Der Name der Finsternis - Franz Binder - E-Book

Der Name der Finsternis E-Book

Franz Binder

4,8
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Sekte, die nach Weltherrschaft strebt, ein Tagebuch, das brisante Wahrheiten über die Entstehung dieser religiösen Gemeinschaft enthüllt, ein mysteriöses Attentat auf den »Mahaguru«, ein geheimnisvolles steinernes Siegel und eine dämonische Macht, die den Namen der Finsternis benutzt, um nach Jahrtausenden zurückzukehren auf die Erde. Dieser spannende Roman greift ein hochaktuelles Thema auf und führt zugleich in eine magische Welt schicksalhafter Verstrickungen, die zurückreichen zu den versunkenen Kulturen von Atlantis und Ägypten. »Ein packender Sekten-Thriller, eine fesselnde Reise in eine Welt magischer Geheimnisse.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 810

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Franz Binder

Der Nameder Finsternis

Roman

Die in diesem Roman beschriebene Organisation sowie alle Personen und Ereignisse sind fiktiv. Sie stellen nicht eine tatsächlich existierende Organisation oder tatsächlich lebende oder tote Personen dar.

Artikel, Buchbeiträge und anderes Material über unterschiedliche Vereinigungen sowie persönliche Berichte und Erlebnisse von Menschen mit diversen Organisationen dienten lediglich als Anregung zu diesem Roman, wurden aber bewusst verfremdet, vermischt und mit völlig frei erfundenen Passagen verbunden. Es geht in diesem Buch nicht darum, bestimmte Organisationen, Personen oder Geschehnisse wirklichkeitsgemäß darzustellen, sondern den Missbrauch spirituellen Gedankengutes in einer fiktiven Romanhandlung zu thematisieren.

Öffnet eure Tore, die geheim sind, schaut das Fleisch, das eure Finsternis enthüllt!

Das Amduat Zweite Stunde

Prolog

Es ist mir eine besondere Ehre, zum ersten Mal in meiner Funktion als Lirep, als Repräsentant der Liga, vor den Absolventen dieser Akademie zu sprechen. Wenn ich in die Gesichter der jungen Damen und Herren blicke, die heute Abend geehrt werden, erfüllt mich Stolz, denn ich sehe in ihnen die Zukunft der Liga. Es sind die Gesichter der künftigen Führerschaft der Liga, die Gesichter der Anwärter auf die hohen Stufen der Einweihung. Sie sind lebender Beweis für die kraftvolle Vision der Mahagurus, welche die Liga zur heutigen, weltumspannenden Blüte führte, zu einer Macht, die unseren Planeten vor dem Schicksal geistiger und materieller Zerstörung retten wird. Noch liegt viel vor uns, um die Vision der uralten Adepten ganz zu erfüllen, noch gibt es viel zu tun für alle hingebungsvollen Atmas. In unserer jungen Elite aber spüre ich die Kraft, dies zu vollbringen. Mit besonderer Freude erfüllt mich die Erkenntnis, dass die Vision einer Liga-Weltkultur sich bereits verwirklicht hat in dieser Generation. Was vor Jahren noch getrennt schien durch die Verschiedenheit von Sprachen, Religionen und Kulturen, ist zu einem geworden, denn ich sehe das gleiche Strahlen von Begeisterung und Hingabe auf den Gesichtern der Liga-Studenten aus Europa und Amerika, aus Afrika, Australien und Asien. In ihren eigenen Kreisen umfasst die Liga bereits die ganze Welt. Die Vision der Spiritualisierung des Planeten ist innerhalb der Liga längst Realität geworden. Dies war nicht immer selbstverständlich, drohte sogar zu scheitern, doch nun, da die Liga wahrhaftig von einer gebündelten, zielgerichteten Kraft durchdrungen ist, wird ihre Kultur ausstrahlen auf alle Länder und Menschen dieser Erde, wie es im Buch der Erleuchtung prophezeit ist. Die unterschiedlichen Ausdrucks­formen der Wahrheit, wie sie in den Religionen der Welt bruchstückhaft vorhanden sind, werden zur einen, ursprünglichen Wahrheit zurückfinden, zur Wahrheit des Mahaguru und des Hju. Die Liga vollendet den entscheidenden Schritt in der Evolution der Menschheit, die Spiritualisierung unseres Heimatplaneten, die Lösung seiner aus Unwissenheit entstandenen Probleme, das Ende von geistiger Unterdrückung in einer neuen, wahrhaft menschlichen Ära von Freiheit, Liebe und individueller Selbstverwirklichung. Was in den Anfangsjahren der Liga noch vermessen schien, was attackiert wurde von jenen, denen es nicht um geistigen Fortschritt, sondern um weltliche Macht zu tun ist, und was allen Hindernissen zum Trotz zur mächtigsten geistigen Kraft auf diesem Planeten emporwächst, wird seine Vollendung finden durch die Generationen, die kommen werden, durch die wahren Liga-Menschen, die an Akademien wie dieser für ihre Bestimmung erzogen werden. Uns allen aber ist bewusst, dass die Macht der Liga nicht aus weltlicher Stärke stammt, sondern einzig aus der Allmacht des Hju, das uns durch die Gnade des Mahaguru offenbart wird. In einer Epoche der Veränderung, in der die Menschheit vor der Entscheidung steht, ob sie ihr Wissen zur eigenen Zerstörung missbrauchen oder zum Schritt in ein goldenes Zeitalter von Frieden und Weisheit nutzen will, trat die reine, unverfälschte Wahrheit des Hju durch die Liga neu hervor, der Entscheidung der uralten Adepten folgend, die lange auf diesen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit gewartet haben. Wir Atmas sind Kinder dieser Wahrheit. Wir verschmelzen mit der Energie des Hju. Wir opfern dem Hju unser Ego und unseren Willen. Das Hju hat uns die Augen für die spirituellen Dimensionen unseres Daseins geöffnet. Es hat uns geführt und geheilt. Unsere Aufgabe nun besteht darin, das Hju zu verbreiten, damit die ganze Welt erfüllt werde von seiner Macht.

Wahrheit offenbart sich den Menschen stets in neuer Form. Was in den heiligen Schriften, in den Dogmen und Ritualen der Religionen und Kulte zu starren Konventionen gerann, zu Chiffren vergangener Epochen, ist in der Lehre der Liga zu pulsierendem Leben erwacht. Die Lehre der Liga ist unsterblich. Sie ist nicht den Zyklen der Zeit unterworfen, dem Werden und Vergehen. Ihr wird vom Mahaguru der Atem ewigen Lebens eingehaucht. Der Mahaguru bürgt dafür, dass die Wahrheit des Hju stets ihre modernste Ausdrucksform findet, dass sie den sich wandelnden Erfordernissen und Problemen aller Menschen und Zeiten gerecht wird. Alle politischen, sozialen und religiösen Systeme, die die Menschheit hervorgebracht hat, sind gescheitert an ihrer unausweich­lichen Erstarrung, an ihrer Unfähigkeit, dem stetig sich erweiternden Bewusstsein der Menschheit standzuhalten, sich zu verändern und zu erneuern. Daher vermögen sie den Hunger der Menschen nach Wahrheit nur ungenügend zu stillen. Auch unser Zeitalter kennt diesen Hunger. Gerade in einem Jahrhundert, das geprägt war durch grausame Kriege, schreckliche Gräueltaten, aber auch durch kaum vorstellbaren technischen Fortschritt, haben sich Millionen von Menschen die Frage nach dem Sinn ihres Lebens neu gestellt, aber in den traditionellen Systemen keine Antworten mehr gefunden. Der Grund des Erfolgs der Liga liegt darin, dass die Lehre der uralten Adepten gültige Antworten zu geben vermag. Da die Lehre der Mahagurus die Gesamtheit aller Wahrheit umfasst, kann sie alle Fragen beantworten, soziale, ökologische und wirtschaftliche ebenso wie philosophische und spirituelle.

Die Liga wird nicht stehen bleiben, sie wird nicht erstarren in äußerlichen Formen. Der Mahaguru, die Verkörperung höchsten Bewusstseins, ist der Garant, dass die Lehre der Liga stets eine lebendige Lehre sein wird. Wir alle wissen dies und doch sind in den Kreisen der Atmas immer wieder Konflikte aufgebrochen, wenn Dinge sich veränderten, wenn die Lehre zu einer höheren spirituellen Stufe fortschritt. Ich spreche heute über dieses Thema, weil die Liga sich in einer Phase des Umbruchs befindet und weil jene, die heute von uns geehrt werden, die Motoren dieser Veränderung sein werden.

Über ein Jahr ist vergangen, seit dieses furchtbare Unglück geschah, das allen, die es als Augenzeugen erlebten oder Bilder davon auf den Fernsehschirmen sahen, unvergesslich bleiben wird. Die Sekunden, in denen die Schüsse eines fanatischen Attentäters unseren geliebten Mahaguru Ken Andersen auf offener Bühne niederstreckten, haben die Liga verändert, obwohl der Mahaguru durch ein Wunder des Hju überlebte und seine spirituelle Macht seither zu unermesslicher Stärke wuchs. Diese schrecklichen Sekunden haben gezeigt, dass der Glaube trog, die Zeit der Verfolgung sei vorüber, dass die Tendenz ungesund war, falsch verstandene Toleranz und Nachsicht zu üben. Mahaguru Ken Andersen hat sich selbst zum Opfer gegeben, um allen Atmas die Augen zu öffnen, um uns alle zurückzuführen auf den wahren Weg der Liga, zu Entschlossenheit und bedingungsloser Hingabe. Sein Opfer hat endlich den Geist einer tief greifenden Spiritualisierung der Liga erweckt. Der Mahaguru ist uns durch sein lebendes Beispiel vorangegangen. Er hat die notwendige Spiritualisierung an sich selbst vollzogen. Er hat sich vollkommen mit dem Geist der uralten Adepten, mit der ewigen Macht des Hju verbunden. Nun liegt es an uns, diesem Vorbild nachzueifern.

Als mein Vorgänger an gleicher Stelle seine Rede für die Absolventen der Akademie hielt, sprach er von Universalität, von einem neuen, „relativierten“ Verständnis der unvergänglichen Wahrheit im Buch der Erleuchtung, er interpretierte die Aussagen der Mahagurus „im übertragenen Sinn“ und so weiter und so fort. Als ich das Manuskript seiner Rede las, wusste ich auf einmal, warum der Anschlag auf unseren geliebten Mahaguru geschehen musste, warum es der Mahaguru in seiner Allwissenheit zuließ, dass die Kugeln des Attentäters seinen Körper trafen, warum er sein Blut für uns alle vergoss. Er tat es, um die Liga vor dem Abgleiten in kranke Verweichlichung zu bewahren. Die Kraft des Hju hat unseren Mahaguru gerettet und rasch genesen lassen und mit ihm ist auch die Liga genesen. Er selbst brachte die Konsequenzen dieser Genesung auf den Punkt: Mehr Straffheit in der Organisation, mehr Schutz vor Feinden der Liga, mehr Selbstdisziplin bei den Atmas, mehr klare Abgrenzung der reinen Lehre von ihren entarteten Erscheinungsformen, mehr Freiheit, mehr Liebe, mehr Wahrheit – so lautet das einfache Rezept zur spirituellen Erneuerung der Liga. Die Briefe, die unser geliebter Mahaguru im letzten Jahr schrieb, haben der Liga eine neue Richtung gegeben – hinaus aus der unverbindlichen, grüblerischen Unentschlossenheit in das zweifelfreie, tatkräftige Bekenntnis zu den Grundsätzen der heiligen Lehre, hinaus aus kränkelnder, verworrener Kompliziertheit und Intellektualisierung in gesunde, klare Einfachheit. In der obersten Führerschaft der Liga, im Hauptquartier und den Liga-Zentralen überall auf der Welt hat sich dieser Heilungsprozess bereits vollzogen. Er wird sich fortsetzen in den lokalen Zentren und an den Akademien, bis alle Kreise der Mitgliedschaft davon durchdrungen sind.

Die Begeisterung unserer Absolventen zeigt mir, dass der Geist spiritueller Erneuerung in der jungen Generation der Liga-Führer lebt. Es ist die Jugend der Liga, auf die der Mahaguru seine Hoffnung für die konsequente Erfüllung seiner Vision legt. In diesem Sinne danke ich allen, die die Prüfungen der Akademie und die obligate Missionsreise mit Erfolg bestanden und abgeschlossen haben, die nun hinausgehen werden, um die Wahrheit des Hju in ihrem eigenen Leben zu verwirklichen und in der Welt zu verbreiten. Sie haben sich vier Trimester lang auf das Studium aller Aspekte der Liga in Theorie und Praxis konzentriert und ein strenges Programm von Spezialschulungen erfolgreich absolviert. Ich gratuliere und danke ihnen allen. Und ich danke natürlich all jenen von der Liebe des Hju erfüllten Atmas, die den Weg für unsere jungen Menschen bereiten, die Stipendien zur Verfügung stellen, die für die Akademien und Zentren spenden und auf diese Weise mithelfen, die Zukunft der Liga zu sichern. Allen, die den erneuernden Geist der Spiritualisierung leben und mit ihrer Hingabe unterstützen, danke ich im Namen des Mahaguru.

Rede von Peter Crapp, Liga-Repräsentant für den deutschsprachigen Raum, anlässlich der Abschlussfeier für Akademieabgänger, abgedruckt im Jahresbericht der deutschen Liga-Akademie und in englischer Übersetzung in der Weltausgabe der „Wahrheit“.

Kapitel 1

Am alten Platz

Der Himmel füllte sich mit fernem Applaus. Ein klappendes Geräusch, wie von zwei aneinanderschlagenden Hölzern, hatte Hunderte von Krähen aus kahlem Geäst gescheucht. Die Vögel, die schwarzen Früchten gleich in den Baumkronen klebten, erhoben sich schwerfällig und ihr Krächzen schmolz zu einem rauschenden Ton, der sich in den kreisenden Strömungen ihres Fluges über die Weite des Winterhimmels spannte. Die Splitter der Erinnerung, die ohne Ordnung durch Arons Kopf trieben, zersprangen in diesem Klang, der jäh die Wirklichkeit zurückzwang, zersprangen in einem ruckartigen Zusammenkrampfen von Erschrecken. Aron blickte in die graue Leinwand des Himmels, auf der die Vögel wie Scherenschnitte schwebten, bevor sie zu ihren Ästen zurücksanken. Mit dem abschwellenden Raunen, das in der Dämmerung verhallte, erlosch Arons Anspannung. Seine Augen suchten die Wiese ab, die sich jenseits des Grabens ausdehnte, das Waldstück, das rechts von seinem Sitz den Hügel emporwuchs, den Erdweg, der durch Gesträuch zu dem Aussichtsplatz führte. Die Stille war wiedergekehrt. Der Abend legte sich bleiern auf den ausgestorbenen Park. Niemand war Aron begegnet auf seinem Gang in den entlegenen Teil des Gartens, zu dem Hügel, auf dem, einem Pilz ähnelnd, ein schirmartiges, rundes, von einer gedrungenen Mittelsäule getragenes Holzdach stand, das eine Sitzbank schützend überragte. Hierher eilten vom Regen überraschte Spaziergänger, die sich ans Ende des von einer Ziegelmauer umgrenzten Geländes verlaufen hatten oder Liebespaare, die an Sommerabenden Ungestörtheit suchten. Hinter dem Aussichtshügel war die Mauer unterbrochen, fiel ab zu einem mit Gestrüpp angefülltem Graben, um dem Blick Raum zu lassen und auf eine weite, von Birken gesäumte Wiese zu lenken, die sich außerhalb des Parks erstreckte. Die Schafherde, die in der warmen Jahreszeit auf dieser Wiese weidete, kam Aron in den Sinn, die Nebelschwaden, die an Herbstabenden aus dem feuchten Gras aufrauchten, wie von innen leuchtend, das entfernte Pfeifen und Rollen von Zügen, das der Wind von weit herbeitrug, das die Stille greifbar machte. Bruchstücke von Erinnerungen an seine Kindheit schossen durch Arons Kopf. Für Augenblicke spürte er Vergangenheit und Gegenwart zusammenfließen, bevor seine Gedanken ihr sinnloses Drehen erneut begannen.

Die Worte Bens auf dem Anrufbeantworter, umzischt von Nebengeräuschen, hastig hingesagt, in Eile, getrieben. Die wenigen Worte, längst mit routinehaftem Knopfdruck gelöscht, doch umso tiefer eingeprägt in das Wachs der Erinnerung: „Hallo Aron! Bin zurück, früher als erwartet. Bin am Morgen angekommen. Freue mich, dich bald wiederzusehen… Musste oft an unseren alten Platz im Park denken, wo wir immer gute Gespräche hatten. Melde dich. Es gibt viel zu erzählen. Bis bald.“

Jedes Wort, jede Färbung der Stimme, jedes Geräusch, das Knacken des Auflegens, zog wieder und wieder durch Arons Gedanken, in Bruchteile gespalten, zergliedert, als müsse sich aus den Stücken ein neuer Sinn ergeben, eine Erklärung, eine Deutung. Gehetzt war die Stimme, und doch von matter Heiterkeit, angespannt, als sie sagte, es gebe viel zu erzählen, nervös, als sie nach kurzem, kaum merklichen Zögern vom alten Platz im Park sprach, müde auch, verhangen, zugleich durchdrungen von Herzlichkeit, aufgeregt wie vor etwas Neuem, das Ben entdeckt und das ihn begeistert hatte. Seine Stimme war hohl und kraftlos, erregt und fiebernd, alles zugleich und doch nichts davon.

Arons Gedanken verhakten sich, suchten, bohrten, doch fanden nichts als die wenigen Worte im unsicheren Licht wechselnder Auslegungen. Aron versuchte, sich an die wenigen Dinge zu klammern, die gewiss schienen, doch auch sie schwankten im Strom der Gedanken, bröckelten, verschwammen zu weichen, fließenden Schattenmustern. Ben musste gleich nach seiner Ankunft angerufen haben, vielleicht vom Flughafen, denn seine Worte waren umspült gewesen von dumpfem Lärm, von undeutlichem Stimmengewirr. Um Minuten zu spät hatte er angerufen; Aron war zum Laufen in den Park gegangen an diesem Morgen, der etwas Sonne versprach, seit Langem wieder klares, helles Licht, ausgerechnet am Tag Bens überraschender Rückkehr. Mittags erst hatte Aron das Band abgehört, hatte sofort nach dem Hörer gegriffen, um in Bens Zimmer anzurufen. Ben hatte im letzten Trimester das Wohnheim der Akademie verlassen, ein ungeschriebenes Gesetz brechend, war ausgezogen, weil er die Stimmung dort nicht mehr ertrug, die Einengung durch die sogenannten Gleichgesinnten, die heimliche Überwachung. Das vergebliche Läuten des Telefons in Bens Zimmer, dem winzigen, von Büchern, Platten und Noten überfüllten Raum. Immer wieder das Abrufen der gespeicherten Telefonnummer, das monotone, frustrierende Tuten. Unzählige flüchtige Erklärungen: Vielleicht schläft er. Der Flug war anstrengend. Vielleicht ist er ausgegangen. Vielleicht hat man ihn ins Zentrum bestellt. Man hält ihn auf, stellt Fragen, lädt ihn zum Essen ein. Trotz seiner Müdigkeit. Man denkt im Zentrum nicht an solche Dinge, ist gewöhnt, dass Atmas nach langen Reisen sofort in Besprechungen hetzen, Vorträge halten. Es gilt als selbstverständlich, dass persönliche Bedürfnisse zurückstehen müssen, wenn es um Belange der Liga geht. Warum war Ben überhaupt schon zurück, zwei Wochen früher als geplant? War er krank geworden in den Tropen? Hatte er Schwierigkeiten bekommen in der Mission? Alles hatte Aron sich ausgemalt, nur nicht das eine, schreckliche, das einfach nicht möglich war, das keine Wirklichkeit besaß in seiner Vorstellung.

Endlich die Lösung: Ein Anruf aus dem Zentrum. Erst umständlich höfliches Abtasten, Vorbereiten, schließlich die Nachricht: Ben ist tot. Ein Unfall, nachdem er von einer Besprechung im Zentrum fortgegangen war. Gleich am Vormittag seiner Ankunft. Direkt auf der Straße vor dem Zentrum. Vor ein Auto gelaufen. Den Fahrer trifft keine Schuld. Ben wahrscheinlich im Gehen eingeschlafen. Der lange Flug. Die Überanstrengung. Die Zeitverschiebung. Es war der unbegreifliche Wille des Hju. Tröstliche Worte, die ungehört hinter einem herabfallenden Vorhang von Ungläubigkeit und Bestürzung verschwanden. Ben tot. Tot. Wie eine Wand war dieser Gedanke, eine unüberwindbare Mauer, an die Arons Gedanken unausweichlich stießen, wenn sie das Labyrinth ihrer sinnlosen Deutungen und Konstruktionen durchmessen hatten. Ben ist tot. Aron krallte seine Nägel in das morsche Holz der Bank, um die Wirklichkeit des Parks zurückzuzwingen, um der unbarmherzigen Walze seiner Gedanken zu entrinnen. Unter dem Nebel des Grübelns aber ruhte ein Block der Lähmung, den keine Anstrengung zu bewegen vermochte, kein Erschrecken, keine Trauer.

Aron versuchte, ihn durch Erinnerungen zu lösen. Diese Bank war ihr Lieblingsplatz im Park gewesen, ein hervorragender Ort für die Meditation, vor allem, wenn der vom Dach herabtriefende Regen einen Vorhang zauberte und das Wasser eine kreisförmige Rinne in den Kies wusch, einen magischen Zirkel des Schutzes, wie in den Legenden der uralten Adepten in den Comics der Liga. Ein vorzüglicher Platz zum Lesen, zum Studieren, zum Kontemplieren der Worte aus dem Buch der Erleuchtung, zum Sprechen auch, zum Sichverlieren in der Vertrautheit mit Ben, die keine Angst vor einem falsch gewählten Wort kannte, das bei anderen Atmas Misstrauen erweckt, vielleicht sogar die heimliche Meldung an einen EH, einen Ethik-Hüter, nach sich gezogen hätte. In den frühen Jahren des Gymnasiums hatte Ben es sich zur Gewohnheit gemacht, kleine Botschaften hier zu verbergen, unter einem Brett der Dachverschalung, das man erreichte, wenn man an einer bestimmten Stelle auf die Bank stieg. Das Brett hatte sich von dem Nagel gelöst, der es an seinem Querbalken festhalten sollte, ließ sich zur Seite biegen, dass zwei Finger Platz fanden in dem Spalt, hinaufgreifen konnten in den Hohlraum zwischen den Hölzern und der eigentlichen Abdeckung des Daches, um das dort Deponierte zu ertasten und hervorzuziehen, einen Zettel mit einem Witz, einen obszönen Vers auf eine Lehrerin, einen Ausschnitt aus einem verbotenen Magazin. Kleine Verschwörungen, die das Band der Freundschaft enger zogen, es hervorhoben aus dem Einerlei flüchtiger Schüler­beziehungen. Während Aron der Spur dieser Erinnerung folgte, die ihn an den fast vergessenen Platz getrieben hatte, vollzog er den Gang der Gedanken mit seinem Körper nach, stieg auf die Bank, fand das Brett, das noch immer nicht ausgebessert war, schob es zur Seite, tastete in den Hohlraum, mit der gleichen aufgeregten Neugierde wie damals als Schüler, zugleich innerlich höhnend über die Sinnlosigkeit seines Tuns, das ihn wie einen Verrückten scheinen ließ, der Vergangenes durch törichte Wiederholung gewohnter Handgriffe zum Leben erwecken will. Vor vielen Jahren schon waren diese albernen Heimlichkeiten plötzlich vergessen gewesen. Und doch, der feucht modrige Geruch, der Aron anwehte, als er das Brett hob, war vertraut wie je. Aron musste lächeln, verloren in der Erinnerung an diese abgelebte Zeit, doch als er das kleine, kalte Päckchen mit den Fingerspitzen ertastete, durchfuhr ihn ein neuer Stich der Angst, wie vorhin, als die Krähen aufgeflogen waren. Aron versuchte das Etwas zu greifen, das er an den Kuppen der Finger spürte, schob es in seiner Aufregung ein Stück tiefer in den Hohlraum hinein, musste sich strecken, um es wieder zu finden, zog es zu sich, nestelte es nervös aus der Öffnung hervor. Eine zusammengefaltete Plastiktüte, in die ein harter, eckiger Gegenstand gewickelt war. Aron sprang von der Bank, setzte sich, blickte sich um, bevor er seinen Fund auspackte. Eine Tonbandkassette, zum Schutz gegen Nässe und Staub in die Tüte gesteckt, eine Zusammenstellung von Hits der Heavenly Lights, der berühmtesten Musikgruppe der Liga. Enttäuschung. Jemand hatte den Hohlraum unter dem Brett entdeckt und nutzte ihn wieder als geheimen Briefkasten. Vielleicht wiederholten zwei Schulfreunde die gleichen Rituale kindischer Verschwörung, die Aron und Ben gepflegt hatten. Aron drehte die Kassette in der Hand. Fröhlich lachende Männer und Frauen auf dem Cover verspotteten seine Enttäuschung. In der rechten unteren Ecke aber, akribisch hineingemalt in das weiße Kleid einer der abgebildeten Sängerinnen, das Initial Bens, der in lässigem Schwung gezeichnete, von einem Kreis gerahmte Buchstabe B. Seit Langem hatte Aron dieses Zeichen nicht mehr gesehen, doch nun schien es selbstverständlich, es auf dieser Kassette wiederzufinden, als sei sie das letzte Glied in der Kette ihrer Freundschaft, das herüberreichte aus einer lange verlorenen Vergangenheit in das Heute, in dem Ben tot war, tot.

Aron blickte sich um, als fürchte er, bei etwas Verbotenem beobachtet zu werden. Schweigend lag der Park. Die Krähen hockten bewegungslos in ihren Bäumen, erwarteten die Nacht. Arons Erregung wollte sich nicht legen. Feuchte Kälte kroch durch seine Jacke. Er schob die Kassette in die Tasche und verließ den Sitz auf dem Hügel, versuchte unbefangen zu gehen, als er auf den Hauptweg gelangte, die Hand in der Jackentasche um das kalte Plastik gekrampft, in das Bens Kassette gehüllt war, klein und kantig. Nur einem dummen Einfall folgend, einer sentimentalen Erinnerung, hatte er sie gefunden. Musste oft an unseren alten Platz im Park denken, wo wir immer gute Gespräche hatten...’ Ben hatte es gesagt mit erregter Stimme, die sich fast zu einem Flüstern senkte, als sei dieser verschlüsselte Hinweis schon zu viel, als könne er etwas Wichtiges verraten, als werde er abgehört von den Ethik-Hütern. Ja, sie hatten gute Gespräche hier gehabt. Hier war ihre Freundschaft gewachsen in schwärmerischen Fantasien über die Ideale der Liga, über die uralten Adepten, über ihre Zukunftspläne als Missionare und Pioniere der Liga in fernen, noch in der Dunkelheit des Unwissens dämmernden Ländern, hier hatten sie spekuliert über die unergründlichen Geheimnisse im Buch der Erleuchtung, über die Wunder des Hju. In eitle Allüren des Auserwähltseins hatten sie sich verstiegen und zugleich ihre alltäglichen Belange besprochen, Ärger mit den Eltern, Probleme in der Schule, erste Liebesgeschichten. Diese offenen, tabulosen Gespräche bildeten die Basis ihrer Freundschaft, die viele Leben zurückreichte, wie sie einmal anhanden geheimnisvoller Hinweise im Buch der Erleuchtung errechnet hatten. Alles hatte sie überdauert, die Jahre des Gymnasiums, die gemeinsame Zivildienstzeit, die Trimester der Akademie, nun aber war Ben tot. Nichts weiter war von ihm übrig als Asche in einer Urne, als eine Fotografie, die im Liga-Zentrum auf die Abschiedszeremonie wartete.

Für den Abend war die Feier in der Halle der Liga anberaumt. Der Lirep persönlich würde sie abhalten. Aron blickte auf die Uhr. Er musste sich beeilen. Etwas in ihm sträubte sich, die Zeremonie zu besuchen. Aron wollte allein sein mit seinem Schmerz, wollte sich verkriechen in seinem Zimmer oder im Park, sich treiben lassen im Strom der Erinnerung. Aber wie immer siegte seine Pflichttreue zur Liga, die über alles persönliche hinausging, alle eigennützigen Wünsche und Gefühle an zweite Stelle rückte. Das Wissen, dass er ein Atma war, ein Eingeweihter der Liga, war Zentrum seines Daseins geworden. Aron hatte stets gespürt, dass seiner bedingungslosen Hingabe an das Hju und den Mahaguru eine Kraft innewohnte, die alles zu überwinden vermochte, jeden Zweifel, jedes bequeme Nachlassen, jede Schwäche, eine klare, kompromisslose Kraft, die stetig gewachsen war in den Jahren, seit er der Liga angehörte. Er wusste, dass diese Kraft eines Tages ganz erblühen und ihn befähigen würde, zu den höchsten Kreisen der Einweihung vorzustoßen. Aron suchte Halt an dieser Kraft, der er sein Leben anvertraut hatte, sang im Stillen das Hju, das heilige Mantra der Mahagurus, doch etwas Wundes, Rohes war plötzlich in ihm, etwas, das rieb, während er ging, im Rhythmus seiner Schritte, die schneller wurden, fester, etwas, das die Gedanken zersplitterte, das nicht zuließ, dass sie sich um ihre gewohnten Ankerpunkte sammelten, das selbst das Schwingen des Hju in seinem Inneren zerstörte. Aron wollte diesen fremden Gefühlen nachspüren, aber sie zerrannen, als er nach ihnen griff, hinterließen unbestimmte schmerzende Dumpfheit. Ben war tot, der einzige wirkliche Freund, der kostbare Seelengefährte. Aron schüttelte trotzig den Kopf. Es konnte nicht sein, es war jenseits aller Vorstellung, dass Ben tot war, tot. Die Stränge der Gedanken verfilzten sich zu einem Gewitter gleichzeitiger Eindrücke und Bilder, bis die kühle, kantige Kassette in Arons Faust das einzig Beständige in diesem Wirbel wurde.

Eine einzelne Rose als Symbol der Anwesenheit des Mahaguru stand in kristallener Vase neben einem Porträtfoto Bens. Die Bühne der Versammlungshalle war in weiches Dämmerlicht getaucht. Ein Strahler hob den mit dunkelblauem Samt verhüllten Tisch aus dem Halbdunkel hervor, ein anderer das Symbol der Liga, ein gleichschenkliges Dreieck, Spitze nach unten, umschlossen von einem Kreis. Wie eine Lichterscheinung schwebte das Zeichen über der Bühne, verloren im unergründlich blauschwarzen Raum. Auch das steil ansteigende Halbrund der Sitze verlor sich im Dunkel. Der Raum war bis auf den letzten Platz gefüllt. Aron war spät gekommen, hatte nur mehr einen Platz oben in den Rängen gefunden, von wo die effektvoll ausgeleuchtete Bühne wie ein Schiff wirkte, das in einem dunklen Meer trieb, geleitet vom goldenen Liga-Zeichen. Keiner der Atmas wollte sich den Auftritt des Lirep entgehen lassen, der nur in besonderen Fällen eine Abschiedszeremonie abhielt, etwa wenn ein Liga-Pionier hinübergegangen war in die anderen Welten oder ein Atma der höheren Einweihungskreise. Sein Erscheinen bei der Zeremonie für Ben hatte für Gesprächsstoff gesorgt. Ben war beliebt gewesen an der Akademie und im Zentrum, und doch hatten manche mit geschickt gewählten Worten durchblicken lassen, das Hju habe Ben bewahrt vor weiterem Abweichen vom wahren Weg, indem es sein physisches Leben so jäh hatte enden lassen. Hatte er sich nicht respektlos über den Lirep geäußert, war er nicht aus dem Wohnheim ausgezogen, hatte er nicht Passagen aus dem Buch der Erleuchtung auf eine Weise ausgelegt, die weit über die Grenze geduldeter Spekulation hinausging? Verpackt in die üblichen Wendungen von Mitgefühl und Liebe war diese Kritik an Ben geäußert worden, in der gestelzten Sprache der Akademiestudenten, die in ihrer aalglatt formulierten Unangreifbarkeit keine Widerrede zuließ. Gleich aber, was die Atmas über Bens Tod mutmaßten, einhellig lobten sie den Entschluss von Lirep Peter Crapp, die Abschiedszeremonie zu leiten.

Sanfte Flötenmusik erklang zugleich von allen Seiten. Das Tonsystem der Halle war so konstruiert, dass der Klang einer einzelnen Flöte den Raum erfüllte, von allen Seiten aus dem Nirgendwo der abgedunkelten Seitenwände schwebte, als dringe er unmittelbar aus den höheren Ebenen, von denen gesagt wurde, dass dort immerwährende Melodien von Flöten die nektarduftende Luft erfüllten. So hatte es Mahaguru Howard Jason in seinem Werk Welten der Wahrheit geschildert und so war es von vielen Eingeweihten der oberen Kreise bestätigt worden. Flötenmusik fehlte bei keiner Liga-Veranstaltung. Aron liebte solch erhabene Feierlichkeiten. Sie hatten ihn schon begeistert, als das Liga-Zentrum noch in einem Flachbau am Stadtrand untergebracht gewesen war, als die Medien noch von Psychokult sprachen und Politiker erörterten, ob man den nicht zu bremsenden Aufstieg und Einfluss dieser amerikanischen Sekte überhaupt dulden dürfe. Bens Mutter hatte in diesen Jahren oft Vorträge gehalten oder im Zentrum Kurse gegeben. Bei einem solchen Vortrag hatte Aron Ben zum ersten Mal in einem anderen Licht gesehen, nicht als guten Schulfreund, mit dem sich über Dinge reden ließ, die kaum einen anderen an der Schule zu interessieren schienen – über Tod, über östliche Religionen, über Karma und Wiedergeburt –, sondern als selbstbewussten, gewandten Moderator einer Jugendrunde. Ben galt als vorbestimmt für eine große Karriere in der Liga. Die Stellung seiner Mutter als höchste Eingeweihte Europas und der legendäre Ruf seines Vaters, der sein Eintreten für das Hju mit dem Leben bezahlt hatte und als Märtyrer der Liga galt, nahmen Ben in die Pflicht. Aron verlor sich in den schwellenden Flötentönen. Eigenartig, welche Erinnerungen in diesen letzten Tagen hervortraten. Bens Tod hatte verborgene Speicher von Gedanken und Gefühlen geöffnet. Aron versuchte sich auf das goldene Logo über der Bühne zu konzentrieren, sich tragen zu lassen von den Tönen der Flöte. Die Wahrheit hatte gesiegt, keine Hetze der Medien, kein Einfluss von Politikern und Kirchen, keine intellektuellen Kritiker hatten die Liga aufhalten können auf ihrem Weg in die Herzen der Menschen überall auf der Welt. Innerhalb weniger Jahre war dies geschehen, undenkbar eigentlich in dieser zerrissenen Zeit, in der Moden und Trends in raschem Wechsel vorüberflogen. Aron fühlte Stolz, dass er dem Weg des Hju auch in schwierigen Zeiten unbeirrbar gefolgt war, dass er der Liga sein Leben geweiht hatte. In solchen Augenblicken, wenn er im großen Versammlungsraum saß und den Klängen der Flöte lauschte, wurde ihm stets aufs neue bewusst, dass er zu den Auserwählten gehörte, zu jenen, denen es möglich war, in die inneren Kreise des Hju aufzusteigen, in ein Bewusstsein der Erleuchtung, das weit über alles hinausragte, das der Menschheit bekannt war. Er fühlte, wie Stolz und Rührung sich in ihm mischten und ein Gefühl auslösten, das man in der Liga als Angehobensein bezeichnete. Auch jetzt wollte sich dieses Glühen am Herzen einstellen, fast wie eine Gewohnheit, doch die Trauer um Ben überschattete und brach es. Seine Gedanken, die für Augenblicke abgeschweift waren, fielen zurück auf den unabänderlichen Schmerz der Gegenwart: Ben war tot.

Die Flötenmusik verklang im Nichts. Der Lirep betrat die Bühne. Gemessenen Schrittes trat Peter Crapp in den Lichtkreis der Scheinwerfer. Sein silbergraues Haar leuchtete für einen Augenblick auf. Die erwartungsvolle Stille im Raum schien mit Händen zu greifen. Der Lirep, der Statthalter des Mahaguru, der oberste Repräsentant der Liga in einem länderübergreifenden Territorium, ein Eingeweihter der fünften Stufe. Obwohl das Buch der Erleuchtung jegliche Verehrung von Personen verpönte, schlug dem Lirep bei öffentlichen Auftritten tiefer Respekt entgegen, in dem sich Ehrfurcht und liebende Hingabe mischten. Crapps Frau Susan und die beiden Ethik-Hüter, die für die Sicherheit des Lirep verantwortlich waren, traten nach ihm aus der Kulisse. Mit gesenkten Häuptern, als versuchten sie sich unsichtbar zu machen, schlichen sie zu ihren Stühlen am Bühnenrand. Einen Augenblick kostete der Lirep die Stille aus, ließ seinen Blick über die Zuschauerränge wandern, dann begann er den Gesang des Hju, des höchsten Mantra, das die uralten Adepten offenbart hatten und das seit dem legendären ersten Liga-Seminar jede Zusammenkunft von Atmas eröffnete. Das Publikum fiel ein. Die Halle füllte sich mit einem tiefen summenden Ton, der sich aus Hunderten von Einzelstimmen zu einem wie Dünung rollenden Klang formte, der, so sagte das Buch der Erleuchtung, jeden einzelnen Atma augenblicklich mit dem Bewusstsein des Mahaguru und den Uralten verschmolz und zugleich eine Verbindung zwischen allen Atmas der Erde schuf, ein Netz der Liebe, geknüpft, um die Welt zu heilen. Aron spürte, wie diese Kraft ihn durchdrang, wie seine Stimme sich einschwang in den mächtigen Klang, sich darin auflöste. Es war das Hju gewesen, das Aron zur Liga gebracht hatte. Ben hatte ihm beiläufig von der Liga erzählt, von dem Ideal eines spirituellen Weges, der über die Dogmen aller Religionen hinausging, um in einem Klima absoluter Toleranz und Freiheit jedem Individuum seinen persönlichen Weg zum höchsten Bewusstsein zu weisen. Aron hatte erst gezweifelt, hatte entgegengehalten, dass viele Sekten existierten, die ähnliches behaupteten. Ben aber hatte überlegen gelächelt und geantwortet, über das Eigentliche könne man nicht sprechen, man müsse es erfahren. Ben hatte Aron mitgenommen in das Liga-Zentrum und dort hatte er zum ersten Mal den Gesang des Hju gehört, nur den Gesang einer kleinen Gruppe, die sich zu einem Diskussionskreis für Jugendliche zusammengefunden hatte, und doch hatte er sich augenblicklich davon angezogen gefühlt, als sei durch dieses Mantra eine Saite tief in seinem Innersten angerührt und zum Klingen gebracht worden. Die Macht des Hju hatte Aron erhoben über Ablehnung und Spott vonseiten der Schulfreunde, über die besorgten Vorwürfe der Eltern, die Aron in politischem, gesellschaftskritischen Bewusstsein erzogen hatten, wie sie stolz betonten, und nun mit geballter Rhetorik versuchten, ihn von dieser ,obskuren Rotte esoterischer Faschisten’ abzubringen. Im Gegensatz zu Ben hatte Aron seinen Zutritt zur Liga erkämpfen müssen. Die Kraft des Hju hatte ihm die Stärke verliehen, alle Widerstände zu überwinden, die Aufnahmeprüfung für die Liga-Akademie zu schaffen, sogar ein Stipendium zu erlangen, das ihn unabhängig machte vom Elternhaus. Er konnte ins Wohnheim der Akademie ziehen, um sich vier Trimester lang ausschließlich dem Studium und der spirituellen Praxis zu widmen, konnte am Vormittag die Schulungen besuchen und den Rest des Tages beim intensiven Studium der Bücher und Tonbandkassetten der Mahagurus oder in Sonderkursen und Spezialtrainings zubringen. Aron dachte kaum jemals an die Zeit nach seinem Abgang von der Akademie, der bald bevorstand. Er wusste, dass sein Leben der Liga gehörte, dass das Hju ihn führen und an den richtigen Platz stellen würde.

Als Peter Crapp ein leises „Danke“ ins Mikrofon hauchte, verebbte der vibrierende Klang des Hju, schien unhörbar nachzuschwingen in der Stille, die wieder über den Menschen zusammenschlug. Der Lirep stand Augenblicke mit gesenktem Kopf, als konzentriere er sich und begann schließlich seine Rede mit sonorer Stimme, von der manche Atmas sagten, sie würde in ähnlicher Weise das Herz berühren wie die Stimme des Mahaguru. Crapp rezitierte Passagen aus dem Buch der Erleuchtung, Worte des Trostes, die verkündeten, dass es keinen Tod gab, nur das Ablegen der fleischlichen Hülle auf dem endlosen Rad der Wiedergeburten. Glücklich sei dieser Augenblick für die wahrhaften Atmas, denn ihnen sei der Tod Befreiung nicht nur vom vergänglichen Leben auf dieser Erde, sondern auch Erlösung vom Kreislauf der Geburten und Tode. Sie würden empfangen vom Lichtkörper des Mahaguru und hinaufgeleitet in die Welten der Wahrheit, in die Wirklichkeit des Hju, um dort als Mitarbeiter der uralten Adepten dem Wohle des Universums zu dienen. An manchen Stellen hob Crapp die Stimme, bis sie leicht tremolierte, gleich aber dämpfte er sie wieder, als beherrsche er mit eisernem Willen die eigene Rührung. Nach einer kurzen Flötenmelodie, die Crapp wieder mit gesenktem Haupt, in Meditation versunken, entgegennahm, sprach er über Ben. Er sprach über die unergründlichen Fügungen des Hju, über die Verstrickungen des Schicksals, die nur der Mahaguru zu deuten vermochte. Tief bewegt kam er auf Bens Unfall zu sprechen, auf sein tragisches Ableben auf der Straße vor dem Liga-Zentrum. Doch sein unsterbliches Wesen sei unberührt von diesem Schrecken des Todes, den jeder Körper eines Tages erleiden müsse. Ben habe sich befreit von den Fesseln des Leibes, diesem Sack aus Blut und Knochen, diesem Gefängnis des Geistes, befreit von den Banden der Gefühle und Begierden, von den labyrinthischen Windungen des Verstandes. Glücklich zu preisen sei Ben.

Aron spürte Tränen in die Augen steigen, zugleich aber fühlte er Widerstand, unerklärlichen Zorn, der plötzlich aus unbekannten Kammern seines Inneren hervorzubrechen schien. Er lügt, schrie es in ihm, er hat Ben gehasst. Crapp hatte Ben nie gemocht, den jungen Rebellen, der sich über die fest gefügten und eifersüchtig gehüteten Rangordnungen und Positionen in Crapps Machtbereich mit einem Scherzwort hinwegzusetzen pflegte und dessen Kritik auch vor Crapp selbst, dem Lirep, dem Stellvertreter des Mahaguru, nicht haltmachte. Es war Abneigung auf den ersten Blick, ein untrügliches Erspüren, dass hinter allen Masken ligaüblicher Verbindlichkeit ein Widersacher lauerte, einer, mit dem es niemals Übereinstimmung geben konnte. Karmische Verstrickung nannte man solche spontanen Sympathien und Antipathien im Jargon der Liga, und diese leichtweg gebrauchte Deutung befestigte Zuneigung oder Hass mit dem Zement unwiderruflicher kosmischer Gesetze. In diesem Fall war Crapp der Überlegene. Es war ihm ein leichtes, Ben spüren zu lassen, wer über wirkliche Macht verfügte, eine Macht, vor der auch eine hoch eingeweihte Mutter nicht zu schützen vermochte, eine Macht, die unbestechlich und streng vorging, wie der Mahaguru es forderte. Bens Missionsreise bot für diese Kraftprobe den geeigneten Anlass. Ein achtwöchiger Aufenthalt in einem Missionszentrum schloss sich als Teil des Praxistrimesters an die Abschlussprüfungen der Akademie an. Ben hatte sich für die Mission in Indonesien entschieden, hatte die alternativen Vorschläge des Liga-Zentrums abgelehnt, unbeirrt auf seinem Wunsch beharrt, obwohl seine mäßigen Zensuren, sein demonstrativer Auszug aus dem Wohnheim, seine kritischen Diskussionsbeiträge in den Arbeitskreisen solche Hartnäckigkeit kaum ratsam scheinen ließen. Crapp hatte ihn warten lassen, wochenlang, bis schließlich die Papiere für die gewünschte Reise ausgehändigt wurden. Ben war abgefahren, als die anderen Absolventen gerade von ihren Missionsreisen zurückkehrten, ihre Abschlussarbeiten fertigstellten und Aufgaben in den lokalen Zentren übernahmen.

‚Er lässt mich die Willkür seiner Macht spüren,‘ hatte Ben gesagt, ,aber ich werde mich nicht beugen.’ Aron hatte den Lirep verteidigt, dessen Vision von einer Spiritualisierung der Liga die Akademiestudenten mit neuem Feuer der Begeisterung erfüllte. Unzählige Gründe hatte Aron angeführt, warum die Reise sich verzögerte: Unzulänglichkeiten in der Bürokratie, Computerfehler, bedauerliche Missgeschicke ohne jeden tieferen Grund. Aron hatte auf seinen eigenen Fall verwiesen – er hatte ein Trimester warten müssen, bevor ein Platz für ihn frei geworden war in dem streng limitierten Kontingent der Akademie. Außerdem hatte ein Lirep anderes zu tun, als Studenten der Akademie zu schikanieren. Aber Ben hatte darauf beharrt: ‚Er hasst mich, weil ich ihn durchschaue.‘

Aron sah Crapp an, der seine Rede immer wieder unterbrach, um Augenblicke in erschüttertem Schweigen zu verharren. Es war eine Farce. Erschrocken versuchte Aron, diesen Gedanken zu verdrängen. Jede negative Äußerung über den Lirep galt als Beleidigung des Mahaguru. Doch die Wut, die in ihm aufgestiegen war, wollte sich nicht besänftigen. Aron glaubte aus Crapps Stimme Töne des Triumphes herauszuhören. Dort ruht die Asche des vermessenen Burschen, der sich erdreistet hat, den Lirep zu verspotten, zu kritisieren, zu beurteilen. Die Strafe des Hju hat ihn getroffen. Crapp triumphierte, während er Worte des Trostes sprach, während er Ben lobte, während seine Stimme erneut zu tremolieren begann. Aron ballte die Fäuste in der Tasche. Er zitterte, musste alle Selbstbeherrschung aufbieten, um ruhig zu bleiben. Wut kochte in ihm auf und zugleich Angst vor diesen ungezügelten Emotionen. Zitate aus dem Buch der Erleuchtung fielen ihm ein: „Viele Leben werden die in Dunkelheit und Leid verbringen, die den Worten des Mahaguru misstrauen und die treuen, reinherzigen Diener des Hju mit Argwohn behandeln.“ Und doch – Crapp log. Jedes seiner Worte triefte vor Falschheit. Aron versuchte sich abzulenken, ließ den Blick durch den Saal schweifen, über die andächtig lauschenden Menschen. Sie waren gerührt von Crapps Worten, manchen standen Tränen in den Augen. Ben hatte gewarnt vor Crapp, Ben, hinter dessen Herzlichkeit sich messerscharfes Unterscheidungsvermögen verbarg, untrügliches Gespür für die Wahrhaftigkeit anderer. Er hatte Crapp durchschaut, schon nach dem erstem Vortrag an der Akademie, jener berühmten Rede anlässlich einer Abschlussfeier, jener Rede, die mittlerweile in der Weltausgabe der Wahrheit abgedruckt worden war, was darauf schließen ließ, dass sie sich der ausdrücklichen Billigung des Mahaguru erfreute. Dem Begeisterungstaumel um den neuen Lirep, der jene verstummen ließ, die heimlich dem milderen und toleranteren Stil seines Amtsvorgängers nachtrauerten, hatte Ben als einziger offen sein Urteil entgegengehalten: ‚Alles an ihm ist falsch, unerträglich gekünstelt.‘ Sie hatten heftig diskutiert nach dieser Abschlussfeier. Bens Urteil war ungerecht, auf keinen Fall zu akzeptieren: ‚Ein Streber, ein Emporkömmling, der seine Nase nach dem Wind der Macht ausrichtet, ohne zwischen Duft und Gestank unterscheiden zu können. Eine Marionette, eine Puppe mit dem Schlüssel im Rücken. Es ist seltsam, dass die sogenannte Spiritualisierung der Liga darin besteht, neue Lireps nach Gehorsam und Unterwürfigkeit auszuwählen statt nach Befähigung.‘ Das Aufkeimen eines winzigen Zweifels hatten Bens Worte damals in Aron bewirkt, eine flüchtige Unruhe, begleitet von Unsicherheit und Angst, ein innerliches Zusammenzucken unter einem unerwarteten Hieb. Aron hatte sie vehement fortgewischt, hatte den Lirep nur noch eifriger verteidigt. Crapp gab sein Leben für die Liga. Er hatte sich durch schonungslosen Einsatz hochgedient, hatte Großes bewirkt für die Verbreitung des Hju, hatte das Hauptquartier auf sich aufmerksam gemacht, war zu Sonderschulungen ins spirituelle Zentrum Blackwater eingeladen worden, um schließlich nach dem Attentat auf den Mahaguru, als eine Welle der Erneuerung die Ränge der Organisation durchlief, zum Lirep für den deutschsprachigen Raum und zum Sprecher des Europäischen Rates berufen zu werden. Seine Ernennung war unerwartet erfolgt. Andere waren für diese Positionen im Gespräch gewesen, doch Crapp war direkt vom Hauptquartier geschickt worden, um die neue Linie der Liga durchzusetzen. Aron empfand Sympathie für Crapp, hatte sich ein Vorbild genommen an diesem Atma, der bedingungslose Hingabe an die Liga praktisch vorlebte. Es war eine gewaltige Leistung, sich zum Lirep eines Kernlandes der Liga emporzuarbeiten, zum Liga Regional Representative, zum Stellvertreter des Mahaguru für Abertausende von Atmas. Dies war nur möglich, wenn der Mahaguru selbst einen Kandidaten für würdig erachtete. Selbst als Crapps Führungsstil jedes freiheitliche Denken im Gebiet zu ersticken begann, als ein Netz aus Verbindungen zum Hauptquartier seine Stellung unangreifbar machte und sich ein Kreis fügsamer Eiferer um ihn sammelte, als die Atmosphäre der Toleranz, die unter dem alten Lirep geherrscht hatte, sich wandelte in buchstabengetreue Auslegung des Buches der Erleuchtung, in Beharren auf kleinlichen Vorschriften des Hauptquartiers, hielt Aron dem Lirep die Treue. ‚Es ist nötig, die Liga zu schützen. Es ist nötig, die Disziplin und Einstellung der Atmas zu überwachen. Es ist nötig, zerstörerische Umtriebe im Keim zu ersticken. Etwas wie das Attentat auf Mahaguru Ken darf sich niemals wiederholen.‘ Stets hatte Aron Argumente gefunden, die für Crapps Handlungen und Anordnungen sprachen, bis heute, als er Genugtuung über Bens Tod in Crapps Stimme spürte. Aron konzentrierte sich, versuchte, ruhig zu atmen, versuchte, den brennenden Zorn niederzuringen, der wie eine Versuchung der bösen Kraft schien, die seine Trauer um Ben missbrauchen wollte, um Zweifel in sein Herz zu pflanzen, der ihn ausbrannte, der ihn trieb, einfach fortzulaufen. Aber er blieb. Was hätte Ben an seiner Stelle getan? Er hätte sich gewehrt, hätte vielleicht eine spontane Rede gehalten, zum Entsetzen der anderen und doch getreu dem Spruch aus dem Buch der Erleuchtung, dass Wahrhaftigkeit manchmal den Mut bedeutet, allein gegen die Welt zu stehen. Dies war das Motto der Liga-Pioniere in den Anfangszeiten gewesen, als es galt, die Liga gegen Attacken von Behörden und Kirchen zu verteidigen. Wer hatte heute noch die Courage, diesem Wahlspruch zu folgen, wenn es um die Liga selbst ging? Verzweiflung mischte sich in Arons Wut – er war ein Schwächling, der sich unterwürfig in Konventionen fügte, seine Gefühle verriet, um den Erwartungen der anderen zu genügen, ein angepasster, feiger Akademieschüler, der sich vor den Ethik-Hütern fürchtete.

Als Crapp geendet hatte und die Flöte erneut einsetzte, rutschte Aron unruhig auf seinem Stuhl, konnte den Augenblick kaum erwarten, bis ein kurzer Hju-Gesang die Zeremonie beendete. Er rannte fort, ohne sich von den anderen zu verabschieden, ohne die tröstenden Worte abzuwarten, die die Atmas bestimmt schon für ihn vorbereitet hatten, die wohlmeinenden Redensarten, die er von ähnlichen Anlässen kannte. Er hatte sie selbst oft genug im Mund geführt, hatte dieses warme Ziehen am Herzen verspürt, wenn er seinem Mitgefühl Ausdruck verlieh, wenn er helfen und trösten wollte als Werkzeug des Hju. Er verließ das Auditorium, ohne sich umzusehen, ohne auf die teilnahmsvollen Gesichter zu achten, die sich ihm entgegenstellten, die seine Aufmerksamkeit suchten, um Trost zu spenden, um Hilfe anzubieten, eilte mit starrem Lächeln an allen vorbei, hinaus in den gleichgültigen Lärm der Stadt.

Schnee fiel in dichten Flocken.

Kapitel 2

Die Brücke des Windes

An feuchten Granitblöcken wanden sich Schlangen, glatte Leiber, die behäbig aus Spalten und Rissen glitten, sich über Vorsprünge und Kanten schoben, um im Dunkel anderer Öffnungen zu verschwinden. Aron sah niemals die Köpfe der Tiere, nur die muskulösen, sich biegenden, pulsierenden Körper, die wie in schwarzen Lack getaucht im Widerschein nebligen Lichtes glänzten. Das Echo starken Windes heulte durch die Gewölbe, in denen Aron irrte, Räume von unendlicher Ausdehnung, die zugleich eng und bedrückend schienen. Die Dunkelheit gab nur Bruchteile der Wände frei, im Nichts verschwimmende Stücke, von huschenden Lichtreflexen flüchtig beleuchtet, die auf geheimnisvolle Art zu atmen schienen in der Bewegung der Schlangenleiber. Aus allem strahlte Bedrohung. Niedergeduckt setzte Aron seine Wanderung durch die Höhlen fort, umtost vom Ton des Windes, der in unerreichbaren Fernen zu wehen schien. Eine lauschende Kraft wuchs in Aron und zog ihn zur Quelle des Tones hin, eine innere Erregtheit, die seine Umgebung vergessen machte, sie abstreifte von seinem Bewusstsein. Seine Wahrnehmung schien sich zu weiten, schien tiefer in den fernen Klang einzusinken, schien neue Töne zu erspüren in dem gewaltigen Akkord, verborgene Melodien, die wie verschüttete Ströme unter dem monotonen Heulen erklangen, das Zusammenspiel unzähliger Instrumente und Stimmen, Orchester und Chöre, die den einen Ton speisten und trugen, entsetzliches Schreien auch, Stöhnen, Seufzen, Gelächter, kreischenden Lärm. Aron wurde hineingerissen wie in einen Sog. Die Gewölbe um ihn versanken und das Durcheinandergleiten der Schlangen wandelte sich zu einem Rhythmus, der wie das Schlagen eines Herzens in den Tiefen der Erde schien.

Zu Marmordomen wuchsen die Höhlen plötzlich empor, zu mächtigen Gewölben, zu gläsernen Kuppeln, von Feuerschein durchzuckt. In ihnen brauste der Wind lauter, schwoll zum Orkan, dass sie zu zittern begannen. Aron durchschritt sie staunend, zugleich aber sah er sie kaum, so sehr nahm die zunehmende Gewalt des vielstimmigen Crescendo seine Sinne gefangen. Er trat durch ein enges, schmuckloses Portal in einen pyramidenförmigen Raum, der von undurchdringlicher Finsternis erfüllt war. Aron wusste, dies war die Kammer des Windes, die Quelle des Tones, angefüllt mit allen Stimmen des dröhnenden Brüllens. Als dieses Wissen über ihn kam, spürte er für einen Augenblick namenloses Entsetzen, als habe sich eine längst verlorene, schreckliche Erinnerung aus Abgründen des Vergessens erhoben, ein furchtbares, gesichtloses Bild, das rasende Angst über ihn ausgoss, Angst vor einer Macht, die er nun wiedererkannte und vor deren Antlitz es nur Hingabe oder Tod gab, ewigen Tod, das Auslöschen aller Bewusstheit, die Vernichtung allen Seins für Äonen. Wie ein ehernes Gesetz war dieses Wissen in das Toben des Windes gebannt. Im gleichen Augenblick, als seine Schritte zögerlich wurden, als Furcht ihn lähmte und zum Stillstehen zwang, spürte er zum ersten Mal die rohe Kraft des Windes. Doch bevor sie ihn packte, wurde er gewahr, dass inmitten des schrillen Tones, der seine Ohren zu zerfetzen drohte, alles still und leer schien, ohne Bewegung, wie ein windloser Sommertag, an dem der Augenblick in Reglosigkeit erstarrt, Gewässer zu Spiegeln gerinnen und der Himmel zu blauem Glas. Einen Moment nur kostete Aron die Süße dieser Stille, dann fasste ihn die Macht des Sturmes, schmetterte ihn zu Boden wie ein willenloses Ding, um sogleich wieder nachzulassen, sich zu fernem Flüstern abzuschwächen und im Nichts zu verschwinden.

Aron lag keuchend in tiefer Finsternis, glaubte zu verschmelzen mit dem Dunkel, glaubte sich aufzulösen, sich selbst zu verlieren, als rötliches Schimmern eine Landschaft aus undurchdringlichem Schwarz schälte. Eine Schlucht sah Aron. Frei brauste der Sturm darüber hin. Von Horizont zu Horizont reichte der Schlund dieses Risses, so breit, dass die andere Seite nicht zu erkennen war. Verloren in Dunkelheit war das Land dort drüben, nicht einmal zu erahnen von Arons Blicken. Eine Brücke wölbte sich in anmutigem Bogen über den Abgrund, glitt hinüber in die Finsternis der anderen Seite, kaum breiter als ein Steg, blitzend und schimmernd wie der Rücken eines gekrümmten Schwertes. Gestalten bewegten sich darauf, Silhouetten nur. Eine nach der anderen betrat den engen Pfad über die Schlucht, wagte sich mit unsicher tastenden Schritten voran, ein Stück weit hinaus in den Sturm, zögernd, bis aus vorsichtigem Schreiten Taumeln wurde, verzweifeltes Ringen um Halt und Gleichgewicht, Fallen, Stürzen in bodenloses Nichts. Mit pochendem Herzen näherte sich Aron der Brücke, wusste auf einmal, dass es seine Bestimmung war, sich den Gestalten anzuschließen, den schmalen Steg zu beschreiten. Rasch geschah dies, bis nur mehr einer vor Aron war, den gefahrvollen Weg zu wagen. Seine Augen hingen an dem Menschen, der schon weit draußen über der Schlucht mit der Gewalt des Windes rang, sich drehte, die Arme ausbreitete, um schwankende Balance zu halten. Aron spürte die Angst dieses Menschen. Sie ergriff Besitz von seinem Herzen, als hätte er sie selbst einst gefühlt, als sei es seine eigene Angst, aus tiefster Verborgenheit der Erinnerung hervorgeschleudert. Aron starrte gebannt auf die schemenhafte Figur, die fast schon verschlungen war vom Dunkel, das wie schwarzer Nebel aus dem Abgrund quoll. Plötzlich wusste Aron, dass er selbst es war, der dort draußen stand und um sein Leben kämpfte. Im gleichen Augenblick fiel die Gestalt, glitt aus, wurde fortgerissen vom Orkan, stürzte hinab in den Rachen der Schlucht. Aron trat einige Schritte vor, um sie fallen zu sehen, trat vor bis an den Rand der Brücke, doch das Wesen, das dort draußen gekämpft hatte, war längst aufgesogen von der Finsternis. Panische Angst ergriff Aron, als er spürte, dass es nun an ihm war, den Weg zu versuchen. Es blieb keine Wahl, als voranzuschreiten, denn dicht hinter ihm wuchsen die Schlangenwände empor, malmende Gewalten, die ihn zu zerquetschen drohten. Zögernd setzte er den Fuß auf den Steg. Aron spürte, dass die Brücke schmaler wurde, sich verengte zur Schneide einer Klinge. Noch stand ein Fuß auf sicherer Erde, der andere aber war tastend vorgerückt über das endlose Schwarz. Wie hypnotisiert starrte Aron hinab in den Abgrund, erkannte, dass tief unten, kaum zu erkennen für die Augen, der Widerschein eines gewaltigen Feuers leuchtete, eines Brandes, der die ganze Tiefe erfüllte. Als Aron das dunkle, kalte Glimmen dieses Flammenmeeres erblickte, schrie er auf, denn die Angst in ihm zerbrach die letzten Barrieren und vereinte sich mit der Gewalt des Windes, der über die Schlucht hintobte, schnürte ihm den Atem ab, drohte ihn zu ersticken.

Mit verzweifeltem Ringen nach Luft fuhr Aron aus dem Schlaf. Sein Herz raste. Er schleuderte die Bettdecke von sich, die durchnässt schien von Schweiß. Sein heißer, fiebriger Körper bebte. Erst nach einigen Augenblicken wurde Aron bewusst, dass er in seinem Zimmer lag. Allmählich beruhigte sich sein Atem. Mit weit offenen Augen sah er sich um. Im Raum lag das diffuse Dämmerlicht der nächtlichen Stadt, Lichtspuren, vom frisch gefallenen Schnee verdoppelt. Der Schnee hatte die Geräusche der Stadt ausgelöscht. Aron lauschte weit in die unwirkliche Stille hinein, versank in ihr für einen Augenblick, fiel zurück in den Schlaf, tauchte Momente später wieder auf, wacher als zuvor. Kein Laut regte sich im Haus. Aus weiter Ferne, von der Straße jenseits des Gartens, war jetzt ein Auto zu hören, Sekunden nur, bevor das gedämpfte Rauschen verflog. Die Eindrücke des Traumes hallten in Aron wider, schienen in seinen Muskeln zu vibrieren. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals so plastisch, so leuchtend geträumt zu haben. Aron versuchte sich zu entspannen. Er legte das Hju in sein Atmen. Doch die Unruhe in ihm wuchs. Er wandte den Kopf. Die Leuchtziffern seines Weckers zeigten 3 Uhr 36.

Aron dachte an seine Kindheit, als er manchmal wach gelegen war, erfüllt von grundloser Beklommenheit, das erste Dämmern des Morgens herbeisehnend. Einige Male war er in diesen Stunden mit Ben wach gewesen, hatte sich flüsternd unterhalten, bei gelöschtem Licht, hatte mit geschlossenen Augen in die Finsternis gesprochen, wissend um die klare Aufmerksamkeit des Freundes. Ben! Ben war tot. Allmählich kehrte die Erinnerung an den vergangenen Tag zurück, an den Gang im Park, die perlende Kette der Erinnerung am alten Platz unter dem Holzdach, an das zufällige Auffinden der Kassette, an die Abschiedszeremonie in der Halle der Liga, an den Weg zurück ins Wohnheim durch den ersten Schnee des Jahres, an das Tonband, das Ben versteckt hatte. Es steckte im Rekorder, die ersten Meter waren abgespielt und hatten herbe Enttäuschung gebracht.

Die Kassette enthielt tatsächlich Stücke der Heavenly Lights, beginnend mit dem Arrangement eines Liga-Liedes, das schon auf den ersten Zusammenkünften der Atmas gesungen wurde, ein naives Kinderlied mit schlichten Reimen und simpler, eingängiger Melodie. Nun war das Stück mit monotonem Synthesizer-Rhythmus unterlegt und die Refrains zu pathetischem Chorgesang gesteigert. Aus dem bescheidenen, einfältigen Lied war ein aufgeblasener, mit künstlichen Emotionen überfrachteter Schlager geworden. Arons neugierige Anspannung war im Nichts zerflossen, als die ersten Takte erklungen waren, schale Bitterkeit zurücklassend, Enttäuschung. Aron hatte unbeherrscht das Kabel aus der Steckdose gerissen. Er hatte eine Botschaft Bens erwartet, einen Bericht über die Erfahrungen seiner Reise, einen der poetischen Texte des Freundes, in die er manchmal seine Erkenntnisse und Eindrücke fasste, eine geheime Mitteilung, die vielleicht Aufschluss gab über seine Reise, sein frühes Zurückkommen, seinen Tod. War es nur ein schlechter Witz Bens? Aber Ben war tot. Die Enttäuschung über die Kassette hatte den Schmerz um den Verlust des Freundes wiedergebracht, den Schmerz, der jetzt erst, nach dem Schock der ersten Tage, ins Bewusstsein zu dringen begann, wirklich wurde, sich einbrannte.

Aron lag bewegungslos, atmete tief, ließ das Hju strömen. Die Stille tat ihm wohl. Die anderen schliefen in ihren Zimmern. Die Ruhe im Wohnheim schien nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen, sondern ein Friede des Geistes, eine Leere, geläutert von fremden Gedanken. Ruckartig drehte Aron sich auf die Seite, tastete nach dem Rekorder auf dem Boden, nestelte den Stecker in die Dose, drückte die Taste, die das Band in Bewegung setzte.

Die Musik zertrümmerte die Stille. Erschrocken schob Aron den Regler zurück, bis nur noch ein Wispern zu hören war, ein blecherner Brei von Stimmen und Instrumenten. Eine Minute lag Aron, hörte dem rhythmischen Geräusch zu, starrte in die Dunkelheit, spürte, wie seine Gedanken sich verhedderten, wie in ihren Windungen Bruchstücke des Traumes aufleuchteten, dieses plastischen Traumes, dessen Bilder allmählich in die Erinnerung zurückfanden – die Grotten der Schlangen, das Heulen des Windes, die klingenbreite Brücke, die Urfinsternis der pyramidenförmigen Kammer, die Glut in der Tiefe des Abgrunds, die panische Angst vor dem Fallen.

Im gleichen Augenblick brach jäh, mitten im Takt, die Musik ab. Ein metallenes Klicken ertönte, das Rumpeln eines unsachgemäß behandelten Mikrofons, eine dumpfe Stimme. Aron fuhr auf und stoppte das Band. Sein Herz jagte. Er tastete nach der Taschenlampe, die er in Reichweite seines Bettes aufbewahrte. Aron glitt aus dem Bett und zog die Vorhänge dicht, bevor er die Lampe anknipste, ihren Schein mit der Hand dämpfte. Angst vor den Ethik-Hütern ergriff Aron. Im schwachen, unruhigen Licht kramte er nach den Kopfhörern für den Rekorder, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Schließlich lag er wieder unter der Decke, zitternd vor Kälte und Aufregung, die kleinen Schaumstoffpolster an den Ohren. Er lag einen Augenblick still, um den heftig gehenden Atem zu bändigen, das Zittern aus dem Körper zu vertreiben, dann ließ er das Band ablaufen.

Die Stimmen von zwei Männern waren zu hören, die eine sprach heiser und mühsam, als bereite das Sprechen Schmerzen, die andere leise und gedämpft, als fürchte sie, belauscht zu werden. Die Stimmen waren eingebettet in Nebengeräusche, klangen umhüllt von Watte der Dumpfheit. Aron spulte das Band zurück, bis er die Musik der Heavenly Lights hörte, rein und klar, professionell aufgenommen in den Studios des Hauptquartiers, wartete ungeduldig auf den Bruch, das Rumpeln und Krachen, das Einsetzen der Stimme, hoffte schon, alles sei bloß Sinnestäuschung gewesen, eine Erinnerung an seinen Traum, die in die Wirklichkeit herübergerutscht war, erschrak, als die Musik tatsächlich schroff abbrach.

„Läuft das verdammte Ding?“, fragte die heisere Stimme.

„Ja,“ kam die Antwort, wie ein gehauchter Laut.

„Bist du sicher, dass dir diese sogenannten Ethik-Hüter nicht gefolgt sind, diese Bande von heuchlerischen Verbrechern.“

„Ich bin ganz alleine da.“

„Halte mich nicht für paranoid, aber diese Kerle sind in der Lage und verkleiden sich als Ärzte und Krankenschwestern.“

„Keine Angst, ich glaube, dass sie gerade heute anderes im Sinn haben, als uns beiden hinterherzuspionieren.“

„Du meinst wohl, sie überlegen sich, wie sie Ken doch noch umbringen können.“

„Was willst du damit sagen?“

„Hast du noch immer nicht begriffen, dass Panetta und seine EH-Gestapo hinter diesem Attentat stecken? Sie haben Wind davon bekommen, dass Ken in aller Öffentlichkeit die Wahrheit über die Liga auspacken, dass er mit dieser unerträglichen Lüge Schluss machen wollte. Da blieb ihnen nur eine einzige Möglichkeit, nämlich ihn aus dem Weg zu räumen.“

„Aber…“

Aron schaltete den Rekorder ab. Es war ein schwerwiegender Bruch der Liga-Ethik, ein solches Band anzuhören! Aron, ein Student der Akademie, ein Eingeweihter des achten Kreises, war sich seiner Verantwortung augenblicklich bewusst. Er hatte den entsprechenden Paragrafen im Anhang zum Buch der Erleuchtung oft genug gelesen und in Arbeitsgruppen diskutiert: „Material, das die Liga und ihre Prinzipien und Lehren verleumdet, verunglimpft oder kritisiert, oder Unwahrheiten über die Liga in Umlauf bringt, ist unverzüglich einzuziehen und einem Ethik-Hüter zu übergeben. Die Person, die es verbreitet, ist namentlich zu melden.“ Es war Arons Pflicht, das Band abzuliefern, den Hergang seiner Auffindung zu berichten, Bens Namen zu nennen, den Freund noch im Tod zu denunzieren. Die Anweisungen zum Schutz der Liga im Buch der Erleuchtung ließen keine andere Wahl. Vielleicht war dies eine Prüfung, einer jener Tests der Loyalität, die allen Atmas, die nach höheren Einweihungen strebten, jederzeit widerfahren konnten, eine geschickt eingefädelte Probe, deren Frist wahrscheinlich morgen ablief, eine Probe, ob die Treue zur Liga über die Treue zum besten Freund ging. Machte er nicht gleich am Vormittag Meldung von dem Vorfall, war sein Weg in der Liga zu Ende. Niemand würde ihn zur Rede stellen, niemand nach dem Band fragen, doch seine Akte im Hauptquartier wäre befleckt mit einem kaum gutzumachenden Makel, der sich nur auf dem mühevollen Weg reumütiger Selbstbezichtigung, dem Absolvieren umständlicher Deproschulungen und langer Bewährung in untergeordneten Diensten abwaschen ließ. Doch er hatte die Kassette zufällig gefunden. Niemand hatte ihn darauf hingewiesen, niemand hatte sie ihm zugespielt. Bens Nachricht auf dem Anrufbeantworter war nur ein Spiel mit Worten gewesen, Arons Gang zum alten Platz im Park bloß eine sentimentale Regung, eine Fügung. Ben hatte die Kassette wahrscheinlich dort versteckt, um sie selbst später abzuholen. Mulmige Angst wuchs in Aron, Nervosität und zugleich Neugierde. Bilder seines Traums mischten sich unter seine Gedanken. Die Brücke aus der Finsternis. Er würde den Abgrund sicher überqueren, wenn er den Gesetzen der Liga die Treue hielt, aber er würde hinabstürzen in das brennende Schwarz, wenn sich Zweifel in sein Herz schlichen. Vielleicht waren es die Zweifel an Lirep Crapp, die sein Unterbewusstsein vergifteten. Vielleicht war der Traum eine Warnung des Hju, ein Symbol seiner Prüfung. „Subversives Material darf nach seiner Entdeckung nicht gelesen, gehört oder betrachtet werden, um Neugierde zu befriedigen,“ stand im Buch der Erleuchtung. „Es gibt nur einen Schutz gegen die Vergiftung des Bewusstseins – kein Gift zulassen.“ Aron wälzte sich auf dem Bett. Er sah sich im Büro der Ethik-Hüter, die Kassette in der Hand, einen Fragebogen ausfüllend, Bens Namen einfügend. Man würde ihn fragen, ob er das Band zu Ende gehört hatte. Es war nicht möglich, Ethik-Hüter zu belügen. Zugleich spürte er seinen Fuß auf dem Ansatz der Brücke, auf dem Beginn des schmalen Grates über den flammenerfüllten Abgrund, sah den Menschen, der vor ihm gegangen war, sah ihn hinabstürzen in die Tiefe. Traum und Wirklichkeit glitten ineinander. Einen Augenblick verharrte Aron, horchte in die Stille der Nacht hinein, bevor er das Band ein kurzes Stück zurückrollte, die Kopfhörer aufsetzte und den Startknopf drückte.

„…Wind davon bekommen, dass Ken in aller Öffentlichkeit die Wahrheit über die Liga auspacken, dass er mit dieser unerträglichen Lüge Schluss machen wollte. Da blieb ihnen nur eine einzige Möglichkeit, nämlich ihn aus dem Weg zu räumen.“

„Aber…“

„Frag mich nicht, wie sie es angestellt haben, den armen Kerl, der geschossen hat, dazu zu bewegen, den Mahaguru abzuknallen. Ich bin keiner von den Spinnern, die all das spiritistische Zeug glauben, mit dem heutzutage so viel Missbrauch getrieben wird, aber seit ich gesehen habe, was ich gestern sah, weiß ich, dass hier etwas im Spiel war, das sich nicht ohne Weiteres erklären lässt.“

„Wenn es stimmt, was du sagst, wird es ihnen keine Probleme bereiten, Ken im Krankenhaus den Rest zu geben.“

„Ich glaube nicht, dass das, was sich jetzt Ken nennt, so leicht umzubringen ist. Hör zu, genau das ist der Grund, warum ich dich gebeten habe, das Tonband laufen zu lassen. Ich will, dass aufgezeichnet wird, was ich jetzt sage. Ich will, dass du einen Beweis hast, wenn man es später anzweifelt. Ich habe in den vergangenen Jahren so viele Lügen gehört, dass ich sichergehen will, dass meine letzten Worte von niemandem in Zweifel gezogen werden. Du und ich sind die einzigen, die mit eigenen Augen gesehen haben, was geschehen ist. Ich möchte, dass du meine Stimme als Beweis anführen kannst, wenn das einmal nötig sein sollte.“

„Was soll das heißen, deine letzten Worte? Du wirst in ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen.“

Gelächter, das in Husten überging, war die Antwort. „Ich werde dieses verdammte Krankenhaus nicht lebend verlassen. Damit habe ich mich abgefunden. Ich bin Arzt. Ich weiß, wann es zu Ende geht.“

„Aber John, die Verletzungen sind doch...“

„Lass gut sein. Es geht nicht um mich. Es ist nicht die Kugel, die mich getroffen hat. Die war in der Tat harmlos. Selbst für einen alten Knacker wie mich auf keinen Fall tödlich. Ein läppischer Streifschuss am Arm. Ich könnte eigentlich mit einem kleinen Verband nach Hause gehen.“

„Was ist es dann?“

„Vergiss es! Sag mir lieber, wie du den Anschlag erlebt hast.“

„Na ja, es ging alles so schnell. Ich saß hinter der Bühne, neben Ted und dir und habe Ken angestarrt. Woher weißt du eigentlich, dass er an diesem Abend die Liga auffliegen lassen wollte?“

„Ted und Ken haben mich eingeweiht, als wir im Heli zum Seminar flogen. Ich war erleichtert. Auch mir stand diese Lüge bis zum Hals. Du weißt sehr gut, was ich seit Jasons Tod für die Organisation empfand. Aber lassen wir die alten Geschichten. Sprich weiter. Wir haben nicht viel Zeit.“

„Gut. Ich starrte Ken an. Ich fieberte diesem Vortrag entgegen, der alles verändern und zum Guten wenden sollte. Meine ganze Hoffnung ruhte auf diesem Vortrag. Ich war in Sorge, wie die Atmas reagieren würden und vor allem, wie Panetta reagieren würde. Ich war wie in Trance. Ken begann zögerlich zu sprechen. Auf einmal fielen die Schüsse. Ich sah Ken auf seinem Stuhl zusammensacken. Scheinbar gleichzeitig war auch Ted schon bei ihm. Er muss losgerannt sein, in dem Augenblick, als der Mann schoss. Vielleicht hat er gesehen, wie sich im Publikum einer erhob und die Waffe zog. Ted saß so, dass er zwischen zwei Kulissen ein Stück des Saales sehen konnte. Ja, er muss den Kerl entdeckt haben, bevor er schoss. Im Saal schrien einige Leute, aber der Mann schoss weiter und traf Ted. Du ranntest unmittelbar danach auf die Bühne und zucktest plötzlich zusammen.“