Der Möwenschiss-Mord - Regine Kölpin - E-Book
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Der Möwenschiss-Mord E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

Humorvolle Urlaubslektüre für alle Nordsee-Fans: Teil 2 der Küstenkrimi-Reihe an der friesischen Nordsee-Küste um den liebenswerten Eigenbrötler Ino Tjarks, seine Haushälterin Gerda Janßen und die befreundete Bäckerin Theda Graalfs, die diesmal einen Mörder auf dem Campingplatz enttarnen müssen. Langeweile ist aller Laster Anfang, weiß Ino Tjarks, der seit Jahren nicht mehr so viel Spaß hatte wie zuletzt als Mordverdächtiger, als er seine Unschuld beweisen musste – was er natürlich niemals zugeben würde. Deshalb nehmen Ino und seine Haushälterin Gerda einen Spionage-Auftrag des arroganten Camping-Urlaubers Falko von Walde an: Der verdächtigt nämlich seine Frau, ein Verhältnis mit ihrem neuen Nachbarn zu haben, Kommissar a. D. Traugott Fürchtenicht. Doch bevor Ino und Gerda mit ihrer Beschattungsaktion auf dem Campingplatz Möwenschiss so richtig loslegen können, wird Falko tot am Pool aufgefunden – erschlagen ausgerechnet mit der Markisenkurbel von Traugott Fürchtenicht … »Der Möwenschiss-Mord« ist der zweite humorvolle Küstenkrimi der deutschen Autorin Regine Kölpin, angesiedelt auf dem fiktiven Campingplatz Möwenschiss, der idyllisch bei Schillig an der friesischen Nordsee-Küste liegt. Ihren ersten Fall lösen Ino Tjarks, seine Haushälterin Gerda Janßen und Bäckerin Theda Graalfs im Küstenkrimi »Ins Watt gebissen«. »Ein heiterer Küstenkrimi für den Nordsee-Urlaub und für alle Nordsee-Fans!« Buch Magazin über »Ins Watt gebissen«

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Seitenzahl: 386

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Regine Kölpin

Der Möwenschiss-Mord

Ein Küsten-Krimi

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eigenbrötler Ino Tjarks lebt in einer beschaulichen Mühle am Deich. Eigentlich will er nur seine Ruhe, doch seine Haushälterin Gerda und ihre Freundin Theda haben ein apartes Hobby, für das sie ihn einspannen: Verbrecherjagd! Begeistert nehmen sie einen Spionage-Auftrag des Camping-Urlaubers Falko von Walde an. Der verdächtigt seine Frau, ein Verhältnis mit ihrem neuen Campingplatz-Nachbarn zu haben, Kommissar a. D. Traugott Fürchtenicht. Doch bevor Ino, Gerda und Theda mit ihrer Beschattungsaktion auf dem Campingplatz Möwenschiss so richtig loslegen können, wird Falko tot am Pool aufgefunden – erschlagen mit Fürchtenichts Markisenkurbel! Ino, Gerda und Theda wittern einen großen Fall ...

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Glossar

Zum Roman

Dank

Leseprobe »Den Letzten beißen die Robben«

1. Kapitel

Sonntag

17 Uhr

Wenn ich das doch sage, Ino!« Gerda wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre graue Dauerwelle war arg derangiert. Es war einfach viel zu heiß an diesem Sommertag im Wangerland.

Ino saß mit seinem blau-rot karierten Kurzarmhemd und grauen Shorts unter der alten Kirsche im Garten seiner Mühle und fragte Gerda für ihre Führerscheinprüfung ab. Vor sich hatte er eine Flasche mit kühlem Jever Pils stehen. Damit ließ sich die Hitze besser ertragen.

»In den Prüfungsunterlagen steht das so«, beharrte Gerda. »Rechts vor links und nicht anders. Punkt.« Sie war gerade dabei, die Wäsche von der Leine zu nehmen, und faltete jedes Stück sorgfältig.

»Es ist wirklich verdammt warm heute«, stöhnte sie nun. »Aber die Wäsche trocknet schnell. Immerhin was.«

Ino nickte. »Hier in Tjarkshusen kann man die Hitze noch einigermaßen ertragen. Stell dir vor, du würdest in der Stadt leben müssen.«

Gerda stimmte ihm zu, vor allem, weil ein laues Lüftchen seine Worte unterstrich.

Tjarkshusen war eine kleine Siedlung am Deich in der Nähe von Horumersiel, genauer gesagt handelte es sich um eine Ansiedlung von drei Häusern. Inos Mühle mit Anbau befand sich am Ende der Sackgasse und dominierte Tjarkshusen. Rechts stand Gerdas Backsteinhaus, und gegenüber wohnte die Großfamilie van der Fisk auf einem weitläufigen Anwesen. Sie waren ganz umgängliche Leute, auch wenn Ino der Ansicht war, sie hätten sich zu oft vermehrt. Aber das sagte er nie laut, schließlich musste man auf ziemlich engem Raum miteinander auskommen. Gerda mochte er hingegen sehr. Sie half Ino im Haushalt, er griff ihr bei anderen Arbeiten unter die Arme. Die beiden waren seit vielen Jahren ein eingespieltes Team. Fast wie ein altes Ehepaar, wobei Ino auch das nie laut äußerte. Er und ein Ehemann. Lächerlich!

»Nun frag mich schon weiter ab!«, forderte Gerda ihn auf.

Er hatte während seiner Gedankengänge die beiden Schafe Lina und Berta beim Grasen am Deich beobachtet. Gerda aber verlangte seine ganze Aufmerksamkeit. Ihr Plan war, in Kürze die Führerscheinprüfung abzulegen, und sie wollte bei der Theorie möglichst keinen Fehler machen.

Ino hatte die Fragebögen vor sich auf dem weißen Gartentisch ausgebreitet und wendete sie nun gelangweilt von rechts nach links. Seine schwarz-weiß gescheckte Dogge Tiger döste derweil im Schatten der Hauswand. Ihr Interesse an der Umwelt war bei den heißen Temperaturen eher gering. Nun hatte aber auch Ino keine Lust mehr auf die Fragerei. Immerhin waren sie alle Bögen einmal durchgegangen, und Gerda wusste doch alles! Ein bisschen wurmte ihn das, denn er wäre definitiv durchgefallen, hätte er den Führerschein noch einmal wiederholen müssen.

»Wir hören jetzt auf. Man braucht sich beim Autofahren schließlich nicht an alle Regeln zu halten«, grunzte Ino. »Das tun nur Paragrafenäffchen. Rechts vor links, ja, so steht es in dieser blöden Straßenverkehrsordnung. Ich finde, man muss das aber manchmal anders lösen. Hier im Wangerland gilt das nur, wenn es sinnvoll ist. Warum soll ich denn an jeder Kreuzung aufpassen, wenn doch keiner kommt, den ich vorlassen muss? Und im Zweifelsfall gilt immer noch: Friese vor Ostfriese. Ostfriese vor Touri. Kann man schließlich gut am Nummernschild erkennen, und da ist es legitim, auch mal schneller zu brettern.«

»Ino!«, maßregelte Gerda ihn sofort. »Vorschriften muss man einhalten, dafür sind die da.« Das letzte Wäschestück war im Korb gelandet und akkurat glatt gestrichen.

»Wieso willst du überhaupt den Lappen machen? In deinem Alter! Ich kann dich doch fahren. Hab schließlich Zeit, wenn ich nicht gerade mein Korn für Thedas Bäckerei mahlen muss.« Das war für ihn noch immer eine wichtige Aufgabe, denn ihre gemeinsame Freundin Theda buk das beste Brot im Wangerland. Ino drehte die Bierflasche um und schüttelte die letzten Tropfen ins Gras. Er fand es überflüssig, dass Gerda den Führerschein machte. Doch seit sie im letzten Frühjahr den Mord am Kurdirektor vom Wangerland aufgeklärt hatten, war sie anders geworden. Es hatte zuvor so schön mit ihnen gepasst, aber nun plante sie – außer ihrer jährlichen Winterreise auf die Kanaren – so etwas wie den Führerschein, sprach von Selbstverwirklichung und dass Ino aus dem Quark kommen und ab und zu selbst Hand im Haushalt anlegen sollte. Lauter solchen Unsinn.

Gerda hatte sich zu Ino an den Tisch gesetzt. Der Korb stand noch unter der Wäscheleine.

»Ino, ich weiß, wie blöd du es findest, dass ich meinen Führerschein mache. Aber ich muss flexibler werden.«

Ino sah sie fragend an. »Warum? Horumersiel und Schillig kannst du mit dem Rad erreichen, und sonst fahre ich dich. Mir macht das wirklich nichts aus. Und Theda auch nicht. Die fährt ebenfalls gern.«

»Und wenn ich mal in die Stadt will?« Gerda sah ihn herausfordernd an. »Dorthin magst du nicht, und Theda hat die Bäckerei. Da kann sie nicht ständig weg.«

»Es gibt Busse.« Ino reagierte bockig. Wie immer, wenn er sich in eine Sackgasse hineinmanövriert sah.

Gerda seufzte nur. »Du weißt, wie umständlich es ist. Und es ist wahnsinnig teuer. Überleg doch mal, was ich allein für den Bus nach Sande zahle und dann weiter nach Oldenburg oder Wilhelmshaven! Ein Vermögen. Schließlich muss ich auch wieder zurückkommen. Die Politik macht nur was für die Menschen in den Städten. Nein, ich brauche einen Führerschein. Der ÖPNV auf dem Land ist miserabel ausgebaut.«

Ino rollte mit den Augen. Das war auch so ein Ding. Gerda sprach nur noch in Abkürzungen. Warum sagte sie nicht einfach Öffentlicher Personennahverkehr? Oder einfach: Die Busse fahren nicht oft? Und seit wann interessierte sie sich für Politik? Das war sein Resort. Er saß schließlich im Rat der Gemeinde Wangerland und versuchte, die Stellschrauben ein wenig mitzudrehen. Sie hatten aber gerade Sommerpause, weil sich alle im Urlaub befanden. Ach Mann, er war heute ziemlich übel gelaunt.

Gerda gab immer noch keine Ruhe. »Ich möchte mich hier nicht zu Tode langweilen und selbst und spontan entscheiden, wenn ich mal vom Hof will. So einfach ist das. Ich kann schließlich nicht den ganzen Tag nur hinter dir herputzen und den Garten machen. Alle Menschen sind unabhängig und fahren, wohin sie wollen. Nur ich muss immer fragen. Das gefällt mir nicht. Ich will frei sein.«

»Unsinn«, sagte Ino, meinte es aber nicht so. Im Prinzip hatte Gerda recht. Es war blöd, mit dem Bus in die Stadt oder zum nächsten Bahnhof zu fahren, weil wirklich nur äußerst selten mal einer kam und es in der Tat kostspielig war. Er selbst wiederum verspürte nur wenig Lust zum Einkaufenstehen draußen vor den Geschäften. Erst recht aber bekam ihn keiner in die übervollen Läden.

Gerda könnte unabhängig losfahren, wenn sie eine neue Schürze oder einen neuen Rock brauchte. Oder Schuhe. Frauen brauchten immer Schuhe. Sogar Gerda, die sich nur selten herausputzte.

»Versteh schon«, rang er sich schließlich ab. »Ist doch nicht so verkehrt mit dem Lappen. Ende der Diskussion, bin überstimmt.«

Gerda strich ihm über den Unterarm. »Du bist immer so ein alter Griesgram. Aber ich mag das. Weil du mir am Ende doch immer recht gibst. Durst? Ich hole uns mal was anderes zu trinken als Bier. Sonst wirst du mir noch ganz dösig. Außerdem müssen wir was besprechen.« Sie wuchtete den Wäschekorb hoch und schleppte ihn ins Haus.

Kurz darauf kam sie mit einer Flasche Rhabarberschorle und zwei Gläsern zurück. Sie setzte sich wieder an den Tisch und drehte den Verschluss auf. Es zischte laut.

»Ist wirklich nix los, seit wir den Mord an Winterscheid aufgeklärt haben«, sagte Ino. »Aber mir ist es egal, ich hab gern meine Ruhe. Meinetwegen muss keiner mehr umkommen. Wäre auch vermessen, sich das zu wünschen, damit wir was zu tun haben.«

»Ino!«, empörte Gerda sich erneut und schenkte beiden von der Schorle ein. »So etwas wünsche ich mir doch gar nicht! Ich will nur den Führerschein machen.«

Ino grinste. »Weiß ich. Du brauchst eben ein bisschen mehr Leben oder ›Action‹, wie man heute sagt. Dann mach du die Prüfung, und wir kaufen dir zusammen ein Auto. Nicht dass du dir irgendeine Gurke andrehen lässt. Da helfe ich dir lieber.«

»Als Macho oder Gentleman?«, fragte Gerda kichernd. »Ist auch egal. Das nehme ich gern an.« Sie trank einen Schluck, dann fuhr sie fort: »So eine weitere Ermittlung, das hätte allerdings auch was. Wo wir gerade beim Thema sind …« Sie zog einen Zettel aus der Schürzentasche. »Das Schicksal meint es gut mit uns. Richtig gut. Hab ich von Theda«, ergänzte sie, als sie Inos fragenden Blick bemerkte.

Sie führte etwas im Schilde, und das hing nicht mit ihrem zukünftigen Führerschein zusammen.

Gerda lächelte Ino selig an. »Wir haben einen Auftrag! Einen unmörderischen und wunderbaren Auftrag, der uns eine Weile beschäftigen wird. Da passt es auch prima, wenn ich selbst Auto fahren kann.«

Nun wurde Ino wach. Er knallte das Glas mit der Schorle so heftig auf den Tisch, dass er wackelte. »Was haben wir?«

»Einen Auftrag, bei dem keiner tot ist«, antwortete Gerda ungerührt. »Wir sollen lediglich eine Frau auf dem neuen Campingplatz beschatten. Du weißt schon, der in Schillig. Aber nicht der große am Meer, sondern der dahinter.«

»Auf diesem Platz, den sie Möwenschiss getauft haben?«

Gerda nickte und grinste breit.

Dass der neue Campingplatz diesen seltsamen Namen hatte, war immer wieder eine Lachnummer im Wangerland. Der Inhaber war Sir Archie, und er entstammte einer alten englischen Adelsfamilie. Seine Vorfahren waren wie viele Friesen einst nach Britannien ausgewandert. Ino hatte die Theorie aufgestellt, dass man deshalb in England so viel Tee trank. Jedenfalls waren Sir Archies Ahnen auf der Insel zu Ruhm und Ehre gekommen, hatten sich aber so stark vermehrt, dass das Erbe am Ende recht schmal ausgefallen war. Deshalb hatte Archie Großbritannien wohl den Rücken gekehrt, lebte seit fünf Jahren in Friesland und hatte im Frühjahr den neuen Campingplatz eröffnet. Um seinen doppelten Wurzeln gerecht zu werden, wollte er ihn Möwenkiss nennen. »Eine feine Mischung aus Englisch und Deutsch«, hatte er verkündet. Aber das Wort Kiss war dem friesischen Maler offenbar nicht geläufig gewesen, oder er hatte nicht zugehört, und so stand auf dem blauen Schild schließlich Möwenschiss. Darunter hatte er eine lachende Silbermöwe neben einem weißen Klecks gemalt.

Ino trank noch einen großen Schluck. Gerdas Information musste er erst einmal sacken lassen. Er wischte sich mit dem Arm den Mund ab. »Was hat sie denn ausgefressen? Also, unser Beschattungsobjekt.« Erst mal klären, worum genau es gehen sollte, bevor er Nein sagte.

Gerda grinste erneut. »Angeblich ist sie – wie sagt die alte Griese immer? … promiskuitiv. Genau. Also untreu. Hat viele Kerle und so.« Sie nagte an der Unterlippe. »Sagt ihr Mann jedenfalls und will es natürlich genau wissen. Wenn es so ist, soll das wohl das Ende zwischen den beiden sein.«

Ino wiegte den Kopf. Er war nicht sicher, was er davon halten sollte. »Und was ist das für ein Auftraggeber? Dieser Ehemann?« Er fand es befremdlich, die eigene Frau beschatten zu lassen.

Gerda zuckte mit den Schultern. »Er ist auf jeden Fall reich oder ›gut situiert‹, wie man in unserer Branche sagen würde.«

Ino zog bei den Worten »in unserer Branche« die Brauen hoch, schwieg sich aber aus. Wer weiß, was Gerda noch so zu erzählen hatte.

Sie fächelte sich mit der Hand etwas Luft zu. »Hey, guck nicht so. Ich habe mir das nicht ausgedacht. Theda sagt, Geld spielt keine Rolle. Das glaube ich, denn er heißt Falko von Walde. Klingt direkt ein bisschen adlig, oder? Da passt er zu Sir Archie.«

»Wie kommt der denn auf euch?«, fragte Ino. Ihm wurde trotz der Hitze abwechselnd heiß und kalt.

»Er war heute Nachmittag bei Theda Brot kaufen und hat dort von ihr gehört, dass wir sehr erfolgreich ermitteln. Daraufhin hat er Theda sofort gefragt, ob wir Kapazitäten frei haben.«

»Wir sind keine Profis und haben deshalb keine Kapazitäten«, murrte Ino und setzte das letzte Wort mit seinen Fingern in Anführungszeichen. Das klang schon wieder alles furchtbar nach Stress. Er war nach dem letzten Mordfall davon ausgegangen, dass sich solche Ermittlungen nicht wiederholten. Immerhin war jetzt keiner tot.

»Und Theda hat dir dann davon erzählt, als du eben bei ihr das Brot eingekauft hast«, schlussfolgerte Ino.

»Jo, so sieht das aus. Hier hab ich mir seinen Namen aufgeschrieben.« Gerda zeigte auf einen Zettel. »Wir haben offenbar einen guten Leumund, wenn Adlige schon unsere Hilfe in Anspruch nehmen wollen.«

Nun wurde es Ino doch zu bunt. »Gerda! Wir haben nur den Mord am Kurdirektor aufgeklärt. Du tust gerade so, als wären wir Detektive. Von wegen, wir ermitteln erfolgreich!«

»Das ist eben, wie es ist. Morgen früh haben wir einen Termin mit Herrn von Walde in Hooksiel.«

Für Gerda war das Thema damit vom Tisch. Und Ino würde sich fügen müssen. Ob es ihm passte oder nicht.

2. Kapitel

Montag

1 Uhr

Falko von Walde sah sich um. Die Nacht war lau, er hatte eben noch einen Spaziergang am Meer gemacht und den Sternenhimmel bewundert. Er brauchte einen klaren Kopf, denn es war schon ein schwieriges Unterfangen, wenn man die eigene Frau beschatten lassen wollte. Nur sah er keine andere Möglichkeit.

Erst heute Morgen war sie wieder so flatterhaft gewesen und hatte mit dem Campingnachbarn angebandelt, obwohl der weiß Gott keine Augenweide war. Dicker Bauch, eine Glatze, die er zu übertünchen versuchte, indem er eine Haarsträhne nach vorn zog und an der Schläfe anklebte.

Falko schüttelte sich. An den Streit mit ihm im Watt erinnerte er sich nur ungern, weil er die Contenance verloren hatte, und das war immer schlecht. Man sollte sich im Griff haben. Aber er war ausgerastet.

Doch es ging nicht nur um diesen Kerl. Else war keine Frau von Traurigkeit, das kannte er schließlich. Nur wurde es für ihn mit zunehmendem Alter schwieriger, das auszuhalten.

Sie hatte momentan auf jeden Fall eine Affäre, und er wollte wissen, mit wem. Falko glaubte nicht, dass es der Campingnachbar war. Das war nur eine Laune seiner Frau gewesen, da war er sich nach dem Streit mit Else inzwischen sicher. Falko biss sich auf die Lippen. Es war so entwürdigend!

Seinetwegen konnte sie sich mit Klunkern behängen. Seinetwegen besaßen sie nicht nur die Eigentumswohnung am Bontekai in Wilhelmshaven, sondern auch weitere Immobilien. Seinetwegen war es möglich, dass ihr Sohn Frieder, der immerhin schon über dreißig war, noch nie richtig arbeiten musste, sondern noch in der Selbstfindungsphase stecken durfte und das auch auslebte.

Aber Falko wollte nicht weiter der Dukatenkacker sein, von dessen Geld sich die Gemahlin ein lustiges Leben machte, während sie ihm zugleich Hörner aufsetzte und sogar plante, ihn zu verlassen! Falko konnte die Augen vor dieser Tatsache nicht länger verschließen. Nicht, nachdem er diesen Brief gelesen hatte. Ja, er würde Else den Geldhahn abdrehen, sobald er herausfand, mit wem sie ihn betrog. Das hatte er seiner Frau am Morgen nach ihrem Techtelmechtel im Watt mit dem dicken Campingnachbarn in aller Deutlichkeit gesagt.

Er würde sie überführen und dann zum Teufel jagen. Keinen Cent würde sie mehr von ihm bekommen. Falko reichte es einfach.

Als er dann bei dieser rothaarigen Bäckerin im Laden gewesen war und gehört hatte, dass sie und ihre Mitstreiter so etwas wie Detektive waren, hatte er nicht widerstehen können und das Trio umgehend beauftragt. Gleich morgen wollten sie sich treffen. Geheim, in Hooksiel. Nicht dass Else davon etwas mitbekam.

Falko hatte den Campingplatz erreicht. Die Tore waren schon verschlossen, aber er hatte seine Chipkarte dabei, sodass er problemlos auf den Möwenschiss gelangte.

Er verspürte noch immer keine große Lust, zum Stellplatz zu gehen. Nach dem Streit im Watt war seine Frau mit ihrem Cabrio nach Wilhelmshaven in ihre Wohnung davongerauscht, und der Wohnwagen würde kalt und leer ohne sie sein.

Ja, verdammt, er liebte Else noch immer. Egal, was sie ihm alles angetan hatte. Egal, was er an ihrer Seite erdulden musste. Er wollte, dass sie blieb und ihn ebenfalls liebte.

Falko verlangsamte seinen Schritt. Inzwischen war er fast am Minigolfplatz angekommen. Nein, er konnte es nicht tun. Wie tief war er gesunken, dass er Else bespitzeln wollte! Er musste doch Manns genug sein, die Sache selbst mit ihr zu klären. Er wollte sie nicht verlieren, aber das, was er vorhatte, war ein so großer Vertrauensbruch, der durch nichts zu rechtfertigen war. Auch wenn er von großer Wut getrieben wurde und durchaus seine Gründe hatte. Bekäme sie es aber heraus und er hatte sich doch geirrt, gäbe es kein Zurück für sie beide.

Falko zückte das Handy und schrieb der Bäckerin, dass der Auftrag geplatzt war und er auf ihre Hilfe verzichten wollte. Sie hatten schließlich noch keinen Vertrag aufgesetzt, und so kam er noch locker aus der Nummer raus.

Danach ging es ihm besser. Er setzte sich auf den kleinen Zaun, der den Pool vom restlichen Campingplatz abgrenzte, und sah wieder zum Himmel. Dann zuckte er zusammen, weil er Schritte zu hören glaubte. Um diese Zeit waren wegen der Hitze noch einige der Camper unterwegs. Man schlief im Moment einfach schlecht. Warum aber beunruhigte ihn das Geräusch? Er ging wirklich mit den Nerven zu Fuß.

Falko hielt inne, als er ein Stöhnen hörte. Kam das vom Minigolfplatz, der direkt nebenan lag?

Er lauschte in die Dunkelheit. Ja, da war was.

Er betrat das Gelände, denn es hörte sich an, als hätte jemand große Schmerzen. »Hallo, ist da wer? Kann ich helfen?«, fragte er, erhielt aber keine Antwort.

Nicht dass jemand verletzt war! Falko versuchte, die Taschenlampenfunktion des Handys zu aktivieren und den Platz auszuleuchten, denn die kleinen Laternen auf der Anlage waren heruntergedimmt und spendeten nur wenig Licht.

Doch leider war die Funktion kaputt, er bekam die Lampe einfach nicht an.

»Hallo?«, rief er ein weiteres Mal.

Wieder kam als Antwort nur ein Stöhnen. Kurz hielt Falko inne, denn er wollte kein Liebespaar stören. Wie peinlich wäre das? Er war nämlich gar nicht mehr so sicher, dass es das Ächzen eines Verletzten war, und Lust auf eine Blamage hatte er nicht.

Aber es war nur die Stimme eines einzelnen Menschen, oder?

Falko beschlich plötzlich eine ungute Ahnung. Je länger er hier herumstand, desto mehr verdichtete sie sich. Etwas stimmte nicht. Er sollte besser von hier verschwinden. Falko war hin und her gerissen zwischen dem Gefühl, vielleicht helfen zu müssen, und der inneren Stimme, die ihm immer lauter zuraunte, er solle den Minigolfplatz, so schnell es ging, verlassen.

»Hallo?«, rief er noch einmal. Sollte jemandem etwas zugestoßen sein, konnte er schließlich nicht einfach so verschwinden. Es knackte hinter ihm. Falko drehte sich um – und im selben Moment knallte ihm etwas auf den Schädel. Er erkannte im Fallen das Gesicht seines Gegenübers.

Laut rief er aus: »Du?« Dann sackte er zusammen und spürte, wie ihm die Sinne schwanden. Er bemerkte noch, wie es warm aus seinem Kopf herauslief, wie das Leben mit jedem Tropfen Blut im Sand versickerte. Danach wurde es dunkel um ihn herum.

3. Kapitel

Montag

7 Uhr

Gerda schrak hoch, weil das Telefon schrillte. Es war Theda.

»Wir müssen sofort zum Möwenschiss! Ich habe schon eine Aushilfe für die Bäckerei kommen lassen«, schrillte ihre Stimme durchs Telefon.

Gerda rieb sich die Augen. »Warum?« Dass Theda immer so eine Welle machen musste!

»Ich habe ein komisches Gefühl«, krähte sie, so wie sie es immer tat, wenn sie nervös war oder sich aufregte.

»Wegen eines komischen Gefühls musst du mich doch nicht zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett klingeln!«, sagte Gerda vorwurfsvoll.

»Es ist schon nach sieben«, konterte Theda. »Also Zeit, aufzustehen. Ich habe heute Nacht eine eigenartige WhatsApp von unserem Klienten bekommen. Da stimmt was nicht. Da ist was passiert!«

Gerda brauchte kurz, um Theda folgen zu können. »Was stand denn in der Nachricht, und wann hast du sie bekommen?«, fragte sie.

»Ich habe sie doch eben erst gelesen, weil sie kam, als ich schon in tiefstem Schlummer lag. Er schreibt, er will uns doch absagen«, berichtete Theda.

»Was ist denn daran komisch? Es ist schade, aber das kann man nicht ändern. Herr von Walde hat es sich vermutlich anders überlegt«, meinte Gerda. Theda ließ jedoch nicht locker.

»Ich weiß, was du jetzt denkst. Nur ist es weder ein komisches Gefühl noch eine merkwürdige Theorie, sondern eher eine Art Ermittlernase, also Instinkt. Den braucht man als Detektivin, und ich habe ihn.«

»Und dieser Instinkt sagt dir, wir sollten zum Möwenschiss fahren? Und zwar sofort?«

»Genau. Unser Klient hat nicht freiwillig abgesagt, da ist etwas faul. Ich bin in fünf Minuten mit meinem Auto bei dir.«

»Ich habe um 9 Uhr Fahrstunde«, wandte Gerda ein. »Die kann ich nicht schwänzen, nur weil du ein Ermittlerfeeling hast und weil unser Klient seine Meinung geändert hat.«

»Du musst«, beharrte Theda. »Ich fahre jetzt dorthin. Notfalls allein.«

Das wollte Gerda nun auch nicht. Am Ende verpasste sie etwas, weil Theda sich doch nicht irrte. »Ich begleite dich. Aber was ist mit Ino?« Diese Frage durchfuhr Gerda mit großem Schreck. »Den kriege ich um diese Zeit nie wach, und selbst wenn: Sollte sich dein Ermittlergefühl getäuscht haben, hab ich den schlecht gelaunten Brummbären an den Backen.«

»Lass ihn, wo er ist«, sagte Theda. »Falls ich mich doch geirrt habe, wovon allerdings nicht auszugehen ist, haben wir keine schlafenden Hunde geweckt.«

Keinen schlafenden Ino, korrigierte Gerda in Gedanken. Sie fand die Idee, ihn aus allem rauszuhalten, aber grandios. Er hatte gestern sehr deutlich gemacht, was er von ihren neuen Ambitionen hielt.

»Beeil dich«, sagte Theda. »Bis gleich!«

Gerda kletterte aus dem Bett und reckte ihre müden Knochen, die bedenklich knackten. Dann ging sie ins Bad, putzte sich rasch die Zähne, zupfte ihre Dauerwelle zu einer ordentlichen Frisur und schlüpfte in den leichten, hellblauen Sommerfaltenrock, die farblich passend getupfte Bluse und ihre Sandalen.

Sicher war sie zurück, bevor ihre Fahrstunde begann, und konnte womöglich zuvor mit Ino frühstücken. So richtig glaubte sie nicht an Thedas merkwürdiges Gespür. Aber es war besser, sie behielt alles unter Kontrolle und überließ ihrer Freundin das Feld nicht allein.

Kaum war Gerda angezogen, hupte es draußen. Theda hatte keine Zeit verstreichen lassen. Das war typisch für sie. Immer diese Hektik!

Theda stieß die Beifahrertür mit einem Ruck auf, als Gerda aus der Tür trat. Drüben verließen gerade die beiden älteren Kinder van der Fisks das Grundstück und trotteten zur Bushaltestelle.

»Wir fahren mal nach Jever!«, riefen sie im Chor. »Es sind Ferien!«

Gerda winkte freundlich und wollte schon einsteigen, als ihr einfiel, dass Ino sich Sorgen machen könnte, wenn sie einfach so verschwand. Ja, er war ein Muffel, aber er hatte gerade Gerda gegenüber sehr viele liebenswerte Seiten, und sie wollte ihn nicht verärgern. Sie trafen sich immer zum Frühstück – und was war, wenn auf dem Möwenschiss doch alles länger dauerte? Das Risiko wollte Gerda nicht eingehen.

»Warte kurz!«, rief sie Theda zu, die genervt mit den Augen rollte. »Ich stecke Ino eine Notiz in den Briefkasten. Die sieht er, wenn er die Zeitung reinholt.«

Sie rannte zurück ins Haus und schrieb einen Zettel für ihn. Dann lief sie zur Mühle und steckte das Geschriebene in den Briefkasten. Erst danach war sie zufrieden und konnte zu Theda in den Wagen klettern.

»Was glaubst du denn, was bei Herrn von Walde passiert ist?«, fragte Gerda, als Theda mit durchdrehenden Reifen anfuhr und sie fest in den Sitz gepresst wurde. »Warum er abgesagt haben könnte?«

»Keine Ahnung. Irgendwas. Vielleicht eine Morddrohung? Oder ein Todesfall?«

Dass Theda immer gleich so übertreiben musste! Warum sollte man ihren Auftraggeber umbringen wollen? Bloß weil er glaubte, seine Frau hätte einen anderen? Es würde sich gleich schnell aufklären.

»Du bist also der Ansicht, dass er eine Leiche gefunden hat? Oder meinst du, er ist selbst hingerichtet worden und hat kurz vorher noch den Auftrag abgesagt, damit wir uns nicht umsonst zu ihm bemühen müssen?« Gerda versuchte, nicht allzu spöttisch zu wirken.

Ihr Magen knurrte. Sie hätte lieber doch etwas frühstücken sollen. Die fünf Minuten hätte Theda auch warten können. Wenn es einen Verstorbenen gab, was Gerda für sehr unwahrscheinlich hielt, war es überflüssig, sich zu beeilen. Tote waren tot, und man konnte schließlich nichts verpassen, weil der Zustand endgültig war. Gab es jedoch keinen Toten, konnten sie sich ebenfalls Zeit lassen.

»Das weiß ich alles nicht«, wehrte Theda ab und schnitt eine Kurve so heftig, dass Gerda gegen die Tür kippte. »Aber es kann doch sein, dass ihm tatsächlich etwas zugestoßen ist. Ich spüre ein negatives Karma. Sehr negativ!«

»Bist du jetzt auf dem Buddha-Trip wie dieser andere Kommissar, der Fürchtenicht abgelöst hat? Meiners heißt der. Marius Meiners. Der hatte doch sein ganzes Büro vollgestellt mit so einem merkwürdigen Kram.«

»Bin auf keinem Trip«, widersprach Theda. »Ich habe eine Ermittlerahnung. Das ist etwas völlig anderes, meine Liebe.«

Gerda suchte nach der Packung Hustenbonbons, die sie in ihrer Handtasche verstaut hatte. Sie kaufte sie immer in der Bonbonmanufaktur, die sich seit Kurzem nach dänischem Vorbild in Horumersiel angesiedelt hatte und die besten Bonbons überhaupt herstellte. Sie liebte die Nordseehustenmischung, und jedes Bonbon war zudem in einem wunderbar gestalteten gelben Papier mit dem Wangerooger Leuchtturm darauf eingewickelt. Das Lutschen würde ihren Blutzuckerspiegel vorerst anheben. In ihrem Alter musste man schließlich auf sich achtgeben.

Theda setzte den Blinker und bog zum Möwenschiss ab. Sie parkte schwungvoll ein. Es war ruhig hier, die Bewohner des Campingplatzes schliefen noch. Urlauber standen meist nicht morgens um sieben auf. Nur ein einsamer Jogger lief an ihnen vorbei, der sie aber nicht zu bemerken schien, weil er Stöpsel in den Ohren hatte und den Kopf gesenkt hielt. Weiter hinten führte ein älterer Herr seinen schwarzen Pudel spazieren.

Auch die Rezeption mit dem kleinen angeschlossenen Laden war noch geschlossen. Ein Liegestuhl stand zusammengeklappt an der Hauswand des Holzhauses.

»Theda, das Tor ist noch zu. Wir müssten darüberklettern, weil wir keine Chipkarte haben«, sagte Gerda. »Das war es dann wohl.«

Theda sah sie mit abschätzendem Blick an. »Nix da. Das war es natürlich nicht!«

»Was hast du vor?«, fragte Gerda mit argwöhnischer Stimme.

»Du bist mit deinem Rock in der Tat ungünstig gekleidet, meine Gute, aber wat mutt, dat mutt. Wir springen. Ich bin erst beruhigt, wenn ich Klarheit habe.«

Gerda schüttelte den Kopf. »Du willst über das Tor klettern? Es ist fast genauso hoch wie du selbst! Wir brechen uns die Knochen. Denk bitte dran, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind.«

»Nicht die Jüngsten, aber jung geblieben«, gab Theda ungerührt zurück.

»Da können wir in diesem Moment nicht rein«, beharrte Gerda.

Theda ignorierte Gerdas Einwände. »Komm, gib mir Hilfestellung. Die Räuberleiter, so wie früher! Ich lass dich dann von innen ein. Das funktioniert vermutlich, weil sie die Leute hier bestimmt nicht einsperren. Ist ja ein Campingplatz, kein Knast.«

Gerda runzelte die Stirn, gab dann aber nach. Zum einen hatte sie selbst keinen besseren Plan, zum anderen wären sie umsonst hergekommen, und schlussendlich würde Theda ohnehin keine Ruhe geben, bis sie auf dem Möwenschiss stand. Gerda legte also die Hände zusammen und gab Theda Hilfestellung. Sie trat mit dem einen Fuß hinein, mit dem anderen erreichte sie schon den Knauf des Tores. »Nun gib mir Schwung!« Gerda schubste Theda an, und als die sich mit dem Oberkörper oben über die Torkante legte, schob sie den Po ein Stück aufwärts, bis es Theda gelang, rittlings obenauf zu sitzen und sich dann an der anderen Seite wieder hinuntergleiten zu lassen. Theda grinste breit. »Das wäre geschafft. Jetzt mach ich dir das Tor auf!« Sie versuchte es, aber so einfach war das nicht. Offenbar brauchte man zu den Ruhezeiten tatsächlich auch zum Verlassen des Campingplatzes eine Chipkarte.

Zum Glück kam in dem Moment ein anderer Jogger zurück.

»Ich habe mich ausgesperrt, war schon am Strand spazieren und habe meine Karte vergessen«, sagte Gerda treuherzig.

Auch dieser Jogger war durch seine Stöpsel im Ohr abgelenkt und hinterfragte zum Glück nicht, wie sie denn dann vom Möwenschiss runtergekommen war. Er hielt Gerda vor sich hin hüpfend das Tor offen und joggte dann davon.

»Da sind Überwachungskameras!«, wies Gerda Theda auf das Gerät an der Schranke hin. »Das ist Einbruch, was wir hier machen!«

»Nun sind wir schon auf dem Gelände, und du bist von dem Jogger eingelassen worden. Wenn überhaupt, dann zeigt Sir Archie nur mich an, aber er wird uns zwei alten Damen wohl kaum verhaften lassen, weil wir die Öffnungszeiten nicht abwarten konnten. Normalerweise öffnet das Tor um halb acht, und wenn Sir Archie verschlafen hat, darf das nicht unser Problem sein.« Theda kicherte. »Notfalls schnack ich eine Runde mit ihm, wenn er sein Brot bei mir kauft, und dann ist alles wieder gut. Nun komm schon, du bist doch sonst auch keine Schissbüx!«

»Wohin willst du denn überhaupt?«, fragte Gerda immer noch zögernd.

»Na zu Falko von Walde, wohin sonst? Er haust im Kastanienweg. Die Adresse hat er mir gestern im Laden gegeben.« Theda lief los. »Er wollte sich zwar mit uns an einem neutralen Ort treffen, damit man uns nicht zusammen sieht, aber besondere Vorkommnisse erfordern besondere Maßnahmen, oder was meinst du?«

Gerda folgte ihr. »Und wo soll das sein? Sein Camping-Zuhause?« Sie war zuvor noch nie auf einem Campingplatz gewesen. Woher sollte sie wissen, dass es hier Platznummern und sogar Straßennamen gab?

»Da, wo Kastanien stehen!«, sagte Theda.

Nur befand sich auf dem gesamten Möwenschiss kein einziger größerer Baum, weil alles erst neu angepflanzt worden war. Eigentlich war der Campingplatz eine einzige große Grünfläche. Überall sprießten lediglich kniehohe Hecken und dünne Baumstämmchen, die für den Schutz vor dem Nordseewind von Pflöcken und dicken Bändern gehalten wurden. Allerdings musste man genau hinsehen, um zu erkennen, um welche Sorte es sich handelte. Wuchtige Kastanien mit ausladenden Ästen und den typisch gefächerten Blättern, wie Theda es vermutlich erwartet hatte, waren auf dem Campingplatz jedenfalls nicht zu finden.

Theda ließ sich aber nicht beirren und studierte im Vorbeieilen die Straßenschilder, die allesamt aus Holz hergestellt und mit entsprechenden Symbolen gestaltet waren.

Schließlich kamen sie an eine Abzweigung mit dem richtigen Namen, und kurz darauf standen sie vor der Parzelle mit der Nummer, die Falko von Walde Theda gestern genannt hatte. Alles war picobello gepflegt und der Wohnwagen samt Vorzelt wie neu.

Theda betrat den Stellplatz. Das Vorzelt stand offen, die Tür des Wohnwagens war aber verschlossen. Es bestand also die Möglichkeit, dass die von Waldes sich drinnen aufhielten. Theda bedeutete Gerda, stehen zu bleiben, und warf einen Blick durch die Fenster, denn kein einziges Rollo war zugezogen.

Stirnrunzelnd kam sie zurück. »Keiner da. Es sieht jedoch so aus, als hätten die von Waldes die Parzelle eben erst verlassen, findest du nicht?«

Gerda deutete zum Tisch im Vorzelt und nickte. »Stimmt. Guck mal, da steht noch ein Bierglas.«

Theda schaute sich das Glas näher an. »Der Bierrest ist schal, der Schaum eingetrocknet. Schätze, das Glas steht da seit gestern Abend. Zumal ein so nobler Herr bestimmt am frühen Morgen noch kein Bier trinkt. Und – es ist nur ein Glas. Ich schlussfolgere: Seine Frau ist vakant.«

Gerda runzelte die Stirn. »Sie ist nicht da. Rede vernünftig.« Sie betrachtete alles prüfend. »Komisch, dass das Glas hier herumsteht, passt nicht zum Gesamteindruck. Guck dich bitte mal um! Alles ist fast pedantisch aufgeräumt, und ein Mensch, der so lebt, lässt sein Bierglas nicht einfach draußen stehen. Er würde es wegräumen, womöglich sogar abspülen. Es sei denn, er stand arg unter Druck oder war in Eile. Vielleicht ist seine Frau weggelaufen?«

»Oder er war völlig durch den Wind. Immerhin betrügt sie ihn«, meinte Theda.

»Ich gebe dir zumindest in einem recht: Hier stimmt was nicht.«

Theda nickte. »Ich fasse mit meinem Ermittlerblick zusammen: Das Vorzelt ist akkurat aufgeräumt. Das Tischtuch passt farblich zu den Vorhängen. Die Blumen sind frisch. Die Frau vakant … äh, wech. Und …« – sie bückte sich und untersuchte den Boden – »der Vorzeltteppich ist festgeschraubt, damit er sich nicht wellt. So etwas machen nur Pedanten. Das hat mit Camping nichts mehr zu tun, würde ich sagen.«

Gerda öffnete derweil den Kühlschrank im Vorzelt und kommentierte weiter: »Millimetergenau einsortierte Flaschen.« Ihr Blick schweifte zu den Nachbarparzellen. Dort schienen noch alle zu schlafen. Links nebenan war die Markise eingefahren, die Tür verschlossen und die Rollos heruntergelassen. Dasselbe Bild bot sich auf der rechten Seite, und auch auf den Parzellen dahinter und der einen gegenüber war es ruhig. Die anderen waren frei.

Theda schüttelte den Kopf. »Ich hab kein gutes Gefühl. Überhaupt kein gutes Gefühl«, flüsterte sie. Sie fasste sich an die Stirn. »Bestimmt ist er selbst losgezogen, um das untreue Weib in flagranti zu ertappen. Er hätte das Ermitteln lieber uns Professionellen überlassen sollen.«

»Theda!« Gerda stieß sie an. »Professionelle sind Damen in einem … gewissen Gewerbe.«

»Egal, meine Liebe, hier ist der gute Mann jedenfalls nicht. Dann lass uns wieder gehen. Er wird sich schon bei mir melden, falls er unsere Hilfe doch noch benötigt, hoffe ich. Immerhin weiß er, wo er mich finden kann.«

Gerda stimmte ihr zu, und sie machten sich auf den Weg zurück. Gerade als sie auf dem Hauptweg waren und linksherum zur Rezeption gehen wollten, hielt Theda an und wies auf ein Schild.

»Guck mal, der Möwenschiss verfügt sogar über einen Pool und eine Minigolfanlage.«

»Ja und?«, fragte Gerda. Sie wollte nach Hause, ihr reichte es, denn ihr Magen knurrte ungehalten.

»Es kann doch sein, dass unser Herr von Walde derzeit ein Bad nimmt. Er sah recht sportlich aus.«

»Na gut, gehen wir nachsehen«, gab Gerda nach. Auf die fünf Minuten kam es auch nicht mehr an. Sie wandten sich nach rechts und gelangten am Ende des Weges zur Poolanlage, die noch geschlossen war. Auf der Minigolfanlage spazierte eine junge Frau herum.

»Pech gehabt. Na ja, hätte ja sein können.« Theda zuckte mit den Schultern. Sie kehrten um, hielten aber erneut inne und zuckten zusammen, als hinter ihnen ein greller Schrei ertönte.

»Das kam aus Richtung des Pools!«, rief Gerda. »Was ist denn da wohl passiert?«

»Nichts wie hin!« Theda stürzte los, und Gerda folgte ihr.

Inzwischen waren auch einige Camper wach und sahen ihnen verwundert hinterher. Ein paar saßen verschlafen vor ihren Wohnwagen, Zelten oder Wohnmobilen und rauchten eine Zigarette zu einem Becher Kaffee. Andere hatten sich ein Handtuch um die Schultern gelegt und wanderten mit ihren Kulturbeuteln zum Waschhaus.

Der Schrei hatte sie zwar auch kurz irritiert, aber offenbar kümmerten sie sich nicht weiter darum. Auf einem Campingplatz war eben immer Leben, und keiner dachte an etwas Böses. Sie fühlten sich sicher auf dem Möwenschiss, das war unübersehbar.

Auf dem neben der Poolanlage liegenden Minigolfplatz hockte die junge Frau von eben am Fuß einer Laterne. Sie atmete schwer und zitterte am ganzen Körper.

»Um Himmels willen, was ist passiert?« Gerda eilte zu ihr und nahm sie schützend in die Arme. Sie wartete einen Augenblick, ehe sie die Frau ein Stück von sich wegschob und sie fragte: »Haben Sie sich etwas getan?«

Die Frau sah sie mit großen Augen an. »Mit mir ist nichts. Aber da, da liegt einer! Und der sieht nicht aus, als wäre er noch lebendig. Ich trau mich aber nicht näher ran und bin gleich weggerannt.« Wieder überkam die Frau ein Schaudern.

»Wir kümmern uns darum, mien Deern«, sagte Gerda sofort und lief beherzt hinter Theda her, die sich schon zur ersten Minigolfbahn aufgemacht hatte.

Dann sahen sie, was die Frau meinte. Hinter einem kleinen Busch lugten zwei haarige Beine hervor. Sie waren merkwürdig verdreht.

Als Theda an dem Busch vorbeischaute, erkannte sie, was noch dazugehörte. Ein sportlicher, aber nicht mehr ganz junger Mann. Er lag halbseitig auf dem Bauch. Seine Gesichtszüge waren erschlafft, und über Stirn und Kopfseite zog sich eine längliche Wunde. Das Blut war schon verkrustet.

»Oje, Gerda!«, stieß Theda hervor. »Das ist unser Klient. So ein Mist aber auch.«

Gerda stieß sie beiseite und schaute ihn von Nahem an. »Der ist mausetot.«

Theda fingerte schon das Handy aus der Hosentasche. »Da müssen wir wohl die Polizei rufen.« Sie wollte die 110 wählen, aber sie hatte hier kein Netz.

»Das kommt davon, wenn man einen solchen Wald-und-Wiesen-Anbieter hat«, meckerte Gerda. Sie suchte in ihrer Tasche, aber als sie das Smartphone hervorholte, sah sie, dass der Akku leer war. Stiekum steckte sie es zurück. Schließlich konnte Theda nichts dafür, dass in solchen Fällen auch ein Notruf nicht möglich war, weil ein paar Anbieter diesen Service rückgängig gemacht hatten.

»Es liegt daran, dass wir hier tatsächlich ein echtes Funkloch haben. Ist eben so auf dem Land! Ich gehe schnell zu Sir Archie«, sagte Theda. »Er muss das übernehmen und die Polizei rufen. Harrijasses nej, nun haben wir doch schon wieder einen Mord! Dabei wollten wir doch nur beschatten!«

4. Kapitel

Montag

7:15 Uhr

Traugott Fürchtenicht, Erster Polizeihauptkommissar im Ruhestand, trat aus seinem Wohnwagen, legte die Hand ins Kreuz und schaute zum Himmel. Ihnen stand schon wieder ein sehr heißer Tag bevor. Allerdings zeigten sich erste Schäfchenwolken, was meist einen Wetterumschwung ankündigte. Nur war er nicht sicher, wie lange es sich noch hinziehen würde. Er sehnte sich nach Regen, nach etwas Abkühlung.

Vorerst galt es allerdings, sich gegen die Sonne zu schützen, die schon jetzt um kurz nach sieben auf seinen Wohnwagen knallte. Schließlich wollte er gleich in Ruhe frühstücken, ohne nach wenigen Minuten klitschnass geschwitzt zu sein.

»Ich fahre erst mal die Markise aus«, murmelte Traugott. Er hoffte, dieser Tag würde friedlicher verlaufen als der vorherige. Die Sache mit Falko von Walde und seinem mannstollen Weib war sehr unerfreulich gewesen, und Traugott war noch immer entsprechend sauer.

Da hatte er auf dem nagelneuen Campingplatz Möwenschiss unter dem einzigen, winzigen Baum einen wunderbaren Saison-Stellplatz ergattert, damit er nach über 40 Jahren Polizeidienst und nach dem plötzlichen Tod seiner Katze endlich Ruhe hatte und seine Wochenenden an der frischen Luft verbringen konnte – und was passierte?

Seit Tagen baggerte ihn die Nachbarin zur Rechten, Else von Walde, an. Es war unübersehbar, dass er nur mit dem Finger hätte zu schnippen brauchen – sie war paarungsbereit.

Aber er wollte nicht. Zwar war Traugott prinzipiell nicht abgeneigt, eine Frau kennenzulernen, aber a) keine, die verheiratet war, und b) keine, die so war wie Else von Walde. Beides versprach Zündstoff, und darauf konnte er getrost verzichten. Nicht dass er gleich nach seiner Pensionierung einen Herzkasper bekam, weil er zu viel Stress hatte. Ruhe, absolute Ruhe war sein oberstes Gebot. Und er hatte nicht vor, das zu brechen.

Gestern im Watt war bereits alles schiefgegangen und die Situation eskaliert. Das hatte ihn für die nächsten Tage genug aufgeregt.

Eigentlich war Traugott ganz sinnig durch den Schlick gewatet und hatte den Anblick des Wattenmeeres und die Hügelchen der Wattwürmer samt Möwengeschrei genossen. Da kam plötzlich diese Krähe von Campingnachbarin angewackelt. Natürlich im Bikini mit Pareo um die Hüften. Sogar im Watt trug die Frau ihre dicken Klunker! Und was dann? Ihr Ehemann Falko war ihr nachgegangen und hatte Traugott tatsächlich unterstellt, dass er mit diesem Schreckgespenst eine Affäre hatte und sie mitten im Schlick ein Rendezvous hatten.

Kein Wort hatte Falko ihm geglaubt, als er alles von sich wies, und einen handfesten Streit begonnen. Traugott war ausgerutscht und auf den Allerwertesten gefallen. Da prangte nun ein mächtig großer blauer Fleck, der arg schmerzte. Traugott war dankbar dafür, kein FKK-Anhänger zu sein.

Zu allem Überfluss hatte er nach Falkos Angriff gestunken wie ein Eber, der sich im Schlamm gewälzt hatte, und seine karierten Boxershorts klebten unangenehm an seinen Oberschenkeln. Die eiskalte Stranddusche war seine Rettung gewesen. Traugott schüttelte sich. Es war hoffentlich vorbei!

Er schaute in Richtung Hauptweg. Auf dem Campingplatz war so früh am Morgen schon eine Menge los. Die Leute wirkten irgendwie gehetzt, ein wenig aufgeregt. Nun, was kümmerte ihn das? Er war im Ruhestand!

Traugott klebte seine einzige längere Haarsträhne mit etwas Spucke vorn am Kopf an. Die Pomade lag in seinem Kulturbeutel, aber er wollte nicht unfrisiert über den Platz laufen. Auch nicht als Camper. Vielleicht sollte er endlich zu seiner Halbglatze stehen. Jetzt, wo er in Pension war. Immerhin trat er gerade in eine neue Lebensphase ein, und da war eine Typveränderung nicht ungewöhnlich. Ein bisschen lächerlich war es schon, sich das Haar gegen den Strich zu kämmen, um auf diese Weise zu vertuschen, dass das Altern auch vor Kommissaren nicht haltmachte. Aber nun war er ja keiner mehr.

Traugott stand unschlüssig vor dem Wohnwagen. Sollte er duschen gehen oder sich doch erst um Schatten vor dem Wohnwagen bemühen? Das würde wohl das Beste sein.

Traugott schaute kurz zur Nachbarparzelle, wo Falko von Walde seinen Tabbert stehen hatte, aber da war alles ruhig. Genau wie schräg gegenüber bei Jörg Minkner und zwei Plätze weiter rechts bei Wilko Kramann. Beide wohnten dort allein in ihren Wohnwagen und waren wie er Single, wie man das so schön nannte. Die anderen Parzellen ringsum waren nicht belegt, und das gefiel Traugott. Links kein Nachbar, und direkt gegenüber waren ebenfalls zwei Stellplätze frei. Seinetwegen konnte das so bleiben. Der Kastanienweg war allerdings sehr männerlastig, vielleicht war das für Frauen wie Else von Walde eher schädlich, weil sie ihr Jagdgebiet so als gut gefüllt sah.

Traugott freute sich darauf, gleich ganz in Ruhe seinen Kaffee zu trinken und das letzte Stück Rosinenbrot vom Vortag essen zu können. Auf Brötchen verspürte er heute keine Lust, denn die hätte er bei Sir Archie besorgen müssen. Und wenn er Pech hatte, würde ihm dort Falko über den Weg laufen. Den aber wollte er nicht sehen.

Traugott schlurfte zur Stauraumklappe des Wohnwagens, um die Markisenkurbel herauszunehmen. Doch sie lag nicht in der Halterung. Er schüttelte missmutig den Kopf. Wo zum Teufel hatte er sie gestern hingetan? War er wegen des Streits so durcheinander gewesen, dass er sie verlegt hatte?

Traugott steckte den Kopf in den Stauraum und fluchte, weil sein Kreuz sofort streikte und sich der blaue Fleck beim Bücken bemerkbar machte. Er saß genau auf seinem Gesäßmuskel, wirklich unangenehm.

Trotzdem wühlte er im Staubereich herum, aber die Kurbel lag dort nicht. Nicht hinter der Schuhkiste, nicht auf der anderen Seite. Traugott zog sich aus der Öffnung zurück und stieß sich dabei an der Kante heftig den Kopf.

»Mann, ich will doch nur Schatten!«, fluchte er und schaute, sich den Kopf reibend, ob er die Kurbel gestern draußen an der Markise vergessen hatte. Doch auch dort: nichts!

»Kurbelklau«, murmelte er schließlich. »Das hatte ich in meiner Laufbahn noch nie. Und ich hatte vieles. Welch ein merkwürdiges Delikt.«

Er umrundete den Wohnwagen und sah vorsichtshalber nach, ob ein Scherzkeks die Kurbel irgendwo ins Gras geworfen hatte, aber er wurde nicht fündig. Das Ding war weg.

»Wer klaut eine Markisenkurbel?«, fragte Traugott sich wieder laut. Er konnte es einfach nicht lassen, die Situation gründlich zu analysieren. »Was soll einer ohne Wohnwagen oder Wohnmobil damit? Fazit: Es muss wer sein, der damit etwas anfangen kann. Also ein Camper. Jemand, der seine eigene Kurbel zu Hause vergessen hat.« Nur würde jeder anständige Mitbürger fragen, ob er die Kurbel ausborgen dürfte.

Dann durchfuhr es Traugott siedend heiß.

Der Kurbelklauer war kein anständiger Mitbürger und würde die Kurbel mitnichten nach Gebrauch wieder zurückbringen. Dieser Dieb war eindeutig kriminell und hatte kein Gewissen.

Was war, wenn der Dieb sich nicht nur am Stauraum zu schaffen gemacht hatte, sondern auch in den Wohnwagen eingebrochen war, während er schlief?

Traugott hastete ins Innere seines Domizils und schaute sich hektisch um. Seine Brille befand sich auf dem Tisch. Das Portemonnaie lag ebenfalls an Ort und Stelle und war nicht ausgeräumt. Sein mit Nieten besetzter Gürtel, den er zwar nie trug, der für ihn aber einen ideellen Wert darstellte, war auch noch da. Genau wie die Essensvorräte.

Kein Mundraub. Kein Schmuckdiebstahl und kein Delikt im Bereich der Entnahme von Wertgegenständen, fasste er die Sachlage für sich gedanklich zusammen. Nur Kurbelklau.

Warum beruhigte ihn das alles trotzdem nicht? Traugott beschlich eine düstere Vorahnung, dass mit dem Streit im Watt eine böse Welle losgetreten worden war, die ihn nachhaltig in den nächsten Wochen an seiner Ruhe hindern würde. Dazu passte auch, dass seine Kurbel nicht dort lag, wo sie hingehörte.

Er setzte sich auf den Campingstuhl und starrte auf den Boden. Der Dieb stammte mit großer Wahrscheinlichkeit vom Möwenschiss, denn in der Nacht kamen Fremde nicht auf das Gelände.

Er schüttelte den Kopf. Seine Theorie hakte. Er hatte die Markise vor seinem Spaziergang zum Strand eingefahren, und da waren die Tore noch geöffnet gewesen. Klar musste man sich anmelden, aber das tat nicht jeder, und nicht jeder wurde gesehen, wenn er den Möwenschiss betrat.

»Trotzdem will ich mal an das Gute im Menschen glauben«, murmelte er, »will hoffen, der Dieb bringt mir gleich die Kurbel zurück, und alles löst sich in Wohlgefallen auf.«

Traugott ahnte jedoch, dass er sich selbst etwas vormachte. Und als über ihm eine Krähe ihren krächzenden Ruf erschallen ließ, war er fast sicher, dass es so war.

Auf Kaffee verspürte Traugott nun keine Lust mehr. Er musste erst den Diebstahl bei Sir Archie melden und deshalb leider doch zur Rezeption gehen. Je eher, desto besser. Aber nicht mit ungeputzten Zähnen. So etwas tat man einfach nicht.

Traugott griff nach dem Kulturbeutel, den er in der kleinen Nasszelle im Wohnwagen deponiert hatte, und nahm das Handtuch draußen von der Wäschespinne, die sich auf der Achse des Wohnwagens befand. Anschließend machte er sich auf den Weg zum Waschhaus, das hochmodern konzipiert war, so wie es sich ein Hygienefanatiker nur wünschen konnte. Nirgendwo musste man zum Öffnen der Türen einen Hebel oder Drücker bedienen. Alles ging vollautomatisch. Sogar die Armaturen spuckten per Sensor ihren Wasserstrahl in warm oder kalt aus, wechselnd in den Farben Rot oder Lila.

Einziger Wermutstropfen: Es gab einfach zu wenige Duschen, wenn der Ansturm groß war. Deshalb hatte der Möwenschiss auch nur drei Sterne in der Campingbewertung bekommen.