Der Morgen eines Gutsherrn - Lew Tolstoi - E-Book

Der Morgen eines Gutsherrn E-Book

Lew Tolstoi

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Beschreibung

Der wohlhabende Fürst Mitja hat sein Studium abgebrochen, um sich als Gutsherr um sein Landgut und die 700 Leibeigenen kümmern zu können. Tolstois Novelle begleitet ihn einen Tag lang und schildert Mitjas Bemühen, die Anliegen der Bauern zu klären. Wie ein ländlicher König Salomo wird er zu Streitigkeiten gerufen und soll als Herr ein gerechtes Urteil fällen. Dabei wird deutlich, wieviel tatsächlich im Argen liegt auf dem Dorf und dass seine Leibeigenen keine Unschuldslämmer sind. Nur der gleichaltrige Imker benötigt nichts und berichtet träumerisch von Reisen in die Ferne – ein Reichtum, den sich auch der wohlhabende Gutsherr nicht leisten kann.-

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Seitenzahl: 98

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Lew Tolstoi

Der Morgen eines Gutsherrn

Übersezt von Hanny Brentano

(Bruchstück aus dem unvollendeten Roman »Der russische Gutsbesitzer«)

Saga

Der Morgen eines Gutsherrn

 

Übersezt von Hanny Brentano

 

Titel der Originalausgabe: Утро помещика

 

Originalsprache: Russischen

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1856, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728017531

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

I.

Fürst Nechljudow war neunzehn Jahre alt und Hörer des dritten Universitätskurses, als er zu den Sommerferien auf sein Landgut kam, um dort den ganzen Sommer allein zu verbringen. Im Herbst schrieb er mit seiner noch unausgeschriebenen, kindlichen Handschrift an seine Tante, die Gräfin Bjelorezka, die nach seiner Meinung seine beste Freundin und die genialste Frau der Welt war, den folgenden, hier in Übersetzung wiedergegebenen französischen Brief:

»Liebes Tantchen!

Ich habe einen Entschluß gefaßt, von dem mein ganzes ferneres Schicksal abhängt. Ich verlasse die Universität, um mich ganz dem Landleben zu widmen, denn ich fühle, daß ich dazu geschaffen bin. Um Gottes willen, lachen Sie nicht über mich, liebe Tante! Sie werden sagen, ich sei noch jung; vielleicht bin ich tatsächlich noch ein Kind, das hindert mich aber nicht, meinen Beruf zu erkennen, Gutes zu tun und Gutes zu lieben.

Wie ich Ihnen schon schrieb, ich habe hier alles in unbeschreiblicher Unordnung vorgefunden. Als ich die wirtschaftlichen Angelegenheiten regeln wollte und sie studierte, entdeckte ich, daß das Hauptübel in der jämmerlichen, elenden Lage der Bauern besteht und nur durch Arbeit und Geduld bekämpft werden kann. Wenn Sie nur zwei meiner Bauern, den David und den Iwan, sehen und das Dasein, welches sie mit den Ihrigen führen, beobachten könnten, – ich bin überzeugt, der bloße Anblick dieser beiden Unglücklichen würde stärker auf Sie wirken als alles, was ich Ihnen zur Begründung meiner Absicht sagen kann. Ist es nicht meine heilige, natürliche Pflicht, für das Glück dieser siebenhundert Menschen zu sorgen, für die ich einst vor Gott werde Rechenschaft ablegen müssen? Ist es nicht Sünde, sie aus Genußsucht oder Ehrgeiz der Willkür roher Aufseher und Verwalter zu überlassen? Und warum sollte ich in einer andern Sphäre Gelegenheit suchen, nützlich zu sein und Gutes zu tun, wenn ich eine so edle, glänzende und nahe Pflicht vor mir sehe? Ich fühle mich befähigt, ein guter Landwirt zu werden: und um das so zu sein, wie ich es mir denke, bedarf es weder eines Kandidatendiploms noch eines hohen Ranges, wie Sie das so heiß für mich ersehnen. Liebes Tantchen, entwerfen Sie keine ehrgeizigen Pläne für mich, gewöhnen Sie sich an den Gedanken, daß ich meinen eigenen Weg gehe, einen ganz besonderen Weg, der jedoch gut ist und mich – ich fühle es – zum Glück führen wird. Ich habe viel, sehr viel über meine zukünftigen Pflichten nachgedacht, habe mir Grundsätze für mein Tun notiert, und wenn Gott mir nur Leben und Kraft verleiht, wird mein Vorhaben gelingen.

Zeigen Sie diesen Brief nicht meinem Bruder Waßja: ich fürchte seinen Spott; er ist gewöhnt, über mich zu herrschen, wie ich gewöhnt bin, mich ihm zu unterwerfen. Wanja dagegen wird meinen Entschluß, wenn auch nicht gutheißen, so doch verstehen.«

Die Gräfin antwortete mit folgendem, hier ebenfalls in Übersetzung wiedergegebenem französischen Briefe:

»Dein Brief, mein lieber Dmitrij, hat mir nichts anderes bewiesen, als daß du ein vortreffliches Herz hast, was ich auch nie bezweifelt habe. Aber, mein lieber Freund, unsere guten Eigenschaften schaden uns im Leben mehr als die schlechten. Ich will nicht davon sprechen, daß du eine Dummheit begehst, daß Dein Tun mich bekümmert, ich will mich bemühen, nur durch Überredung auf Dich zu wirken. Laß uns überlegen, mein Freund: Du sagst, Du fühlest den Beruf zum Landleben in Dir, Du wollest das Glück Deiner Bauern begründen und Du hoffest, ein guter Landwirt zu werden. Ich muß Dir darauf antworten: Erstens: Wir erkennen unsern Beruf erst dann, wenn wir uns schon einmal in ihm geirrt haben. Zweitens: Es ist leichter, sein eigenes Glück zu begründen als das anderer Leute. Drittens: Um ein guter Landwirt zu werden, muß man ein kalter und strenger Mensch sein, was Du wohl Dein Lebtag nicht sein wirst, obgleich Du Dich bemühst, so zu scheinen.

Du hältst Deine Ansichten für unwiderleglich und sogar für Lebensregeln; in meinem Alter aber, mein Freund, glaubt man nicht mehr an Ansichten und Regeln, sondern nur an die Erfahrung; und meine Erfahrung sagt mir, daß Deine Pläne – kindisch sind. Ich zähle bald fünfzig Jahre und habe schon viele ehrenwerte Männer kennen gelernt, aber noch nie habe ich gehört, daß ein junger Mann von Stand und Fähigkeiten sich in einem Dorfe vergraben hätte, unter dem Vorwande, Gutes zu tun. Du hast seit je ein Original sein wollen, aber Deine Originalität ist nichts anderes als übermäßige Eigenliebe. Mein Freund, wähle lieber ausgetretene Pfade: sie führen schneller zum Erfolge, und wenn Du auch den Erfolg als solchen verschmähst, so brauchst Du ihn doch unbedingt, um die Möglichkeit zu haben, Gutes zu tun, – und das willst Du doch.

Die Armut einiger Bauern ist ein notwendiges Übel, aber ein Übel, dem man abhelfen kann, ohne all' seine Pflichten gegen die Gesellschaft, gegen seine Verwandten und gegen sich selbst zu vergessen. Es gibt keine Karriere, in der Du mit Deinem Verstande, Deinem Herzen und Deiner Liebe zur Tugend keinen Erfolg haben würdest; aber wähle wenigstens eine, die Deiner würdig ist und Dir Ehre macht.

Ich glaube, daß Du aufrichtig bist, wenn Du mir sagst, Du habest keinen Ehrgeiz; aber Du betrügst Dich selbst. Ehrgeiz ist in Deinem Alter und bei Deinen Mitteln eine Tugend; er wird erst dann zum Fehler oder zur Albernheit, wenn der Mensch nicht mehr imstande ist, diese Leidenschaft zu befriedigen. Auch Du wirst das noch erfahren, wenn Du Deinen Entschluß nicht änderst. Lebe wohl, lieber Mitja! Mir ist, als liebte ich Dich noch inniger wegen Deines törichten, aber edlen und großherzigen Planes. Tu, was Du für richtig hältst, aber ich gestehe, daß ich Dir nicht zustimmen kann.«

Der junge Mann dachte lange über diesen Brief nach; endlich kam er zu dem Schluß, daß selbst eine geniale Frau sich irren könne, reichte sein Entlassungsgesuch an der Universität ein und blieb auf seinem Gute.

II.

Der junge Gutsherr hatte – wie er seiner Tante geschrieben – Regeln aufgestellt, nach denen er nun handeln wollte; sein ganzes Leben und alle seine Beschäftigungen waren nach Stunden, Tagen und Monaten eingeteilt. Der Sonntag war für den Empfang der Bittsteller, der Hofleute und Bauern bestimmt, ferner für den Rundgang durch die armen Bauernhöfe und für Hilfeleistungen im Einverständnis mit dem Gemeinderat, der sich an jedem Sonntagabend versammelte und zu entscheiden hatte, wem und wie geholfen werden sollte. In solcher Tätigkeit war mehr als ein Jahr vergangen, und der junge Mann war nun weder in der Praxis noch in der Theorie der Landwirtschaft ein Neuling.

Es war ein klarer Junisonntag, als Nechljudow nach dem Kaffee und der Lektüre eines Kapitels aus » Maison rustique «, das Notizbuch und ein Päckchen Papiergeld in der Tasche seines leichten Überziehers, aus dem großen, von Säulen und Terrassen umgebenen Gutshause trat, in dessen unterem Stock er ein kleines Zimmer bewohnte. Er schritt über die ungeputzten, verwachsenen Wege des alten englischen Gartens dem Dorfe zu, das zu beiden Seiten der Landstraße lag. Nechljudow war ein hochgewachsener, schlanker, junger Mann mit langem, dichtem, gelocktem, dunkelblondem Haar, mit hellem Glanz in den schwarzen Augen, mit frischen Wangen und roten Lippen, über denen sich eben erst der zarte Flaum der Jugend zeigte. Aus seinem Gange, aus allen seinen Bewegungen sprachen Kraft, Energie und die gutmütige Selbstzufriedenheit der Jugend. Das Landvolk kehrte in bunten Gruppen aus der Kirche heim; Greise, junge Mädchen, Kinder, Frauen mit Säuglingen, alle in Feiertagskleidern, gingen mit tiefem Bückling an dem Herrn vorbei, traten ihm aus dem Wege und verteilten sich in ihren Hütten. Als Nechljudow die Dorfstraße erreicht hatte, blieb er stehen, zog sein Notizbuch aus der Tasche und las auf der letzten, mit kindlichen Schriftzügen bedeckten Seite einige Bauernnamen und Randbemerkungen. »Iwan Tschurißjonok – bittet um Stangen,« las er obenan. Er bog in die Straße ein und näherte sich dem zweiten Bauernhause auf der rechten Seite.

Tschurißjonoks Wohnung bestand aus einer Hütte von morschen, an den Ecken verfaulten Balken, die auf die Seite geneigt und so in den Boden gesunken war, daß das eine zerschlagene Schiebefenster mit dem halb zerfallenen Laden und ein zweites, mit Wollabfall verstopftes, sich dicht über der Düngergrube befanden. Ein aus Brettern errichteter Flur mit niedriger Tür und verfaulter Schwelle, ein – zweiter kleiner Holzverschlag, noch verfallener und noch niedriger als die Flur, ein Tor und ein kleiner Speicher aus Flechtwerk lehnten sich an die Hütte. Alles dies war einst mit einem gemeinsamen, unregelmäßigen Dache überdeckt gewesen, jetzt aber hing nur noch auf einer Seite dichtes, schwarzes, faulendes Stroh, während oben an manchen Stellen das Lattenwerk und die Sparren zu sehen waren. Vor dem Tor befand sich ein Brunnen mit zerfallener Einfassung und den Überresten eines Pfostens und des Brunnenrades, umgeben von einer schmutzigen, vom Vieh ausgetretenen Pfütze, in welcher Enten plätscherten. Neben dem Brunnen standen zwei alte, rissige und gebrochene Weiden mit wenigen blaßgrünen Zweigen. Unter einer dieser Weiden, die davon zeugten, daß irgendwann und durch irgendwen für die Verschönerung dieses Platzes gesorgt worden war, saß ein etwa achtjähriges blondes Mädchen und ließ ein anderes, zweijähriges, um sich herumkriechen. Als der junge Hofhund, der neben den Kindern lag, den Herrn erblickte, stürzte er auf das Tor los und brach in ein erschrecktes, zitterndes Gekläff aus.

»Ist Iwan zu Hause?« fragte Nechljudow.

Das ältere Mädchen schien starr vor Staunen, riß die Augen immer weiter auf und antwortete nicht; das kleinere aber öffnete den Mund und machte sich bereit, loszuweinen. Eine kleine, ältliche Frau in zerrissenem, kariertem Leinenrock mit altem, rotem Gürtel blickte zur Tür heraus, antwortete aber ebenfalls nicht. Nechljudow näherte sich dem Flur und wiederholte seine Frage.

»Er ist zu Hause, Wohltäter!« sagte die Frau endlich mit zitternder Stimme, indem sie sich tief verneigte und in ängstliche Aufregung geriet.