Ziegenschnitzel vegetarisch - Franz Binder - E-Book

Ziegenschnitzel vegetarisch E-Book

Franz Binder

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Beschreibung

Ein aktuelles Thema unserer Zeit – die Verblödung der Welt durch Massenmedien und Konsum – liegt diesem burlesken Roman zugrunde, der augenzwinkernd Spannung, Nonsens, Philosophie, Fantasy, Satire und Spiritualität zu einer literarischen Achterbahnfahrt verquickt. Als sich ein unscheinbarer Briefbeschwerer überraschend als sprechender »persönlicher Reisewecker mit karmagesteuertem Inkarnationsfinder und automatischer Vorleben-Memory« entpuppt und in einer einzigen Nacht das Selbstbild der Wir-Erzähler komplett auf den Kopf stellt, kommt ein turbulentes Abenteuer ins Rollen. Die Erzähler nehmen zusammen mit ihren engsten Gefährten – dem heiligen Ignoratius, der als Eremit in den Bergen lebt, dem philosophischen Chansonnier Florestan Silbertal und der Geschäftsleitungsassistentin Philomena Zickelbein den Kampf gegen die globale Verblödung auf. Einzig wirksames Gegenmittel in dieser Auseinandersetzung ist »verblödungsresistente Intelligenz» in Form eines »metamorphierten» und musikalisch hochbegabten Warans namens Johnny Comodo. Eine versehentliche Zeitreise in die Literaturgeschichte statt in die wirkliche Historie, eine Geschäftsbesprechung in der vegetarischen Stripteasebar, ein treffsicherer Einkauf im Alphabetischen Kaufhaus, eine geheimnisvolle Botschaft aus dem Sphärenmusikradio, eine turbulente Fahrt in der Seinundzeit, ein Vortrag über die spurlos versunkene antiarchäologische Gesellschaft, frappierende Konzerte des Duos Silbertal & Comodo, eine Videopräsentation der Analphabetischen Akademie, die Tiefenbefragung eines leitenden Feuilletonredakteurs und eine vertrauliche Information des singenden Inspektors Hengst vom Sonderdezernat für Undurchschaubares über eine geplante Opernreform sind nur einige der Puzzlesteine bei der Lösung des großen Rätsels, wer hinter dem Verblödungskrieg steckt. In einem rasanten Schlußspurt aber lösen sich alle Verwicklungen und Hindernisse in buchstäblich letzter Minute.

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Franz Binder

Ziegenschnitzelvegetarisch

oder:Wie wir die Welt retteten, ohne dass jemand es merkte

Vorspiel

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten... Erwartungs­gemäß holte uns die Erinnerung ein, als wir das Reptilien­haus betraten. Entschlossen durchatmend stellten wir uns vor die dicke, an ihren Seiten dunstbeschlagene Glasscheibe, hinter der eine Felsenkulisse samt Quelle und Teich lautlos vor sich hin kitschte. Der Waran, der in einem entfernten Winkel döste, erkannte uns erst auf den zweiten Blick. Er reckte ungläubig den Kopf nach vorne und ließ seine gespaltene, fleischige Zunge in anmutiger Fließbewegung aus spitzem Maul aus- und wieder einfahren. Seine Augen füllten sich mit Hass. Mit jähem Ruck sprang er auf und schwankte auf seinen Krummbeinen eilig wiegend auf uns zu. Er rammte mit einer Schulter die Scheibe, dass die Echsen in den benachbarten Terrarien besorgt die Köpfe hoben. Er war ein Stück gewachsen, seit wir ihn an jenem schicksalsschwangeren Spätnachmittag zuletzt gesehen hatten, maß jetzt gut und gerne drei Meter fünfzig von seiner ausgestreckten Zunge bis zur Spitze des Schwanzes. »Varanus komodoensis« stand auf dem Schild neben dem Fenster, »Komodowaran.« Und darunter, eingraviert auf eine blank polierte Messingtafel: »Hier entsteht in Kürze, dank einer großzügigen Spende des Vudu-Konzerns, das größte artgerechte Waranterrarium der Welt.«

Unser Begleiter stand stumm in die Betrachtung der Echse versunken. Während uns das Grauen auf Spinnenbeinen den Rücken hinunterspazierte, begegneten seine Augen dem Wut sprühenden Blick des Riesenreptils mit wehmütiger Zärt­lichkeit. Der Waran bebte vor zorniger Erregung, schien fieberhaft zu überlegen, wie er die Scheibe zertrümmern könnte, um uns an die Gurgel zu fahren. Unwillkürlich wichen wir einen halben Schritt zurück. Keiner der Sonntags­ausflügler, die Popcorn kauend und eisleckend durch den Zoo flanierten, ahnte, welche Abgründe sich im Starren dieser Echse auftaten. Uns jedoch jagte die Rückschau auf jene erschütternden Tage, an denen das Schicksal des Planeten auf wankender Kippe gestanden hatte, die kalte, leicht angefeuchtete Sorte der Gänsehaut über den Körper. Wir hatten genug gesehen, rissen uns los vom Anblick des Warans, zerrten auch unseren Begleiter mit, hastig, als könnten wir uns durch simple Flucht der Erinnerung entziehen. Doch, so wussten wir in diesem Augenblick, den Hassblick des Varanus komodoensis wie einen Racheschrei im Rücken, diese Gedanken würden nur zur Ruhe kommen, wenn wir sie niederschrieben, wenn wir sie aus den Tiefen unseres Bewusstseins entließen, um einem Stapel Papier das Vergessen zu überlassen. Vielleicht würde einst sogar jemand diese Aufzeichnungen finden, vielleicht würden sie auf verschlungenen Umwegen in die Hände eines Verlegers fallen, der geschäftstüchtig genug war, ihre Brisanz zu erkennen. Vielleicht würde einst der Planet aufjubeln im späten Verständnis jener Zusammenhänge, die zu seiner Rettung geführt hatten, einer Rettung, die von niemandem als solche empfunden worden war, da nur wir und unsere engsten Gefährten die grauenvolle Bedrohung überhaupt erkannt hatten. Vielleicht aber würden unsere Bekenntnisse im Reißwolf landen, unverstanden oder gar ungelesen. Es war uns gleichgültig in diesem Moment, obwohl uns für gewöhnlich das Schicksal unserer Manuskripte sehr am Herzen lag. Vielleicht sollten wir unsere Erinnerungen besser in Granit meißeln, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Doch dazu blieb keine Zeit.

Wir waren fest entschlossen, erneut die Seinundzeit zu besteigen, diesmal mit Kurs nach ganz oben. Wir brauchten diesen Abstand dringend. Es blieben nur wenige Tage für die Niederschrift und wir wussten noch nicht einmal, wie wir beginnen sollten, um nicht augenblicklich auf kopf­schüttelndes Unverständnis zu stoßen. Noch während wir uns durch die Menschenmassen schoben, fingen wir an, unsere kaum mehr zu bändigenden Erinnerungen wenigstens grob zu sortieren. Es würde keine Zeit bleiben, sie gefällig aufzubereiten, sie einem breiten Publikum verständlich zu machen. Daher möge der werte Leser dieser Blätter über Sprunghaftigkeit, Abschweifungen und Auslassungen ebenso wohlwollend hinwegsehen wie über stilistische Schwächen und Rauheiten. Dafür kann er gewiss sein, dass er nur die reine Wahrheit vor sich hat, ungekürzt und unzensiert, die bedeutendste Enthüllung seit Erfindung des Striptease… Oh sieh selbst, geneigter Leser, es bleibt nicht einmal Zeit, einen Kalauer dieser Abgedroschenheitsstufe, der Mühe hätte, es selbst in eine TV-Comedy-Show unterster Güte zu schaffen, so zu redigieren, dass er auch gehobenen Bildungsschichten erträglich wird. Wir sind gezwungen, unsere Erinnerungen unfrisiert und ungeschliffen, zugleich völlig uneigennützig in die Hände der Menschheit zu legen, so wie wir dieselbe vor dem unmerklichen, aber schmählichen Untergang bewahrt haben. Möge sie selbst entscheiden, ob sie uns dafür dankbar sein möchte.

Kapitel 1

Der honigfarbene Mond einer schwülen, windstillen Tropennacht glänzte auf Chantals schweißüberströmter, vor Sinnlichkeit vibrierender Haut. Der Professor leckte die Lippen, als er auf die meeresumrauschte Terrasse trat und mit einer nervösen, aber nicht ungalanten Bewegung die Botanisiertrommel ablegte. Seine Augen flackerten fiebrig, was nicht nur auf einen neuerlichen Malariaschub zurückzuführen war.

Das Institut war umstellt. Mit einem verzweifelten Ruck seiner kugeldurchsiebten Hand entsicherte O'Connor die Kalaschnikow. Sein Leben konnten ihm diese Bastarde nehmen, nicht aber seine Ehre und schon gar nicht die Pläne des geheimen Kampfgasdepots, die er soeben kleingerissen und mit einem Rest Dijonsenf verschluckt hatte.

Nachdem sich Paul-Gregor mit einem Hanfseil aus kontrolliert-biologischem Anbau erhängt hatte, gab Regina den Naturkostenladen auf und zugleich dem adeligen Postbeamten der mittleren Laufbahn das Jawort. Er umwarb sie seit Wochen mit schüchternem Drängen, obwohl seine Mutter diese in ihren Augen unstandesgemäße Verbindung mit allen Mitteln zu hintertreiben versucht hatte.

Mit dunkel abschwellendem Heulen brach der Energieschild der Raumstation zusammen. Im gleichen Augenblick begannen die froschköpfigen Grogmanen in ihren Kampfjägern einen unerbittlichen Angriff, in dem sich ihr jahrhundertealter Hass auf die Finanzbehörden der Konföderation entlud.

– Hulda! – stieß er schluchzend hervor und ergriff die Hände seiner sterbenden Gemahlin. Fast wäre er auf den Pudel Pipsi getreten, der mit den Kindern still hereingekommen war und in animalischer Unschuld an Jonathans Beinen emporstrebte. Das trieb selbst dem Erbförster die Tränen in die Augen. Dass vor der Hütte die Alphörner den Abendsegen bliesen, machte die Situation nicht erträglicher.

Der Sturm peitschte Hagel, Schnee und Regen gleichzeitig durch die verlassenen Höfe von Black-Moore-Castle. Kein Schwein hielt sich bei diesem Wetter im Freien auf, außer Kommissar Shearwater, dem gerade diese stockfinstere Novembernacht geeignet schien, den bestialischen Mord an Lady Attington ein für alle Mal aufzuklären.

Der multifunktionelle Romananfang erlaubt Lesern aller Interessengruppen den bequemen Einstieg auch in ein umfangreiches und anspruchsvolles Werk, ohne dass sie sich der Gefahr ausgesetzt sehen, gewohntes literarisches und geistiges Terrain verlassen zu müssen…

Während der alltägliche Tsunami von Konsumwahn, Ungeist und Verdummung erbarmungslos über die Welt hinwegfegte, verging der Nachmittag in der Agentur in erschütternder Ereignislosigkeit. Das unvollendet gebliebene Manuskript unseres »Handbuches für den vollendeten Romancier« war uns aus einem ebenso kühn emporstrebenden wie wackeligen Regal erst auf den Kopf, dann in die Hände gefallen, und da wir jede Gelegenheit nutzten, uns von der desperaten finan­ziellen Lage der Agentur abzulenken, blätterten wir es lustlos durch.

Der angehende Romancier möge sich von dieser scheinbar widersprüchlichen Vielfalt des multi­funktionellen Romananfangs nicht verwirren lassen – es gibt nichts Unpassendes, schließlich hängt neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge im Kosmos alles irgendwie zusammen, selbst wenn der Kleinmütige dies nicht auf den ersten Blick zu erkennen vermag.

»Wie wahr, wie wahr«, seufzten wir, bevor wir das gewichtige Fragment, das leider nie auf das Interesse der literarischen Welt gestoßen war, aus der Hand legten.

Vorwurfsvoll starrte uns der Stapel unbezahlter Rechnungen an, der von einem Briefbeschwerer aus unpoliertem schwarzem Granit niedergehalten wurde. Waren wir dafür der Lohn­knechtschaft eines Angestelltenverhältnisses entronnen, die unsere kühnen Pläne so lange behindert hatte? Hatten wir dafür nächtelang über hochfliegenden Projekten gebrütet, die entweder daran scheiterten, dass sie ihrer Zeit zu weit voraus oder in einer Welt engstirniger Mitmenschen und widerspenstiger Materie undurchführbar waren? Hatten wir dafür prosaische Gelegenheitsaufträge angenommen, um uns zumindest in groben Zügen über Wasser zu halten? Aber was heißt schon über Wasser? Vor Kurzem waren wir mangels solcher Aufträge dazu übergegangen, uns an Strohhalme zu klammern. Etwa an den Brief, den uns vor wenigen Minuten unser chilenischer Postbote mit aufrichtigem Mitgefühl in seinen melancholisch schimmernden schwarzen Knopfaugen gegen Unterschrift ausgehändigt hatte. Immerhin besaß unsere Bank noch so viel Zutrauen in uns, dass sie selbst in Zeiten schwerer Finanzkrisen das nicht unbeträchtliche Porto für einen Einschreibebrief mit Rückschein investierte, um uns die unabwendbare Schuldsklaverei in Aussicht zu stellen, falls wir nicht… Das atmete einen Hauch von Hoffnung, auch wenn sich die Bank in diesem Schreiben nicht zu dem erhofften Schuldenschnitt durchgerungen hatte. Wir schoben den Brief zu den anderen, die unter ihrem granitenen Beschwerer des Vergessens harrten.

Es war nicht zu leugnen. Wir brauchten Geld. Nachdem auch unser Beitrag zu dem von einem Sojasoßenhersteller mit tausend Euro dotierten internationalen Haiku-Wettbewerb mit gleicher Post kommentarlos zurückgeschickt worden war – man fand unsere von transrationalem Bewusstsein inspirierte Dichtung – Es kümmert den Frosch / nicht die Schifffahrtsgesellschaft / je grüner, je platsch – nicht einmal einer ordentlichen Absage wert – gaben wir uns seufzend einen Ruck. Wir mussten unbedingt die Arbeit am »Gebetbuch für Atheisten« wieder aufnehmen, die wir aller Dringlichkeit zum Trotz schmählich vernachlässigt hatten, da es uns wichtiger erschienen war, zusammen mit unserem Opernfreund, Inspektor Hengst, zwei Tage und Nächte um Stehplätze für die Premiere des »Don Giovanni« an der Staatsoper anzustehen. Einzig der holden Kunst, vor allem dem Musiktheater, war es noch möglich, uns zumindet für einige Stunden dem Sumpf der Nöte und Sorgen profanen Alltagsüberlebens zu entheben.

Vom »Gebetbuch für Atheisten« erhofften wir den längst fälligen Durchbruch. Wenn es uns gelang, mit der Kurie ins Geschäft zu kommen, hatten wir ausgesorgt. Doch das Projekt kam nur schleppend voran, was zu einem nicht unbeträcht­lichen Teil an unserem archaischen Computer lag, der zwischen den Papierbergen auf dem Schreibtisch rachitisch vor sich hin röchelte. Mittels jäher Systemabstürze, undefinierbarer Fehlermeldungen, apokalyptischer Viren­vermehrungen und dreister Befehlsverweigerung selbst bei einfachsten Operationen brachte er uns täglich ein weiteres Stück dem Wahnsinn näher. Obwohl ein aufgeklebtes Waren­zeichen ihn als Produkt eines renommierten Weltkonzerns auswies, war er zweifellos von der Firma Hulesch & Quenzel entwickelt worden, die seit Aufdeckung ihrer dunklen Machenschaften durch den verehrten Heimito von Doderer zweifellos massiv in die EDV-Branche investiert hatte, welche für die Durchsetzung ihrer Vorhaben wie geschaffen war. Wir wälzten ziegelsteindicke Handbücher, verbrachten Stunden mit dem Hören unsäglicher Musik in den Warteschleifen gebührenpflichtiger Service-Hotlines und nur das Eingeständnis unserer desolaten Finanzlage, welche die Anschaffung eines Neugeräts kategorisch ausschloss, vermochte uns zurückzuhalten, dem nervenaufreibenden Kampf gegen solch elektronische Heimtücke mit dem finalen Reset mittels eines beherzten Axthiebes ein Ende zu bereiten. Selbst JJ, Jilli Jux, Vorsitzender des K.U.H., des Klubs der untoten Hacker, der vierzehnjährige Sohn unseres Vermieters und ein begnadeter Reiter auf den Datenwellen des virtuellen Meeres, der seine Telefonkosten über den Zentralcomputer des Bundeskriminalamts abrechnete und auf Kindergeburtstagen gegen geringen Unkostenbeitrag Holly­woodfilme ein paar Wochen vor ihrer Premiere vorführte, vermochte uns nicht zu helfen. Unser Computer samt seinen Programmen sei veraltet wie ein Trichtergrammofon. »Ins Museum oder auf den Sondermüll,« diagnostizierte JJ ebenso scharf wie treffend. In der Tat hatten wir unseren Computer als Gebrauchtgerät angeschafft, als JJ gerade den Windeln zu entwachsen begann. Mitterweile jedoch präsentierte sich JJ als ein zu Kleiderschrankgröße herangewachsener 14-Jähriger mit schwarzer Hornbrille auf pfannkuchenartig rundem, leichenblassem Gesicht. Seine stets von Ketchup oder Mayonnaise klebrigen Finger vermochten auf magische Weise über die Tasten aller nur denkbaren elektronischer Geräte zu huschen, um ihnen unausweichlich seinen Willen aufzuzwingen wie ein Rodeoreiter dem Bullen. Lediglich unseren Computer weigerte er sich zu berühren, als sei dieser von einer ansteckenden Krankheit befallen. Seine vernichtende Diagnose stellte er nach einem flüchtigen Blick auf das Gerät, versprach jedoch, uns bei einer Neuanschaffung mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. An eine solche aber war, wie bereits ausgeführt, nicht zu denken.

All dieser Widrigkeiten zum Trotz arbeiteten wir unver­drossen weiter. Es war gelungen, getrieben von Hunger, Hoffnung und Heilserwartung, uns Konzept und Einführungstext sowie einige unersetzliche Ideenskizzen zum »Gebetbuch für Atheisten« abzuringen. »Dieses bescheidene Werk will einen Beitrag dazu leisten, unserer rohem Materialismus verfallenen Gesellschaft den Sinn für ewige Werte wiederzugeben,« lautete der Schluss des Einführungstextes, was zugleich die Höhe des Niveaus, auf dem sich unsere Projekte für gewöhnlich bewegten, deutlich machte. Schon war über einen Mittelsmann Kontakt zu kirchlichen Kreisen hergestellt, die sich durchaus interessiert gezeigt und eine Leseprobe angefordert hatten. Die Zeit drängte. In Kürze war ein konspiratives Treffen mit einer Verbindungsperson zur Kurie in Aussicht gestellt. Nur noch ein wenig Feinschliff am Konzept. Es sollte, es musste, es würde gelingen.

Wir wandten uns dem Bildschirm zu und gaben den Befehl »Datei öffnen« ein, doch statt unseres Textes, an dem der Schweiß und das Herzblut von Wochen klebte, erschien ein Hinweisfenster mit der lakonischen Meldung: »Datei ungültig. Kann nicht wiederhergestellt werden.« Selbstverständlich existierte keine Sicherungskopie des Textes, da sich der elektronische Schuft seit Längerem weigerte, die Disketten zu akzeptieren, mit denen er jahrelang bestens zurecht­gekommen war. (JJ kannte Disketten nur noch vom Hörensagen.) Für Augenblicke waren wir von Entsetzen gelähmt. Wir versuchten es noch einmal und dann noch einmal. Mit arroganter Herablassung zeigte der Bildschirm stets die gleiche vernichtende Meldung.

Jäh wallte in uns die Wut der Verzweiflung auf.

Wir ergriffen unseren Briefbeschwerer aus schwarzem Granit. Bislang war es seine bemerkenswerteste Eigenschaft gewesen, bei Umzügen nicht verloren zu gehen, selbst nicht bei überstürzten, bei denen nur das Allernötigste blitz­schnell in Koffer und Schachteln flog, um bei Nacht und Nebel abtransportiert zu werden. Nach jeder Veränderung in unserem Leben, gleich wie einschneidend sie auch sein mochte, befand er sich wieder auf seinem angestammten Platz auf dem Schreibtisch, obwohl niemand sich daran erinnern konnte, ihn eingepackt zu haben. Seine vorrangige Aufgabe in unseren Diensten bestand darin, dem Stapel unbezahlter Rechnungen das nötige Gewicht zu verleihen. Dank seines beträchtlichen Eigengewichts drückte er die Papiere auf etwa die Hälfte ihres Volumens zusammen, was unsere finanzielle Gesamtsituation zumindest äußerlich in milderes Licht rückte. Diesen unförmigen, rauen, faustkeilähnlich klobigen Granitbrocken also, von dem wir nicht einmal wussten, wie er in unseren Besitz gekommen war, ergriffen wir nun, geifernd vor Empörung. Mit teuflischer Wonne stellten wir uns vor, wie der schwarze Stein erst in den Bildschirm, dann in die Tastatur und zuletzt in die Festplatte dieses durch und durch verderbten, hinterhältigen Gerätes krachen würde. Um diese Vorfreude noch ein wenig auszukosten, wiegten wir den Briefbeschwerer in der Hand wie Hamlet den Totenschädel. In der Tat ging es um Sein oder Nichtsein, in diesem besonderen Fall um das bevorstehende Nichtsein eines Silikonsatans, der uns schon viel zu lange gequält hatte. Die Aussicht, unsere Texte wieder mit Bleistift auf Papier zu schreiben, erschien uns wie die Verheißung des goldenen Zeitalters. Doch da selbst die Hinrichtung einer Datenverarbeitungskomponente in einem literarisch gebildeten Haushalt gewisses theatralisches Pathos verdient, um sie von einem bloßen Akt der Sondermüllerzeugung abzuheben, richteten wir zuvor das Wort an den Granitbrocken in unserer Hand. Im tremolierenden Tonfall eines Stadttheaterschauspielers deklamierten wir: »Künde oh Stein, warum versagt dieses Zerrbild eines Computers, in dessen Bildschirm du gleich einschlagen wirst wie ein von Zeus geschleuderter Blitz, fortwährend so jämmerlich?«

Wir hatten nie zuvor zu unserem Briefbeschwerer gesprochen. Nur sehr einsame oder psychisch labile Menschen sprechen mit ihren Briefbeschwerern. Das ist vermutlich der Grund, warum Briefbeschwerer so selten antworten. Sie reden nämlich ausschließlich, wenn sie gefragt werden. Jener in unserer Hand jedenfalls sagte mit ruhiger, leicht angerauter, doch angenehm warmer, vertrauenserweckender Stimme im aufmunternden Tonfall eines wohlmeinenden Freundes: »Das Betriebssystem weist mehrere schwerwiegende Defekte auf. Sollen diese repariert und verlorene Daten wiederhergestellt werden?«

Wir waren derart von Entsetzen gerührt, dass wir nur ein automatisches »Ja!« über die Lippen brachten, woraufhin sich einen halben Augenblick später unser Briefbeschwerer erneut vernehmen ließ: »Befehl ausgeführt.«

Der verloren geglaubte Einleitungstext zum »Gebetbuch für Atheisten« erschien auf dem Bildschirm, als hätte es nie eine ungültige Datei gegeben.

Augenblicke lang rangen wir um Luft. Dann brach sich ein Rest praktischer Vernunft Bahn. Wenn wir schon auf dem direkten Weg in die geschlossene Anstalt sind, dachten wir, müssen wir zuvor unbedingt diesen Text, von dem unser physisches Überleben abhängt, sichern.

»Sichern!« sprachen wir echogleich das letzte Wort dieses Gedankens laut aus.

»Datei gesichert,« kam die Antwort.

Ungläubig starrten wir den Briefbeschwerer in unserer Hand an. Er hatte ganz ohne Zweifel gesprochen. Die Stimme kam klar und deutlich von diesem Stein in unserer Hand.

Wir blickten uns im Zimmer um.

Wir waren allein.

Ein Gedankenvulkan brach aus.

»Wer bist du?«, hauchten wir.

»Crypto 4CM, Ihr persönlicher Reisewecker mit karma­gesteuertem Inkarnationsfinder und automatischer Vorleben-Memory. Danke, dass Sie mich gekauft haben.«

In der nun folgenden Verblüffungspause schossen uns sieben Möglichkeiten in dieser Reihenfolge durch den Kopf:

1. Ein Streich von Jilli Jux.

2. Vorsicht Kamera.

3. Ein UFO über der Stadt.

4. Der plötzlich und unbemerkt eingetretene Tod.

5. LSD im Trinkwasser.

6. Dämonen.

7. Fortgeschrittene Schizophrenie.

Ruhig bleiben, hämmerten wir uns mit eiserner Gedanken­disziplin ein und legten den Granitbrocken mit der Acht­samkeit eines Zen-Mönches zurück auf den Stapel unbezahlter Rechnungen, den er augenblicklich auf die Hälfte seines Volumens zusammendrückte, wie er das immer schon getan hatte. Der klar gebliebene Rest unseres Bewusstseins machte sich augenblicklich daran, das soeben Geschehene, das gar nicht geschehen sein konnte, zu verdrängen und riet zu einem Spaziergang im nahe gelegenen Park. Sauerstoffmangel. Zu wenig Bewegung. Vielleicht eine Hungerfantasie, da wir seit Tagen nicht wirklich ordentlich gegessen hatten. Es ist erstaunlich, wie viele Erklärungen ein durchschnittlich mit Vernunft begabtes Gehirn für das Unerklärliche parat hat.

Als wir von unserem Gang im Park zurückkehrten, machten wir uns daran, die Halluzination von vorhin – denn um eine solche handelte es sich zweifelsfrei, wie unser Durch­schnittshirn mittlerweile schlüssig analysiert hatte – tat­kräftig als solche zu entlarven. Wir grinsten unseren Computer an, als sei er plötzlich wieder unser Freund, griffen nach dem Granit, wiegten ihn lässig in der Hand und sagten mit abfälligem Lächeln: »Warum sollte ein Stein plötzlich sprechen können?«

Da dieser salopp hingeworfene Satz als Frage formuliert war, begann der Spuk von Neuem. Der Briefbeschwerer in unserer Hand antwortete: »Ich bin kein Stein. Das Steinhafte stellt lediglich die Ummantelung dar. Die Konfiguration des Inhalts ist Ihrem gegenwärtigen Bewusstseinszustand aber leider nicht zugänglich.«

Da war es wieder! Wir hatten auf unserem Spaziergang die oben angeführten sieben Punkte durch strikt logische Schlussfolgerungen und mittels der einleuchtenden Halluzinationstheorie ausschließen können, nun aber drängte der siebte dieser Punkte mit Vehemenz nach vorne. Anstatt mit weiteren Erklärungen des Unerklärlichen aufzuwarten, stellte unser Durchschnittshirn realistische Bilder von Gummizellen, weiß gekleideten kräftigen Männern sowie Ärzten mit Beruhigungsspritzen vor unser geistiges Auge.

Es war ernster als wir dachten. Wir zogen die Vorhänge vor. Wir drehten den Schlüssel in der Türe um. Wir setzten uns auf das Sofa, auf dem wir schon manches kreative Schläfchen gehalten hatten, wenn die Arbeit gar zu drückend wurde und starrten den Stein in unserer Hand an.

»Das kann einfach nicht wahr sein!«, sagten wir nach einer Weile zu uns selbst.

Der Stein schwieg.

»Sind wir verrückt geworden?«

»Alle physischen und psychischen Funktionen normal, abgesehen von einem leichten, aber völlig harmlosen Erregungszustand,« sagte unser Briefbeschwerer mit seiner angenehmen Stimme, die auch einem Märchenerzähler am Lagerfeuer hätte gehören können.

Wir überlegten fieberhaft, wie man sich in einer solchen Situation korrekt verhält. Schreiend aus dem Haus laufen? Polizei und Feuerwehr alarmieren? Ohnmächtig werden? Dem Problem furchtlos ins Auge blicken und es auf dem Königsweg der Konfliktregulation lösen, im direkten Dialog also?

Wir entschieden uns für letzteres, wollen unsere Leser aber nicht mit der mühevollen und immer wieder ins Stocken geratenen Annäherungsphase an den Crypto 4CM langweilen, denn es dauerte bis weit nach Mitternacht, bis wir mit unserem ehemaligen Briefbeschwerer zu einem halbwegs konstruktiven Gespräch fanden. Von verschiedenen Blick­punkten pirschten wir stets von Neuem das Ungeheuerliche an. Es kostete den Crypto 4CM viel Mühe, es uns schließlich und endlich einigermaßen begreiflich zu machen. Was er uns in dieser Unterhaltung mitteilte, hob allerdings unser bisheriges Selbst- und Weltbild derart aus den Angeln, dass es auch dem geneigtesten Leser nicht leicht fallen wird, dies widerspruchslos hinzunehmen. Wir wollen es trotzdem wahrheitsgetreu wiedergeben, allerdings in gekürzter und um Ausrufe des Erstaunens, Unglaubens und tiefsten Zweifels bereinigter Fassung.

»Um es noch einmal allgemein verständlich zusammen­zufassen,« sagten wir nach vielen Stunden und befeuchteten die trocken geredeten Lippen mit der Zunge, »wie kamst du überhaupt in dieses Haus?«

Eine herausragende Eigenschaft des Crypto 4CM bestand darin, dass er nie, wirklich nie, die Geduld verlor. In dieser Hinsicht glich er unserem alten Computer, den wir manchmal zu ärgern versuchten, indem wir in rascher Folge denselben Befehl eingaben und uns daran ergötzten, dass er ihn jedes Mal mit sinnlosem Eifer befolgte, sofern er nicht gerade von einem seiner zahllosen Systemfehler befallen war. Dies galt uns als sicherer Beweis, dass er nicht den geringsten Funken Intelligenz besaß. Das wiederum ließ sich vom Crypto 4CM nicht behaupten, obwohl auch dieser selbst bei der dreißigsten Wiederholung der immer gleichen Frage mit unverbrauchter Freundlichkeit bereitwillig zu antworten pflegte. Wie beispielsweise auf die Frage nach seiner Herkunft.

»Sie haben mich in einem Großmarkt für Kleingeräte käuflich erworben. Ich war im Sonderangebot ausgezeichnet als Reisewecker mit elementaren Überlebensfunktionen.«

Er hatte das den ganzen Abend lang immer wieder behauptet. Wir aber konnten uns beim besten Willen nicht daran er­innern, jemals einen Großmarkt für Kleingeräte betreten, geschweige denn etwas darin gekauft zu haben. Außerdem war uns dieser Stein schon seit unserer Kindheit als Beschwerer von unerledigten Hausaufgabenheften vertraut. Dies war einer der Punkte, an denen sich unser Dialog festfuhr. Um dem Gespräch eine neue Wendung zu geben, warfen wir ein: »Reisewecker?«

»Ich wurde als ‚Mikroplaner für unterwegs‘ auf den Markt gebracht. Kurz darauf jedoch wurden die Mindestanforderungen an die Leistungen von Geräten, die als Mikroplaner angeboten werden dürfen, auf Druck von Verbraucherschutzverbänden nach oben korrigiert. Geräte, welche die neue Norm nicht erfüllten, durften nur mehr als Reisewecker oder Taschen­rechner ausgezeichnet werden und wurden entsprechend preis­reduziert im Sonderangebot abgestoßen.«

»Und wie sehen diese Mindestanforderungen aus?«

»Die technischen Details sind Ihrem gegenwärtigen Bewusstseinszustand leider nicht zugänglich.«

Wir bissen uns auf die Lippen. Da war es wieder. Auch über diese Phrase war unser kaum in Gang gekommenes Gespräch wiederholt gestolpert. Dieser sprechende Stein, der einerseits offen und ehrlich, ohne Scham und Bedauern über seine Herabstufung zum Reisewecker berichtete, vermochte uns durch die lapidare Einschätzung unseres vermeintlich ungenügenden Bewusstseinsstandes auf arroganteste Art zu demütigen. Dabei waren ihm, wie wir später herausfinden sollten, Gefühle wie Stolz oder Überheblichkeit völlig fremd. Er sprach emotionsfrei die Wahrheit, gleich ob angenehm oder unangenehm. Und doch waren wir peinlich berührt von dieser herablassenden Blasiertheit, unseren Bewusstseinszustand als nicht ausreichend für gewisse weiterführende Informationen abzuwerten. Was nahm sich dieser Granitbrocken heraus? Wir blieben äußerlich ruhig, rächten uns aber auf subtile Weise, indem wir ihn völlig selbstverständlich duzten, während er uns gegenüber stets bei der Höflichkeitsform blieb und wir ihn auch nicht aufforderten, auf die vertrauliche Ebene zu wechseln. Auch wenn er glaubte, an unserem Bewusstseinszustand herummäkeln zu können, waren wir doch ganz offenbar seine rechtmäßigen Besitzer, denen er lange Zeit in der untergeordneten Stellung eines Briefbeschwerers niedere Dienste geleistet hatte. Außerdem war es, gemessen an den Kriterien landläufiger Normalität, ohnehin etwas merkwürdig, ein Zwiegespräch mit einem Briefbeschwerer zu führen, gänzlich unerträglich aber wäre es, diesen mit »Sie« anzusprechen. Noch immer hatten wir uns nicht ganz von dem Gedanken gelöst, dass uns jemand einen gewaltigen Streich spielte und mit hämischen Vergnügen beobachtete, wie wir uns zum Narren machten. Eine sorgfältige Durchsuchung der Agentur auf verborgene Lautsprecher, Mikrofone, Kameras, Wanzen und ähnliches aus dem Repertoire der Spionagebranche, war allerdings ergebnislos verlaufen.

»Du hast vorher, als du deinen Namen genannt hast, eine Art Produktbeschreibung angehängt. Kannst du diese bitte wiederholen.« Mit dieser Aufforderung hatten wir das ver­fahrene Gespräch schon mehrfach an den Ausgangspunkt zurückgesetzt und einen neuen Anlauf gestartet.

»Gerne! Crypto 4CM, Ihr persönlicher Reisewecker mit karmagesteuertem Inkarnationsfinder und automatischer Vor­leben-Memory. Danke, dass Sie mich gekauft haben.«

»Gut. Das mit dem Reisewecker ist geklärt. Nun Schritt für Schritt weiter. Was ist ein karmagesteuerter Inkarnations­finder mit automatischer Vorleben-Memory?«

Schon wollte der Stein zur Antwort anheben, als wir ihm das Wort abschnitten: »Und komme nicht wieder mit dieser Killerphrase vom ungenügenden Bewusstseinszustand.«

»Das war nicht meine Absicht. Sie haben sich genügend mit östlicher Philosophie beschäftigt, um das allen Weltkulturen geläufige Konzept der Wiedergeburt als wahr oder zumindest als möglich anzuerkennen, die Vorstellung also, dass alle Wesen nicht nur einmal leben, sondern sich in anfangsloser Folge immer wieder in neuen Leibern verfleischlichen, bedingt und geleitet von einem Mechanismus, für den in Fachkreisen seit Jahrtausenden der Begriff Karma benutzt wird.«

»Das trifft ganz und gar zu,« sagten wir. Woher aber weißt du das? wollten wir noch fragen, doch schon sprach er weiter.

»Da dieses Konzept weitgehend den Tatsachen entspricht, wurden Geräte der Serie 4CM so konzipiert, dass sie sich ab dem Zeitpunkt des Kaufes nie mehr von ihrem registrierten Besitzer trennen. Dies geschieht mittels der Funktion des karmagesteuerten Inkarnationsfinders. Die Speicherkapazität erlaubt bei Geräten der 4CM-Serie übrigens bis zu vier registrierte Besitzer, beispielsweise Kleinfamilien oder eng befreundete Paare. «

In unserem Kopf begann ein nicht korrekt ausgewuchtetes Mühlrad zu schleifen. »Und wie funktioniert das praktisch?«

»Ein Crypto 4CM loggt sich automatisch in die karmischen Muster seines registrierten Besitzers ein, damit er nach dessen Tod die Umstände der Wiedergeburt vorausberechnen und rechtzeitig an Ort und Stelle sein kann. Dadurch geht ein Crypto 4CM seinem registrierten Besitzer niemals verloren.«

»Das ist allerdings beachtlich,« sagten wir nach einer längeren Pause, in welcher wir die Erklärung des Steines zu verdauen versuchten. »Aber wie soll das über größere Entfernungen hinweg funktionieren, noch dazu in früheren Zeiten? Nehmen wir an, dem registrierten Besitzer wurde bei den Azteken in Mexiko nach einem verlorenen Ballspiel gutem alten Brauch gemäß auf der Sonnenpyramide das Herz herausgeschnitten und als nächste Wiedergeburt steht ein Leben als Tempeltänzerin in Südindien auf dem Programm. Luftpost gab es zu dieser Zeit nicht. Und die Reise per Schiff über den Atlantik und weiter per Kamel auf der Seidenstraße hätte wohl länger gedauert als die ganze Lebensspanne der Tempeltänzerin, falls damals überhaupt schon Schiffe über den Atlantik fuhren.«

»Ein Crypto 4CM verfügt über eine automatisch im Augen­blick des Ablebens des registrierten Besitzers sich aus­lösende Dematerialisierungsfunktion, die es dem Gerät er­laubt, bei der Wiedergeburt zur rechten Zeit am rechten Platz zu sein.«

Wir ließen ein ungläubiges Brummen hören. »Und was passiert bei einer Wiedergeburt als Tier oder ähnlich, wie das die Buddhisten so gerne in Aussicht stellen?«

»Bei Inkarnationen unter einer bestimmten Selbst­reflexionsstufe schaltet das Gerät in den Stand-by-Modus. Es zeichnet die betreffende Inkarnation pauschal auf, ohne dem registrierten Besitzer aktiv zur Verfügung zu stehen. Dieser könnte in solchen Zuständen stark verminderter Selbstachtung ohnehin nichts damit anfangen.«

»Das ist dann wohl die automatische Vorleben-Memory?«

»Ganz recht. Das Gerät zeichnet jede Inkarnation auf und speichert sie verlustsicher ab. Aus diesem Grund weicht ein Crypto 4CM seinem registrierten Nutzer nie von der Seite und gebraucht gegebenenfalls die automatische Demateriali­sierungsfunktion bereits zu Lebzeiten des Besitzers, zum Beispiel, wenn das Gerät zurückgelassen oder gestohlen wird.«

»Sehr interessant. Das scheint zu erklären, warum du auch nach dem hundertsten Umzug noch immer auf diesem Schreibtisch liegst. Aber zurück zur noch immer ungelösten Kernfrage: Wie kommt ein solcher Crypto 4CM gerade in dieses Haus und was hat er hier zu suchen?«

»Ein Crypto 4CM befindet sich immer in der Nähe seines registrierten Besitzers.«

»Und?«

»Wie ich im Laufe des Abends bereits mehrfach erwähnte, sind Sie die registrierten Besitzer.«

»Ich?«

»Es wurden zwei Besitzer registriert. Die Ich-Form ist daher grammatikalisch inkorrekt.«

»Zwei? Wo ist der zweite? Wann fand diese ominöse Registrierung überhaupt statt? Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, jemals einen steinernen Reisewecker gekauft zu haben. Das ist alles ein wenig verwirrend.« Wir spürten, wie sich das Blut aus unserem Gehirn zurückzog.

Der Crypto 4CM fragte mit äußerster Feinfühligkeit: »Soll ich mich vorübergehend deaktivieren, bis Sie sich wieder gefasst haben?«

»Nein, nein, ganz im Gegenteil. Ich will alles wissen. Hier und jetzt. Und zwar ohne diese Mätzchen von wegen Ihrem Bewusstseinszustand nicht zugänglich.« Wir waren viel zu neugierig, um gerade jetzt in Ohnmacht zu fallen. Bisher kannten wir Wahnsinnsszenen nur aus der Oper, wo sie zumeist mit einem hohen C der Erkrankten endeten, was in unserem Fall aber nicht möglich war. Wenn wir schon im Begriff waren, unseren Verstand zu verlieren, wollten wir den Grund dafür auch gehörig auskosten.

»Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass eine vollständige Aufklärung schwerwiegende psychische Schäden bei Ihnen hervorrufen könnte.«

»Ich will es trotzdem wissen.«

»Ich fahre nur fort, wenn Sie dies ausdrücklich wünschen.«

»Fahre fort! Kann es denn noch schlimmer kommen, als es ohnehin schon ist?«

»Solange das Absolute nicht erreicht wurde, ist jederzeit eine Steigerung möglich.«

Wir schluckten. »Fahre trotzdem fort.«

»Sehr wohl,« näselte er im Tonfall eines Butlers auf einem walisischen Herrensitz.

Der Stein machte eine kurze Pause, als würde er sich vor einer längeren Erzählung räuspern. Wir lehnten uns zurück, atmeten tief durch und schlossen die Augen.

»Ich wurde als Ihr persönlicher Reisewecker mit karma­gesteuertem Inkarnationsfinder und automatischer Vorleben-Memory erstaktiviert, als Sie mich kauften.«

»Wann war das? Ich kann mich, wie mehrfach bemerkt, beim besten Willen nicht erinnern,« unterbrachen wir den Crypto 4CM schon nach seinem ersten Satz. Auch dies nahm er klaglos und mit höflichster Geduld hin.

»Es steht kein geeigneter Zeitumrechungsmodus zur Ver­fügung, um dies adäquat darzustellen. Gehen Sie der Einfachheit halber davon aus, dass zu jener Zeit der Planet Erde gerade einmal ein kochender Klumpen sich verdichtender Materie war.«

»Halt! Du bist dabei, die weitverbreitete Unsitte, eine Geschichte bei Adam und Eva beginnen zu lassen, weit zu übertreffen, indem Du bei der Entstehung des Sonnensystems ansetzt. Warum nicht gleich beim Urknall? Zur Sache bitte.«

»Es ist die einzige Ihrem derzeitigen Bewusstseinszustand zugängliche Möglichkeit, die Frage nach dem Zeitpunkt meines Kaufs zu beantworten.«

»Gut. Bitte weiter.« Genervt blickten wir auf die Uhr. Es war fast vier Uhr morgens.

»Ich wurde für zwei Besitzer registriert und loggte mich entsprechend meiner Programmierung umgehend in deren karmische Muster ein.«

»Moment!« Noch hofften wir, unseren Briefbeschwerer durch logische Argumente der Lüge überführen zu können. »Wer soll dich wo gekauft haben? Zu diesem Zeitpunkt gab es auf der Erde weder Menschen noch Großmärkte für Kleingeräte!«

»Sie haben mich nicht auf der Erde erworben.«

Wir bekamen einen Schweißausbruch.

»Unmittelbar nach dem Kauf verließen meine Besitzer gemeinsam ihren Heimatplaneten und das dazugehörige Sonnensystem. Aus diesem Grund ist es mir nicht möglich, nähere Angaben über die dortigen Lebensumstände und Gewohn­heiten meiner beiden Käufer zu machen. Da die automatische Vorleben-Memory erst bei Begleichung des vollen Kaufpreises aktiviert wird, ist es mir nicht möglich, Angaben zu Ereignissen zu machen, die vor meiner Erstaktivierung stattfanden.«

»Aha! Also ein anderer Planet. Vor langer langer Zeit in einer fernen Galaxis. Das klingt gut.« Wir lehnten uns genüsslich zurück und grinsten. Für eine gute Science-Fiction Geschichte waren wir jederzeit zu haben. Vielleicht war das die Lösung. Alles war ein Märchen. In unserer bleiernen Müdigkeit war es sogar gleichgültig geworden, dass ein Briefbeschwerer es erzählte. Doch dummerweise meinte es der Crypto 4CM ernst.

»Es war die gleiche Galaxis,« bemerkte er trocken.

»Du weißt also nicht, warum Deine registrierten Besitzer so überstürzt aufgebrochen sind.«

»Nein. Ich kann nur vermuten, dass es sich entweder um eine überhastete Flucht oder um eine Art Abenteuerurlaub ge­handelt haben muss, da Sie ohne besondere Zielsetzung und ohne Zwischenlandungen kreuz und quer in der Galaxis unter­wegs waren, bis Sie auf diesen gerade im Entstehen begrif­fenen Planeten stießen, der Sie aus irgendeinem Grund interessierte. Vielleicht waren Sie auch Wissenschaftler, obwohl ich aufgrund gewisser Vorkommnisse an Bord glaube, dies mit Sicherheit ausschließen zu können. Obwohl ich über den Notfall-Warnmodus strikt davon abriet, entschlossen Sie sich, eine ‚kontrollierte, zeitunabhängige und jederzeit widerrufbare Scheininkarnation‘ auf diesem Planeten anzu­nehmen, vermutlich, um den Prozess seiner Verfestigung sozusagen aus erster Hand mitzuerleben. Das vorübergehende Eintreten in eine kontrollierte, zeitunabhängige und jeder­zeit widerrufbare Scheininkarnation war eine Funktion, die das gemietete Raumfahrzeug zum Zwecke der Erkundung fremder Planeten als gebührenpflichtige Sonderleistung anbot, ent­fernt vergleichbar mit einem Kostümverleih. Es handelte sich nämlich um ein speziell für Urlaubs- und Abenteuerzwecke ausgestattetes Fahrzeug. Leider unterliefen Ihnen bei der Berechnung der für den Planeten erforderlichen Schwingungs­dichte ihrer Scheininkarnation mehrere verhängnisvolle Fehler. Warnhinweise wurden nicht beachtet, die Berechnung schließlich übereilt im manuellen Modus zu Ende geführt. Auf die dringend empfohlene Risikoanalyse wurde verzichtet. Es ist nicht auszuschließen, dass diese gravierenden Fehl­berechnungen entweder unter dem Einfluss einer berauschenden Substanz oder aber willentlich ausgeführt wurden, um – aus welchen Gründen auch immer – sämtliche Verbindungen zu Ihrer Heimatwelt abzuschneiden. Vielleicht wurden Sie auch ver­folgt und wollten vorübergehend untertauchen. Jedenfalls führte diese Misskalkulation zu einer Inkarnation als Felsmassiv an der afrikanischen Ostküste.«

Wir schnappten nach Luft wie ein an Land geworfener Fisch.

»Zu dieser Zeit gab es den Kontinent Afrika freilich noch gar nicht, sondern nur den aus mehreren Kontinentalplatten bestehenden Urkontinent Gondwana, der gerade im Ausein­anderdriften begriffen war, was Ihnen zu einer ausgedehnten Reise quer über den heutigen Indischen Ozean verhalf, bei welcher Gelegenheit unterwegs die Granitinseln der Seychellen zurückblieben und an deren Ende Sie tatkräftig daran beteiligt waren, jene Gebirgszüge aufzufalten, die heute unter dem Namen Himalaja weltweite Berühmtheit genießen. Einzelheiten der damaligen Ereignisse lassen sich in geologischen Fachbüchern weit detaillierter nachlesen – ihre Beschreibung würde an dieser Stelle zu weit führen. Jedenfalls hatten Sie bei der Wahl eines Felsmassivs als irdische Erstinkarnation zwar den Aspekt der Dauerhaftigkeit auf diesem ansonsten recht flüchtigen Planeten wie auch den Aspekt der Abnutzungsresistenz und Strapazierfähigkeit durchaus richtig eingeschätzt und berechnet, nicht aber die Tatsache, dass die Verkörperung im hiesigen Mineralbereich zum einen mit einschneidender Bewegungsbehinderung – die Reise über den Indischen Ozean ist heute in einem Flugzeug in wenigen Stunden machbar, Sie benötigten mehrere Millionen Jahre – zum anderen mit einer tiefschlafähnlichen Bewusstseins­trübung einhergeht, die es unmöglich macht, rechtzeitig die Option des Widerrufs dieser Schein­inkarnation zu ziehen. Aus diesem Grund gab es kein Zurück. Es war nichts mehr zu machen. Wenigstens waren Sie sich dieses Missgeschicks nicht im Geringsten bewusst.«

»Und was hast Du getan?«

»Ich schaltete programmgemäß in den Stand-by-Modus.«

»Wie ging es weiter?«

»Da Ihre karmischen Muster nun mit diesem Planeten ver­bunden waren, den Sie seither nie wieder verlassen haben, fuhren Sie fort, sich hier zu inkarnieren, zunächst im Mineralbereich, später als Einzeller, Amöben, Pflanzen, Tiere aller Art und schließlich als Menschen unter­schiedlicher charakterlicher Ausprägung, sozusagen von der Pike auf, im Zuge einer Evolution des Bewusstseins, wie sie in spirituellen Schriften der Menschheit hinreichend be­schrieben wurde. Ich folgte Ihnen gemäß meiner Program­mierung durch all diese Reinkarnationen.«

»Konntest Du Deinen Besitzern nicht helfen.«

»Doch. Sobald diese einen bestimmten Bewusstseinsgrad wiedererlangt hatten, war es mir möglich, meinen registrierten Nutzern in verschiedenen praktischen Dingen zur Hand zu gehen.«

»Welche praktischen Dinge waren das?«

»Nun, meine Konzipierung als Reisewecker mit elementaren Überlebensfunktionen kommt allein schon durch das rustikale Design zum Ausdruck. Sind meine registrierten Inhaber aufgrund eines eingeschränkten Bewusstseinszustandes nicht in der Lage, meine virtuellen Funktionen auszuschöpfen, so vermag ich ihnen bereits durch meine äußere Form nützlich zu sein, zum Beispiel als Faustkeil zum Zerlegen von Jagdbeute, als Schleifstein für Pfeil- und Speerspitzen oder als primitive Waffe gegen Säbelzahntiger oder Mitglieder feind­licher Stämme. Zudem, wenn ich dies erwähnen darf, schützt dieses Design auf natürliche Weise vor Diebstahl, Datenmissbrauch und ähnlichem. Niemand ist an etwas interessiert, das wie ein gewöhnlicher Granitbrocken aussieht. Auf diesem Planeten wird nämlich vorwiegend auf äußeren Schein geachtet.«

Wo er recht hatte, hatte er recht. Trotzdem fühlte sich unser Kopf an, als strudelten die letzten Reste von Vernunft aus ihm hinaus wie Wasser aus der Badewanne. Gleichzeitig regten sich Keime kühner Konzepte. Dieser clevere kleine Kerl konnte uns wichtige Informationen liefern, die der Agentur zu einem neuen, nie gesehenen Aufschwung verhelfen würden. Es musste uns nur gelingen, diese Vorleben-Memory zu knacken. Die Evolution, beschrieben von Leuten, die von Anfang an dabei waren. Endlich der Beweis aus erster Hand, dass die Fundamentalisten falsch lagen mit ihrer Schöpfungstheorie und die Darwinisten ebenso mit ihrem plumpen Materialismus. Ein Sachbuchbestseller mit garantierter Verfilmungsoption. Ein Abenteuerroman aus jener paradiesi­schen Zeit, als sich die Natur über eine Menschheit noch nicht den leisesten Gedanken gemacht hatte: Das befreiende Gefühl, nach der endlosen, höchst dumpfen Langweilerei im Mineralreich zum ersten Mal als Alge und später als Trilobit und Knochenfisch im warmen Urmeer zu treiben, dann das vorsichtige Kriechen an Land, der erste hüstelnde Atemzug an frischer Luft, der dazu führte, dass man sich einige Millionen Jahre unter hirnlosen Dinosauriern um Futter bemühen musste und gerade, als man dabei war, die passende Größe zu erreichen, um an die Spitze der Nahrungskette vorzustoßen, als Säugetier von vorne anzufangen hatte. Und schließlich die Inkarnationen als Mensch – erschütternde Tatsachenberichte aus versunkenen Zeiten und Kulturen. Lemuria, Atlantis, Ägypten, Tibet, Österreich. Steinzeit, Antike, Mittelalter, Renaissance. Ein garantierter Bestseller. Die Menschheit wartete geradezu auf eine solche Enthüllung, denn Milliarden von Mitbürgern haben exakt das gleiche durchgemacht. Mit einem Unterscheid: Sie verfügen nicht über einen sprechenden Briefbeschwerer mit Vorleben-Memory, der es ihnen erzählen könnte. Oder etwa doch?

»Und was ist mit all den anderen Leuten, die sich ebenfalls seit Millionen von Jahren auf diesem schönen Planeten zu inkarnieren pflegen, die Menschheit also? Haben alle eine Art Crypto 4CM, vielleicht sogar in einer etwas handlicheren Ausführung, als Kieselstein beispielsweise oder als Onyx-Ei?« fragten wir unschuldig.

»Die Dematerialisierungsfunktion von Inkarnationsweckern verfügt nur über die Reichweite des Planetensystems, in dem sie gekauft wurden. Wenn ein registrierter Besitzer weiter außerhalb inkarniert, muss er damit rechnen, dass ihm sein Inkarnationswecker nicht folgen kann und der Benutzer auf dem neuen Planeten ohne ihn auskommen muss. Der Hersteller übernimmt dafür und für eventuelle Folgeschäden keinerlei Haftung. Der überwiegende Teil der sogenannten Menschheit, die diese Erde überbevölkert, hat sich in der Tat zwangsweise von weiter außerhalb inkarniert.«

»Von weiter außerhalb? Zwangsweise?«

»Es kommt leider immer wieder vor, dass ganze Sonnensysteme durch kosmische Katastrophen oder Banden übelster Schurken ausgelöscht werden. Wo soll sich die Bevölkerung wieder inkarnieren? Natürlich auf einem neuen bewohnbaren Planeten in sicherer Entfernung, nicht selten am anderen Ende der Galaxis oder gleich in einer ganz anderen. Auf die Reichweite von Inkarnationsweckern kann dabei keine Rücksicht genommen werden. In Ihrem ganz besonderen Fall war es jedoch so, dass Sie, wie beschrieben, sozusagen auf dem Landweg hier anreisten, mit Ihrem registrierten Crypto 4CM im Handgepäck, der Ihnen daher natürlich auch an der neuen Inkarnationsstätte zur Verfügung stand.«

»Gibt es vielleicht noch mehr Leute, die auf dem Landweg anreisten und zufällig ihren Reisewecker dabei hatten?«

»Diese Frage lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten, da es mir aus Datenschutzgründen nicht erlaubt ist, selbsttätig Verbindung zu anderen inkarnationsbegleitenden Einheiten aufzunehmen.«

»Schon gut, schon gut,« winkten wir ab. In unserem Kopf regten sich erste Ahnungen über den Wert des Schatzes, der uns in Gestalt eines rohen Granitbrockens in die Hände gefallen war. Andererseits quälte uns die Frage nach den ominösen zwei Besitzern. Wenn es noch einen zweiten registrierten Besitzer gab, hatte dieser eventuell auch Ansprüche auf den Crypto 4CM, sofern er nicht in einer – wie hatte sich unser Briefbeschwerer vorhin so schön aus­gedrückt – Inkarnation unter einer bestimmten Selbst­reflexionsstufe ­ irgendwo auf dem Planeten herumgammelte.

»Nur einmal gesetzt den Fall,« begannen wir umständlich in beiläufigem Tonfall, um von unserer tief greifenden Verwirrung abzulenken, »ich sei tatsächlich einer dieser registrierten Besitzer, die sich durch endlose Wieder­geburten bis zum heutigen Tag durchgekämpft haben, stets begleitet von einem Reisewecker mit Inkarnationsfinder, der früher als Faustkeil, heute als Briefbeschwerer in meinen Diensten steht. Nur ganz hypothetisch angenommen, dies sei tatsächlich so. Wo steckt dann der zweite registrierte Besitzer?«

»Er ist ebenfalls hier anwesend.«

»Du wirst mir sicherlich zustimmen, dass sich in diesen Räumlichkeiten gegenwärtig nur eine einzige Person befindet.«

»Ganz offensichtlich befindet sich in diesen Räumen nur eine Körpereinheit. Denn Sie als zwei geistige Seins­einheiten haben sich schon vor geraumer Zeit nach zahllosen Inkarnationen als Zwillingspaare, Eheleute, Geliebte und engste Freunde aus Rationalisierungsgründen dazu ent­schlossen, sich nur mehr in einer singulären fleischlichen Hülle wiederzuverkörpern. Sie sind, wenn ich dies auf vereinfachende Weise zusammenfassen darf, zwei in einem. Wenn mir gestattet ist, meine Meinung zu äußern, war dies eine für alle Seiten vorteilhafte Entscheidung. Denn vor allem Liebeskonstellationen, wie man sie aus der Literatur kennt, zum Beispiel Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Leila und Madschnun oder Chosrou und Schirin, gelten allgemein zwar als höchst romantisch, stellen rein technisch gesehen jedoch selbst für ein Crypto Modell der CM-Serie stets eine außerordentliche Herausforderung dar. Erschwerend kommt hinzu, dass sie in den allermeisten Fällen früher oder später an Alltagsproblemen scheitern, die sich in allen Epochen der Geschichte in nur geringfügigen Details voneinander unterscheiden. In den entsprechenden literarischen Werken ist davon freilich nie die Rede, obwohl gerade sie einen Crypto 4CM mitunter vor schwerwiegende Probleme stellen, die Ihrem gegenwärtigen Bewusst­seinszustand aber leider nicht…«

Wir winkten ab und rangen um Luft und Fassung. Unser Bewusstsein versuchte nach Kräften, sich aus dem Staub zu machen, nicht etwa aus Empörung über seine fortgesetzte Herabsetzung durch einen Briefbeschwerer, sondern um eventuellen weiteren unfassbaren Wahrheiten über sich selbst zu entgehen. Also doch keine Schizophrenie, sondern eine inkarnationstechnische Sonderkonstellation, allerdings mit ähnlichem Resultat, schoss es uns noch durch den Kopf, bevor wir, teils aus Müdigkeit, teils aus blankem Entsetzen über die Dinge, die wir in dieser Nacht erfahren hatten, auf unserer Couch in ohnmachtsähnlichen Tiefschlaf sanken.

Als der Crypto 4CM bemerkte, dass wir ihm nicht länger zuhörten und außerdem vor den Fenstern der Morgen anbrach, hielt er in der verstatteten Rede inne und wechselte in den Stand-by-Modus. Unsere Leser jedoch werden spätestens jetzt verstehen, dass wir nicht aus Eitelkeit oder Selbstsucht den Pluralis Majestatis benutzen, sondern aus Gründen gramma­tikalischer Korrektheit, wie diese in einem seriösen Tat­sachenbericht wie dem vorliegenden unabdingbar ist.

Kapitel 2

Als wir aus kurzem, aber abgrundtiefen Schlaf erwachten und sich die Erinnerung an die vergangene Nacht wie ein Kettenhemd aus Blei auf unsere Schultern legte, übermannte uns für Momente bittere Verzweiflung, die sich allmählich in tiefster Hoffnungslosigkeit auflöste. Was sollten wir tun, bedroht von finanziellem Ruin und unvermeidlich sich über uns wölbendem Wahnsinn?

Andererseits – hatten wir nicht immer schon gewusst, dass wir etwas Besonderes waren? Hatten wir uns nicht oft genug mit uns selbst unterhalten und Krisen durch ehrliches inneres Zwiegespräch und emphatische Selbstaufmunterung bewältigt? Und hatten wir uns manchmal nicht auch im bitteren Streit mit uns selbst befunden, zerrissen von Unentschlossenheit und widerstrebenden Gefühlen? Wir hatten uns beispielsweise nie einigen können, welchen Beruf wir ergreifen oder welcher Frau wir unsere finale Gunst schenken sollten. Manchmal waren wir uns nützlich, manchmal standen wir uns im Wege. Auch über Operninszenierungen konnten wir uns trefflich streiten. Neigte die eine Seite in uns durchaus dazu, moderne Inszenierungen klassischer Werke als gelungen anzuerkennen, so wehrte sich die andere vehement dagegen, von ihrer erzkonservativen Sicht auf das Musiktheater abzulassen. Freilich war all das bislang nur durch nicht näher fassbare innere Spannungen zutage getreten, die sich manchmal als flaues Gefühl im Magen, manchmal aber auch als Kopfschmerzen und äußerste Reizbarkeit bemerkbar machten. Aus dem neuen Blickwinkel betrachtet klärten sich nun zahlreiche Situationen in unserem Leben, die uns bislang als wirr und unlogisch erschienen waren. Beispielsweise jenes bemerkenswerte Ereignis, als wir, noch im Teenageralter, einen Rivalen aus reichem Elternhaus, der uns die heiß geliebte Klassenschöne mittels verlockender Geschenke abspenstig zu machen versuchte, furchtbar verprügelten, um ihm das Mädchen hinterher aus Mitleid und ohne jede Reue trotzdem zu überlassen. Auch gaben wir mitunter auf Fragen völlig widersprüchliche Antworten, die uns aber logisch erschienen und die wir mit allen rhetorischen Kunstgriffen zu verteidigen pflegten. All das klärte sich nun in einem Licht tiefer Einsicht in unser innerstes Wesen. Zwei Seelen wohnen, ach! Niemand konnte solche Zweimaligkeit besser nachempfinden als wir. Alles in allem aber war sie ein erträglicher Zustand, der zudem den Vorteil hatte, dass wir uns kaum je einsam fühlten. Da es sich jetzt, da wir Bescheid wussten, auch nicht anders an­fühlte als zuvor, als wir uns noch in dem eingefleischt menschlichen Glauben gewiegt hatten, alleine in uns selbst zu sein, kamen wir schnell und ohne Schaden zu nehmen über die neu gewonnene Erkenntnis hinweg. Für unsere Eltern, so dachten wir begütigend, war dieses Arrangement ohnehin besser gewesen, hatten sie es doch schwer genug gehabt, uns selbst in komprimierter Einzelausgabe durchzufüttern. Zwillinge hätten in dem bescheidenen Kleinbürgerhaushalt eine wirtschaftliche Katastrophe heraufbeschworen. Wir wollen nicht verschweigen und sind sogar einigermaßen stolz darauf, aus kleinsten Verhältnissen innerhalb der Arbeiterklasse zu stammen. Angesichts unserer derzeitigen geschäftlichen Lage konnten wir getrost von uns behaupten, uns vom völligen Nichts zur totalen Armut emporgearbeitet zu haben, wie Groucho Marx dies einmal treffend ausgedrückt hatte.

Schwerer wog die andere Erkenntnis der vergangenen Nacht, nämlich dass uns nun mit dem Crypto 4CM ein ebenso wunder­liches wie wertvolles Instrument zur Verfügung stand, dessen Kostbarkeit sich nicht einmal annähernd abschätzen ließ. Wie aber sollten wir es nutzen? Was sollten wir damit tun? Wir ahnten, dass wir uns an einem Kreuzungspunkt unseres Lebens befanden, auf Messers Schneide zwischen Genie und Wahnsinn, zwischen Erfolg und Absturz, zwischen Villa im Tessin und staatlicher Nervenheilanstalt. Und wir wussten, dass wir nicht wussten, welche Richtung wir einschlagen sollten.

In diesem Augenblick innerer Bedrängnis fiel uns der heilige Ignoratius ein. Er, ein Erleuchteter, ein Weltweiser, ein selbstinkarnierender Eremit, wie er selbst im gesamten Himalaja, die tibetische Hochebene eingeschlossen, nicht zu finden war, er war der einzige, der ausreichend Weitblick besaß, um uns aus dieser prekären Lage den Weg zu weisen. Er hatte uns aus den Tiefen seines erweckten Bewusstseins schon so manchen guten und praktisch verwertbaren Rat gegeben. Er war es auch gewesen, der uns durch sein eigenes leuchtendes Beispiel mit dem Gedanken der Wiedergeburt vertraut gemacht hatte, sodass die schockierenden Aussagen des Crypto 4CM uns nicht vollkommen in Verwirrung hatten stürzen können. Wir hatten dem heiligen Ignoratius in Sachen Bewusstseinserweiterung viel zu ver­danken. Er hatte uns nicht nur als seine Schüler angenommen, denen er – mit mäßigem Erfolg – versuchte, seine Technik der nichtdualen Tiefenmeditation beizubringen, sondern wir können sagen, dass es uns gelungen war, zu dem scheuen Eremiten eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Warum er gerade uns diese Ehre angedeihen ließ, war uns nicht ganz klar. Vielleicht ahnte er in seiner vorausschauenden Weisheit bereits etwas von der Mission, die uns erwartete, vielleicht aber gefiel ihm nur, dass wir ganz unbefangen und ohne jegliche Frömmelei mit ihm umgingen und bei unseren leider viel zu seltenen Besuchen nie versäumten, ihn mit den aktuellen Ergebnissen und Tabellenständen der Fußball-Bundesliga zu versorgen. Das Interesse an solchen Dingen war offensichtlich ein Relikt seines mondänen Lebens, das er vor seinem Rückzug in die Berge geführt hatte und über das er sich beharrlich aus­schwieg. Es gab Gerüchte, er sei Personalchef eines inter­nationalen Großunternehmens der pharmazeutischen Industrie gewesen, erfolgreicher Verkaufs­trainer und zuletzt freischaffender Motivationscoach, bevor er nach einem tief greifenden Erweckungs- und Erleuchtungserlebnis zuerst unter der Brücke, dann in seiner Einsiedelei in den Bergen gelandet war. Anderen, ebenfalls unbestätigten Berichten zufolge war er Fußballtrainer gewesen, der in dem Augenblick tief greifenden Einblick in die Leerheit aller Dinge und die wahre Natur des Geistes erlangt hatte, als am letzten Spieltag in der Nachspielzeit sein millionenteurer Abwehrchef durch ein Eigentor die sicher geglaubte Meisterschaft vergurkt hatte. Die wenigen Menschen, die ihn kannten, erzählten sich verschiedene Geschichten und Legenden aus seiner Vergangenheit; er selbst äußerte sich nie dazu, bestätigte nicht, widersprach nicht, sondern schwieg, wie nur ein raueste Einsamkeit gewohnter Eremit schweigen kann.

Kurz entschlossen packten wir unseren Crypto 4CM nebst einigen Dingen des täglichen Bedarfs in einen Rucksack und zogen los. Schlechtes Gewissen plagte uns. Wir hatten den heiligen Ignoratius schmählich vernachlässigt. Es war lange her, seit wir ihn zuletzt in seiner Einsiedlerklause irgendwo im zerklüfteten Niemandsland der Alpen aufgesucht hat­ten. Die Pechsträhnen, Zwickmühlen und Zwangslagen, die in jüngster Vergangenheit so geballt über uns herein­gebrochen waren, hatten uns abgelenkt vom hehren Pfad der Erleuchtung, den der heilige Ignoratius einem Eisbrecher gleich ohne zu zaudern voranschritt. Doch vielleicht war er längst in die große Verwandlung eingetreten, was bei ihm allerdings nicht allzu viel bedeutete, wie wir gleich erläutern werden.

Der Gedanke, er könnte gerade jetzt, da wir seiner nötiger bedurften als jemals zuvor, seinen alten Körper verlassen haben, peinigte uns während des Anstiegs zu seiner Hütte. Als wir auf schmalen Wildererpfaden durch dichten Wald, über steiles Schrofengelände und schließlich über blanken Fels keuchten, zog uns die Geschichte des heiligen Ignoratius durch den Kopf, die er uns einmal, bewegt von einer senti­mentalen Regung, selbst erzählt hatte.

Vor ein paar Tausend Jahren, als der heilige Ignoratius noch nicht der heilige Ignoratius war, sondern ein abgemagerter indischer Wanderasket, saß Höchstderselbe unter einem mächtigen Mangobaum, den er nicht nur des Schattens, sondern vor allem der schmackhaften Früchte wegen zu schätzen wusste, und ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach, dem Verweilen in tiefer Meditation. Er tat dies bereits seit vielen Jahren, scheinbar jedoch ohne nennenswerten Fortschritt, sodass er in Stunden des Wankelmuts daran dachte, den Beruf zu wechseln und den Job als Traumdeuter anzunehmen, den ihm ein mitfühlender Maharaja angeboten hatte. Gerade als er wieder einmal von solchen Zweifeln an seiner Bestimmung benagt wurde und nahe daran war, sein Eremitendasein hinzuschmeißen, beschloss er, nur noch ein einziges Mal in die tiefe Meditation einzutreten, um dem Universum eine allerletzte Chance zu geben, sich seiner anzunehmen. In dieser Meditation nun, an einem milden Frühlingsabend, da ambrosischer Blütenduft die Sinne berauschte und der Vollmond leuchtend wie eine Laterne über dem von Zinnen und Türmchen bekrönten Märchenpalast des Maharaja aufging, sprach klar und deutlich eine Stimme zu ihm, die ganz ohne Zweifel einer höhergestellten Gottheit gehörte. Die Stimme sagte: »Du hast all die Jahre wacker meditiert und die vorgeschriebenen Rituale zu meinem Lobpreis ausgeführt, und du hast dich auch von Rückschlägen nicht entmutigen lassen. Daher sei dir heute eine Frage gewährt. Frage mich, was dein Herz bewegt.«

Fast hätte der erschrockene Wanderasket sich verplappert und nach der Adresse der schönen Brahmanentochter gefragt, die ihm gestern beim Wasserholen am Brunnen begegnet war und die ein weiterer Grund war, warum er das Asketendasein gerne aufgegeben hätte, doch er besann sich gerade noch und stellte stattdessen eine Frage, die seinem Status angemessen war: »Werde ich in diesem Leben die Erleuchtung erlangen, und falls nicht, wie viele Leben werde ich noch dazu benötigen?«

»Das sind eigentlich zwei Fragen,« antwortete die Stimme, »aber meinetwegen, sie seien dir gewährt. Nun denn: Du wirst in diesem Leben die Erleuchtung nicht erlangen.«

»Mist!« entschlüpfte es dem Wanderasketen. »Und wie viele Leben muss ich noch leben, bis es so weit ist?«

»So viele wie Blätter an diesem Baum sind,« sagte die Stimme in einem Tonfall, als würde sie dem Asketen eine besonders gute Nachricht übermitteln.

Ach du liebe Zeit, dachte der Wanderasket und verdrehte die Augen, antwortete aber mit Demut und Hingabe in der süßesten Stimme frommen Entzückens, zu der er fähig war, um die Gottheit nicht zu erzürnen: »Ach wie schön, nur noch so wenige.«