich ein Lachen, und dann nutzte er plötzlich ein Aufbäumen des Gefährts, das sie gegen die Tür prallen ließ, um sie an der Schulter festzuhalten und erneut an sich zu ziehen. Sie wehrte sich nicht dagegen, sondern klammerte sich an seinem Schenkel fest, damit er verstand, dass sie verstanden hatte.

»Ich glaube, ich liebe dich«, sagte er und zog ergeben die Augenbrauen hoch.

»Mich?«

»Dich vielleicht noch nicht. Aber deinen Mund schon ein bisschen, deine kleinen Brüste sehr, von deinem Hintern bin ich ganz begeistert, und deine hübsche Muschi macht mich einfach wahnsinnig …«

Sie antwortete nicht. Wie ein junges Teenagermädchen saß sie einen Moment lang schweigend da und grinste vor sich hin. Dann lehnte sie den Kopf an seine Schulter und sagte nichts mehr, bis sie den Ort erreicht hatten, an dem die Nacht die kleine Anhäufung von Kadavern weiter erstarren hatte lassen.

Da sie das Innere der Jurte ohne Filzmatte aufbauten, dauerte es nicht länger als eine Stunde, bis sie sie um die Kadaver herum errichtet hatten. Dann rollten sie die drei Kohlebecken herein, die sie im Dreieck um die Leichname aufbauten, und richteten die beiden Generatoren vor der Jurte ein, die ihre Heißluft über Schläuche ins Innere bliesen. Als sie damit fertig waren, überprüften sie alles ein letztes Mal, bevor sie die Nomaden die Feuerstellen anzünden ließen. Gourian füllte die Tanks der Generatoren auf und setzte sie dann in Gang. Anschließend ging er zum Raupenfahrzeug zurück und lud ein Überlebenszelt, etwas Nahrung, Wodka und volle Benzinkanister ab. Er wählte unter den drei Nomaden einen Freiwilligen aus und befahl dem Mann, vor Ort zu bleiben und ihre Konstruktion bis zum nächsten Morgen zu überwachen. Resigniert errichtete der Mann das Zelt in der Jurte und trat nach draußen, als das Raupenfahrzeug sich entfernte. Von der Pritsche aus sahen die beiden anderen ihm nach und überließen ihn grußlos seinem Schicksal. In der Fahrerkabine beugte sich Gourian gerade zu Oyun hinüber, um sie zu küssen, als das Bordfunkgerät ein Signal übermittelte. Unter Oyuns frustriertem und neugierigem Blick setzte er ein Headset auf. Die Nachricht war kurz. Solongo, die Gerichtsmedizinerin der Kripo, bitte Oyun, schnellstmöglich nach Ulaanbaatar zurückzukommen. Ein Hubschrauber sei unterwegs, um sie bei der kleinen Garnison, zwei Stunden vom Polizeiposten entfernt, abzuholen.

»Wir werden nicht genug Zeit haben«, sagte der Soldat.

»Bis dahin zu fahren?«

»Ein letztes Mal zu vögeln.«

»Hey, es ist nichts passiert!«, empörte sich Oyun gespielt.

»Keine Frage. Angesichts dessen, was das nächste Mal passieren wird, kann man tatsächlich sagen, dass noch nichts passiert ist.«

Er brachte sie zurück zum Posten, wo er das Raupenfahrzeug gegen einen großen, höhergelegten Toyota Pick-up eintauschte. Unverzüglich fuhren sie in gerader Linie zum makellosen Horizont der Steppe, aber Oyun konnte der Versuchung nicht lange widerstehen. Mitten im Nirgendwo, mitten in der unendlichen eisigen Steppe ließ sie ihn anhalten und gab sich ihm ungestüm und fieberhaft hin, die Jacken halb ausgezogen, sodass die Scheiben des Toyotas rasch beschlugen. Dann fuhren sie weiter bis zu der kleinen Garnison, schweigend, ein Lächeln auf den Lippen, nachdem er mit dem Auto ihren Namen in den Schnee geschrieben hatte.

5

Beschuldigt am Arsch!

Sie trafen mitten am Nachmittag ein. Zwei Männer und ein Fahrer. Sie stellten den Land Cruiser zwanzig Meter vom Museum entfernt ab und stiegen aus. An ihrem Gehabe erkannte Yeruldelgger, dass sie bewaffnet waren. Er zog seine Jacke an, öffnete die Tür und trat nach draußen. Der Professor sah ihm beunruhigt hinterher.

»Yeruldelgger?«, rief der Mann, der in der Mitte stand.

Die beiden anderen machten sofort einen Schritt zur Seite und holten ihre Automatikwaffen hervor.

»Was ist los?«, fragte Yeruldelgger.

»Bist du bewaffnet?«

»Ich bin Bulle!«

»Solltest du bewaffnet sein, wirf die Waffe weg.«

»Was ist denn los?«

»Wirf deine Waffe weg«, wiederholte der Mann, während die beiden anderen ihre Waffen anlegten.

»Ich habe doch gesagt, dass ich Bulle bin. Wer seid ihr?«

»Mach das Ganze nicht unnötig kompliziert, sondern tu, was verlangt wird, Yeruldelgger.«

»Erst will ich wissen, wer ihr seid.«

»Sondereinheit«, sagte einer der Männer nach langem Zögern. »Und jetzt weg mit der Waffe.«

Yeruldelgger versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Die drei Männer verhielten sich durchaus wie Bullen. Die Sondereinheit übernahm Fälle, in die Polizisten involviert waren. Nach der Ermittlung in Sachen Seltene Erden, die Yeruldelgger geleitet hatte und bei der mehrere Polizeichefs verhaftet worden waren, hatte er an der Erschaffung dieser neuen Einheit mitgewirkt. Was wollte die Sondereinheit jetzt von ihm?

»Schon gut«, sagte Yeruldelgger und hob die Hände. »Einer von euch kann mir die Waffe abnehmen. Ich werde keinen Widerstand leisten.«

Der Mann zu seiner Linken blieb stehen und zielte mit der Waffe auf ihn. Der Mann rechts von ihm beschrieb einen Halbkreis, um hinter ihn zu gelangen, während der Dritte, vermutlich der Chef, von vorn auf ihn zutrat. Auch er hatte seine automatische Waffe gezogen und den Arm in Schulterhöhe so abgespreizt, dass die Waffe außerhalb von Yeruldelggers Reichweite blieb und er ihn damit in Schach halten konnte, während er ihn mit der anderen Hand durchsuchte.

»Beweg dich nicht!«

»Im Holster, links, unter der Jacke.«

Sobald der Mann ihm die Waffe abgenommen hatte, drehte ihm derjenige hinter ihm den Arm auf den Rücken und legte ihm Handschellen an.

»Ist das wirklich nötig?«, fragte er ruhig.

»So lauten die Anweisungen. Das ist die übliche Vorgehensweise.«

»Dürfte ich erfahren, was los ist?«

»Du bist Bulle. Du weißt, dass wir nichts sagen können.«

»Ich bin Bulle, und ich weiß, dass man alles sagen kann.«

»Nicht bei uns. Nicht bei der Sondereinheit.«

»Ich habe zur Gründung dieser Einheit beigetragen.«

»Das wissen wir. Und wir wissen auch, was du getan hast …«

Unter dem niedergeschlagenen Blick des Professors, dem niemand eine Erklärung lieferte, ließ sich Yeruldelgger von ihnen bis zum Land Cruiser führen. Der Mann am Steuer hatte eine sportliche Fahrweise, und sie erreichten Uliastai in weniger als einer Stunde, sodass sie gerade noch den letzten Flug nach Ulaanbaatar bekamen. Vier Plätze waren für sie reserviert, inzwischen allerdings von einer Nomadenfamilie belegt, die der Verantwortliche der Fluggesellschaft ungerührt von Bord schickte, um sie dann in der leeren Eingangshalle stehen zu lassen. Einige Passagiere bemerkten die Handschellen an Yeruldelggers Händen, und sie achteten sehr darauf, weder ihm noch den Polizisten in die Augen zu sehen. In Ulaanbaatar stand eine Limousine für sie bereit und brachte sie zum Polizeirevier, wo Yeruldelgger in Handschellen unter dem schockierten Blick der anwesenden Kripobeamten und Kollegen durch die gesamte Abteilung geführt wurde. Die Männer der Sondereinheit steckten ihn in einen der Befragungsräume, die er in- und auswendig kannte. Dort ließen sie ihn über eine Stunde schmoren, wie das bei Beschuldigten üblich war. Dann betrat ein junger Mann den Verhörraum und warf eine dünne Akte auf den Tisch, als wäre er ein Beamter bei Law & Order: Special Victims Unit. In der anderen Hand hatte er ein iPad, das er etwas vorsichtiger auf dem Tisch ablegte. Dann saß er einen Moment lang da und starrte Yeruldelgger einfach nur an.

»Dir ist schon klar, dass ich Bulle bin?«, ließ Yeruldelgger verlauten. »Ich kenne alle Tricks und Kniffe. Du heißt Bekter und bist noch grün hinter den Ohren. Also sparen wir uns doch einfach dein fernsehträchtiges Auftreten und kommen direkt auf das Wesentliche zu sprechen?«

»Altantsetseg, kennst du sie?«

»Ist sie tot?«

»Woher weißt du das?«

»Wenn mich ein Team extra im Otgon Tenger Uul abholt und mit Handschellen hierher bringt, dann ganz bestimmt nicht, um mich zu fragen, ob ich ihr Patenonkel bin.«

»Also kennst du sie?«

»A priori nein.«

»Was soll das heißen? Kennst du sie, oder kennst du sie nicht?«

»Das soll heißen, was es heißt: a priori nein.«

»Woher weißt du dann, dass sie tot ist?«

»Ah, dann ist sie also tot? Siehst du, wenn du willst, kannst du durchaus was rauslassen.«

»Das ist kein Spiel, Yeruldelgger!«

»Denkst du, mir macht das gerade Spaß? Hör zu, Kleiner, das ist ganz einfach: Du sagst mir nicht alles, und ich beantworte nicht alles. Das können wir so problemlos bis morgen weiterführen.«

Der Auslöser war Kleiner. Der junge Ermittler konnte das nicht ohne ein Aufflackern von Wut wegstecken, und er tat genau das, was Yeruldelgger erwartete. Er legte seine Karten sehr viel schneller auf den Tisch als beabsichtigt. Auf dem iPad, das er zu ihm umgedreht hatte, sah Yeruldelgger das Foto der Leiche der jungen Frau. Und diese Frau kannte er gut.

»Kennst du sie immer noch nicht?«

»Doch. Ich habe mich nicht mehr an ihren mongolischen Namen erinnert. Sie ließ sich Colette nennen. Das ist Französisch.«

»Das juckt mich nicht. Woher kanntest du sie?«

»Verkauf mich nicht für blöd, Kleiner. Die Antwort steht in deinen Unterlagen, und du kennst sie bereits. Dieses Mädchen war mein Spitzel.«

»Lief da was zwischen euch?«

»Das ist jetzt aber wirklich eine bescheuerte Frage!«

»Während der Ermittlung letztes Jahr im Bären-Camp habt ihr zwei Nächte in einer Jurte verbracht. Lief da was?«

»Wenn du nicht so jung wärst, würde ich dir jetzt eine Kopfnuss verpassen und dir das Handwerk und ein paar Manieren einbläuen.«

»Versuch’s doch«, provozierte ihn der junge Ermittler.

Aber Yeruldelgger hatte bereits ein kaum wahrnehmbares Zurückweichen des Beamten wahrgenommen und nutzte den Moment, um die Oberhand zu gewinnen. Er rutschte dichter an den Tisch heran und kratzte dabei mit den Metallfüßen seines Stuhls über den Betonboden. Dieses Mal zuckte der junge Beamte regelrecht zusammen.

»Mach dir nicht in die Hose, ich schlage keine Kinder.«

»Du kannst mich mal kreuzweise. Wer du bist, entschuldigt noch lange nicht, was du getan hast.«

»Na dann, sprechen wir doch über das, was ich getan habe.«

»Lief was zwischen euch?«

»Nein. Ich musste einen auf Touri-Pärchen machen, um einen Mörder dranzubekommen, und sie hat meine Partnerin gespielt, wenn ich das so sagen kann, ohne dass du es falsch verstehst.«

»Während der Seltene-Erden-Ermittlung?«

»Ja.«

»Hast du sie seitdem wiedergesehen?«

»Ich hätte sie sehen sollen, vor drei Tagen. Sie hat mich angerufen, weil sie über irgendwas mit mir reden wollte. Sie hat sich mit mir im Hotel Mongolia verabredet, ist aber nicht gekommen. Am gleichen Abend bin ich ins Massiv des Otgon Tenger Uul gefahren, um dort wegen einer Leiche zu ermitteln. Wie ist sie gestorben?«

»Das musst du doch wissen, schließlich hast du sie ja umgebracht.«

»Ah, darum geht es also. Mir wird die Ermordung von Colette angelastet. Hättest du das nicht sagen können, bevor du hier einen auf Criminal Minds machst? Ich habe das Mädchen seit dem Bären-Camp nicht mehr gesehen, und auf keinen Fall habe ich sie umgebracht.«

»Tut mir leid für dich, aber ich kann das Gegenteil beweisen.«

Triumphierend stand der junge Polizist auf, bediente geschickt das iPad und spielte ein Video ab. Yeruldelgger erkannte den Gang eines Hotels, und ihm wurde gleich klar, dass es sich um das Mongolia handelte. Es war die Aufzeichnung einer Überwachungskamera. Er sah sich aus dem Aufzug steigen und geradewegs auf die vor ihm liegende Tür zugehen. Er klopfte kurz an, holte dann eine Magnetkarte aus der Tasche, öffnete die Tür und verschwand im Zimmer. Das Video lief im Schnellvorlauf weiter, dann setzte der Zeitcode eine Viertelstunde später wieder ein, und er sah sich das Zimmer verlassen, mit einem Taschentuch in der Hand die Tür zuziehen und den Türgriff abwischen, ehe er wieder in den Aufzug stieg und verschwand.

»Ja und?«, fragte Yeruldelgger.

»Tja, dieses Zimmer des Mongolia war auf den Namen Altantsetseg reserviert. Du bist der Einzige, der es betreten hat, um 15.18 Uhr, um genau zu sein, und der Einzige, der es um genau 15.36 Uhr wieder verlassen hat.«

»Und jetzt erzählst du mir gleich, dass Colette laut Gerichtsmediziner in diesem Zimmer genau zwischen 15 und 16 Uhr ermordet wurde, verstehe ich das richtig?«

»Ach, sieh an, du kannst also ganz verständig sein, wenn du willst.«

»Das Problem ist nur, dass um 15.18 Uhr, als ich das Zimmer betreten habe, niemand drin war, genauso wenig wie um 15.36 Uhr, als ich es verlassen habe.«

»Das würde ich dir ja gerne glauben, ehrlich, schon aus Respekt vor dir als erfahrenem Beamten, aber wenn da keine Leiche in dem Zimmer war, dann erklär mir doch bitte eins: Warum hast du beim Gehen deine Fingerabdrücke vom Türgriff gewischt?«

Yeruldelgger kam nicht dazu, ihm zu antworten. Die Tür des Verhörraums flog auf, und Oyun stürmte herein.

»Was soll der Mist, warum wurde Yeruldelgger festgenommen?«

»Raus aus dem Verhörraum, Inspektorin, sofort!«, brüllte der junge Beamte.

»Wer bist du überhaupt? Seit wann befragt man einen Kollegen in Handschellen? Seit wann lässt man ihn in den Dingern durch die ganze Abteilung laufen?«

»Seitdem dieser Herr Saubermann hier seine Hände im Blut eines armen Mädchens gebadet hat«, antwortete der Beamte, der seine Wut nur mühsam bezwang. »Yeruldelgger, es ist jetzt 20.12 Uhr, und ab sofort befindest du dich im Rahmen der Ermittlung wegen Altantsetsegs Ermordung in Polizeigewahrsam. Und dir, Oyun, ist es ebenso wie allen anderen Mitgliedern seines Teams strengstens untersagt, dich dem Beschuldigten zu nähern.«

Oyun verließ das Zimmer und knallte die Tür mit aller Kraft zu.

»Beschuldigt am Arsch!«

6

Jetzt? Mitten in der Nacht?

»Und?«, fragte Solongo.

Die junge Frau versuchte, ihre Besorgnis zu kaschieren. Sie schenkte Oyun, die gerade wieder in die Jurte trat, einen Tee ein. Trotz der Kälte war sie nun schon zum dritten Mal nach draußen gegangen, um Telefonanrufe entgegenzunehmen.

»Was, und?«

Oyun steckte das Handy in die Hosentasche, kniete sich an dem niedrigen Tisch hin und wärmte ihre Hände an der Teetasse.

»Jetzt warst du schon zum dritten Mal draußen, damit ich nicht mitbekomme, was du sagst. Was verheimlichst du vor mir? Verschlimmert sich die Situation für Yeruldelgger? Weißt du etwas über die Ermittlungen?«

»Du liegst völlig falsch«, erwiderte Oyun. »Dabei geht es nicht um Yeruldelgger.«

»Was ist es dann? Hast du Ärger?«

Solongo war Yeruldelggers Lebensgefährtin, seit Uyunga, seine Frau, sich von ihm abgewandt hatte. Zusammen waren sie wie ein Fels in der Brandung. Als er aber durch die Angelegenheit der Seltenen Erden geschwächt gewesen war, hatte Yeruldelggers Panzer einen Riss bekommen, und üble Narben waren erneut aufgebrochen. Doch da war Solongo wie Heilwasser durch den Riss in ihn hineingeflossen, um seine Albträume zu lindern.

Auch Oyun hatte Schweres durchgemacht. Eine Motorradgang hatte sie vergewaltigt und sie vermeintlich tot mit einer Kugel im Herzen liegen lassen. Yeruldelgger hatte sie gerettet, zunächst vor ihren Verletzungen und dann im Laufe der darauffolgenden Monate vor ihren Albträumen. Solongo war mehr als nur die Gerichtsmedizinerin von Yeruldelggers Revier, mehr als nur seine Partnerin in der Kripo. Dieses Dreiergespann verband sehr viel mehr als nur Freundschaft. Yeruldelgger hatte ihnen eines Abends erklärt, sie hätten eine gemeinsame Seele.

»Ich habe keinen Ärger, Solongo. Angesichts der Umstände schäme ich mich sogar ein bisschen wegen dem, was gerade abläuft.«

»Was? Du hast jemanden kennengelernt?«, mutmaßte Solongo.

»Ja … Er ist derjenige, der mich anruft. Der Soldat, der mir bei der Ermittlung mit diesem Kadaverhaufen geholfen hat …«

»Der, mit dem du das gefrorene Bein abgebrochen hast, das jetzt bei mir liegt?«

»Ja, genau der. Ich weiß auch nicht, was mich da gepackt hat oder wie ich das tun konnte …«

»Wie du was tun konntest? Das nächste Kapitel aufschlagen? Wieder lernen, glücklich zu sein? Komm, setz dich her und erzähl mir alles.«

Solongo lehnte sich an das große traditionell bemalte Holzbett und bedeutete Oyun, sich neben sie zu setzen.

»Hör zu, Solongo, es macht mich ganz verlegen, dir zu erzählen, dass ich mich gerade wie eine notgeile Teenagerin aufführe, während du dir Sorgen um Yeruldelgger machst.«

»Oyun, ich mache mir keine Sorgen um Yeruldelgger. Ich mache mir nie Sorgen um ihn.«