Der Sonnenstern - Franz Binder - E-Book

Der Sonnenstern E-Book

Franz Binder

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Beschreibung

In einer Zeit, in der alle Werte sich wandeln und die Mächte von Licht und Dunkel zum Endkampf rüsten, beginnt Aelan-Y den abenteuerlichen Pfad zur Erkenntnis der Einen Kraft, der weit über den Zwiespalt von Gut und Böse hinausführt. In dieser Epoche der Verwirrung schließen sich auch die Kreise uralten Schicksals, die Aelan, Mahla und Rah seit vielen Lebensspannen verbinden.'Der Sonnenstern' erschließt eine neue Dimension der Fantasy- Literatur: Die atemberaubend spannende Geschichte und die schillernde Beschreibung des mythischen Inselkontinents Atlan verbindet sich mit einer tiefen Einsicht in die universelle Wahrheit und das Wesen des spirituellen Weges. Der Schritt, den der Leser des 'Sonnenstern' über die Abgründe der Zeit hinweg tut, ist zugleich ein Schritt in die Tiefen des eigenen Herzens.

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Franz Binder

DER SONNENSTERN

Ein spiritueller Fantasy-Roman

Dieses Buch enthält Verweise zu Webseiten, auf deren Inhalte der Verlag keinen Einfluss hat. Für diese Inhalte wird seitens des Verlags keine Gewähr übernommen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich.

Als Vorlage diente die komplett überarbeitete Printausgabe von 2012.

Zuerst erschienen im Drei Eichen Verlag, Ergolding/Hammelberg.

ISBN 978-3-8434-6186-3

© 2008 Schirner Verlag, Darmstadt

Alle Rechte vorbehalten

1. E-Book-Auflage 2014

Umschlaggestaltung: Franz Binder

E-Book-Erstellung: Zeilenwert, Rudolstadt, Germany

www.schirner.com

Inhalt

Widmung

Prolog

Erstes Buch

Kapitel 1– Brüllendes Schwarz

Kapitel 2– Herbstgäste

Kapitel 3– Die Hüter der Stadt

Kapitel 4– Vielzüngiges Schweigen

Kapitel 5– Ein Wohlgeruch

Kapitel 6– Die große Wanderung

Kapitel 7– Dunkelheit der Liebe

Kapitel 8– Der Name des Sonnensterns

Kapitel 9– Die Blüte aus dem Feuer

Kapitel 10– Am verfallenen Haus

Zweites Buch

Kapitel 1– Die Maske der Flamme

Kapitel 2– Eine Zeit endet

Kapitel 3– Ein Tauschhandel

Kapitel 4– Eine gesellige Runde

Kapitel 5– Die Begegnung

Kapitel 6– Verräter

Kapitel 7– Die Nacht des Rates

Kapitel 8– Im Ring des Schweigens

Kapitel 9– Das Orakel der Flamme

Kapitel 10– In der Gläsernen Stadt

Drittes Buch

Kapitel 1– Alte Freunde

Kapitel 2– Drei Brüder

Kapitel 3– Hohe Würden

Kapitel 4– Gnade vor Recht

Kapitel 5– Der von San

Kapitel 6– Das Haus des Trem

Kapitel 7– Die Ruinen von Sari

Kapitel 8– Ein Abschied

Kapitel 9– Das Ende der Stimme

Kapitel 10– Der Spiegel im See

Viertes Buch

Kapitel 1– Wasser des Lebens

Kapitel 2– Die Liebe der Flamme

Kapitel 3– Der goldene Fisch

Kapitel 4– Brüder im Meer

Kapitel 5– Ein Dorn im Fleisch

Kapitel 6– Prüfungen

Kapitel 7– Lohn der Lüge

Kapitel 8– Das Feuer erlischt

Kapitel 9– Heiliger Krieg

Kapitel 10– Letzter Frühling

Epilog

Glossar

Hauptpersonen der Handlung

Informationen und Ankündigungen zu Büchern und Lesungen von Franz Binder unterwww.franzbinder.de

Für den Sonnenstern in allem Leben

PROLOG

Im Jahr Eintausendachthundertvierunddreißig der Neuen Zeitrechnung, dem neununddreißigsten Jahr der Herrschaft von Tat-Alat-Te, dem siebenundvierzigsten Tat-Tsok aus dem Geschlecht der Te, dem Auge des Tat-Be’el, der fleischgewordenen Flamme, dem Herrscher über die vier Stämme Atlans, dem Licht des Zweiten Weltenalters, begann sich unter den Arbeitern der Minen und Manufakturen um Melat eine tödliche Seuche auszubreiten.

Fliehende trugen die Krankheit in alle Städte und Dörfer des Westens. Wer die brennenden Pusteln am Körper spürte, war ohne Hoffnung verloren. Zu glasigen Beulen wuchsen diese Blüten des Todes, füllten sich mit Blut und Eiter und überwucherten den fieberdurchglühten Körper in wenigen Tagen. Der Todeskampf ihrer Opfer ließ sie aufbrechen, höllischer Gestank entströmte ihnen und vertrieb auch die letzten, die am Lager der Sterbenden ausharrten. Der Tat-Be’el aber, der doppelgesichtige Gott, der Allgewaltige, der Lenker der Geschicke von Himmel und Erde, saß taub im mächtig schwellenden Strom der Gebete und Wehgesänge. In seinen Tempeln brannten Räucherwerk und Opfergaben, und auch jene, die niemals sonst an den heiligen Zeremonien teilnahmen, schlugen jetzt die Klagetrommeln und flehten um Schonung für sich und die ihren. Aber die Ohren des Tat-Be’el waren verschlossen. Rasch griff die Seuche über das Land, denn sie wurde durch den Atem übertragen, durch das gemeinsam verzehrte Brot und das Wasser, von dem alle tranken. Doch dem Tat-Be’el war dies nicht Strafe genug. Er schickte der Provinz um Melat einen Sommer, der trockener und heißer war als alle Sommer seit Menschengedenken. Die Flüsse verdampften in ihren Betten und das Getreide auf den Feldern brannte zu Staub. Groß war die Not der Menschen des Westens, so dass viele glaubten, das Ende der Welt sei gekommen.

Wie immer in Zeiten der Heimsuchung, wenn die Mittel der Menschen versagen und die Ohren der Götter verschlossen scheinen, hört das Volk verzweifelt auf jeden, der Trost und Hoffnung verheißt. So war es nicht verwunderlich, dass die Anhängerschaft des Tat-Sanla plötzlich zu Tausenden und Abertausenden zählte, obwohl in den Jahren, die er schon in den Landen des Westens wanderte und seine Lehre vom Einen Tat als dem unendlichen Ozean, dem goldenen Fisch des Himmels predigte, sich kaum mehr als einige Dutzend zu ihm bekannt. Nun aber, da der Tat-Be’el sein Strafgericht herabschickte und die Menschen in solchen Mengen hinsiechten, dass niemand mehr ihre Leichen bestatten konnte, nun, da der Hauch von Tod und Verwesung durch den glühenden Sommer wehte und selbst Menschenopfer den zürnenden Gott nicht zu besänftigen vermochten, fand die Stimme des Tat-Sanla, des kleinen, zierlichen Mannes, der von der Insel San gekommen war, auf einmal Gehör. Die Menschen der Städte und Dörfer hörten sie, die überlebt hatten in ihren Häusern und Hütten; sie schoben die Riegel zurück und kamen heraus, ihr zu folgen. Die Fliehenden hörten sie, die auf offenem Feld wohnten und kein Ziel mehr kannten, da die Seuche schneller war als Pferde und Wagen. Die Verlassenen, die Kranken und Sterbenden hörten sie, und ihnen war sie letzte Hoffnung im Höllenbrodem des Todes. Denn der Tat-Sanla, der von Tat Gesandte, der Retter, der Erlöser, so hieß es, besitze die Kraft, das todbringende Fieber zu bannen. Unzählige brachen auf, ihn zu suchen und seinen Worten zu lauschen. Auf die Ebene von Melat zogen sie, auf jene mit Blut getränkten Felder, wo vor undenklichen Zeiten die Schlacht um San getobt, in der das Heer der Khaïla geschlagen wurde. Dort hatte sich der Sanla niedergelassen, im Schatten der Zedern, und seine engsten Getreuen schirmten ihn vor den herandrängenden Massen. Jeden Tag in der Morgendämmerung und beim Sinken der Sonne sprach er zu den Menschen. Seine Stimme, die leise war und sanft, füllte auf wundersame Weise die weite Ebene. Wie eine linde Brise ging die Stimme des Tat-Sanla über die Menschen hin, sodass die zuletzt Gekommenen, die ihn kaum zu erkennen vermochten im Schatten der Bäume, sie so deutlich vernahmen wie jene, die zu seinen Füßen saßen. Jedes Mal, wenn er sprach, erhoben sich Kranke von ihren Lagern und riefen: Er hat mich geheilt, und nicht nur einmal, so flog die Kunde durch die Menge, seien Tote erwacht und aufgestanden, als die Stimme des Tat-Sanla, durch den die Barmherzigkeit des Tat floss, die erkalteten Herzen berührte.

Aber nicht nur die Kranken und Verlorenen vernahmen sie, die Entwurzelten und Furchtsamen. Sie drang auch in die Tempel der Priester und weckte zähen Hass wider diesen Frevler und Lästerer, der sich anmaßte, sie Götzendiener zu nennen, Heuchler, Verräter, Beschmutzer der Liebe des Einen Tat. Der sich gegen die Zeremonien wandte, gegen die öffentlichen Gebete und Opfer, gegen den Prunk der Prozessionen und Feste. Und der den Be’el, das Feuergesicht des Tat-Be’el, Auswurf des Bösen schimpfte, verderbten Schatten dunkler Macht. Aus der zahllosen Schar der Dhans, der Wanderprediger und Asketen, die das Land durchstreiften und ob ihrer Harmlosigkeit geduldet wurden von den Priestern der Tempel, war der Tat-Sanla hervorgetreten, doch nun, als Tausende kamen, ihn zu hören, verlangte der Tat-Be’el nach seinem Blut. Kunde vom Tat-Sanla drang bis nach Kurteva, die Stadt der Ringe, den Sitz der Macht des Tat-Tsok. Die Alok, die sieben höchsten Priester, schleuderten den Bannfluch gegen den Volksaufwiegler aus San, denn nur seinetwillen, so sprachen sie, geißle der allmächtige Tat-Be’el Atlan mit Not und Unheil. Und schon seien Tempel geschändet worden vom verblendeten Volk und Diener des Tat-Be’el ermordet.

Der Tat-Tsok aber, begierig nach jedem Kitzel für seine abgestumpften Sinne, ließ den Tat-Sanla, den Erlöser und Gottgesandten, um dessen Blut ihn die Priester anflehten, des Nachts, als die Menge sich verlaufen hatte, von Gurenas ergreifen und auf geheimen Wegen nach Kurteva bringen, um ihn mit eigenen Augen zu sehen und seine Worte zu hören. Aber die sanfte Stimme des Sanla erhob sich nicht im Palast des Tat-Tsok. Stumm stand der kleine Mann im abgerissenen Sackgewand vor dem eitel herausgeputzten Hof, der ihn anstarrte wie ein widerliches Tier. Bald schon war der Tat-Tsok des Stillen müde, der keine Wunder tun wollte vor den Neugierigen und allen Bitten, allen Versprechungen, allem Spott und allem Drohen nur sein dürres Schweigen entgegenhielt. Der nicht klagte, wenn man ihn peitschte und der lächelte, wenn man ihn mit grausamem Tod bedrohte. Nach Ablauf eines Mondes übergab ihn der Tat-Tsok den drängenden Priestern, die geiferten, nur das Blut des Frevlers vermöge den Zorn des Tat-Be’el zu besänftigen.

Noch in der gleichen Nacht, einer schwülen, fiebrigen Nacht, in der sich ein Sturm über dem Meer zusammenzog und die Flamme in der gläsernen Kuppel des Tempels in wilden Zuckungen sprang, opferten die Alok den Mann von der Insel San ihrem zürnenden Tat-Be’el. Unter Rachegebeten, dem Schlagen der Gongs und den schnarrenden Klängen der Xelm, in der Dämmerung des von Nebeln schweren Räucherwerks erfüllten Tempels stürzte der zerfleischte Körper des Tat-Sanla, des Mundes des Tat, durch den die Kraft und die Liebe des Allbarmherzigen flossen, auf die dunkel glühenden Mosaiken des Altars und sein Blut strömte in die Opferschale aus rotem Gold. Herolde verkündeten den Tod des Frevlers, der den Zorn des Tat-Be’el herausgefordert, im ganzen Land.

Im Westen aber erhoben sich Abertausende gegen die Herrschaft des Tat-Tsok. Tempel wurden in Brand gesteckt, Priester des Tat-Be’el ermordet, so dass der Tat-Tsok ein Heer entsenden musste, die Aufstände niederzuschlagen. Nach der tödlichen Seuche und dem dürren, unfruchtbaren Sommer kamen als dritte Strafe des Tat-Be’el die Soldaten Kurtevas in den Westen, und sie mordeten, raubten und plünderten, um dem verblendeten Volk den wahren Glauben wiederzugeben. Die Prophezeiung aber lebte, der Sanla werde wiederkommen, um den Tat-Tsok und seine Priester zu strafen und das Böse für immer von Atlan zu bannen. Der Sanla selbst hatte dies in seiner letzten Rede den Menschen des Westens verkündet.

Der Tat-Tsok, der spürte, dass ihm die Macht über sein Reich entglitt, umgab sich mit ausschweifendem Prunk und immer ausgefalleneren Lüsten. Schwer lag er auf dem Land, ein träger Drachenleib, der das Mark des Reiches aussaugte, um seine Genusssucht zu stillen. Misstrauische Augen blitzten in seinem aufgedunsenen Gesicht, und die Schmeichler und Intriganten, die sich um ihn drängten, folgten unterwürfig jeder Willkür seiner Laune. Dem Volk aber galt er schlimmer als alles Unheil, das der Himmel sandte. Schon raunte man in den Tempeln heimliche Gebete, die sein Ende erflehten. Als er schließlich seinen langen, schweren Tod starb, jubelte das Reich, und sein ältester Sohn, der Bayhi, Tat-Nar-Te, wurde als achtundvierzigster Tat-Tsok von seinem Volk begrüßt wie ein Erlöser.

Algor, der sein Erzieher gewesen, der mächtigste Diener des Tat-Be’el, Oberhaupt der Alok, stieg auf zu seinem engsten Vertrauten. Auf seine Stimme hörte der junge Herrscher. Viele Jahre sprach sie von den Zerwürfnissen in der Priesterschaft und von den Intrigen der dunkelgewandeten Männer, die im doppelgesichtigen Tat-Be’el nur den Be’el verehrten, die Flamme, das verzehrende Feuer. Die den althergebrachten Bräuchen und Zeremonien mit Verachtung begegneten, sich von den Festen des Hofes fernhielten und lebten wie Krieger, karg, in eiserner Zucht. Die im Stillen nach der alleinigen Macht strebten, heimlich das Volk aufwiegelten, um ihre Ziele zu verfolgen. Die Aufstände im Westen, die schwelende Unzufriedenheit der Gurenas, der unausrottbare Glaube an die Wiederkehr des Tat-Sanla, all das sei ihr heimliches Werk, sprach Algor zu seinem Tat-Tsok; Abkömmlinge der Nokam seien sie, jener bösen Diener der dunklen Kraft, die vor undenklichen Zeiten der Khaïla gedient und der Vernichtung der südlichen Reiche entgangen waren. Eine tödliche Gefahr seien sie für Atlan und seinen Herrscher. Der Tat-Tsok, blind der Weisheit seines Beraters trauend, erteilte Befehle, erließ Verordnungen und Gesetze. Kein Widerspruch rührte sich, denn die Stimme des Tat-Tsok war die Stimme des allgewaltigen Gottes selbst. So gewannen die Tat-Los, die Priester des väterlichen Tat, die den Pomp liebten und das Gold, Wohlleben und prachtvolle Zeremonie, Übermacht über die Tam-Be’el, ihre asketischen Brüder, die das Feuer verehrten, die reine Flamme des Be’el, die läutern und zerstören konnte und in ihrer Erleuchtung die Herzen versengte.

Algor spann die Netze seiner Intrige fein. Er wollte nicht ruhen, bis der Tat-Tsok die Xem, die drei mächtigsten und weisesten Diener des Be’el, aus dem Rat der Alok verstieß. Auch drängte er den König, die ewige Flamme in der Kuppel des Tempels zu löschen und das Auge des Tat, von dem die Sage erzählte, dass es aus der Gläsernen Stadt stamme, als Zeichen des Einzigen Gottes an ihre Stelle zu setzen. Da beschlossen die Tam-Be’el den Tod des Algor. Der gedungene Mörder aber, der des Nachts in seine Gemächer drang, verletzte Algor nur, wurde von den Wachen ergriffen und gestand unter der Folter die Namen seiner Herren. Als Algor seinen Wunden erlag, befahl der Tat-Tsok in rasendem Schmerz, alle Tam-Be’el zu töten, ungeachtet ihres Ranges. Unzählige Anhänger der Flamme wurden ermordet in den Städten Atlans und ihre bluttriefenden Häupter aufgeschichtet vor dem Thron des nach Rache dürstenden Tat-Tsok, viele aber vermochten zu fliehen.

Der Tat-Tsok verstieß den Be’el und verbot bei schwerer Strafe, dass der Name des verderbten Gottes jemals wieder ausgesprochen werde in Atlan. Der väterliche Tat, der Schöpfer, der Gütige, sei der Eine, Einzige Gott, so wie es gewesen war im alten Reich von Hak, vor Beginn der Neuen Zeitrechnung, ließ er verkünden. Am Hofe des Tat-Tsok aber, in den weißen Roben des Tat verborgen, blieben unerkannt einige Tam-Be’el zurück, um den Weg für die Rückkehr ihres Gottes zu bereiten. Ihre Lippen priesen den allweisen Tat, der die Verräter und Frevler von sich gestoßen, in ihren Herzen aber brannte unauslöschlich der Hass der Flamme. Von den drei mächtigsten Männern des Be’el, den Xem, den Herren des Feuers, konnte nur einer ergriffen werden, Zont, der Traumdeuter des Königs und Hüter des Feuerorakels des Be’el, doch als er, einen grässlichen Fluch auf den Lippen, vor dem Thron des Tat-Tsok hingeschlachtet wurde, wog die Enttäuschung schwerer als der Triumph, denn die beiden anderen waren entkommen. Yort, so flüsterte man im Palast, der Herr der Flammendämonen, sei in das verfluchte und verbotene Land jenseits der Kahlen Berge geflohen, die Spuren von Xerck, dem Meister des Feuers, dem Walter der Macht des Be’el, verloren sich in den Wäldern des Nordens.

Die Zeiten wandelten sich rasch auf dem Kontinent von Atlan in diesen späten Jahren. Nur der Sonnenstern, das lebende Zeichen aller Götter, erhob sich noch immer in der Jahreszeit der fallenden Blätter, ging auf im Norden als leuchtende Himmelserscheinung, wanderte über das nächtliche Firmament, die anderen Sterne hell überstrahlend, und versank noch vor Morgengrauen am südlichen Horizont, so wie es gewesen war seit Anbeginn der Geschichte, als die Namaii, die Hüter der Einen Kraft, die Gläserne Stadt auf den Gletschern des Am erbauten und das goldene Zeitalter von Hak in Licht und Weisheit erblühte.

ERSTES BUCH

Kapitel 1

BRÜLLENDES SCHWARZ

Bevor Ros-La den sorgfältig geschnürten Ballen auf den Rücken des Sok wuchtete, hielt er einen Augenblick inne und betrachtete die Gipfel, die vor tiefblauem Herbsthimmel aufragten. Im Tal lag noch Dämmerung, das Eis der Gletscher aber schimmerte in der Morgensonne. Ros-La kannte diesen Anblick seit vielen Jahren, doch immer wieder weitete sich sein Herz, wenn er am Morgen nach der Ankunft in Vihnn, in der klaren Frühe, vor dieses Bild trat. Ros-La war trotz seines Reichtums, seiner Stellung als Herr des größten Handelshauses von Feen, ein einfacher Mann geblieben, und wenn er einmal im Jahr, um die Zeit des Sonnensternfestes, ohne Knechte und Gehilfen nach Vihnn kam und dort früh am Morgen den zottigen Bergbüffel belud, spürte er, dass die Schlichtheit des Herzens, die er sich bewahrt, gut war. Jedes Jahr, wenn er aus der Char von Vihnn in den jungen Herbsttag mit seinem rauchigen Licht und der krossen Gebirgsluft hinaustrat und die ewig gleichen, unnahbaren Gipfel der Am-Gebirge betrachtete, stellte er sein Herz auf die Probe und fragte sich, ob es sich gewandelt habe im vergangenen Jahr, ob Härte eingezogen sei, Raffgier und Geiz. Und immer, wenn er dann die bange Aufgeregtheit spürte, die der Anblick dieser Wildnis in ihm hervorrief, war er zufrieden mit sich und seinem Herzen. Ros-La, der Kaufmann aus Feen, der es zum großen Handelsherrn gebracht, dessen Karawanen in die entferntesten Winkel Atlans zogen und der über ein befreundetes Kaufmannshaus in Kurteva selbst zu den Kolonien in Nok, weit über dem östlichen Meer, gewinnträchtige Verbindungen pflegte, stand vor den glitzernden Schneegipfeln und freute sich daran, dass er noch immer das arglose, leicht zu rührende Herz eines Jünglings besaß. Mit zufriedenem Lächeln zurrte er den Warenballen auf dem Rücken des Sok fest, prüfte, rückte zurecht und dachte, ein wenig missmutig, an Hem, seinen Sohn, der noch in der Herberge saß und schlecht gelaunt das Morgenmahl in sich hineinschlang. Könnte ich ihm mit allem Gold und Geld auch mein Herz vererben, dachte Ros-La. Doch auch bei diesem Gedanken, den er schon tausendmal gedacht, kamen die alten, immer gleichen Gefühle– Melancholie, Resignation und ein Schimmer von Hoffnung, dass Mäßigkeit und Vernunft noch reifen würden in Hem. Ros-La befestigte den Beutel mit Proviant, den Ledersack voll Lemp, tätschelte den Hals des Bergbüffels und sah zu, wie der Atem des Tieres in der Morgenluft verging. Er machte einige tänzelnde Schritte, denn es fröstelte ihn, und ließ seinen Blick lange über die Berge streifen, über deren Rücken die Sonne langsam ins Tal kroch. Schließlich klatschte er in die Hände und rief ärgerlich in die offene Türe der Char nach seinem Sohn: »Komm endlich, wir sind schon zu spät.«

Statt des säumigen Hem zwängte sich No-Ge durch die niedrige Tür, keuchend, mit zornrotem Gesicht, die einmal in aufgeregte Bewegung versetzte, bebende Leibesfülle nur mühsam vor Ros-La zum Stehen bringend.

»Es ist nicht zum Aushalten«, prustete er hervor. »Ich bin ein geduldiger Mann und ein gutmütiger obendrein, aber das geht zu weit.« Seine Arme fuchtelten in der Luft. »Das Bett ist zu hart, das Dörrfleisch zu trocken, der Lemp zu warm, die Suppe zu kalt. Ihr wisst, verehrter Ros-La, dass Ihr mir mehr seid als ein Gast. Ein geschätzter alter Freund seid Ihr, den ich jedes Jahr mit Freuden erwarte. Auch Euer werter Sohn ist mir willkommen, wie jeder, der Eurem Hause entstammt, Tat möge es schützen, aber ich kann nicht dulden, dass der junge Herr mich unaufhörlich beleidigt. Seit er gestern Abend den Fuß über die Schwelle meiner Char setzte, schimpft er, höhnt er, verlacht er mich, kränkt er mich. Verzeiht Ros-La, aber ich…«

Ros-La legte dem außer Atem geratenen Wirt die Hand auf die Schulter. »Lass nur, No-Ge. So ist die Jugend der Stadt heutzutage. Immerzu laut, frech und herablassend. Ganz Feen ist voll von solchen Hitzköpfen. In Kurteva soll es noch schlimmer sein. Aber glaube mir, man gewöhnt sich daran.«

»Oh nein! Ich würde mich niemals daran gewöhnen und möchte es auch nicht. In welchen Zeiten leben wir…«

»Bei euch ist die Zeit stehen geblieben, No-Ge. Seit über vierzig Jahren komme ich ins Tal des Am und finde noch immer alles unverändert. Danke dem Tat dafür, alter Freund, dass er die Zeit still an euch vorüberfließen lässt. Glaube mir, eine größere Gnade kann er den Menschen nicht zuteil werden lassen.« Ros-La war milder Stimmung. Die Aufregung des Wirtes erheiterte ihn.

»Glaubt das nicht, verehrter Ros-La. Die Zeit steht auch bei uns nicht still. Seht nur…«

Weiter kam No-Ge nicht. Ein schlanker, hochgewachsener Jüngling trat ins Freie. Er musste sich bücken, um den Kopf nicht am Türstock zu stoßen. Er trug einen nach neuester Mode gefertigten Reiseanzug aus zartblauem Tuch, an dessen Gürtel er im Gehen ein kurzes Schwert befestigte. Trotz der Beschwerlichkeiten der Reise in die Gebirge hatte Hem-La sich geweigert, die grobe Kleidung anzulegen, die bei Karawanenfahrten üblich war. Gerade an diesem Tag, an dem sie das Ziel ihrer Fahrt erreichen würden, wollte Hem auf die feinen Kleider aus Feen nicht verzichten, die schon gestern den Vihnner Bauern Eindruck gemacht hatten. Das milchige Blau des Leinens brachte die goldene Bronze der Haut und das dunkle, weich fließende Haar des Kaufmannssohnes auf angenehme Weise zur Geltung. Hem-La war schön wie ein junger Gott, und jede seiner Bewegungen zeigte, dass er sich dessen ganz und gar bewusst war. Seine Augen streiften flüchtig über die Schneegipfel im Morgenlicht, dann wandte er sich mit boshaftem Lächeln an den Wirt: »Ist es bei euch üblich, Gäste alleine am Tisch sitzen zu lassen, vor ungefülltem Glas?«

Und zum Vater gewandt sagte er: »Diese Reise ist eine größere Strapaze als ich dachte. Aber dass wir in solchen Häusern nächtigen müssen, geht zu weit.«

»Seht Ihr, er beleidigt mich schon wieder«, schnaubte der Wirt. Die Röte seines Gesichts schwoll bedenklich.

»No-Ge, nimm es ihm nicht übel. Du weißt, was von der Feener Jugend zu halten ist«, sagte Ros-La beschwichtigend.

»Wäre er nicht Euer Sohn, würde ich ihm zeigen, wie man in Vihnn mit seinesgleichen umgeht.«

»Es täte mir leid, den einzigen Wirt dieses kümmerlichen Dörfchens einen Kopf kürzer zu machen«, grinste Hem und klopfte an seinen Schwertknauf. Der so leicht in Wallung geratende Mann bereitete ihm hämische Freude.

No-Ge schnaubte wie ein Sok, rollte die Augen, stampfte zornig auf und eilte, so rasch es seine Fettmassen zuließen, ins Haus zurück.

»Komm endlich!«, trieb Ros-La. Er gab dem Sok einen Schlag mit der flachen Hand und setzte sich mit ihm in Bewegung. Mit vorwurfsvollem Seufzer folgte Hem.

Als sie in sicherer Entfernung waren, fuhr No-Ge nochmals aus der Türe seiner Char, ein langes Fleischmesser schwingend und drohte hinter Hem her.

Hem lachte sein helles, wieherndes Lachen. Auch Ros-La musste lächeln und winkte dem Wirt noch einmal zu. Seine Stimme klang nicht sonderlich streng, als er zu seinem Sohn sagte: »Wohin wir kommen, bringst du uns in Schwierigkeiten. Dein alter Vater muss sich schämen für dich. Du darfst nicht erwarten, dass man dich in einem solchen Dorf behandelt wie in einer Delay in Dweny.«

»Ich habe schlecht geschlafen, Väterchen. Außerdem reizt dieser rotköpfige Kerl geradezu zum Sticheln. Er sollte in Feen eine Delay aufmachen. Die Herzen aller Leute würden ihm zufliegen.«

»Warte ab, wo du heute Nacht schlafen wirst. Wie werden dich die Betten von Han peinigen, wenn dir das von No-Ge schon zu hart war.«

No-Ges Char war das letzte Haus von Vihnn, ein paar Schritte außerhalb des Dorfes gebaut, denn in den Tälern der nördlichen Gebirge war man Fremden gegenüber misstrauisch. Der schmale Weg, der in das sich verengende Tal führte, verlor sich bald. Nach einer Stunde gelangten die Kaufleute zu den Resten einer Brücke, die einst den Am-Fluss und einen in ihn mündenden Bach überquert hatte, grüne, reißende Gewässer, die sich gurgelnd und schäumend unter dem morschen Holz vereinigten. Unmittelbar vor der Brücke begann ein überwachsener Saumpfad, kaum eine Trittspur, der dem Am bergan folgte. Durch dichten Wald führte er stetig nach oben, zuweilen neben dem Fluss herlaufend, dann ihn unter sich lassend, sich eine steile Anhöhe hinauf windend, wo das Wasser des Am über schwarze Felsen herabstürzte. Allmählich verengte sich das Tal. Nacktes Gestein drängte die Bäume zurück. Auf dem Felssteig, der jetzt hoch über dem tosenden Gewässer hinführte, vermochten Mensch und Tier nur mühsam Tritt zu fassen. Der Sok, der Büffel der nördlichen Berge, war das einzige Lasttier, mit dem sich eine solche Reise unternehmen ließ. Die Pferde, mit denen Ros-La und Hem aus Feen gekommen waren, standen in No-Ges Stall und erholten sich von dem mühsamen Weg nach Vihnn. Nach einer Weile trafen sich Weg und Fluss wieder. Das tief in den Fels gegrabene Tal ließ gerade Raum für einen schmalen Steig neben dem Wasser. Die senkrecht aufsteigenden Wände trugen einen engen Streifen Himmel, aber kein Sonnenstrahl drang in die Tiefe der Schlucht. Feuchte Kälte legte sich den beiden Wanderern auf die Brust.

Hem hielt seinen wollenen Umhang krampfhaft um sich geschlungen. Er war wütend. Wütend auf den Vater, der ihn an solch entsetzliche Plätze schleppte, wütend auf sich selbst, dass er überhaupt mitgekommen war. Dieses Gerede über das Innere Tal, die Geheimnistuerei, die Altweibermystik. Jeden Herbst machte der Vater diese Reise, immer um die Zeit des Sonnensternfestes, und jedes Mal wurde maßlos übertriebenes Gewese darum veranstaltet. Keiner durfte die Stunde der Abreise erfahren, kein Knecht, kein Sklave, kein Krieger durfte Ros-La begleiten, erst jetzt, zum ersten Male, welch große Ehre, war es dem Sohn und Erben gestattet, die geheimnisvolle Fahrt mitzumachen. Hem lachte bitter und spuckte aus. Wirklich eine geheimnisvolle Reise. Erst endlos scheinende Etappen durch Wälder und Berge, auf Saumpfaden oder in weglosem Gelände, karge Mahlzeiten, Übernachten unter freiem Himmel oder in den Hütten irgendwelcher Dhans oder Bauern, die der Vater kannte und mit denen er die halbe Nacht schwatzte, als sei er einer von ihnen, dann dieses erbärmliche Vihnn mit seinem fetten Wirt, und jetzt die halsbrecherische Wanderung durch diese Schlucht. Wenn man nicht abstürzte, holte man sich den Tod in dieser schneidend kalten Nässe. Natürlich war der Handel mit dem Tal von Han, von der der Vater stets mit einer wohl gefüllten Kassette wertvollster Edelsteine nach Feen zurückkehrte, eine erstklassige Verbindung. Wer sonst käme auf den Gedanken, in diesen Bergen verstockte Bauern zu vermuten, die Edelsteine von solcher Qualität herbeizuschaffen vermochten und sie eintauschten für ein bisschen Tuch, Gewürze und Tand. Dass sich aber der Herr des Hauses persönlich herablassen musste, seine Waren dort feilzubieten wie ein fahrender Händler, war mehr als unsinnig. Aber er ließ es sich nicht ausreden, die gefährliche Reise alleine zu unternehmen. Dabei könnte er irgendeinen vertrauenswürdigen Karawanenführer schicken. Die Edelsteine, die er heimbrachte, waren zwar wertvoller als der Erlös einer großen Karawane in den Süden oder Westen, noch dazu mit bedeutend geringerem Aufwand gewonnen, aber trotzdem… Außerdem ließe sich das Geschäft mit diesen tumben Bauern bestimmt ausweiten. Wenn sie schon über solche Reichtümer verfügten, durfte man die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, mit beiden Händen zuzugreifen. Man müsste viel mehr aus diesen Kerlen herausbekommen, bevor andere es taten.

Es gab eine Menge zu verändern, sollte der Alte irgendwann einmal die Güte haben, sich zur Ruhe zu setzen. Alles war verknöchert, die Führung des Geschäfts, der Umgang mit den anderen Handelshäusern, die Ausstattung der Karawanen. Welche Gewinne hatte man sich schon entgehen lassen, nur weil die Art, sie zu erwerben, nicht den überkommenen Sitten lange vergangener Zeiten entsprach. Die Handelshäuser in Kurteva waren nicht so zimperlich. Sie nutzten jede sich bietende Möglichkeit unerbittlich, einen Konkurrenten auszuschalten, einen Vorteil zu gewinnen. Sie waren näher am Tat-Tsok und seinen Tnachas und natürlich an diesen verfluchten Tat-Los, diesen gierigen Priestern. Sie kauften ihnen Gesetze und Erlasse ab, die ihnen nutzten und die Kaufleute der anderen Städte benachteiligten. Es war höchste Zeit, das zu ändern. Man müsste selbst nach Kurteva gehen, dort ein Kontor einrichten, Verbindungen anknüpfen mit dem Hof, auch wenn es eine Menge kostete. Das Haus La besaß genug, um diesen Schritt zu wagen, doch der Vater widersetzte sich starrsinnig.

Hem, der widerwillig hinter dem Sok hertrottete, den der rüstig ausschreitende Vater sicher über die gefährlichen Stellen des Weges führte, war in Gedanken verloren. Er bemerkte nicht, dass das Tal wieder breiter wurde und die Sonne, die jetzt hoch am Himmel stand, ihre Strahlen bis auf den Grund des ruhiger fließenden Gebirgswassers schickte.

Ros-La winkte seinen Sohn nach vorne. »Du hast die Angewohnheit, Dinge, die du nicht hören willst, rasch zu vergessen oder vollkommen misszuverstehen.«

»Wollt Ihr mir zu all den Unannehmlichkeiten dieser Reise auch noch Vorhaltungen machen?«, gab Hem respektlos zurück.

»Ganz und gar nicht«, lachte der Vater, dessen gute Laune heute nicht aus der Fassung zu bringen war. »Ich möchte dich nur auf die Begegnung mit den Handan des Inneren Tales vorbereiten und dir einige Verhaltensregeln erteilen, damit dein vorlautes Benehmen nicht in einer kurzen Stunde eine Handelsbeziehung zerstört, die von unserer Familie seit vielen Generationen gepflegt wird und die einmalig ist in ganz Atlan. Ich weiß, du hältst es für unsinnig, diese Reise selbst zu unternehmen. Du hast es mir in den letzten Tagen oft genug an den Kopf geworfen. Du würdest lieber einen Karawanenführer losschicken. Ich aber möchte nicht, dass du dieses einträgliche Geschäft gefährdest und deshalb bitte ich dich, einige Dinge in Betracht zu ziehen, die unserem Haus– deinem Erbe– nur nützen. Ich hoffe, dass dich wenigstens der Gedanke an raschen Gewinn vernünftig machen wird. Denn dies scheint das einzige zu sein, das dich an unserem Handel interessiert.«

»Ihr schätzt mich falsch ein, Vater. Ich habe Euren Rat nie verschmäht, obwohl ich meine eigene Meinung darüber habe, wie man mit diesem verstockten Bauernpack umgehen sollte.«

Ros-La winkte ab und sprach weiter. »Unsere Verbindung zum Inneren Tal stammt aus den Tagen, als sich der Nordstamm trennte und Hem-Kar, der Aibo der Händler und Handwerker, mit seinen Leuten an die Große Bucht kam und Feen gründete…«

»Wollt Ihr mir Geschichtsunterricht erteilen?«

»Es heißt, dass damals die Gläserne Stadt für die Menschen unsichtbar und ihnen der Zugang zu ihr verwehrt wurde. Alle Stämme Atlans…«

»Oder Märchen erzählen?«

»Alle Stämme Atlans bewegten sich nach den großen Kriegen von Hak. Städte wurden gegründet, Urwälder gerodet, Sümpfe trockengelegt. Nur die Handan bewegten sich nicht, die Leute von Han im Inneren Tal. Sie waren dort, noch bevor die Gläserne Stadt gebaut wurde und haben sich bis zum heutigen Tag nicht verändert.«

Hem verdrehte die Augen. »Das ist noch lange kein Grund, ihnen auf solch beschwerliche Weise einen Besuch abzustatten. Meinetwegen können sie bis ans Ende der Welt in ihrem Tal bleiben und sich nicht verändern.«

»Da sie zum Nordstamm gehören– obwohl sie selbst von sich glauben, ein eigenes Volk zu sein, das keinerlei Verwandtschaft aufweist zu den Stämmen Atlans– bestanden immer schon Verbindungen zwischen den Völkern des Nordens und ihnen. Die Händler knüpften sie. Sie wurden bewahrt, auch nachdem Feen gegründet wurde. Das Privileg, das Innere Tal zu besuchen und mit seinen Bewohnern Handel zu treiben, übertrug sich auf die Vorväter unserer Familie, die noch als fahrende Händler durch das Land zogen. Es wurde weitergegeben vom Vater auf den Sohn, bis zum heutigen Tag. Nie ist es anders gewesen, als dass der Oberste unseres Hauses selbst aufbrach, um nach Han zu reisen. Mein Vater hat es so gehalten, mein Großvater und alle, die vor ihnen waren.«

»Ein Grund mehr, es zu ändern.«

»Das Innere Tal, so sagt die Legende, ist durch einen Ring des Schweigens abgeschieden von der übrigen Welt. Nur wenigen ist gestattet, es zu betreten. Hast du bemerkt, dass ich auf dieser Reise einen Ring an einer Kette um den Hals trage? Er ist Zeichen dieses Privilegs, Han zu besuchen und wurde mir gegeben von meinem Vater, so wie ich ihn dir eines Tages geben werde als Teil deines Erbes. Er öffnet den Zugang zum Bann des Schweigens, aber nur jenen, die ihn rechtens besitzen. Du kannst ihn nicht verkaufen oder verschenken oder ihn einem anderen anvertrauen, damit er die Geschäfte im Tal an deiner Stelle erledige. Der Ring würde seine Kraft verlieren, und der ihn unrechtmäßig trüge, würde ein grausames Geschick erleiden in der Schlucht des Am. Das ist der Grund, warum ich über vierzig Jahre lang jeden Herbst diese beschwerliche Reise alleine unternahm, und das ist der Grund, warum auch du sie unternehmen wirst, wenn du diese Verbindung nicht verlieren willst.«

»Väterchen«, lächelte Hem mit spöttischer Milde, »ich finde es rührend, dass Ihr Euch diesen kindlichen Glauben bewahrt habt und ich gebe zu, dass ein wenig Romantik, vor allem hier in dieser entsetzlichen Schlucht, die Reise erträglicher macht, aber ich wage zu bezweifeln, dass solche Legenden irgendetwas mit dem Geschäft zu tun haben, das wir im Inneren Tal abwickeln. Natürlich denke ich nicht daran, die Verbindung zu diesen sicherlich reizenden Leuten hinter den Bergen abzubrechen. Ganz im Gegenteil. Wir sollten uns überlegen, den Handel auszuweiten, denn die Edelsteine, die er einbringt, sind so leicht nirgendwo in Atlan zu bekommen. Wir werden uns allerdings vor der Konkurrenz in Acht nehmen müssen, denn die Geschichten über irgendwelche vergrabene Schätze, in gläsernen Städten oder sonst wo, nehmen überhand. Sicherlich machen sich manche besonders Mutige schon auf die Suche. Mir persönlich ist es gleichgültig, woher die Steine stammen, obwohl ich gedenke, wenn ich schon die Mühen dieses Weges auf mich nehme, an Ort und Stelle mehr über die Gültigkeit solcher Gerüchte in Erfahrung zu bringen. Es kann nicht schaden. Also wirklich, ich habe durchaus nicht vor, den Handel mit dem Tal einzustellen, aber ich habe auch nicht vor, jedes Jahr persönlich diese Vergnügungsfahrt zu unternehmen. Ich werde eine kleine Karawane rüsten, mit Leuten, denen man vertrauen kann. Ich werde sie von einer Eskorte Gurenas bis Vihnn begleiten lassen, denn, lieber Vater, es ist sehr unverantwortlich von Euch, diese Reise ohne Schutz anzutreten. Die Straßen sind unsicher geworden. Das gute alte, oder wie Ihr zu sagen pflegt, das goldene Zeitalter, ist ein für allemal vorüber. Heute kann der Herr des größten Handelshauses von Feen nicht mehr persönlich in abgelegenen Gebirgstälern vorsprechen wie ein fahrender Händler, auch wenn sie hinter magischen Glocken liegen. Dafür wird er die Ausgaben für eine Truppe Krieger nicht scheuen, die seine Karawane begleiten.«

Ros-La schüttelte den Kopf. »Frage Sen-Ju, dem du mehr vertraust als dem eigenen Vater. Frage ihn. Er war selbst nie im Inneren Tal, er kennt die Handan nicht, doch er hat mir stets geraten, meine Reise streng geheim zu halten, niemanden mitzunehmen und keinem davon zu erzählen. Sen-Ju ist nicht der Mann, der sich von Ammenmärchen einschüchtern lässt. Hat er dir vor unserer Abreise keine Anweisungen gegeben, wie du dich verhalten sollst? Hat er dir nicht erzählt, wie heikel dieses Geschäft mit den Handan ist?«

Hem brummte mürrisch und ließ den Vater weiterreden.

»Wenn du schon nicht auf mich hören willst, so höre wenigstens auf ihn. Ich weiß, dass er meine Ansichten über das Innere Tal teilt.«

»Es freut mich, dass ihr wenigstens darüber einer Meinung seid. Meinetwegen kann dieses Tal samt seinen Bewohnern so sein wie es will. Aber die Welt verändert sich. Man kann nicht verlangen, dass alles, was die Vorväter für richtig befunden haben, auch heute noch gilt. Auch Eure Ams werden das einsehen müssen.«

»Du kennst die Starrköpfe von Han nicht. Deine Sturheit ist außergewöhnlich, aber du wirst sie von den Handan übertroffen finden. Sage übrigens niemals Ams zu ihnen, wie wir es in Feen gewohnt sind und wie sich die Leute des äußeren Tales nennen, das beleidigt sie. Sie nennen sich Handan, in ihrer alten Sprache, die, wie sie sagen, die Sprache der Gläsernen Stadt ist. Sie sind wie die Felsen ihrer Gebirge, unbeweglich, unverrückbar. Glaube nicht, dass du ihnen mit deiner Feener Frechheit imponieren kannst. Dort gibt es keinen No-Ge, der rot anläuft und keift– und der übrigens gar kein echter Am ist, sondern aus einer Familie stammt, die es vor vielen Generationen aus der Gegend um Mombut nach Vihnn verschlagen hat. Die Ams des Inneren Tales sind zwar verwandt mit denen von Vihnn, aber du kannst sie nicht mit den Vihnnern vergleichen. Sie setzen dir ihr Schweigen entgegen, wenn ihnen etwas nicht gefällt. Was sage ich, Schweigen, es ist mehr als Schweigen, es ist etwas, das dich zurückschlägt, das dich ausschließt, sich wie eine Glocke über dich stülpt, eine endgültige Abweisung, die nicht wieder gutzumachen ist. Seltsame Kerle. Ich komme nun seit vielen Jahren zu ihnen und doch ist es mir nicht gelungen, sie ganz zu verstehen. Lass dich von ihrer Langsamkeit nicht dazu verleiten, sie für dumm zu halten, oder für leicht zu übertölpeln. Obwohl sie etwas wie eine eigene Sprache haben, verstehen und sprechen sie doch die unsere sehr gut, aber sie sprechen sie so langsam, dass du glaubst, du müsstest ihnen jedes Wort einzeln von der Zunge stehlen. Versuche auf keinen Fall, sie zu drängen, unterbreche sie nicht, lasse sie ausreden, auch wenn sie lange Pausen machen, sonst verärgerst du sie. Und dann schweigen sie, schweigen, schweigen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie schweigen können. Vielzüngiges Schweigen ist der Name dafür in ihrer Sprache. Jede Feinheit ihrer Gefühle drücken sie durch ihr Schweigen aus, Freundschaft und Wohlwollen ebenso wie Verärgerung und Feindschaft, in jeder Abstufung. Und darüber hinaus noch viele andere Dinge, die sie untereinander ausmachen und von denen ich nichts weiß, obwohl ich schon so oft bei ihnen war. Es sollen in ihren Häusern Tage und Wochen vergehen, in denen kein einziges Wort gesprochen wird.«

»Welch himmlische Ruhe…«, spottete Hem.

»Sie denken so langsam wie sie sprechen, aber wenn sie zu einem Entschluss gekommen sind, ist er unumstößlich. Versuche niemals, mit ihnen zu debattieren. Es wäre zwecklos. Nichts gilt als verwerflicher im Inneren Tal, als einen anderen überzeugen zu wollen oder sich gar zu streiten. Es heißt, manche ihrer Gedanken würden über Generationen hinweg gedacht, über Hunderte von Jahren. So ist es für sie immer noch ungeklärt, ob es gut oder schlecht war, dass die Handan die Gläserne Stadt verlassen haben, wie es ihre Legenden berichten.«

Hem lachte schallend. »Es ist nicht zu fassen!«, rief er. »Vielleicht fällt ihnen in hundert Jahren ein, dass sie zuviel für unsere Waren bezahlt haben, und sie fordern ihre Edelsteine mit Zinseszins zurück. Ich muss sagen, Väterchen, ich beginne mich für diese Käuze zu interessieren. Wenn sie nur halb so spaßig sind wie Ihr mir erzählt, bringe ich nächstes Jahr Freunde aus Feen mit, die solche Kuriositäten zu schätzen wissen.«

Allmählich schwand Ros-Las gute Laune. »Ich beginne zu bedauern, dich mitgenommen zu haben, Hem. Ich hätte weiterhin alleine kommen und den Handan berichten sollen, ich hätte keinen Erben, wenigstens keinen, der sich dieser alten Verbindung würdig zeigt«, knurrte er. »Es wäre mir lieb, du würdest umkehren und in Vihnn auf mich warten.«

»Nicht doch, nicht doch«, besänftigte Hem. Solche halb ernst, halb spöttisch geführten Gespräche mit seinem Vater pflegten ihn zu beleben. »Ich habe Euch gesagt, dass ich auf die Verbindung zu diesem Tal besonderen Wert lege. Selbstverständlich bin ich bereit, auf die Eigenheiten seiner Bewohner Rücksicht zu nehmen, wenn es denn sein muss. Ich werde gehorsam all Euren Anordnungen folgen, damit es dem guten Geschäft nicht schadet. Aber solange wir nicht bei diesen Käuzen sind, werde ich doch meine Witze über sie machen dürfen.«

»Sie spüren deine Gedanken, Hem. Fähigkeiten, die in unserer Welt längst verloren sind, haben sich im Inneren Tal erhalten. Die Nähe der Gläsernen Stadt verleiht den Handan außergewöhnliche Kräfte. Spürst du den Ring des Schweigens nicht, der über diesen Bergen liegt wie ein Fluch?«

»Ihr werdet wieder romantisch, Väterchen.«

»Du wirst es sehen. Ich bitte dich nur um eines: Reize sie nicht, sprich sie nicht ungebührlich an, prahle nicht, überlasse das Reden mir. Ich kenne sie. Ich weiß mit ihnen umzugehen. Lass dich von keiner ihrer Absonderlichkeiten hinreißen, über sie zu spotten, auch nicht in Gedanken. Ich werde dich als meinen Sohn und Erben vorstellen. In den nächsten Jahren wirst du wieder mit mir zusammen das Innere Tal besuchen. Du wirst dann allmählich die Geschäfte in deine Hände nehmen. Wenn die Handan an dich gewöhnt sind, wirst du alleine fahren und sie werden das Privileg des Ringes auf dich übertragen. Ebenso hielt es mein Vater mit mir. Bist du nicht gewillt, das hinzunehmen, werde ich die Verbindung abbrechen, denn das wäre besser für sie und für uns. Als ich zum ersten Mal mit meinem Vater diesen Weg ging, habe ich gedacht wie du, aber ich habe gelernt, so wie du wirst lernen müssen.«

»Schon gut, Väterchen«, antwortete Hem kopfschüttelnd. »Wenn es darauf ankommt, weiß ich mich zu benehmen. Ich werde das vielzüngige Schweigen erlernen und die Grade meiner Belustigung damit ausdrücken.«

»Und noch etwas, das du wissen sollst. Du kannst ihr Alter an ihrer Hautfarbe ablesen. Ein Handan, der älter wird, dunkelt. Die Farbe der jungen ist von heller Bronze wie bei allen Menschen von Atlan, aber mit den Jahren dunkeln sie. Die Farbe der alten Handan, von denen keiner weiß, wie viele Winter sie schon auf dem Buckel haben, ist von tiefem Dunkelbraun. Manche scheinen sogar schwarz wie die Menschen aus dem Volk der Nok. Nimm dich vor den Alten in Acht. Sie lesen in deinen Gedanken und durchschauen dich, bevor du den Mund auftust, du aber kannst ihre Züge, die wie der Fels dieser Schlucht sind, nicht deuten. Wie ein Schatten legt sich das Alter auf ihre Gesichter. Man sagt, es komme von der besonderen Luft in diesem Tal, die durchdrungen ist von der Kraft der Gläsernen Stadt.«

»Vielleicht kommt es daher, dass sie sich nicht waschen«, pfiff Hem durch die Zähne und lachte. »Nicht böse werden, Väterchen. Ich muss Abbitte leisten. Ich finde jetzt, es war eine glänzende Idee, mich mitzunehmen. Wenn diese Burschen halten, was Ihr versprecht, geben sie bestimmt Stoff für ein paar Jahre Spaß ab, den man nicht irgendwelchen Karawanenführern überlassen sollte.«

»Hüte deine Worte und deine Gedanken, Hem«, brummte Ros-La, seine Verärgerung mühsam unterdrückend. »Wenn du ihnen missfällst, wirst du sie nie wieder umstimmen können.«

Nach einer kurzen Zeit des Schweigens rezitierte der alte Kaufmann in leierndem Singsang: »Eher wandeln sich die Berge als das Herz eines Handan, eher stürzen die Himmel nieder. Wie die Gletscher des heiligen Sum, auf denen die Stadt schimmert, ist das Herz eines Handan, unvergänglich. Doch wenn die Handan sich einst bewegen, wenn sie die große Wanderung fortsetzen, die sie an den Pforten der Gläsernen Stadt begannen, wird Atlan versinken.«

»Woher habt Ihr das?«

»Lok-Ma ist ihnen nahe verbunden. Er zeichnet ihre Lieder und Legenden auf.«

»Meint Ihr den alten Märchenerzähler, von dem No-Ge gestern gesprochen hat, und über den man in Feen nur mehr lacht?«

»Er ist ein angesehener Mehdrana, und er ist der einzige, der das Leben der Handan erforscht hat und wirklich etwas über sie weiß. Es ist schade, dass wir nicht dabei sein können, wenn er heute Abend bei No-Ge zu Gast weilt, denn er ist ein Tso, ein Wissender der Zeit. Aber wir müssen vor dem Sonnensternfest das Innere Tal wieder verlassen haben. Kein Fremder darf in dieser Nacht im Tal bleiben. Nur Lok-Ma besitzt die Erlaubnis. Ich bin manchmal ein Stück des Weges mit ihm gereist und habe viel von ihm über das Tal erfahren. Vielleicht begegnen wir ihm auf dem Rückweg. Wir werden zum Sonnensternfest wieder in Vihnn sein. Auch das ist ein Grund, warum ich gerne die Reise mache. In Feen ist das Sonnensternfest ein Feiertag wie jeder andere auch, mit Zeremonien in den Tempeln, mit Essen und Trinken und Tanzen. Hier aber, in den Bergen, ist es der höchste Feiertag des Jahres. Nirgendwo anders kann man den Sonnenstern so klar am Himmel erblicken. Noch dazu ist in diesem Jahr Neumond. Der Stern wird heller erstrahlen als sonst. Ein gutes Omen für unsere Reise.«

»Es mag bestimmt recht lustig werden, mit No-Ge das Sonnensternfest zu feiern, obwohl ich für meinen Teil lieber in Kurteva wäre, wenn die Tempeltuben die Dunkelheit der Liebe anblasen. Auch das ist etwas Einmaliges in Atlan. Sen-Ju kennt es…«

Ros-La winkte angewidert ab. »Spreche mir nicht von dieser Schändlichkeit. Der große Tat wird sein Strafgericht herabbrechen lassen über diesen Pfuhl der Verderbtheit.«

»Aber die Dunkelheit der Liebe ist dem großen Tat geweiht…«

»Still. Ich will davon nichts hören!«, schnitt Ros-La seinem Sohn das Wort ab. Hem zuckte grinsend die Schultern und ließ die Sache auf sich beruhen.

Nach einer Weile sprach Ros-La weiter. »Seit deine Mutter tot ist, versuche ich die Zeit meiner Reise so zu legen, dass ich zum Sonnensternfest in den Bergen bin. Außerdem ist der Herbst die beste Reisezeit. Im Frühjahr schwillt der Fluss derart an, dass der Weg ins Innere Tal unpassierbar wird, der Sommer ist zu heiß und im Winter gelänge es keinem Lebenden, durch Schnee und Eis das Tal des Am heraufzukommen.«

»Warum verbringt Ihr das Sonnensternfest nicht mit den Handan im Inneren Tal?«

»Keinem Fremden ist es gestattet, in der Nacht des Sonnensterns in Han zu verweilen. Der Mehdrana ist der einzige, von dem ich weiß, dass die Handan ihn dulden. Man munkelt, er sei im Inneren Tal geboren.«

»Oder er hat den richtigen Preis bezahlt.«

»Oh nein! Es mag so sein, dass du in Feen oder Kurteva alles mit Gold kaufen kannst, den Tat-Lo des Tempels ebenso wie den Tnacha am Hof des Tat-Tsok, aber die Handan sind nicht käuflich. Es gelten andere Gesetze im Inneren Tal. Ich bitte dich nochmals, respektiere sie.«

»Schon gut, schon gut. Zu unserem Nutzen gerne. Sollen sie ihr Fest alleine feiern. Mir wird der Feener Sonnensterntrubel heuer fehlen. Obwohl ich die Art des Feierns, die Euch soviel Freude zu bereiten scheint, offenbar nicht kenne, glaube ich doch, dass ich künftig meine Geschäfte mit dem Tal so legen werde, dass ich zum Sonnensternfest wieder zuhause bin– oder in Kurteva.«

»Wie du willst«, antwortete Ros-La schroff und fiel in Schweigen.

Das Tal verengte sich. Der Weg ließ den Fluss weit unter sich am Grund der Schlucht. Der Pfad wurde so schmal, dass die beiden Kaufleute wieder hintereinander gehen mussten. Ros-La marschierte vorneweg, führte den Sok am Zügel, und Hem folgte mit einigem Abstand. Senkrecht wuchsen die Felsen zur Rechten empor, zur Linken fielen sie jäh ab in den tobenden Fluss. Aus der Gischt des Wassers, das über Steine und Felsbrocken stürzte, stieg die Wand am anderen Ufer lotrecht zum Himmel.

»Es wird wieder ungemütlich«, schrie Hem in das Tosen des Wassers, als Ros-La sich umwandte, aber der Vater zeigte mit einer Geste, dass er kein Wort verstand.

Das Brüllen, das die Schlucht erfüllte, schwoll an. Auch Ros-La schrie seinem Sohn etwas zu, doch es ging in dem mächtigen Donnern unter. Wahrscheinlich war es eine Warnung, denn der Weg stieg nun steil an. Es erforderte Geschicklichkeit, auf dem feuchten Stein nicht auszugleiten. Als sie die Steigung überwunden hatten, hielt Ros-La an, um das Schauspiel, das sich ihnen nun bot, genießen zu können.

Vor ihnen lag eine kesselartige Erweiterung der Schlucht. Es schien, als hätte eine gewaltige Macht einen kreisförmigen Platz aus den Felsmassen herausgeschnitten. Der Am floss breiter und ruhiger in diesem Tal. Der Pfad, der sich in steilen Serpentinen zum Boden des Kessels hinabwand, verlor sich unten zwischen Felsen und Sträuchern, die sich in spärlichen Sonnenstrahlen wärmten, und führte am entgegengesetzten Ende des Kessels wieder in eine enge Schlucht hinein. Doch das waren Dinge, die das Auge erst später entdeckte. Der Blick wurde gebannt von dem zu Gischt verwandelten Wasser, das auf der linken Seite des Kessels, wie vom Himmel herab, tosend in den Am stürzte. Selbst Hem, der glaubte, nichts auf dieser Welt könne ihn noch beeindrucken außer einer Sonnensternnacht in Kurteva, starrte diesen Wasserfall mit offenem Mund an. Im freien Fall stürzte das Wasser herab, schob sich im Flug übereinander, zerstäubte in der Luft, donnerte in den Am, der es brodelnd und kochend aufnahm. In dem Becken, das die Kraft des Wassers ausgewaschen hatte, mitten in der herabbrechenden Gischt, ragte eine schlanke, etwa fünfzig Schritte hohe Felsnadel empor. Ein mächtiger Widersacher des fallenden Wassers war sie. Sie wuchs aus dem aufgewühlten Fluss wie eine zu Stein erstarrte Fontäne. Das Tosen und Brüllen, das als zitternde Gewalt greifbar zwischen den Felswänden stand, übertönte die Worte, die Ros-La seinem Sohn ins Ohr schrie: »Sie nennen es Brüllendes Schwarz. Die Felsnadel dort soll der in Stein verwandelte Hüter der Gläsernen Stadt sein.«

Ros-La trieb den Sok weiter und führte ihn den steilen Weg zum Boden des Kessels hinab. Dort hielt er bei einigen flachen Felsblöcken an, auf denen sich bequem Rast machen ließ. Ros-La band den Büffel an einen Strauch, öffnete den Sack mit Proviant und gab Hem Brot und gedörrte Fleischstücke. Schweigend aßen sie, und schweigend tranken sie ihren Lemp.

Das Tosen des Wassers füllte den Talkessel mit nicht endendem Donner. Das Schweigen der Handan wird sich seiner bemächtigen und ihn verwandeln, dachte Ros-La und lächelte im Stillen. »Wir haben mehr als die Hälfte des Weges geschafft«, rief er. »Der übrige Weg ins Tal ist nicht mehr so beschwerlich wie bisher. Nur an einer Stelle gilt es noch aufzupassen.«

Sofort nachdem sie gegessen hatten, zogen sie weiter. Das Brüllende Schwarz lud nicht zu langer Rast. Der Weg beschrieb einen weiten Bogen um den Wasserfall, und doch schlug den Kaufleuten fein zerstäubte Gischt wie Eisregen ins Gesicht. Als sie den Kessel verlassen hatten, schien ihnen das Tosen des Am in seiner Schlucht wie sanftes Murmeln, verglichen mit dem Donnern des großen Falls. Nach etwa einer Stunde, kurz nachdem sie das schwierigste Stück des Pfades überwunden hatten, ein aus senkrechter Wand herausgehauenes, ausgesetztes Wegstück, das auf schlüpfrigen, brüchigen Felsen hoch über dem Fluss entlang führte, verbreiterte sich die Schlucht. Hem konnte wieder neben seinem Vater gehen.

»Nun sind wir im Bann des Schweigens. Wie eine unsichtbare Schutzglocke liegt er über diesen Bergen. Die Bewohner der Gläsernen Stadt haben sie errichtet, als sich die Stadt den Blicken der Menschen entzog. Die Handan, die immer schon im Tal lebten, sind die einzigen, die der Stadt nahe sind. Sie hüten die Schätze und Wunder der Stadt. Am Brüllenden Schwarz beginnt der Ring des Schweigens und er endet dort, wo die Schneegipfel ins westliche Meer abfallen. So erzählen die Legenden. Auf meinen Reisen ins Innere Tal habe ich gelernt, ihnen Glauben zu schenken.«

»Was sagen die Steuereinnehmer des Tat-Tsok zu dieser Schutzglocke«, brachte Hem nach einer Weile hervor.

Ros-La lächelte. »Es heißt, dass vor langer Zeit einmal Steuereintreiber nach Vihnn heraufgekommen und ins Innere Tal weitergezogen sind.«

»Und?«

»Sie wurden nie wieder erblickt.«

»Oho. Die Ams im Inneren Tal sind gerissener als ich dachte. Jedenfalls wissen sie, wie man mit gierigen Tnachas umgeht.«

»Glaube nicht, dass die Handan auch nur einen Finger gerührt haben. Sie meiden jeden Streit. Der Friede ihres Tales ist ihnen heilig. Doch die alte Kraft ist mächtig in den Bergen. Es gibt Dinge dort, die wir nicht mehr verstehen wollen.«

»Und der On-Tnacha? Was berichtet der dem Tat-Tsok über die fehlenden Steuern?«

»Man hat das Innere Tal vergessen. Es existiert nicht in den Aufzeichnungen der Tnachas von Kurteva. Vihnn gilt als letzte menschliche Siedlung der Am-Gebirge, aber selbst nach Vihnn kommen die Gesandten der Tnachas nicht mehr. Der Aufwand ist zu groß. Was sollten sie dort auch eintreiben? Die Menschen der Berge sind arm. Man misst dem Tal des Am keine Bedeutung zu. Nicht wenige glauben, es sei unbewohnt. Manche halten selbst Vihnn für eine Erfindung der Charis. Das Innere Tal aber ist völlig vergessen und gehört der Legende, mein Sohn.«

»Und uns, Väterchen! Und so soll es bleiben.«

Ros-La wiegte zweifelnd den Kopf. Hem aber lachte und gab dem Büffel einen Klaps.

»Los, du stinkendes Untier! Lauf schneller, damit wir dich bald mit Edelsteinen beladen können! Woher glaubt Ihr, Vater, haben die Ams diese Steine?«

»Ich weiß es nicht. Die Handan nennen sich Hüter der Stadt. Obwohl ich nicht glaube, dass sie Verbindung zur Gläsernen Stadt haben, falls es diese überhaupt gibt, kennen sie offenbar doch Zugänge zu geheimen Schätzen, die seit undenkbaren Zeiten im Inneren Tal verborgen liegen. Denn die Steine, die sie uns geben, sind von erlesener Qualität. Ich habe in der Vergangenheit auch dir nicht alles gezeigt, was ich aus Han mitbrachte. Ich wollte nicht, dass du mit diesen Dingen vor deinen Feener Freunden prahlst.«

»Hört, hört«, entgegnete Hem. »Gibt es keine Möglichkeit, ein paar mehr davon zu erhandeln, oder zu erfahren, wo man selbst danach suchen könnte?«

»Oh nein. Ich bin kaum je über die Char hinausgekommen, die gleich am Eingang des Tales liegt. Nur den tropfenförmigen See des Inneren Tales habe ich gesehen. Er scheint wie ein riesiger, heller Smaragd. Auch die Art des Handels ist genau festgelegt. Wenn ich komme, ihnen ihre Waren zu bringen, bestellen sie bei mir die Dinge, die sie im nächsten Jahr benötigen. Genau das nehmen sie mir dann auch ab. Übrigens wickeln bei den Handan die Frauen die Geschäfte ab. Die Männer sehen nur zu und lassen sich Neuigkeiten aus Atlan erzählen. Bei aller Schweigsamkeit sind sie doch neugierig. Aber auch dabei ist Vorsicht geboten. Man muss wissen, was sie gerne hören. Fange auf keinen Fall mit deinen Feener Aufschneidereien an.«

Hem winkte unwirsch ab.

»Anfangs habe ich versucht, mehr mitzunehmen, als sie bestellt hatten, besonders schöne Stoffe oder ungewöhnliche neue Gewürze aus den Kolonien. Sie aber haben nur ihr Schweigen dagegengehalten und ich nahm all das wieder mit nach Hause. Für das, was sie bestellt haben, geben sie reichlich. Ich habe nie einen Preis genannt und sie haben nie gefeilscht. Sie nehmen die Waren und geben mir Edelsteine dafür. Keiner hat je versucht, einen geringeren Preis zu bezahlen oder mehr für seinen Beutel voll Steinen zu verlangen. Ein uraltes, ungeschriebenes Gesetz regelt den Handel mit ihnen. Obwohl ich sicher bin, dass es keinem, der nicht dazu befugt ist, gelingen würde, auch nur einen Fuß in das Innere Tal zu setzen, wäre es doch störend, wenn allzu viele von seinen geheimen Reichtümern wüssten. Hast du mir nicht von Gerüchten über versunkene Schätze erzählt?«

»Ja, man spricht in den Delays von Feen darüber, wie man früher von den Schätzen von Hak und Sari gesprochen hat. Dummes Gerede zumeist, aber ich könnte mir denken, dass es den einen oder anderen neugierig macht. Ich jedenfalls werde schweigen wie ein Handan.«

»Du beginnst zu lernen, mein Sohn«, lächelte Ros-La.

Die Abenddämmerung sank herab, als sich das Tal verbreiterte und der Himmel über den beiden Wanderern wuchs. Schließlich öffnete sich die Schlucht in ein schmales Tal. Auf den steilen Wiesen standen Herbstblumen wie blaue Sterne und über die runden Bergrücken dehnte sich dunkel der Wald. Unmittelbar hinter ihnen aber wuchsen die schneebedeckten Felsmassive des Am in den Himmel. Als Ros-La an einem Hang den ersten Bauernhof erblickte, ein kleines, niedriges Holzhaus mit schrägem, steil bis zum Boden abfallenden Dach, an die Anhöhe geschmiegt und zu einem Teil in den Berg hineingebaut, lachte der alte Mann, neigte das Haupt und rief: »Wir sind da! Dem großen Tat sei Dank für seinen Schutz.«

Kapitel 2

HERBSTGÄSTE

In der Stube von No-Ges Gasthaus, die, wie in den Dörfern des Nordens üblich, auch als Char, als Erzählhalle diente, tanzte Staub in der Herbstsonne, die in breiten Streifen durch die Fenster schnitt. An den grob gezimmerten Tischen, die No-Ge zu langen Reihen zusammengeschoben hatte, saßen die Bewohner von Vihnn, Krüge mit warmem Lemp vor sich. No-Ge wieselte geschäftig zwischen ihnen umher, trieb die Mägde an, die Öllampen zu füllen, die Feuerstelle zu versorgen, dies und das zu besorgen, wischte zum hundertsten Mal mit einem Lappen über den dreieckigen Tisch, der wie ein Lehrerpult vor den Bänken aufgebaut war und warf dazwischen immer wieder ungeduldige Blicke aus der Türe. Sein aufgeregtes Schnauben und die rudernden Bewegungen seines massigen Körpers wirkten grotesk in der regungslosen Stille des Raumes. Keiner der Gäste sprach ein Wort. Wie erstarrt saßen sie an den Tischen und warteten. Manchmal nur wandte sich einer zur Türe um, wenn ein Windstoß durch die Ritzen pfiff, lauschte, und beugte sich wieder geduldig über seinen Lempkrug. Ein Fremder hätte die Versammlung der Vihnner Bauern für eine Zusammenkunft von Traumwandlern oder Geistern gehalten.

Aber die wenigen Dörfer der nördlichen Gebirge sahen selten Gäste, und wenn, dann waren es kaum willkommene– Steuereintreiber, Soldaten auf der Suche nach Entflohenen oder Schatzsucher, von den Legenden über die Am-Gebirge angelockt. Doch selbst diese Wagemutigen kamen nicht bis Vihnn, das weitab im Norden lag, am Fuße gewaltiger Massive aus Fels und Eis, wo aus schwarzer Felsenschlucht der Am hervorbrach, von dem die Legende berichtete, seine drei Quellflüsse würden genährt von den Brunnen der Gläsernen Stadt.

Gewöhnlich ging das Jahr hin, ohne dass sich ein Fremder nach Vihnn verirrte, die langen Wintermonde, in denen die Menschen auf ihren Höfen eingeschneit waren, das Frühjahr, in dem der Am mit tosender Gewalt zu Tale stürzte und der Sommer, die Zeit der Ernte. No-Ge schenkte Lemp an die Männer von Vihnn aus, die abends in seine Stube kamen, und er schmückte die Char, wenn es heitere und traurige Feste zu feiern gab, die Geburt eines Kindes, den Tod eines Alten, das Fest der ersten Blüte und das Fest der Ernte.

Zum Fest des Sonnensterns aber, im Mond des Rauchlichts, wenn die Laubbäume des unteren Tales golden und rot leuchteten und die Schneegipfel des Am in einem Licht badeten, das sie wie Visionen erscheinen ließ, unwirklich, von innen heraus strahlend, kamen Fremde aus den Ebenen Atlans nach Vihnn herauf. Sie blieben nur kurz im Gasthaus von No-Ge, bevor sie weiterwanderten durch das Brüllende Schwarz nach Han, ins Innere Tal. Ros-La, der Kaufmann aus Feen, kam mit Packpferden an, breitete einen Teil seiner Waren in der Char von No-Ge zum Verkauf aus und zog dann zu den Handan weiter, wie schon seine Väter und Vorväter es getan. Und in manchen Jahren kam Lok-Ma, ein Mehdrana aus Feen, der als Tso galt, als Wissender der Zeit.

In diesem Jahr schien der gewohnte Lauf der Dinge verändert. Ros-La kam mit seinem Sohn Hem, dessen spöttische Überheblichkeit das Blut in den Adern des Wirts zum Kochen brachte, und Lok-Ma, der früher als gewöhnlich angekommen war, hatte No-Ge versprochen, nach seiner Rückkehr aus dem Inneren Tal, noch vor dem Sonnensternfest, eine Geschichte zu erzählen, damit die Char von Vihnn ihren Namen zu Recht trage. Solna, der von den Vihnner Bauernburschen als der frechste und ungestümste galt, hatte den Mehdrana darum gebeten, scheu, mit tausend Entschuldigungen, doch ernst und entschlossen, und der wohlwollende Herr aus Feen hatte lächelnd zugestimmt.

Welch eine Aufregung! Kaum war Lok-Ma ins Innere Tal weitergewandert, als ruhelose Geschäftigkeit wie das Schüttelfieber über No-Ge kam. In jedes Haus, jeden Hof rannte er, die Nachricht selbst zu überbringen, dass der berühmte Mehdrana in seiner, No-Ges Char, eine Geschichte erzählen werde. Er erteilte strenge Verhaltensregeln, trieb händeringend die Mägde an, schmückte die Char eigenhändig mit den Bändern und Schleifen des Sonnensternfestes, nachdem das Gesinde es ihm nicht hatte recht machen können. Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht war er außer Atem.

»Der Mehdrana, der berühmte Mehdrana aus Feen, wird in meiner Char sprechen«, leierte er unaufhörlich. Er plapperte es als ehrenvolle Einladung den Ältesten des Dorfes vor, zischte es als Vorwurf den Mägden hin, die den Boden der Stube nicht sauber genug gescheuert hatten, und als Drohung der Dorfjugend, die sich über den fetten Wirt, der wie ein aufgescheuchtes Huhn durch Vihnn ruderte, lustig machte. »Der Mehdrana Lok-Ma, der berühmte Tso aus Feen, gibt sich die Ehre, in meiner Char zu erzählen!«

»Wir können ihn jeden Tag hören, wenn wir wollen, aber in Feen interessiert sich kein Mensch für seine Ammenmärchen, wenigstens kein vernünftiger. Er wird seine Gründe haben, warum er sie jetzt auf dem Dorf zum Besten gibt«, hatte Hem ihm erwidert, der arrogante Stutzer aus Feen, dessen Ankunft mit seinem Vater No-Ges Aufregung ins Unermessliche gesteigert hatte.

Schon am Nachmittag des großen Tages waren die Dorfbewohner in der Char von Vihnn versammelt. Von den entlegensten Höfen waren sie hergewandert. Selbst der alte Ut von den Furthöfen, die eine gute Tagesreise von Vihnn entfernt im unteren Am-Tal lagen, war gekommen. Anfangs hatte es noch Stoff für Gespräche gegeben: die Ernte, die heuer reichlich ausgefallen war, das Wetter, die unerhörte Dreistigkeit dieses Solna, den Mehdrana um eine Geschichte zu bitten. Solna musste den Vorfall immer wieder erzählen, schmückte ihn bei jedem Male blumiger aus und galt bald als Held, so dass No-Ge nichts übrig blieb, als ihm einen Platz in den vorderen Reihen anzuweisen. Auch der jährliche Besuch des Händlers Ros-La, der am gleichen Morgen mit seinem Sohn ins Innere Tal weitergezogen war, ohne das große Ereignis abzuwarten, war längst in allen Einzelheiten besprochen. Die abfällige Antwort dieses Hem-La, der sich in den Berichten des Wirtes zu einer vom Tat gesandten Strafe wandelte und deshalb die Neugier der Dorfjugend weckte, kannte bald jeder in Vihnn auswendig, und man wälzte die kecken Feener Worte kopfschüttelnd zwischen den zur Sprache wenig begabten Lippen.

Die Sonne stand noch über den Schneegipfeln des Am, als die Gespräche der Vihnner verstummten und Stille auf die Wartenden herabsank. Als die Abendschatten über das Dorf hinweg die Hänge im Osten hinauf krochen, kehrte Lok-Ma aus dem Inneren Tal zurück. No-Ge, der ihn durch das Fenster erspähte, eilte ihm winkend entgegen und geleitete den Feener Mehdrana mit übertriebenen Verbeugungen zur Char. Lok-Ma war ein großer, kräftiger Mann in mittleren Jahren, dessen ausgreifenden Schritten No-Ge nur mühsam zu folgen vermochte. Kurzgetrimmtes, dunkles Haar umrahmte sein kantiges Gesicht, das eher einem Gurena gehören mochte als einem Gelehrten, aber die warme Heiterkeit, die aus seinen Augen und seinem Lächeln strahlte, nahm den markanten Zügen jede Härte.

»Darf ich mich erfrischen, bevor ich beginne?«, fragte er. Der Anflug gutmütiger Ironie verlieh seiner tiefen Stimme etwas Herzliches.