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Weit draußen in der Steppe ist es einsam und friedlich. Doch das Böse findet dich überall ... Abgebrüht, hochintelligent und vom Leben gezeichnet: Wer Wallander, Reacher und Adamsberg mag, wird Yeruldelgger lieben!
Yeruldelgger hat genug. Erschöpft vom aufreibenden, oft sinnlosen Kampf gegen das Verbrechen lässt er die Polizei in Ulaanbaatar hinter sich und zieht sich mit seiner Jurte in die Weiten der Steppe zurück. Hier will er wieder einen Zugang finden zu den Traditionen seiner Vorfahren. Doch Yeruldelggers Ruhestand ist nur von kurzer Dauer. Er stößt auf eine Reihe von Morden, die alle alten nomadischen Ritualen zu folgen scheinen. Und er muss erkennen, dass er selbst hier, weit weg von der Hauptstadt, nicht vor Korruption und Verderben flüchten kann. Denn die Schätze der Steppe sind längst zum Spielball internationaler Spekulanten geworden, für die das Leben der Nomaden nichts wert ist. Yeruldelgger muss noch einmal alles aufs Spiel setzen, um die zu schützen, die es nicht selbst können – und um endlich seine eigene dunkle Vergangenheit zu überwinden.
Die unabhängig voneinander lesbaren Romane um Kommissar Yeruldelgger:
Der Mongole. Das Grab in der Steppe
Der Mongole. Kälter als der Tod
Der Mongole. Tod eines Nomaden
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Seitenzahl: 545
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das Buch
Yeruldelgger hat genug. Erschöpft vom aufreibenden, oft sinnlosen Kampf gegen das Verbrechen lässt er die Polizei in Ulaanbaatar hinter sich und zieht sich mit seiner Jurte in die Weiten der Steppe zurück. Hier will er wieder einen Zugang finden zu den Traditionen seiner Vorfahren. Doch Yeruldelggers Ruhestand ist nur von kurzer Dauer. Er stößt auf eine Reihe von Morden, die alle alten nomadischen Ritualen zu folgen scheinen. Und er muss erkennen, dass er selbst hier, weit weg von der Hauptstadt, nicht vor Korruption und Verderben flüchten kann. Denn die Schätze der Steppe sind längst zum Spielball internationaler Spekulanten geworden, für die das Leben der Nomaden nichts wert ist. Yeruldelgger muss noch einmal alles aufs Spiel setzen, um die zu schützen, die es nicht selbst können – und um endlich seine eigene dunkle Vergangenheit zu überwinden.
Der Autor
Ian Manook arbeitete als Journalist und leitete eine Kommunikationsagentur, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Sein Debütroman »Der Mongole. Das Grab in der Steppe« ist mehrfach preisgekrönt, unter anderem wurde er mit dem renommierten Krimipreis Quais du Polar ausgezeichnet, und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ian Manook lebt in Paris.
Die unabhängig voneinander lesbaren Romane um Kommissar Yeruldelgger:
Der Mongole. Das Grab in der Steppe
Der Mongole. Kälter als der Tod
Der Mongole. Tod eines Nomaden
IAN MANOOK
DER
MONGOLE
Tod eines Nomaden
Kriminalroman
Aus dem Französischen
von Alexandra Baisch
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »La Mort Nomade (Yeruldelgger 3)« bei Éditions Albin Michel, Paris.
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Copyright © Éditions Albin Michel, Paris 2016
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
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Neumarkter Straße 28, 81673 München
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Umschlagmotiv: Wolfgang Kaehler/SuperStock/Alamy Stock Photo; www.buerosued.de
Das Zitat auf Seite 36 erschien in Michel de Montaigne Von der Freundschaft, dtv Verlag 2005
Redaktion: Uta Rupprecht
JB · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-26363-8V001
www.blanvalet.de
Für Bus, jetzt und für immer.
Für die Meinen und für jene, die mich gemacht haben.
Für mich!
Ein »bec« für Chrystine, Norbert und Ben,
die meinen Quebecer Argot überprüft haben.
Ein »kush« für Évelyne und Natalia,
die mein Jiddisch entfesselt haben.
Ein »beso« an meine DEUP,
die meine Ticks und Macken beim Schreiben zurechtgerückt hat.
1
… Jamukha
In prekärem Gleichgewicht kroch der kleine blaue russische Allradbus zur Kammlinie hinauf. Während seine marode, schlampig gestrichene Karosserie gefährlich schwankte, fuhr er mit den weichen Reifen über warme Steine, die im Wegspritzen gegen das Fahrwerk knallten. Der steile Hang und die Erschütterungen beeinflussten sein Vorankommen sehr viel mehr als die Bemühungen des Fahrers, dessen riesige Pranken das dünne elfenbeinfarbene Bakelit-Lenkrad umklammerten.
»Wir kippen noch um und krachen ins Tal, wenn du so weitermachst. Und ich sitze auf dem gefährlichen Beifahrersitz.«
Bei jedem Knarzen der gebeutelten Federung verschüttete Al lauwarmen Chinggis-Wodka auf sein Yes We Khan-T-Shirt.
»Wenn wir uns überschlagen, dann sterben wir alle, nicht nur du«, erwiderte Zorig philosophisch. Er hatte seinen riesigen Körper zusammengekrümmt, damit er ins Auto passte, die Knie am Lenkrad, den Kopf an der Windschutzscheibe. »Aber das wird nicht passieren. Diese Karren sind wie Zecken. Die saugen sich an der Straße fest und lassen nicht mehr los.«
»Bis auf damals, als wir mit dir am Steuer im Süden von Chjargas in den Airag-See gekippt sind«, erinnerte ihn Naaran. Er krallte sich am Kunstleder der Rückbank fest, während sein Kopf immer wieder gegen das unverkleidete Metall knallte.
»An dem Tag waren die Bremsen schuld.«
»Und was ist mit der Schlucht im Khangai Nuruu?«, hakte Erwan nach, der vom Geholper des russischen Kleinbusses hin und her geworfen wurde. »Waren es da vielleicht auch die Bremsen?«
»An dem Tag waren es die Reifen!«, knurrte Zorig.
»Und als wir auf der Fahrt nach Tschor von der Straße abgekommen sind? Erinnerst du dich an diese lange, gerade Strecke, was war es da?«
Keine Antwort.
»Lag es da vielleicht rein zufällig an den Elefanten?«
Alle prusteten los, bis auf Zorig, der mit dem schlingernden Fahrzeug kämpfte.
»An dem Tag hast du uns doch tatsächlich eine Böschung hinuntergejagt, um einem Elefanten auszuweichen, war es nicht so?«
»Und wenn schon, ich habe mich getäuscht, so was kann doch mal vorkommen, oder? Ich weiß doch, dass es in der Steppe keine Elefanten gibt. So bescheuert bin ich auch wieder nicht. Das muss was anderes gewesen sein, ein Yak oder ein Kamel oder was weiß ich. Ich war müde.«
»Müde? Hackedicht warst du! Sturzbetrunken, voll wie eine Schale Blaubeeren und so prall wie eine Yak-Blase! Du solltest besser mich fahren lassen«, meinte Naaran besorgt.
»Nie im Leben. Das ist mein Auto. Ich fahre.«
»Zorig, wenn die andere Seite des Hügels nicht befahrbar ist, dann können wir nie im Leben umkehren, dann geht noch nicht mal mehr rückwärtsfahren.«
»Klar können wir. Der kommt überall durch. Außerdem kommen nach den Dingen immer andere Dinge.«
Das war einer von Zorigs Sprüchen. Eine unumstößliche Feststellung, welche die Zukunft manchmal tatsächlich bestätigte. Al, Naaran und Erwan suchten aus Prinzip nach einer Erwiderung, doch sie hatten den Kamm des Hügels erreicht, und das, was sie vor sich hatten, machte sie sprachlos. Zorig brachte das Fahrzeug mit einem Satz, der es fast in die Schlucht hinunterbefördert hätte, zum Stehen und presste sein Riesengesicht an die von Steinschlägen übersäte Windschutzscheibe.
»Großartig«, bemerkte er anerkennend.
»Makaber vielleicht«, murmelte Al.
»Morbide«, korrigierte Naaran von der Rückbank.
»Was macht das für einen Unterschied?«, wollte Erwan wissen und quetschte den Kopf zwischen die Schultern von Zorig und Al, um besser zu sehen.
»Makaber lässt einen Tod unter tragischen Umständen vermuten, morbide hingegen hat nichts mit dem Tod zu tun. Das ist einfach nur was Perverses und Abnormales«, erklärte Al.
»Na, dann ist es aber eher morbikaber«, befand Zorig.
»Und schön.«
»Morbikaber und schön«, stimmten die beiden anderen zu und stiegen aus.
Auf einem Felsen vor ihnen lag ein nackter Mann lang ausgestreckt auf dem Rücken, als wäre er um den Stein gewickelt. Der gnadenlos überstreckte Körper schmiegte sich perfekt an den nahezu runden Felsen, einschließlich der an den Schultern ausgekugelten Arme, die von einem schweren, an den Handgelenken des Mannes festgebundenen Stein über den im Nacken liegenden Kopf nach hinten gezogen wurden. Unten auf der einen Seite des großen Felsens waren seine Füße befestigt, auf der anderen schwebte der Block reglos über dem Abgrund.
»Ist er tot?«, fragte Erwan, wagte aber nicht, näher heranzugehen.
»Wer hat das gemacht?«, knurrte Zorig.
»Ich hab keine Ahnung. Vielleicht eine Art Ritualmord …«
»Ich rede doch nicht von dem Typen, ich rede von meinen Zeichnungen!«
Erwan drehte sich um und stellte fest, dass seine drei Begleiter damit beschäftigt waren, die Sachen aus dem Bus zu räumen. Staffeleien, Canson-Papier, Aquarellfarben, Kohle und Bleistifte. Nur Zorig blickte nach hinten, weit hinter den alten UAZ, dessen Türen in Ermangelung einer Klimaanlage mit Holzkeilen aufgehalten wurden.
»Meine ganzen Skizzen, vom Winde verweht. Verdammt, ihr hättet wenigstens ein bisschen darauf aufpassen können!«
»Was habt ihr denn vor?«, fragte Erwan verwundert.
»Wir zeichnen ihn natürlich, was für eine Frage, ein solches Modell!«, antwortete Al.
»Aber er ist tot!«, warf Erwan ein.
»Na eben, so reglos, wie er da liegt, ist er doch perfekt dafür. Ihm läuft die Zeit nicht mehr davon, und uns damit auch nicht.«
Erwan wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Dabei kannte er sie doch. Seit zehn Jahren reiste er aus Frankreich quer durch die Mongolei zu ihnen für diese nomadischen, urtümlichen Sessions. Aus der heimischen Bretagne, um genau zu sein. Zwei oder drei Monate im Jahr, um draußen in der Natur zu malen, ohne Zwang, ohne Programm, ohne feste Route. Frei und ungebunden. Vor zehn Jahren hatte er sie in einem Künstlerloft kennengelernt, mitten im Winter. Sie hatten einen verlassenen Flügel des Gewerkschaftsgebäudes besetzt, genau gegenüber dem Regierungspalast. Relikte einer sowjetischen Vorliebe für proletarische Künstler, kombiniert mit der Fähigkeit der Nomadenseele, sich leer stehende Räume anzueignen. Natürlich hatte die Gier der Investoren nach Leerflächen im Herzen der Stadt sie inzwischen von dort vertrieben, damals jedoch hatte Zorig ihn dort aufgenommen und über seine Zeichnungen von den Küsten der Bretagne und der Normandie gestaunt. Er hatte ihn den anderen vorgestellt, und zehn Tage lang hatten sie wie Wahnsinnige getrunken und gemalt. Als neugieriger Tourist hatte Erwan die Idee zu ihrem ersten Ausflug in die Wildnis gehabt. Er hatte alle in seinen gemieteten Landcruiser gepackt und war mit ihnen in die weitläufige verschneite Steppe gefahren. Auf Anraten von Zorig, den dieses Projekt begeisterte, fuhren sie über Nalaich nach Osten, bogen dann nach Süden ab und wandten sich schließlich gen Westen nach Dsuunmod, wo sie, ebenso inspiriert wie betrunken, ihre Zelte vor dem Bergmassiv des Bogd Khan aufschlugen. Ganze Tage malten sie, wie besessen von den sie liebenden Musen. Verteilt über die Steppe standen sie mit ihren Staffeleien, eingepackt wie Polarforscher aus einem anderen Zeitalter, vor dem heiligen Berg, der in der flachen, kalten Sonne aus dem Süden in ganzer Pracht erstrahlte. Dort hatte Zorig zum ersten Mal Wodka ins Malwasser für seine Aquarelle geschüttet, damit es nicht gefror. Und am Abend hatten sie in ihrem notdürftig errichteten Biwak die neue Freundschaft besiegelt, indem sie die farbige Brühe rituell miteinander teilten, um in ihren dünnen Schlafsäcken der Kälte standzuhalten.
Erwan versuchte, sie zur Vernunft zu bringen. »Wir müssen den Notarzt rufen«, sagte er.
»Welchen Notarzt, der ist doch tot!«
»Dann wenigstens die Polizei.«
»Du kennst doch die Regel, wir fahren immer ohne Handy los.«
»Tja, dann bin ich aber froh, dass ich geschummelt habe«, gab der Franzose zu und zog sein Handy aus der Hosentasche.
»Ich glaub’s einfach nicht!«, knurrte Zorig, entriss ihm das Handy und zerschmetterte es an einem Felsen. »Erwan, das ist unsere Regel: Wir ziehen los und malen, sonst nichts. Abgeschnitten von der übrigen Welt. Das ist die nomadische Kunst, verdammte Scheiße!«
»Was, die nomadische Kunst, welche nomadische Kunst denn?«, fragte Erwan genervt, der stinkwütend vor seinem zerschmetterten iPhone 6 stand. »Jeder verflixte Reiter hat ein Smartphone in der Tasche seines Deel und eine Parabolantenne an der Tür seiner Jurte. Es fehlt nur noch, dass sie einen GPS-Empfänger am Sattel hängen haben. Also was soll das Gelaber von wegen nomadische Kunst?«
»Das ist die Kraft unseres Projekts, du kleiner, beschissener Bretone«, antwortete Zorig. »Die Rückkehr zur Steppe. Die Reinheit des Strichs für die Reinheit des Ursprungs. Die Grundfarbe. Das Licht von einst, das die Nachrichten, die Trauer und die Hochzeiten, die Schmerzen und das Lachen, die Schreie und das Weinen durch Raum und Zeit trug, noch bevor es Handys gab!«
»Hey, wohin ist Naaran denn verschwunden?«, unterbrach Al den Streit. Er hatte seine Staffelei unter dem Arm und seine sämtlichen Pinsel in der Hand.
»Ich bin hier!«
Die drei beugten sich über den Abgrund, aus dem die Stimme heraufschallte. Ihr Freund hatte sich auf dem steinigen Hang eingerichtet, direkt vor dem Felsen, an dem die Leiche mit dem Stein befestigt war. Schweigend kamen sie überein, dass die Perspektive dort ästhetisch und überraschend sein musste. Der Felsen im Vordergrund, in der Verlängerung dazu die überdehnten Arme mit dem Seil, und ganz oben, zum Himmel hin, der überstreckte Kopf, die Augen verdreht, und der Nacken, der der Wölbung des Felsens folgte. Zorig drehte sich automatisch um und prüfte die Farbe des Himmels. Ein strahlendes Blau. Dieser verfluchte Naaran fand immer die besten Fluchtlinien bei starken unifarbenen Flächen.
»Ihr solltet auch besser anfangen«, riet er ihnen, »der ist wirklich großartig!«
»Aber er ist tot, verdammt noch mal!«, entrüstete sich Erwan.
»Na dann, bis später«, meinte Al und zog los.
»Wie jetzt, ›bis später‹? Al, was machst du, Mann? Wohin gehst du? Verdammt, was ist denn los mit euch, das ist eine Leiche, Mann!«
Al ging weiter, ohne zu antworten. Vor ein paar Jahren hatten sich die drei mongolischen Künstler überraschend für zweieinhalb Monate zu Erwan in die Bretagne eingeladen, und Al war beeindruckt gewesen vom Meer, das sich bei Ebbe zurückzog, von dem schweren milchweißen Seegang, der an köstliche Austern denken ließ, den windzerpflügten Küsten, wo sie auf Drängen ihres Gastgebers die Staffeleien aufgestellt hatten. Doch Al konnte nichts davon malen. Nichts. Es ging einfach nicht. Nicht das Grün dieser schimmernden Brandung, nicht die silberne Gischt, kein einziges Leuchten, nichts von dieser dichten, runden Durchsichtigkeit. Er war frei von jeder Inspiration geblieben, hatte unergiebig, reglos und stumm viele Stunden lang im scharfen Wind gestanden, der ständig feinen Granitsand aufwirbelte, oder in der ohrenbetäubenden Explosion der Gischt, die sich geysirartig gegen den Fuß der Felsen warf. Verloren, den Tränen nahe angesichts der Weite des Horizonts, die ihn ohne Kunst ließ. Leer. Seit er in die Mongolei zurückgekehrt war, stellte er seine Staffelei in großem Abstand zu den anderen auf, starrte auf die Steppe, bis sein Innerstes ganz hypnotisiert davon war, und ließ seine Erinnerungen an die Gelbtöne bei Ebbe, die in allen Regenbogenfarben schillernden Strömungen, den graugrünen Seegang, die dunklen und blauen, von feiner Gischt gesäumten Wellen oder die makellosen, von Wildgras überwucherten Klippen wieder wach werden. Seit drei Jahren malte Al inmitten der Steppe nur bretonische Küstenlandschaften.
Erwan drehte sich zu Zorig um, der noch immer wegen seiner verlorenen Skizzen fluchte.
»Zorig, wir müssen etwas unternehmen. Hast du schon mal so was gesehen?«
Widerwillig trat Zorig zu ihm und betrachtete den Leichnam lange Zeit schweigend.
»Ja«, sagte er schließlich.
»Ja, was?«
»Ja, ich habe so was schon gesehen …«
»Was? Jemanden, der so gestorben ist?«
»Nein, eine Radierung, in einem Buch. Der Tod von Jamukha.«
2
… dass dein Bett seit vier Monaten leer war
Zusammengekauert hinter dem Felsen betrachtete Yeruldelgger sie schon seit geraumer Zeit. Seit er auf der anderen Seite des Tales, das mit silberfarbenen Astern und rosa Akeleien übersät war, so zart wie der Tau an einem klaren Morgen, ihren Umriss auf dem von Beifuß bläulich gefärbten Hügelkamm entdeckt hatte. Eine Frau zu Pferd. Das erkannte er an ihrem Reitstil. Weniger nach vorn gebeugt als ein Mann. Weniger aufrecht in den Steigbügeln. Nicht so sehr Herrscherin über das Pferd, durch reine Zügelgewalt, sondern mehr in Harmonie mit ihm, denn ihre breiteren Hüften erlaubten es ihr, den Bauch des Pferdes mit den Beinen zu umschlingen, eins mit ihm zu werden. Eine gute Reiterin. Aus dieser Entfernung konnte er ihr Gesicht nicht ausmachen, aber er schätzte ihr Alter anhand der Linie ihrer Schultern und der Wölbung ihres Rückens. Ungefähr so alt wie er. In der zweiten Hälfte des Lebens. Aber noch kräftig.
Mit Sicherheit hatte sie ihn längst bemerkt. Ihre kaum wahrnehmbare Silhouette hatte sich bereits vor dem Himmel über dem Hügel abgezeichnet, als er aus dem sanften Schlaf in seiner Jurte erwacht war. Bestimmt hatte sie im kühlen Morgen, der der Hitze voranging, darauf gewartet, dass er ein Lebenszeichen von sich gab. Also hatte sie gesehen, wie er in seinem schlecht gebundenen Deel in den Morgen hinaustrat und auf den Felsen zuging. Und natürlich wusste sie, wer er war. Oder zumindest, welcher Typ Mann. Ihr musste das Fehlen von Mäulern aufgefallen sein. Weder Ziegen für Kaschmirwolle oder Milch noch Schafe für Milch oder Fleisch, und auch keine Kamele als Lasttiere oder Yaks für die Sahne. Nicht die Jurte eines Nomaden, sondern die eines Bono – eines bourgeoisen Nomaden, eines Stadtbewohners, der sich irgendwann zum Leben in die Steppe zurückgezogen hatte. Bestimmt hatte sie seine drei Pferde gemustert und auch aus dieser Entfernung erkannt, dass keine Stute darunter war. Keine Milch, um sie zu fermentieren und Airag herzustellen. Sie wusste also in etwa, wer er war, und hatte gewartet, bis er sich zeigte. Es bestand auch kein Zweifel daran, dass sie genau wusste, was er da versteckt hinter seinem Felsen machte.
Ohne sichtbare Gesten trieb sie das Pferd den Hügel hinunter, und er sah zu, wie sie näher kam. Sie machte sich nicht auf den Weg zu seiner Jurte, sondern ritt gemächlich auf ihn zu, und das, womit er gerade beschäftigt war, hielt sie nicht davon ab. Für einen besseren Stand stellte sich Yeruldelgger in einer breiteren Hocke auf die Bretter. Nur sein Gesicht mit dem amüsierten Ausdruck überragte den Felsen. Die Reiterin erklomm inzwischen seine mit Enzian, chinesischen Nelken und wilden Geranien übersäte Hangseite des Tales, auf die gerade der erste lange Sonnenstrahl des Tages fiel. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, sah er, dass sie einen schimmernden Deel mit aufgestickten gelben Motiven trug, dazu einen Bogen quer über der Schulter. An ihrem Sattel hingen Satteltaschen und ein Köcher, aus dem die grüngelbe Befiederung eines Armvoll Pfeile hervorblitzte. Das gefiel ihm. Diese kriegerische Frau, diese Amazone des Ostens, war ein unerwarteter Anblick, der ihn trotz der Unbequemlichkeit seiner Haltung begeisterte. Er ließ sie bis zu sich herankommen, bewunderte ihre vorzügliche Reitweise, voller Sanftheit, und die trotz ihres Alters aufrechte Haltung. Er hatte recht gehabt. Die Frau schulterte das Gewicht eines halben Lebens, aber ihr Gesicht verriet eine in sich ruhende Kraft, die zu der Annahme berechtigte, dass sie noch einmal so lange leben wollte. Ohne die Zügel zu ergreifen, brachte sie ihr Pferd zum Stehen, genau im richtigen Abstand, um sich mit ihm zu unterhalten.
»Es lohnt sich wohl nicht, dich zu bitten, deine Hunde zurückzuhalten«, sagte sie mit einem Lächeln, das ihr Gesicht um zwei Frauenleben verjüngte.
»Tatsächlich nicht, das ist wohl wahr«, antwortete Yeruldelgger und verjagte eine Schmeißfliege, die um seine Knie herumschwirrte.
»Ich bin gekommen, um dich um Hilfe zu bitten«, sagte sie.
»Glaubst du wirklich, ich wäre in der Lage, dir zu helfen, wie klein die Bitte auch sein mag?«
»Ich kann warten.«
»Genau das konnte ich leider nicht«, scherzte er.
»Ich suche meine Tochter, die verschwunden ist. Ich will, dass du mir hilfst, sie zu finden.«
Er blieb noch einen Moment in der Hocke sitzen, sowohl auf das konzentriert, was er gerade zu tun versuchte, als auch darauf, worum sie ihn soeben gebeten hatte.
»Warum ich?«
»Weil ich weiß, wer du bist.«
»Du weißt, wer ich bin?«
»Ja, du bist Yeruldelgger.«
»Dann weißt du also auch, dass ich nicht mehr bei der Polizei bin.«
»Das weiß ich. Deshalb habe ich dich ausgewählt. Ich brauche keinen Beamten, um die zu finden, die meine Tochter entführt haben. Ich will jemanden, der mir hilft, sie zu bestrafen.«
Ein weiterer, in allen Farben schimmernder Koprophage umflog den Felsen, verschmähte die strahlend blauen grazilen Enziane, die das zarte Gras tüpfelten, und summte stattdessen hinter ihm herum.
»Hör zu, Großmutter, ich weiß um den Ruf, den meine letzten Ermittlungen mir eingebracht haben, aber ich bin kein Rächer. Oder sagen wir so, ich bin keiner mehr.«
Mit einem Hauch von Stolz hob die Frau das Kinn und richtete sich im Sattel etwas mehr auf.
»Du nennst mich Großmutter, dabei hast du doch sicher schon länger gelebt als ich, denkst du nicht?«
»Ganz, wie du meinst, Großmutter, du hast sicherlich recht, aber du kommst mir mit einem Mal sehr stolz vor, wie du so amazonengleich von deinem hohen Ross herabblickst.«
»Ich hatte nicht damit gerechnet, meinen so gar nicht großen Alexander seine Notdurft verrichten zu sehen, kauernd zwischen Enzianen und chinesischen Nelken.«
»Ich verrichte meine Notdurft, wie Nomaden sie schon immer verrichtet haben, kleine Schwester, und genauso hat es wohl auch dein Alexander gemacht, nehme ich an, über einem gegrabenen Loch in der unendlichen Steppe. Dann bin ich also dein Alexander der Große? Woher kommt dieses Wissen über alte Legenden?«
Sie antwortete nicht sofort, sondern holte aus einer der Satteltaschen eine Plastikflasche, die mit Airag gefüllt war. Sie nahm drei große Schlucke der fermentierten und von der Sonne und dem Schweiß des Pferdes gewärmten Stutenmilch, den Kopf im Nacken, das Gesicht dem Himmel zugewandt, dann hielt sie Yeruldelgger die Flasche hin, der ablehnte.
»Dafür ist es noch ein bisschen zu früh für mich.«
»Du irrst dich. Das ist gut für das, was du hast.«
»Was ich habe, ist etwas Alltägliches und Natürliches, mach dir keine Sorgen um meine Verdauung, kleine Schwester.«
»Wenn du Zeit dazu findest, solltest du dennoch nach dieser behaarten Pflanze mit dem hohen grauen Stängel suchen, die im Sommer kleine blassrosa Blütenkronen bildet. Koche die mageren Wurzeln auf, dann schäl sie und lass sie im kalten Wasser eines Wildwasserflusses ziehen. Bei uns findet man sie selten, aber sie wächst in feuchten Ebenen. Europäer stellen daraus weiche Süßigkeiten her. Dir wird sie helfen, jeden Morgen weichen Stuhlgang zu haben, und du wirst dich deutlich besser fühlen.«
»Dann sind wir also die Amazone Myrina und Alexander der Große im Königreich der Scheißhäuser«, fasste Yeruldelgger zusammen. »Ich frage dich noch einmal, woher kennst du die Legende?«
»Ich bin eine Bono wie du. Ich habe in Ulaanbaatar gelebt und dort Geschichte unterrichtet.«
»Und wann hat deine bedeutsame Rückkehr in die Natur stattgefunden?«
»Schon vor zwanzig Jahren.«
»Dann bist du inzwischen mehr Nomadin als Stadtbewohnerin, oder?«
»Leider bleiben wir im Kopf immer das, was wir ursprünglich waren.«
»Das will ich nicht hoffen!«, sagte Yeruldelgger seufzend.
Seine durch die gebeugte Haltung glänzenden Knie schmerzten leicht, und weitere Zweiflügler kitzelten schamlos seine Pobacken hinter dem Felsen. Sie blieb schweigend auf ihrem Pferd sitzen, betrachtete ihn in der Morgendämmerung, die sich wie der erste Morgen der Welt verflüchtigte.
»Mir ist natürlich klar, dass ich gerade nicht sehr vorteilhaft aussehe«, räumte er ein.
»Soweit ich das von hier beurteilen kann, bist du noch ein ganz schöner Mann, Großvater.«
»Den schönen Mann nehme ich als Kompliment und den Großvater als Zeichen des Respekts, doch müsste ich wählen, wäre es mir lieber, du wärst etwas respektloser.«
»Was denn, willst du etwa, dass wir uns in unserem Alter treffen, um wie Myrina und Alexander in einem dreizehntägigen Coitus uninterruptus das schönste Kind des größten Eroberers und der grausamsten Kriegerkönigin zu zeugen?«
»Nein, aber es wäre mir lieber gewesen, du hättest in mir den erobernden Krieger gesehen und nicht den alten Mann, der seine Notdurft verrichtet.«
Sie verlagerte das Gewicht im Sattel, griff in die andere Satteltasche, zog eine Rolle rosafarbenes, dreilagiges Toilettenpapier Lotus Comfort made in China hervor und warf es ihm ohne Vorwarnung zu. Er fing es auf, ohne sich zu sehr hinter seinem Felsen zu erheben.
»Unter uns Bonos!«, scherzte sie.
»Ohne dich kränken zu wollen, kleine Schwester, aber das ist etwas, was ich am liebsten allein verrichte. Ich treffe dich bei der Jurte. Dort findest du alles, um einen Tee zuzubereiten.«
Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie ihm noch einen forschenden Blick zuwarf. Dann ließ sie ihr Pferd kehrtmachen, ohne die Zügel zu berühren. Doch sie entfernte sich nicht.
»Hältst du mich etwa für deine unterwürfige Frau? Für deine angeheiratete Schwägerin? Deine aufopferungsvolle Ahnin? Diesen Tee hast du mir anzubieten. Ich bin eine Reisende, die von weit her kommt. Dir obliegt die Pflicht der Gastfreundschaft.«
Sie hatte ihm bei diesen Worten den Rücken zugedreht, ihre Hände lagen entspannt auf dem Sattelknauf. Er nutzte den Moment, um sich wieder anzuziehen und die Hände im Staub abzureiben. Dann trat er zu ihr und ging, ohne stehen zu bleiben, an ihr vorbei. Er hörte, wie das Pferd ebenfalls loslief.
»Du sagst also, dass deine Tochter entführt wurde.«
»Yuna ist vor drei Monaten aus ihrem Haus verschwunden.«
»Ich hielt dich für eine Bono in ihrer Jurte.«
»Nur Seelen wie wir, mit denen es zu Ende geht, wollen zu den Ursprüngen der Tradition zurückkehren. Für nichts auf der Welt wäre ein modernes Mädchen dazu bereit, seine Jugend in einem Zelt zu vergeuden, das irgendwo am Arsch der Welt steht, Hunderte von Kilometern vom nächsten Maxi-Best-of entfernt.«
»Du musst eine gute Lehrerin gewesen sein«, sagte er mit einem Lächeln über ihre Ausdrucksweise. »Aber vielleicht warst du ja keine so gute Mutter? Deine Tochter hat nicht mehr bei dir gewohnt?«
»Nein, sie wohnte zusammen mit anderen Studenten in einem Haus in einem Vorort von Dalansadgad.«
»Und sie ist verschwunden?«
»Ja, sie sind zu mehreren losgezogen, um gegen irgendein Bergbauprojekt in der Gobi zu protestieren, und sie ist nicht zurückgekommen.«
»Was haben diejenigen gesagt, die mit ihr dort waren?«
»Sie waren auf mehrere Fahrzeuge verteilt und haben sich einen Spaß daraus gemacht, auf der Heimfahrt verschiedene Strecken durch die Steppe zu nehmen, und dumme Wetten darüber abgeschlossen, wer als Erster ankommen würde. Am Steuer saßen Jungen, die einen auf Denn sie wissen nicht, was sie tun machten, allerdings mehr im Stil von Fast & Furious als im Stil von James Dean. Sie haben geglaubt, Yuna hätte sich verfahren, und haben in Dalansadgad auf sie gewartet. Aber da ist sie nie eingetroffen.«
»Du hast doch bestimmt auch dieselben dummen Spielchen gespielt, als du so alt warst wie sie, oder etwa nicht?«
»Natürlich, aber damals konnte mich mein Pferd, ob ich nun betrunken war oder mich verirrt hatte, auch allein wieder zum Lager zurückbringen.«
»Wohl wahr, ein Toyota hat weniger Instinkt als ein fuchsfarbenes Pferd der Gorkhi. War Yuna allein unterwegs?«
»Nein. Ihre Freundin Gova war bei ihr.«
»Und Gova?«
»Die ist auch verschwunden.«
Schweigend gingen sie weiter. Die Ebene vor ihnen war über mehrere Hundert Meter hinweg von Edelweiß überwuchert, ehe sie hinter dem Fluss sanft bis zum erodierten Kamm eines weiteren Hügels anstieg. Einen Kilometer weiter hinten endete sie in einem grünen Abhang, der die große, von Dünen durchsetzte Sandwüste aufhielt, die sich wie erstarrte Meereswellen dahinter erstreckte. Am Horizont war eine Felswand zu erkennen, der letzte braune Ausläufer der Altai-Kette. Die Steppe war einfach nur eine Abfolge von reglosen Wellen aus ockerfarbenen Felsen, blauen Gräsern und gelbem Sand. Ging man die Hügel unter dem weiten, tief hängenden Himmel schräg hinauf, so war das, als würde man vom Seegang nach oben getragen. Und der Abstieg auf der anderen Seite, zu Fuß oder zu Pferd, beschleunigt vom Elan und dem Gefälle, war ebenso berauschend wie das Surfen auf einer Welle des Ozeans. Zumindest stellte er, der das Meer selbst noch nie gesehen hatte, es sich so vor. Yeruldelgger hatte sich diesen Ort nicht ausgesucht. Der Nerguii, sein geistiger Meister des Siebten Klosters, hatte das für ihn getan. Damit er fernab vom chaotischen Ulaanbaatar meditieren, seine Wut besänftigen und Vergebung für all seine Verbrechen finden konnte.
Sie kamen zum Fluss, an dessen Ufer ein Krug und eine umgedrehte Schale standen, und Yeruldelgger bat die Frau, ihn einen Moment zu entschuldigen. Schamlos zog er sich aus, fragte sie, ob sie seine Kleidung halten könne, damit sie trocken blieb und er sie nicht auf dem noch taunassen Gras ablegen musste, dann wusch er sich, indem er mit dem Krug Wasser aus dem Fluss schöpfte. Als er sauber war und das Schmutzwasser vom Fluss abgewandt ins Gras geschüttet hatte, stieg er ins eiskalte Wasser, um zu baden. Ungeniert musterte sie seine knorrigen Muskeln, die sich unter den Rundungen abzeichneten, zählte seine Narben und betrachtete ihn, wie er mit vor Kälte verschrumpeltem Glied zurückkam.
»Letztlich bist du vielleicht doch eine Art Alexander«, scherzte sie und hielt ihm seine Kleidung hin.
»Träum nicht, kleine Schwester, dieser malträtierte Körper hat zu viele Kämpfe durchgemacht, um dreizehn Nächte der Brunft durchzustehen.«
»Eine einzige wäre schon genug. Schließlich bin ich auch keine Amazonenkönigin.«
Er zog seine Hose hoch und hielt kurz inne, sah ihr ins Gesicht. Ihr Blick ruhte auf ihm wie der einer mongolischen Frau: schamlos und offen.
»Wie heißt du?«
»Tsetseg.«
»Und warum, Großmutter mit dem Namen einer Blume, denkst du, dass Yuna entführt wurde?«
»Hast du denn nichts von den schrecklichen Gerüchten mitbekommen? Von all den Mädchen, die verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen, und niemals wiedergefunden werden?«
»Nein. Weißt du noch von anderen verschwundenen Mädchen?«
»Meine Jurte steht am Eingang des Yol-Tals. Es hat sechs Tage gedauert, um zu deiner zu reiten. In diesen sechs Tagen habe ich von mindestens zwei weiteren Verschwundenen gehört.«
Sie kamen zu seiner Jurte, sie zu Pferd, er zu Fuß und etwas vor ihr, und er redete mit ihr, ohne sich umzudrehen. Sie erwartete nicht, dass er ihr beim Absteigen half, und er machte auch keine Anstalten dazu. Doch er trat als Erster in die Jurte, um sie dort zu empfangen. Erfreut stellte sie fest, dass diese mit Respekt vor der Tradition eingerichtet war. Wie es sich gehörte, wies er sie nach hinten zum linken, den Gästen vorbehaltenen Bereich, und sie ließ ihren Bogen und die Pfeile aus Respekt vor den Ahnen vor dem Zelt. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, lehnte sich an das verzierte Gästebett und achtete darauf, dass ihre Füße nicht zum Ofen in der Mitte zeigten. Dann holte sie eine kleine Schnupftabakdose aus ihrer Tasche, die sie ihm mit ausgestreckten Armen und nach oben zeigenden Handflächen reichte. Er nahm sie entgegen, kniete sich neben sie, um sich zu bedanken, bewunderte die Dose, spielte mit dem Messingdeckel und bot ihr im Gegenzug eine Prise Schnupftabak an. Er nahm sich dieselbe Menge, dann stand er auf und bereitete den salzigen Buttertee zu. Nachdem sie die erste Tasse schweigend zu sich genommen hatten, erzählte sie ihm alles, was sie über das Verschwinden der Mädchen in dieser Gegend wusste, und er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Nach einer Stunde der Erklärungen schwieg sie, und er erhob sich, um einen weiteren Tee aufzubrühen. Als er sich umdrehte, um ihr nachzuschenken, stand sie nackt vor ihm, ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf den Lippen, obwohl ihr Blick nach nichts verlangte. Yeruldelgger sagte nichts. Er betrachtete den Körper, der schamlos sein Alter verriet, so ungeniert, wie sie den seinen am Fluss betrachtet hatte, und als sie näher trat, um ihn auszuziehen, hielt er sie nicht davon ab.
Als sie nach geraumer Zeit noch einmal anfangen wollte, trat er lachend hinaus in die Sonne und band die Urga schön gerade neben der Tür fest. Die traditionelle Botschaft, die lange Lassostange, die sich stolz neben der Tür in den Himmel reckte, war für die ganze Steppe unmissverständlich. Im Inneren befand sich ein erregter Mann, und eine Frau vergnügte sich mit ihm.
Am Nachmittag, als beide erschöpft waren, bereitete sie den Tee zu.
»Vielen Dank für dieses Geschenk«, murmelte sie ihm zu.
»Aber …?«, hakte er nach, weil sie ihr Kompliment mit Vorbehalt vorgebracht hatte.
»Aber du hast mich geliebt wie ein Mann, der eine andere liebt.«
»Wie kannst du das sagen?«
»Zu viel Eifer für einen alten Körper wie meinen, zu viel Sanftheit für eine eintägige Bekanntschaft, zu viel Aufmerksamkeit für eine flüchtige Liebelei. Wie heißt sie?«
»Solongo.«
»Sie ist nicht hier?«
»Nein, sie lebt in Ulaanbaatar.«
»Ist das nicht etwas weit weg von deinem Körper?«
»Du hast den Beweis, dass dem so ist …«
»Schade für sie. Aber bedank dich in meinem Namen bei ihr.«
»Wofür?«
»Dafür, dass diese nomadische Liebe möglich war. Hilfst du mir trotzdem, Yuna zu finden?«
»Und die zu bestrafen, die sie entführt haben?«
»Ja, auch das!«
»Hör zu, ich bin hier, weil mein Leben zuvor aus nichts als Gewalt und Wut bestand. Mein Meister, der Nerguii, hat mir noch eine Chance eingeräumt, die letzte. Er ist ein Weiser, dessen Unterweisungen ich erhielt, als ich jünger war. Auf seinen Rat hin habe ich mich fernab von allem zurückgezogen auf der Suche nach dem, was die Christen Erlösung nennen und was er als Rückkehr zur Harmonie bezeichnet. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich mit dir losziehe, um Rache zu üben?«
»Gar nicht«, sagte sie. »Wenn die Mächte, die du diesem alten Meister zuschreibst, wirklich existieren, dann sag dir doch einfach, dass vielleicht er es war, der mich zu dir geschickt hat …«
Er lächelte über ihre Weisheit. Sie beherrschte die Kunst der Desillusionierung ohne Eitelkeit oder Arroganz, aber auch ohne Scham. Nackt stand sie vor ihm, trotz ihres Alters, weil das die Ordnung der Dinge war, und dafür war er ihr dankbar. Sie zog ihre Hose an und legte sich den Deel mit einer eleganten Geste über die Brust, deren Schamhaftigkeit und Sanftheit ihn überraschte.
»Du solltest dir etwas überziehen und zu ihm gehen, er wartet schon ganz schön lange.«
»Ist er dir auch aufgefallen?«
»Er ist auf Abstand geblieben, hat aber nicht versucht, sich zu verbergen.«
Yeruldelgger zog seinerseits eine Hose an, blieb jedoch barfuß und verließ die Jurte mit nacktem Oberkörper. Der erwähnte Mann saß vor der Tür auf seinem Pferd und stellte sich als Frau heraus. Yeruldelgger war erstaunt, dass er das nicht erkannt hatte, anders als zuvor bei Tsetseg. Sie war ziemlich groß, recht hübsch, deutlich jünger als die Frau, mit der er gerade geschlafen hatte, und trug einen blassblauen Satindeel, eine schwarze Hose und weiche Lederstiefel.
»Guten Tag, Großvater. Da ich die Urga an deiner Tür gesehen habe, wollte ich mich nicht nach deinen Hunden erkundigen und habe lieber gewartet.«
»Daran hast du gutgetan, kleine Schwester. Und worauf wartest du?«
»Auf dich«, antwortete sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ihre Haltung zu Pferde war ebenso stolz wie die von Tsetseg ein paar Stunden zuvor, nur ein wenig angespannter. Jungenhafter.
»Du schmeichelst mir«, antwortete Yeruldelgger lächelnd, »aber ich bin nicht polygam, nicht einmal in meinen nomadischen Liebschaften.«
»Davon habe ich genug, Großvater, das kannst du mir glauben. Ich bin glücklich, dass ihr euch gefunden habt, die alte Reiterin und du, aber ich bin nicht wegen deines Körpers hier. Ich komme wegen meinem.«
Tsetseg war zu Yeruldelgger nach draußen auf die Schwelle der Jurte getreten. Wie ein altes Nomadenehepaar standen sie nebeneinander vor der jungen Reiterin.
»Ich verstehe nicht recht, was dein Körper benötigen könnte«, antwortete er, »doch sollte er von außen verletzt oder von innen gebeutelt sein, so bin ich weder Arzt noch Schamane.«
»Sie spricht nicht von ihrem Körper«, unterbrach ihn Tsetseg.
»Wie das?«
»Du sprichst nicht von deinem Körper, oder?«
»Nein«, antwortete die junge Frau.
»Na also, siehst du?«
»Wie, siehst du? Was will diese alte Nomadenhexe mit ihrem kryptischen Gerede? Von welchem Körper spricht sie?«, fragte Yeruldelgger irritiert und wandte sich zu Tsetseg um.
»Frag sie, immerhin ist es ihr Körper!«
»Jetzt reicht’s aber! Um welchen Körper geht es hier?«, fragte er genervt und wandte sich wieder zur jungen Reiterin um.
»Um den eines Mannes, den ich eine Galoppstunde von meiner Jurte entfernt gefunden habe.«
»Verletzt?«
»Tot.«
»Weißt du, wer es ist? Kanntest du ihn?«
»Auch ich hatte die Urga an der Tür meiner Jurte festgebunden. Ich habe meine nomadische Liebe seit ein paar Tagen mit ihm geteilt.«
»Das müssen ganz eindeutig die aphrodisierenden Pollen des Edelweißes der Steppe sein! Und wozu brauchst du mich? Um seinen Leichnam zu deiner Jurte zu bringen?«
»Nein, ich habe keine Jurte mehr.«
»Wie das, du hast keine Jurte mehr?«
»Diejenigen, die diesen Mann umgebracht haben, haben sie abgefackelt.«
»Warum?«
»Er war Ausländer.«
»Glaubst du, dass man ihn deswegen getötet und dich bestraft hat? Seid ihr Opfer einer dieser rassistischen Razzien geworden?«
»Nein. Ich glaube, dass man ihn für das umgebracht hat, was er war, und meine Jurte für das abgefackelt hat, was er darin versteckte.«
Dieses Mal setzten bei Yeruldelgger die guten alten Reflexe des erschöpften Ermittlers ein. Er massierte sein Gesicht mit beiden Händen, um seinen kriminalistischen Geist anzukurbeln und etwas Ordnung zu bringen in das, was er soeben gehört hatte.
»Hör zu, kleine Schwester, ich schlage vor, dass du uns das Ganze noch einmal etwas einfacher erzählst. Im Stil von: Sowieso hat dieses Teil in meiner Jurte versteckt, deshalb hat Dingsbums sie abgefackelt, nachdem er Sowieso umgebracht hat. Kannst du das machen?«
Sie schien nicht sofort zu verstehen. Oder nicht verstehen zu wollen, was auf dasselbe hinauslief. Resigniert stellte er eine letzte Frage.
»Weißt du wenigstens, was er bei dir versteckt hat und was diejenigen, die ihn umgebracht haben, an sich nehmen wollten?«
»Ja«, antwortete sie.
Er wartete einen Moment und überprüfte innerlich alle Parameter, Indikatoren und Skalen seines Wut-Potenziometers. Seit vier Monaten lebte er zurückgezogen, auf Anordnung des Nerguii höchstpersönlich, fernab von allem, fernab von seiner Stadt, seinem ehemaligen Beruf, fernab von seinen Freunden und vom sehnlichst vermissten Körper und Geist derjenigen, die er liebte, und kaum hatte er wenige Stunden einer ersten Nomadenliebschaft mit einer alten, vorbeiziehenden Reiterin hinter sich, bekam er angesichts einer noch jüngeren Reiterin seinen ersten Wutanfall. Tsetseg hatte recht: Man blieb immer der, der man ursprünglich war!
»Also?«, presste er mit zusammengebissenem Kiefer hervor.
»Also was?«
»Kleine Schwester, ich bin ein ehemaliger Bulle und habe die letzten zwanzig Jahre der Gewalttätigkeit noch nicht vollständig abgebüßt. Du holst mich aus den Armen der ersten Frau, mit der ich seit vier Monaten geschlafen habe, kommst an meinen Rückzugsort und versetzt alle Dämonen in Aufruhr, die mich einst den Kopf und den Beruf verlieren ließen – also vermeide besser einen meiner überaus verhängnisvollen Wutanfälle und sag mir, was los ist, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Du bist hergekommen und hast mich aufgesucht, vergiss das nicht.«
Unentschlossen schaute das Mädchen auf dem Pferd zum Himmel hinauf und dachte über seine Worte nach. Yeruldelgger wäre fast explodiert, aber Tsetseg legte ihm sanft eine Hand auf den Arm, damit er die Geduld nicht verlor. Dann traf die junge Frau wie durch ein Wunder eine Entscheidung und zog ein Bündel halb verbrannter Blätter aus ihrem blauen Satindeel, die sie ihm hinhielt.
»Das!«, sagte sie.
Yeruldelgger trat näher, streckte die Hand aus und wollte das Bündel ergreifen. Überrascht über diese Geste stieg das Pferd, und die junge Frau rief es zur Ordnung, indem sie ihm ein Ohr verdrehte. Ein elektrisiertes Zucken lief über die Kruppe des Pferdes, es schüttelte die Mähne als Zeichen seiner Unterwerfung. Doch gerade als Yeruldelgger es als braves Pferd erachtete, packte es das Papierbündel mit sabberndem Maul. Yeruldelgger konnte nur wenige Seiten retten, die anderen zerkaute das Pferd mit seinen gelblichen Backenzähnen. Lauter Zahlen und Berechnungen, die sich um eigenartige Schemata rankten.
»Was ist das?«, fragte Yeruldelgger.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete die junge Frau.
»Warum bist du dann damit zu mir gekommen?«
»Wegen dem, was hinten draufsteht.«
Er drehte einen Bogen um und entzifferte ein paar Worte trotz der zarten und stark ziselierten Schrift. Réseau de décrochements, orogénèse hercynienne, sédiments piégés, structures de déformation – Plattengrenzen, Sedimentablagerungen, Gebirgsbildung durch Hebungen und Senkungen.
»Das hat irgendwas mit Geologie zu tun, aber es ist Französisch«, sagte Yeruldelgger erstaunt.
»Natürlich, was glaubst du, weshalb ich dich aufgesucht habe?«
»Was? Woher weißt du, dass ich ein bisschen Französisch kann?«
»Du hast viel zu lange in der Stadt gelebt, Großvater. Du bist in der Steppe, hier weiß man alles!«
Ungläubig drehte sich Yeruldelgger zu Tsetseg um und sah sie an.
»Hast du das gehört? Sie weiß, dass ich Französisch kann!«
»Na und? Ich wusste, dass dein Bett seit vier Monaten leer war.«
3
… Little Big Man
Am Abend hatte er ihnen einen salzigen Milchtee mit Bansh serviert und sich für sein Armutsgelübde entschuldigt. Die junge Frau, Odval, hatte Wasser aus dem Wildwasserfluss geholt, Tsetseg bereitete den Teig zu und Yeruldelgger die Füllung. Sie kochten draußen, im Gras sitzend, während in der Ferne wilde Pferde vorbeizogen, und schürten das Feuer, als der Nachmittag kühler wurde. Odval gab ein Stück vom Ziegeltee ins kalte Wasser, zerdrückte es, würzte mit einer Prise Salz und brachte das Ganze zum Kochen. Tsetseg schöpfte etwas lauwarmes Wasser ab, mischte es mit dem Mehl und knetete daraus einen weichen, glatten Teig, den sie ruhen ließ, während sie Yeruldelgger zusah, wie er die Füllung zubereitete. Er hatte etwas Rind und mageres Schaffleisch von seinen Vorräten genommen und mit dem großen Messer klein gehackt. Dann schnitt er eine schöne Zwiebel und aromatische Kräuter klein, weigerte sich jedoch, das geheime Mischungsverhältnis preiszugeben. Er drückte noch eine Knoblauchzehe mit der flachen Seite des Messers platt und mischte alles in einer gelben Plastikschüssel mit dem Fleisch. Während sie sich über ihn lustig machte, ließ Odval Milch in einem Topf aufkochen, gab sie in den Tee und ließ die Mischung erneut aufkochen. Tsetseg saß unterdessen neben ihm und hatte mithilfe eines umgedrehten Glases kleine Kreise aus dem flachen Teig ausgestochen. Yeruldelgger knetete die Farce noch ein bisschen durch und gab einen Schuss Milch dazu, was die beiden Frauen mit einem entsetzten Aufruf quittierten – sie schworen, dass man dafür nur Wasser verwenden dürfe. Dann setzte er auf jeden Teigkreis einen Klecks seiner Mischung, die weder gesalzen noch gepfeffert war. Beim Verschließen seiner Teigtaschen ließ er sich nicht helfen und versah sie mit seinem Zeichen. Aus dem Augenwinkel hatten die Frauen wohlwollend gelächelt und jeden seiner Handgriffe für gut befunden. Da er die Bansh nicht in heißes Fett geben würde, war es nicht notwendig, die Luft herauszudrücken, ehe er den Teig mit den Fingern zusammenpresste. Sobald Yeruldelgger fertig war, goss Odval den Milchtee durch ein Tuch ab. Dann ließ sie ihn erneut aufkochen, fügte eine große Prise Salz hinzu, und schließlich gab Yeruldelgger die Bansh hinein. Sie behielten den Topf im Auge, während sie sich über dieses und jenes unterhielten: über ihre Kindheit, darüber, was die jeweilige Mutter besser zubereitet hatte als alle anderen Mütter der Mongolei – oder der ganzen Welt. Nachdem der Teig aufgegangen war und die Bansh nach und nach an der Oberfläche des Teesuds schwammen, hatten sie schweigend gegessen und sich die Lippen an dem köstlichen Kindheitsgericht verbrannt. Mitten in der Steppe, in der noch die letzten trägen Strahlen der Sommersonne verweilten, vor den Sanddünen, die in der Brise anfingen zu singen, hatten sie es sich schmecken lassen, und das Halbdunkel, das sich vom Boden her ausbreitete, brachte die beiden Frauen in einer Komplizenschaft von leisem, unterdrücktem Lachen und anhaltendem Getuschel einander näher. Yeruldelgger dachte bei sich, dass der Arkhi, den Odval in seiner Jurte aufgestöbert hatte, ebenso seinen Beitrag zu dieser Stimmung leistete wie die nostalgische Empfindung, in einer so wunderschönen Weite zu wohnen, bei der einem das Herz aufging. Wie es sich gehörte, hatten sie den Milchalkohol geteilt, indem sie die Schale herumreichten, doch zuvor hatten Odval und Tsetseg Yeruldelgger dabei zugesehen, wie er seinen rechten Ringfinger darin eintauchte und ein paar Tropfen zunächst zum Feuer, dann in die vier Himmelsrichtungen schnippte und zum Schluss seine Stirn damit befeuchtete. Odval hatte es Tsetseg überlassen, ihm das als Erste nachzumachen, und ihr somit den Vortritt der Älteren gewährt. Als die Nacht hereinbrach und die Stille nur noch vom Knistern des Feuers unterbrochen wurde, blieb, ganz wie die Tradition es vorschrieb, ein Schluck in der Schale, der für einen möglichen Vorbeireisenden bestimmt war.
Sie hatten nicht viel über den toten Franzosen von Odval oder die verschwundene Tochter von Tsetseg gesprochen, sondern stattdessen aufmerksam gelauscht, wie sich ihre nomadische Verbundenheit in der glücklichen Stille der Steppe miteinander verwob. Als der Mond über dem Dünenmeer aufgegangen war und den Sand wie ein geheimnisvolles, aufgewühltes rotes Meer aussehen ließ, hatten alle drei ihre Schalen und den Teekessel im bereits schwarzen Fluss ausgewaschen und darauf geachtet, das Wasser mit einem sauberen Krug herauszuschöpfen, um den Fluss nicht zu verschmutzen. Dann waren sie wieder zurückgegangen und hatten sich um die Pferde gekümmert.
Yeruldelgger hatte den beiden Frauen das Gästebett überlassen und sich unter die Decke des kleineren Bettes gelegt. Dann hatte er die Kerze ausgeblasen. Umgehend verdüsterte die Nacht das Innere der Jurte, ehe der Mond mit seinem blassen Schimmer die Dunkelheit durch die sternenübersäte Öffnung des Toono erhellte. Lange Zeit sagte keiner etwas, aber jeder wusste, dass die anderen noch nicht schliefen. Odval wagte sich als Erste vor.
»Kennst du Jack Crabb?«
»Jack Crabb, wieso?«, kam Yeruldelggers Gegenfrage aus der Dunkelheit.
»… mein Franzose hatte einen Computer.«
»Ach ja?«
»Ja. Mit einer DVD. Weißt du, was das ist, eine DVD?«
»Natürlich weiß ich das«, sagte er genervt.
»Eines Abends haben wir einen Film angesehen. Jacques mochte …«
»Jack Crabb?«
»Nein, Jacques Léautaud, mein Franzose. Deshalb mochte er diesen Film, weil der Held denselben Namen hatte wie er. Jack, Jacques, verstehst du?«
»Ja, ich verstehe«, seufzte Yeruldelgger. »Und ich kenne Jack Crabb, und ich kenne den Film, von dem du sprichst.«
»Dann kennst du auch Sunshine?«
»Ja, ich kenne Sunshine, die hübsche Cheyenne. Und auch ihre drei Schwestern«, gab Yeruldelgger zu. »Und das, was sie mit Jack Crabb machten, unter ihrer …«
Er verstummte, wurde sich seiner Unvorsichtigkeit bewusst, lauschte dem Gemurmel und dem gedämpften Lachen der beiden Frauen. Einen kurzen Moment lang zwang er sich zu glauben, dass sie es nicht wagen würden. Das konnten sie nicht wagen. Wirklich nicht! Doch er hörte, wie eine in der Dunkelheit aufstand, wie ein leichter Stoff zu Boden glitt und schnelle Schritte zu seinem Bett eilten. Dann spürte er, wie sich ein nackter, warmer Körper unter der Decke an ihn presste und von ihm geliebt werden wollte. Sehr viel später in der Nacht rief Tsetseg leise nach Odval, die mit ihr den Platz tauschte, während Tsetseg auf Zehenspitzen und leise lachend zum anderen Bett zurückrannte. Wie die unverheirateten Schwestern von Sunshine in Little Big Man!
4
Ein Loch voller Leichen
»Das ist jetzt aber ein bisschen übertrieben als Reinheitsritual, findest du nicht?«
Der Nerguii war da, saß im Halbdunkel auf dem Rand des Bettes. Sein Meister. Die Seele des Siebten Klosters, der Geist der Shaolin. Yeruldelgger wollte den Kopf heben, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte, aber Odval und Tsetseg, die von beiden Seiten an ihn gepresst dalagen, hinderten ihn daran. Der Nerguii schien sie nicht zu beeindrucken.
»Es ist nicht so, wie du denkst …«, setzte er ziemlich idiotisch zu einer Erklärung an.
»Ich bitte dich«, spottete der Nerguii, »ich bin nicht deine Frau. Diese schlechte Ausrede kannst du dir für Solongo aufheben.«
Seufzend ließ Yeruldelgger den Kopf zurück aufs Kopfkissen fallen.
»Das ist einfach so passiert, glaub mir. Es ging um eine DVD. Einfach nur um eine DVD. Weißt du, was das ist, eine DVD?«
»Natürlich weiß ich das«, sagte der Nerguii lächelnd. »Ich habe den DVD-Player fürs Kloster selbst ausgesucht! Und ich weiß auch, wer Jack Crabb ist, weil ich Little Big Man gesehen habe, mehrmals sogar, und ich weiß, was Sunshine und ihre drei Schwestern im Tipi angestellt haben. Aber das erklärt keineswegs deine nomadischen Liebschaften!«
»Ich weiß, ich weiß«, gab Yeruldelgger zu, »ich kann es mir ja selbst kaum erklären. Im Fall von Tsetseg war es ein bisschen so, wie ein französischer Philosoph sagen würde: Weil sie sie war, weil ich ich war …«
»Erklärt dein französischer Philosoph auch die Gegenwart der anderen Person?«
»Der anderen Person? Odval? Also, das ist nur …«
»Nein, der anderen anderen Person. Der vor deiner Tür!«
»Wie, vor meiner Tür?«
Die Verwirrung holte Yeruldelgger vollständig aus dem Schlaf, und er wachte auf, allein in seinem kleinen Bett, die beiden Frauen schliefen in ihrem auf der anderen Seite des Ahnenaltars. Und natürlich war der Nerguii verschwunden. Falls er jemals hier gewesen war! O Himmel, hoffentlich war das alles nichts weiter als ein schlechter Traum. Nichts als ein Traum. Erregend, das musste er zugeben, aber eben nur ein Traum. Leise schob er sich unter seiner Decke hervor und begab sich nackt und auf Zehenspitzen zur Tür. Durch die Spalten zwischen den Brettern bemerkte er sofort das zuckende Licht, dessen roter Schein von draußen hereinschimmerte. Langsam drückte er den Holzverschlag auf und streckte den Kopf vorsichtig, aber neugierig nach draußen. Wenige Meter von seiner Jurte entfernt war ein Feuer schon beinahe erloschen. Durch einen unsichtbaren Windhauch oder Insekten, die vom Lichtschein angelockt wurden, entzündeten sich die glimmenden Hölzer hin und wieder, ehe sie in der Asche verglühten. Doch das Licht reichte aus, dass er die zusammengerollte Silhouette hinter dem Lagerfeuer entdeckte, die in der Kühle der Nacht unter einer Decke schlief. Er sah sich zu jeder Seite der offen stehenden Tür um, vergewisserte sich, dass er keine sonstigen Überraschungen zu befürchten hatte, dann schob er die Tür ganz auf und stellte sich neben das Feuer und neben den, der es wagte, direkt vor seiner Jurte zu schlafen, und ihm auf diese Weise die unerträgliche Kränkung zuteilwerden ließ, ihn nicht um die Gastfreundschaft gebeten zu haben, die er ihm traditionsgemäß hätte gewähren müssen.
Wie er so dastand, nackt in der Nacht, und seine Schultern in der kalten und himmlischen Reinheit des Mondes erstrahlten, während seine gewölbte Leibesfülle vom irdischen, rötlichen Schimmer des Feuers angeleuchtet wurde, sprang der Junge auf und legte mit einem Jagdgewehr auf ihn an. Der Junge war keine zehn Jahre alt.
»Hey! Hey! Ganz ruhig, kleiner Bruder. Entspann dich und sag mir lieber, wer du bist.«
»Du bist doch Yeruldelgger, nicht wahr?«
»Ach, dann kennst du mich also auch? Ich fasse es nicht!«
»Ich habe dich gesucht.«
»Das habe ich mir fast schon gedacht. In letzter Zeit suchen mich so einige, wie es scheint. Warum hast du mich nicht gebeten, meine Hunde zurückzuhalten?«
Ohne das Gewehr aus der Hand zu legen, deutete der Junge auf die lange Urga, die noch immer senkrecht am Türpfosten festgebunden war.
»Ich habe dich mit den zwei Frauen gesehen.«
»Du hast uns gesehen?«
»Frag sie, sie haben sehr wohl bemerkt, dass ich da war.«
»Er ist mir gestern schon den ganzen Tag gefolgt«, sagte Odval da hinter ihm.
Yeruldelgger drehte sich um. Odval und Tsetseg standen nackt nebeneinander in der Tür, nur mit einer Decke um die Schultern.
»Ja«, bestätigte Tsetseg. »Ich habe gesehen, dass er dir folgte, und mich gefragt, wann er eintreffen würde.«
Yeruldelgger wandte sich zum Neuankömmling um.
»Ich denke, du kannst dein Schießrohr weglegen«, meinte er.
»Und wie sieht es mit deinem Schießrohr aus?«, spottete der Junge.
Yeruldelgger verstand nicht sofort. Dann wurde ihm klar, dass er nackt in der Nacht stand und sein erschöpfter Körper noch nicht gesättigt war. Wie ein Idiot starrte er auf sein erigiertes Glied, als wollte er ihm mit Blicken befehlen, wieder zu Sinnen zu kommen, oder besser gesagt, sich anders zu besinnen. Oder wenigstens …
Der Junge senkte den Lauf seiner Waffe und warf ihm die Decke zu, in der er geschlafen hatte. Yeruldelgger wickelte sie sich um die Hüften, ohne wirklich verdecken zu können, was er eigentlich verbergen wollte.
»Beim nächsten Mal bringe ich dir eine zweite Urga mit. Den Scherz habe ich mir einmal mit einem meiner Onkel erlaubt. Ich habe alle Urgas des Lagers zusammengetragen und vor seiner Tür aufgestellt, während er gevögelt hat …«
»Hey, achte etwas auf deine Wortwahl!«
»Nein, ehrlich, ich schwöre, er war gerade beim Bumsen …«
»Bleib höflich, verstanden? Hier sind Frauen zugegen!«
»Ja, schon klar, die habe ich gesehen. Und ich habe gehört, was du mit ihnen angestellt hast. Du hast …«
»Das reicht! Kein weiteres Wort, verstanden? Für wen hältst du dich, kleiner Bruder? Wenn ich dich in die Nase kneife, kommt genug Milch heraus, um eine Schale voll Airag zu machen!«
»Tja, dann lass mich was bei den beiden kneifen, dann wird genug herauskommen, um literweise Arkhi zu machen!«, erwiderte der Junge postwendend.
Yeruldelgger war fassungslos über die Frechheit des Jungen, der sich über seinen eigenen Witz kaputtlachte. Ein Kinderlachen, in das zunächst Odval und dann auch Tsetseg einfiel, die sich noch mehr über Yeruldelggers Gesichtsausdruck amüsierte als über den Scherz von …
»Wie heißt du eigentlich, kleiner Bruder?«, fragte ihn Tsetseg.
»Ganbold, Großmutter.«
»Und was willst du von uns?«
»Von euch beiden, warum nicht dasselbe wie er?«
»Hey, fang nicht noch mal damit an!«, empörte sich Yeruldelgger.
»Du kleiner Angeber«, machte sich Odval freundlich über ihn lustig. »Damit kannst du vielleicht in zehn Jahren ankommen …«
»In zehn Jahren? Machst du Scherze, in zehn Jahren bin ich zwanzig. Da habe ich eine Frau, ein Haus im Dsaisan-Viertel und bin Goldhändler. Außerdem bist du in zehn Jahren alt.«
»Und ich bin dann vielleicht schon tot, oder was?«, fragte Tsetseg.
»Das wäre durchaus möglich!«
Yeruldelgger schnaubte so laut wie ein Yak. Vierundzwanzig Stunden. Vierundzwanzig Stunden und drei Begegnungen hatten ausgereicht, damit es mit der erlangten Ruhe und der Abgeklärtheit seines viermonatigen spirituellen Rückzugs vorbei war. Schon spürte er die heiße Lava der Wut wieder in seinem Nacken aufsteigen, bis hinauf in den Hinterkopf. Energisch rieb er sich übers Gesicht, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte, doch das alles war leider überaus real. Er hatte noch nie die Hand gegen ein Kind erhoben und würde das auch jetzt nicht tun. Dennoch musste dieser Ganbold in Sachen Höflichkeit und Respekt dringend zurechtgewiesen werden.
»Okay. Wir müssen reden, kleiner Bruder. Kümmere dich zuerst um dein Pferd und beschwere seine Zügel mit diesem Stein hinter dir.«
»Wieso, damit du mir den Hintern versohlst, während ich mich bücke? Damit haben meine Onkel mich schon unzählige Male dranbekommen. Da musst du dir schon was anderes einfallen lassen, Großvater.«
»Hör zu, du Knirps, zwing mich nicht zu etwas, was ich nicht tun will, denn ich könnte gut und gerne …«
»Was könntest du?«, fragte Ganbold lächelnd und hob erneut den Lauf seiner Waffe.
Niemand sah etwas, weder das Schwungholen noch die Geste oder den Schlag. Das Gewehr wirbelte durch die Luft, dabei hatte sich keiner bewegt, nicht einmal Yeruldelgger. Die Waffe drehte sich um sich selbst, fiel auf die Jurte, rutschte über den Stoff nach unten, und Yeruldelgger fing sie mit einer Hand auf, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen. Die beiden Frauen, die noch immer nackt unter der zu kurzen Decke waren, hatten sich instinktiv etwas mehr aneinandergeklammert.
»Wow!«, rief Ganbold, der nunmehr mit leeren Händen dastand. »Wie hast du das gemacht? Dann stimmen also die ganzen Sachen, die man sich vom ich-weiß-nicht-wievielten Kloster erzählt? Bist du wirklich ein Shaolin? Kannst du wirklich die ganzen Sachen machen?«
»Ich kann dir vor allem den Hintern versohlen, du kleiner, frecher und respektloser Hosenscheißer.«
»Boah, ich glaube einfach nicht, was du gerade gemacht hast … so wie du aussiehst …«
»Wie, so wie ich aussehe?«
»Tja, wo du gerade vom Scheißen sprichst, ich habe deinen Arsch gesehen, als du dich gestern hinter dem Felsen versteckt hast, und man kann nicht unbedingt behaupten, dass da viel Muskel ist.«
»Seit vier Monaten trainiere ich sechs Stunden täglich, willst du meine Muskeln mal fühlen?«
»Wofür trainierst du?«
»Ich mache mich morgen zu einem Naadam auf, das drei Täler von hier entfernt stattfindet.«
»Ringer?«
»Bogenschütze.«
»Bogenschütze, das ist doch was für Frauen!«
Ein kurzer, verhaltener Moment der Stille, dann prusteten Odval und Tsetseg los.
»Also, was willst du von mir? Und achte auf deine Wortwahl!«
»Ich will dir einfach nur was zeigen.«
»Was, noch eine DVD, dieses Mal vielleicht mit Dustin Hoffman?«
»Mit wem? Nein, ich will dir ein Massengrab zeigen.«
»Ein Massengrab?«
»Ja, ein Massengrab. Ein Loch voller Leichen.«
5
… und der Tank explodierte
Yeruldelgger trieb sein Pferd nach oben zum Hügelkamm, der sich über einem langen, schmalen Tal erstreckte, und bedeutete der kleinen Gruppe, die ihm folgte, stehen zu bleiben. Umgehend jagte Ganbold mit seinem Pferd zu ihm hinauf, während die beiden Frauen gemächlich hinterherkamen. Wie er angekündigt hatte, war Yeruldelgger tags darauf aufgebrochen, um den Ort des Naadams aufzusuchen, allerdings hatte er Tsetseg, Odval und Ganbold nicht daran gehindert, sich ihm anzuschließen. Er hatte ihnen sogar zu verstehen gegeben, dass er sich, wenn es auf dem Weg lag und keinen allzu großen Umweg darstellte, von Odval und Ganbold dorthin führen ließe, wo sie ihn hinbringen wollten.
Unten im Tal entdeckten sie einen reglosen gewundenen Fluss. Eine asphaltierte gerade Straße überquerte ihn mittels einer alten Holzbrücke, die, bedingt durch die Witterungseinflüsse und das Gewicht der Konvois, durchhing. Von Weitem erkannte er, dass die alte Konstruktion auf die Schnelle mit ein paar Betonpylonen verstärkt worden war, die man im Wasser unter den tragenden Balken errichtet hatte. Eine dieser neuen Straßen, die sich willkürlich durch die Steppe zogen, um zu einer Mine oder zu einer ausländischen Konzession zu gelangen. Eine althergebrachte Schotterstraße durchquerte das Tal ebenfalls, schräg von Süden kommend führte sie bis zur Brücke, von der sie sich umgehend in Richtung Norden entfernte. Die Schotterstraße und die Asphaltstraße überquerten den Fluss an ebendieser Brücke. An der östlichen Abfahrt wurden ein Dutzend Fahrzeuge von einer großen Plane, die auf der Straße lag, an der Weiterfahrt gehindert. Ein paar Unvorsichtige hatten versucht, das Hindernis zu umfahren, an dem sich ein paar neugierige Fahrer in gebührendem Abstand zu schaffen machten. Ein Geländewagen war im Schlamm stecken geblieben, als er den Fluss durchfahren wollte, und ein Tanklaster mit Anhänger stand quer, nachdem er versucht hatte, zur Furt zu gelangen. Der Anhänger blockierte die Zufahrt zur Brücke.
Während des kurzen Ritts bis zur Brücke amüsierte sich Ganbold über dieses Chaos. Yeruldelgger ließ die große blaue Plane nicht aus den Augen. Noch bevor er dort ankam, machte er inmitten der amüsierten Gelassenheit oder entnervten Ungeduld der Menge die einzige Person aus, die ein sinnvolles, geschäftiges Verhalten an den Tag legte, eine uniformierte Frau. Er ritt zu ihr, als sie die Plane anhob und mit ihrem Handy ein paar Fotos machte. Der modrige Geruch und das Summen der Mücken ließen hinsichtlich dessen, was sich unter der Plane verbarg, keinen Zweifel aufkommen. Hier war reichlich Blut geflossen und auf dem Asphalt getrocknet.
»Wie viele?«, fragte Yeruldelgger.
»Das musst du nicht wissen«, antwortete die Polizeibeamtin, ohne sich zu ihm umzudrehen.
»Ich bin ein ehemaliger Bulle aus Ulaanbaatar. Ich kann dir helfen, wenn du willst.«
»Wenn du ein ehemaliger Bulle bist, dann warst du nicht gut genug, um weiterhin Bulle zu sein, also geh deines Weges.«
»Von Pferden niedergetrampelt?«
Dieses Mal drehte die Polizeibeamtin sich zu ihm um und musterte ihn.
»Das ist ja nicht zu glauben: Sag mir nicht, dass du Yeruldelgger bist!«
»Doch, ich schwöre, er ist es«, antwortete Ganbold für ihn, »und ich habe ihn etwas völlig Verrücktes im Shaolinstil machen sehen, mit …«
»Ganbold, bitte!«, unterbrach ihn Yeruldelgger, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. »Woher weißt du, wer ich bin?«
»Machst du Scherze? Jeder in der Gegend weiß, dass die größte Nervensäge unter den ehemaligen Bullen von Ulaanbaatar seine Jurte hier in der Gegend aufgeschlagen hat.«
»Na so was …«
»Warum also denkst du, sie wären von Pferden niedergetrampelt worden?«, fragte sie.
»Weil das hier nicht nur ein Massaker, sondern eine Botschaft ist!«, sagte Tsetseg.
Die Polizeibeamtin drehte sich zu ihr um, ohne auf die Bemerkung einzugehen, und wandte sich dann wieder an Yeruldelgger.
»Was ist das, Herr ehemals bester Bulle der gesamten Mongolei?«, fragte sie und zeigte spöttisch auf Tsetseg, Odval und Ganbold. »Gründest du eine Sekte von schamanischen Privatermittlern?«
»Unter der Plane liegen mehrere gefesselte Leichname, ordentlich nebeneinander aufgereiht, bei denen jeder einzelne Knochen gebrochen ist, nicht wahr?«
Wutentbrannt brüllte die Polizeibeamtin unvermittelt alle an, sie sollten auf die andere Seite der Brücke verschwinden. Und da die Schaulustigen es nicht sonderlich eilig hatten, zückte sie ihre Waffe und gab einen Schuss in die Luft ab, um ihnen Beine zu machen. Nach wenigen Sekunden waren nur noch Yeruldelgger und seine Truppe auf dieser Seite der Brücke.
»Woher weißt du, was unter dieser Plane ist?«, fragte die Polizeibeamtin genervt.
»Zu viel Blut für einen einzigen Toten, kein verunfalltes Auto, und ganz sicher hast nicht du die Leichname so nebeneinander aufgereiht, oder? Außerdem nehme ich nicht an, dass du diejenige warst, die sie mit einer Plane zugedeckt hat.«
»Nein«, gab die Polizeibeamtin zu. »Der Erste, der hier nicht weiterkam, war der Fahrer des Tanklasters, und er hat alles in dem Zustand vorgefunden, in dem es noch immer ist.«
»Hat er dich angerufen?«
»Nein, ich kam auf dem Weg für eine Ermittlung am nächsten Straßenmarkt hier vorbei. Ich habe mir alles angesehen und dann die Sache in die Hand genommen; jetzt warte ich auf das Eintreffen der Verstärkung.«
»Hast du sie verständigt? Was haben sie dir gesagt?«
»Dass ich wie üblich vorgehen soll: Fotos vom Unfall machen, die Identität der Zeugen notieren, die Leichname zur Seite schaffen und die feststeckenden Fahrzeuge freibekommen, damit hier wieder gefahren werden kann. Diese Straße führt zu einer Mine der Colorado.«
»Fass nichts an, kleine Schwester, das hier ist kein Gemetzel, es ist eine Botschaft«, wiederholte Tsetseg.
»Hey, wenn du mich meinst, dann redest du mich gefälligst als ›Kommissarin‹ an, verstanden? Dein ›kleine Schwester‹ und ähnliche nomadische Herablassungen kannst du dir sonst wo hinstecken. Unser Land ist genau wie alle anderen im 21. Jahrhundert angekommen, also hör mit dem übertriebenen Hexengeschwurbel auf und lass mich arbeiten.«
»Sie hat aber nicht unrecht, Kommissarin«, mischte sich Yeruldelgger ein. »Das hier war keineswegs ein Unfall. Es handelt sich um ein Verbrechen.«
»Ach ja, ist die Alte etwa eine Profilerin?«
»Nichts zwingt dich, es ihr gegenüber an Respekt mangeln zu lassen.«