Der Normanne und das Banner des Königs - Claudia Speer - E-Book

Der Normanne und das Banner des Königs E-Book

Claudia Speer

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Kreis schließt sich … 1198 – Richard Löwenherz und Philippe, König der Franken, streiten seit Jahren um die Vorherrschaft. Die Kämpfe sind hart und von Grausamkeiten geprägt. Für Guy of Gisborne, der für sich, Jakob und Miriam in England ein Heim schaffen will, läuft vermeintlich alles nach Plan. Mit Excalibur im Gepäck bleibt Richard Löwenherz wohl nichts anderes übrig, als dem Normannen zu vergeben und die Verbannung zu lösen. Tief in seinem Inneren nagen jedoch Zweifel und verletzter Stolz. Die Schatten seiner Vergangenheit kehren mächtiger zurück als jemals zuvor und das Intrigenspiel der Mächtigen ist ein tödlicher Zeitvertreib. Knappe Jakob gibt sein bestes, um seinen Herrn aus dieser Misere zu retten. Gerade als sich ein Hoffnungsschimmer am Horizont zeigt, schlägt ein alter Widersacher erbarmungslos zu. Guy verliert den Halt - es geht um alles, was ihm lieb und teuer ist. Kann er sich und seine Familie retten? Mit Claudia Speers »Der Normanne und das Banner des Königs« findet die spannende Abenteuer-Reihe rund um den kauzigen Guy of Gisborne und seinen Knappen Jakob ihren packenden Abschluss!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 698

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Normanne und das Banner des Königs

 

Historischer Roman

von Claudia Speer

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

ISBN 978-3-943531-97-8

ISBN 978-3-943531-96-1 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstraße 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Juliane Stadler

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

Charons Obolus

 

Erster Tag des Erntemonats anno Domini 1198

 

Die Möwen schaukelten vom Wind getragen um den Mast der Spitting Gull. Niemand hinderte sie daran, menschengemachte Grenzen zu überschreiten. Ihr Kreischen klang noch immer wie Spott in Guys Ohren, wie damals vor vier Jahren, als er sein Land übereilt verlassen musste und das Fischerboot in einen halben Tag zum Kontinent gesegelt war.

So schnell und einfach hatte er Baronie und Ländereien verloren.

Mit den Armen auf die Reling gestützt blickte er, neidisch auf die Freiheit der Vögel, Richtung Norden. Dort im Dunst lag England.

In dieser Richtung nutzten die Kapitäne Westwinde, um gegen die Strömung voranzukommen. Es war ein zähes Ringen mit dem Meer. Jedoch kein Vergleich zu dem, was Guy erwarten durfte.

Lange Zeit war es ihm unmöglich erschienen, je wieder das Knie vor einem Plantagenet zu beugen. Zu groß die Demütigungen, die er durch sie erfahren hatte.

Seither hatte sich vieles verändert. Die Wut war zeitweise eingeschlafen, und statt ihrer die Sehnsucht nach dem Ort und der Geborgenheit seiner Kindertage erwacht. Er hatte eine Frau und einen Knappen gefunden, denen er nicht zuletzt ein Leben bieten musste, weil sie ihm seines zurückgegeben hatten.

Das klang so leicht – doch wie überwand man Missgunst und Verachtung eines mächtigen Königs?

Natürlich mit einem königlichen Geschenk. Ein letzter Umweg führte ihn in die Normandie. Excalibur würde die Wogen bei Richard glätten und Guy den Weg nach Hause ebnen. Richard fielen sicher die Augen aus dem Kopf, sobald er das verloren geglaubte Sagenschwert erkannte. Ein breites Grinsen spannte sich über Guys Wangen.

»Das Schiff reitet die Wellen sanft. Was will man mehr?«, rief Re­naud, stelzte breitbeinig über das Deck des Frachters und klammerte sich neben ihm fest. Eine steife Brise aus Osten blähte das Segel der Spitting Gull, trieb sie kraftvoll der Stadt Dieppe entgegen, deren Seehafen in einer geschützten Bucht lag.

»Ein gutes Essen und Erde unter den Füßen? Schiffe sind nichts für mich.« Guy musterte Renaud. In den Jahren seiner Wanderschaft hatte er einige Ehemänner und Väter gegen sich aufgebracht. Es fühlte sich seltsam an, einen erwachsenen Sohn zu haben. Noch dazu, wenn man nicht genau wusste, was von ihm zu halten war.

Renauds Mundwinkel hoben sich und Guy versuchte erneut, seiner Mutter, dieser Marie de Brouville, ein Gesicht zu geben. Die Konturen blieben verschwommen. Einen Sohn wie ihn hatte er sich niemals gewünscht. Der junge Mann besaß einen scharfen Verstand, doch seine Seele ließ sich nicht fassen. Armand de Ville, ein fränkischer Spion, hatte sie verdorben. Der Tod des Übeltäters lenkte Renauds Geschicke nun hoffentlich in erfreulichere Bahnen.

»Wir werden am frühen Morgen mit der Flut in den Hafen einlaufen.« Renaud wies mit dem Kinn zum kleineren Kastell am Bug des Schiffes, wo Sir Robert de Clive sich mit Schiffsmaster Van Hus unterhielt. Es war ein Gottesgeschenk, Robert vor Aix-la-Chapelle wiedergetroffen zu haben. Sein Einfluss erleichterte Guys Vorhaben. Endlich war er nicht mehr auf sich gestellt. Bald würde er Herr seines eigenen Reiches sein und in Frieden leben können.

Zwei Schiffsjungen besetzten die Verteidigungsaufbauten an Bug und Heck des Transportschiffes, um nach feindlichen Schiffen Ausschau zu halten. Zu allen Seiten sicherten Knebelspieße die Besatzung und ihre Fracht ab. Zum Glück hatten sie die Küste der Franken passiert, ohne von ihnen entdeckt und angegriffen worden zu sein. Das Leben zeigte sich von einer ungewohnt freundlichen Seite. So durfte es ruhig bleiben.

»Die Burg von Dieppe steht auf einem weißen Kreidefelsen. Kennst du England, Renaud?«, fragte Guy von einer wehmütigen Stimmung erfasst.

Sein in Aquitanien aufgewachsener Sohn schüttelte den Kopf. »Nein, so weit in den Norden hat es mich nie verschlagen. Die Kälte liegt mir nicht. Ich werde von Rouen aus nach Süden reiten.« Ein geheimnisvolles Feuer loderte hinter den braunen Augen.

Die Ankündigung erleichterte Guy, obwohl er durchaus bereit gewesen war, ihn bei sich zu behalten. »Die Klippen von Dover bestehen aus dem gleichen weichen Felsen wie die normannische Küste. Es ist, als hätte Gott Britannien vom Rest der Welt getrennt. Warum wohl?«

»Über derlei Dinge denkst du nach?« Renaud strich sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht und betrachtete dabei die wogenden Wellen. Die Sonne verlieh seinem Haar einen rötlichen Schimmer.

»Du nicht?« Guy musterte sein Profil. Die Erinnerung an eine Rot­haarige trat schemenhaft hervor, aber war sie eine Adelige oder ein Schankmädchen gewesen? Rothaarige hatten ihn immer gereizt.

»Du schreibst alles nieder, was auf deinem Weg an Wissenswertem geschieht. Grübelt man da nicht zwangsläufig über Gottes Wunder nach? Was wäre zum Beispiel interessant für deine Auftraggeberin?« Es fuchste Guy, dass Renaud sich weigerte, ihm offenzulegen, ob Eleonore von Aquitanien ihn bezahlte. Er hoffte es jedenfalls. Richards Mutter wusste den Wert guter Informationen zu schätzen. So sehr Guy Löwenherz hasste, so tief verehrte er die schlaue Königin. Renaud wäre bei ihr gut aufgehoben.

Seine oftmals undurchsichtigen Handlungen ergaben keinen Sinn, sollte er, wie Armand de Ville, für den fränkischen König spionieren. Er hatte anfänglich unter dessen Bann gestanden, doch das war vorbei.

Bei der Belagerung von Aachen war es Guy gelungen, de Ville zu töten. Sie siegten und tags darauf wurde König Otto die teutsche Krone aufs Haupt gesetzt. Damit fügte der Monarch seinem Rivalen Philipp von Schwaben eine herbe Schlappe zu. In dieser Nacht hatte Renaud ihnen gestanden, Guys Sohn zu sein.

Renaud zog eine Augenbraue hoch und Guy erkannte sich darin wieder. »Du meinst die Aufzeichnungen, die ich für den Bischof von Strazpurc machte?«

Er legte dem unverhofften Sohn die Hand mit Nachdruck auf die Schulter. »Nicht nur für ihn. Jetzt wo wir uns kennen, brauchst du keine Geheimnisse mehr vor mir zu haben.«

»Ich kann nicht! Ich gab mein Wort. Bald wird dir alles offenbar werden, Vater. Versprochen.« Belustigung huschte über Renauds sonnengegerbtes Gesicht. Sie bemäntelte den Vorwurf, der sich anschloss. »Habe ich dich, trotz deines Misstrauens, nicht unterstützt? Nicht ich verweigere dir den Ruhm, der dir zusteht.« Er wandte sich trotzig dem Wind zu.

Ein Funken Schuld machte sich in Guys Brust breit, der Wunsch, Versäumtes wiedergutzumachen. Er bezwang ihn. Renaud sollte ihn nicht für weich halten. Schwäche zeigen war gefährlich. Etwas hatte ihn verändert. Er gierte nicht mehr nach Ruhm. Früher wäre er vor Wut geplatzt, weil Otto seinen Anteil an der Eroberung Aix-la-Chapelles unterschlagen hatte. War dies gut oder schlecht? Er wusste es nicht. Guy stieß sich von der Reling ab und stakte auf dem schlingernden Deck nach hinten, wo unterhalb des Verteidigungskastells aufgespannte Ölhäute vor Wind und Gischt schützten. Miriam hatte dort ihr Lager aufgeschlagen. Gretel und sie flickten die zahllosen Löcher und Risse in den Kleidern. Seine Frau hatte darauf bestanden, die Waise mitzunehmen, nachdem ihr Bruder Tetje bei der Belagerung umgekommen war.

Miriam steckte die Nadel in den Stoff, strich sich über den dicken Bauch und hieß ihn mit einem Lächeln willkommen. »Hast du Hunger?«

Ihrem Gesicht fehlte die Farbe. Sie hatte seit dem Ablegen in Antwerpen kaum Nahrung bei sich behalten. Behutsam schöpfte sie mit einer Kelle Bier und reichte es ihm. Er ließ sich im Schneidersitz nieder.

»Dou hast selbst essen?«, fragte er in gebrochenem Teutsch, bevor er trank. Das Gebräu schmeckte schal.

»Etwas Brot.« Sie gab sich Mühe unbesorgt zu wirken, aber ihr fehlte der übliche Elan. Zum Glück würde die Schiffsreise bald enden.

»Wir sind in Dieppe, morgen. Wo ist Jakob?«

Die Ankündigung schien Farbe auf ihre Wangen zu zaubern. »Er kümmert sich mit Grey um die Pferde unter Deck.« Sie wies mit dem Daumen in Richtung Schiffsplanken. Mittlerweile klappte die Verständigung recht gut. Er benutzte kurze Sätze und sie ergänzte ihre Worte mit Gesten. Dabei reichte sie ihm ein Stück salzigen, krümeligen Käse mit Brot. Die geräucherten Würste und der Fisch waren längst verzehrt. Guy probierte und verzog das Gesicht. »Kann ick Bier haben?«

Gretel beobachtete ihn belustigt. Ihr waren vor Kurzem zwei Zähnchen ausgefallen, weshalb sie die Zunge prima durch die Lücke schieben konnte. »Brrhhh«, machte sie und fütterte die Strohpuppe, die Jakob für sie gebunden hatte.

»Was immer auf uns zukommt, du musst keine Rücksicht auf mich nehmen«, erklärte Miriam. Sie reichte ihm erneut die Kelle. Guy nickte und spülte mit dem abgestandenen Bier nach. Er rieb sich den Magen und stand auf. »Alles bald gud, Weib. Kein Angst.«

Wenn Jakob nicht Miriam half, fand er ihn seit Aix-la-Chapelle bei De Clives Gefolgsmann Grey. Der Earl behandelte den Leibeigenen jedoch sehr viel besser als es den Gepflogenheiten entsprach. Die Pferde zu versorgen war nicht der einzige Grund, im Schiffsrumpf abzutauchen. Guy schlängelte sich zwischen Matrosen, aufgerollten Tauen und Fässern hindurch zur Luke und rutschte, beide Hände am blank polierten Holz der Leiter, hinunter ins Frachtdeck. Die scharfen Ausdünstungen von Dung schlugen ihm entgegen. Entlang der Spanten lagerten die großen Weinfässer, die den Hauptgewinn der Fahrt einbringen sollten. Den sechs Pferden im Heck setzte die Seereise zu. Sie fraßen kaum und kackten grünen Schleim. Hängematten aus festem Segeltuch, die an der Decke fixiert waren, schlangen sich um ihre Bäuche und schränkten ihre Bewegungsfreiheit ein, damit das Gleichgewicht des Schiffes gewahrt blieb.

Das Gitter der Frachtluke tauchte die Matrosen und Waffenknechte in einen Flickenteppich aus Licht und Schatten. Nur direkt unter dieser Öffnung drang genug Tageslicht auf die gestapelten Getreidesäcke, wo Jakob und Grey mit fünf anderen um eine Planke hockten, auf der die weißen Würfel klapperten.

Die Freundschaft der beiden störte ihn nicht. Es war die Kluft, die sich zwischen ihm und Jakob auftat. Seit Renauds Geständnis am Krönungstag hielt sich sein Knappe merklich bedeckt und Earl Robert hatte ihm bereits auf dem Haydelberg angeboten, ihn auszubilden. Guy fürchtete, ihn zu verlieren. Aber selbst wenn es ihm das Herz brach, er würde ihm diese Möglichkeit nicht verwehren.

Im Bann der Würfel gefangen, bemerkten die Spieler nicht, wie er sich am Mast vorbei schlängelte. Das Dutzend Hammel zerrte nervös an den Stricken und blökte. Im dämmrigen Licht sahen alle Pferde schwarz aus. Cory begrüßte ihn mit einem halb hoffnungsvollen, halb missmutigen Schnauben. Kein Gold der Welt wog einen Hengst wie ihn auf. Gut ausgebildete Schlachtrösser waren zu wertvoll, um sie einfach zurückzulassen. Renaud hatte seine Fuchsstute in Antwerpen verkauft, denn sie war trächtig und er wollte ihr keine Schiffsreise zumuten.

»Na, mein Kleiner, wir haben es bald geschafft.« Die Tiere litten Durst. Wasser war knapp an Bord. Ein paar Tage Erholung nach der Ankunft würde ihnen guttun.

Sobald Richard das Schwert als Gegenleistung für die Aufhebung der Verbannung angenommen hatte, mussten sie allerdings eine weitere gefahrvolle Schiffsreise ertragen. Dann, so hoffte er, würden sie alle zur Ruhe kommen.

»Schiffe Backbord voraus, Master!«, brüllte die helle Stimme eines Schiffsjungen.

»Was für Schiffe?«, schrie Van Hus zurück.

»Drei Langboote, Master. Sie rudern auf uns zu!«

»Zum Teufel mit ihnen! Piraten oder Franken?«

»Piraten!«, rief der Maat, der bessere Augen hatte.

 

 

»Alle Mann an Deck! Langboote in Sicht!«

Die Würfel schepperten über das Brett, als die Spieler aufblickten und den Rufen lauschten. Ihre Mienen beunruhigten Jakob. »Langboote?«

»Halsabschneider oder Franken«, knurrte der Matrose links von ihm.

So kurz vor dem Zielhafen, verdammt! Jakob griff nach dem Schwertgurt und legte ihn an. Grey rümpfte die Nase, sprang auf und turnte mit wenigen Sätzen zur Stiege, ehe die anderen sich bewegten.

»Alle Mann an Deck!« Jemand trommelte auf Holz. Rufe fachten die Aufregung an. Die Seeleute drängten nach oben. Jakob schlängelte sich hinüber zur Hängematte und holte Köcher und Bogen. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und ließ ihn zusammenfahren. Es war Gisborne und nicht, wie er befürchtet hatte, der unerträgliche Aquitanier. »Der Master hat Alarm gegeben, Sir!«

Ob der Normanne das Zittern in der Stimme vernommen hatte? Er schämte sich seines Verhaltens. Sollte er sich nicht für seinen Herrn freuen, anstatt derart neidisch auf Renaud zu sein? Sein Herz trommelte. Der Ritter nickte mit Blick auf den Bogen. »Gute Entscheidung. Ich kümmere mich um Miriam.«

»Ja, Sir.« Jakob ließ ihm den Vortritt an der Stiege. Stiefel und blanke Füße polterten über die Planken. Sobald Gisborne einen Fuß auf das Deck gesetzt hatte, schob er einen Matrosen beiseite und eilte zum Heck. Jakob sah sich um.

»Geh! Wir kommen zurecht!«, rief Miriam, raffte ein paar Habseligkeiten zusammen und griff das Mädchen an der Hand.

Vorn auf dem Kastell beriet sich Master van Hus mit De Clive, über die nutzbringendste Verteidigung des Schiffes. Grey stand an der Seite des Earls.

»Herrgott! Ausgerechnet!«, fluchte der englische Lord.

»Sie werden uns versenken«, befürchtete der Master.

»Nicht bevor sie die Ladung übernommen haben. Lombardischer Wein schmeckt ihnen«, ereiferte sich der sehnige Maat, der mittschiffs kam. »Haltet das Ruder Steuerbord. Wir wollen sie nicht beidseits. Na los! Bewegt euch, ihr lahmen Ratten.« Er nickte Jakob zu. »Gesell dich zu den Bogenschützen und warte ab.«

»Vielleicht können wir sie rammen«, schlug De Clive vor.

»Und ein Leck riskieren? Sicher nicht! Verzeiht Earl, aber ich führe das Schiff!«, meinte der Master.

Der Earl nickte und verließ mit Grey die Back, um sich beim Mast zu postieren. Jakob sah ihnen nach. Der Normanne reichte Gretel nach unten und schloss die Luke, bevor er sich zu ihnen gesellte. Schreie lenkten Jakobs Aufmerksamkeit zurück zu den Angreifern. Die Langboote ritten über einen Wellenberg und gerieten im nächsten Tal außer Sicht. Es herrschte Gedränge in den flachen Ruderbooten. Sie hatten keine Segel gesetzt. Ein paar Piraten lehnten sich der Gefahr spottend über die Bootswand hinaus und schwenkten ihre Waffen.

»Sie fahren mit der Strömung. Schießt nicht zu früh! Vergeudet keine Pfeile«, wies der Maat sie an, der zu ihnen gestoßen war.

»Lass sie nur kommen!«, flüsterte Jakob. Er spürte Angst, doch er hatte sich bei der Belagerung nicht davon beherrschen lassen und würde es gewiss jetzt nicht tun. Die Matrosen bewaffneten sich mit Äxten und allem, was sonst zur Abwehr dienen konnte. Jene von De Clives Männern, die keine Bogen oder Armbrüste besaßen, hielten sich mit Schwertern bereit. Alles in allem hatten sie zusätzlich zwei Dutzend erfahrene Kämpfer an Bord. Nach Aachen wagte es Jakob, sich dazu zu zählen.

Gisborne lehnte sich über die Reling, um sich zu orientieren. Jakob folgte seinem Blick, stellte sich breitbeinig auf und zog den ersten Pfeil aus dem Köcher. Je mehr Angreifer starben, bevor sie an Bord kamen, umso besser. Einige Matrosen hielten Stangen bereit.

»Backbord! Backbord!«, schrie der Master.

Robert de Clive donnerte über den Lärm hinweg. »Keine Gnade! Gott ist mit den Gerechten.«

»Gott steh uns bei!«, betete ein Bogenschütze und bekreuzigte sich. Das Schiff ächzte unter dem Kurswechsel.

»Dat sin tou ville«, fürchtete ein anderer.

Jakob musste sich festhalten und als er aufsah, waren die Piraten verschwunden. Eben tanzten sie noch auf den Wellen. Sie mussten direkt vor ihnen sein. Er senkte den Bogen und kniff die Augen zusammen.

»So oder so, das gibt ’nen Rumms!«, erklärte der Maat. »Macht euch darauf gefasst, sie sind gleich da!«

Ein Horn dröhnte. Zwei weitere antworteten mit schaurigem Gebrüll von der anderen Seite. Zwei Boote zerteilten den Kamm einer großen Welle. Jakob hob den Bogen an. Dem Dröhnen folgte das Kriegsgeschrei der Piraten wie ein Echo und Wasser rann in Strömen von den Rudern, die angehoben und eingezogen wurden. Brandpfeile hagelten auf das Deck und ins Segel. Jakob duckte sich. Die Piraten hatten kleinere Knebelspieße vorne auf den Booten.

»Feuert, ihr verdammten Brachvögel!«, schrie der Maat.

Über ihren Köpfen knisterten die ersten Flammen. Das dritte Langboot war zurückgefallen. Jakob spannte die Sehne und ließ sie los, fasste nach hinten, legte neu auf und schoss. Ein einziger fließender Ablauf. Die Knebelspieße surrten los. Einer riss zwei Piraten ins Meer, ein anderer zertrümmerte die Bordwand des Bootes, das ihnen am nächsten war – leider über der Wasserlinie.

»Harpunen!«, warnte der Maat.

Was zur Hölle bedeutete Harpunen? Nur drei von fünf Pfeilen hatte Jakob bisher ins Ziel führen können und davon waren zwei an Rundschilden gescheitert. Verdammt! Er verlangsamte die Schussfrequenz. Das Auf und Ab der Wogen, der Wind und die sich rasch verringernde Distanz machten es schwer, einen gezielten Schuss abzugeben. Er nahm den Knebelspießschützen eines Langboots ins Visier und traf.

Ein Rotschopf nahm seinen Platz ein. Jakob schnaubte. Er schätzte Geschwindigkeit, Winkel und den Wind und löste die Fingerspitzen. Die Feder strich über die Wange und jagte davon. Der Pfeil drang an der Schulter durch den Lederpanzer des Rotschopfs, doch sein Geschoss war bereits unterwegs. Es zerrte ein Tau hinter sich her und kam direkt auf sie zu. Jakob duckte sich. Die mit Widerhaken bewehrte Spitze bohrte sich durch den Bogenschützen neben ihm, warf ihn um und nagelte den Unglücklichen auf die Planken. Das Seil straffte sich. Es schabte über die Reling und riss einen Matrosen mit, der über Bord ging. Dabei verhedderte sich sein Arm in den Wanten und das Tau schnitt ihm immer tiefer ins Fleisch. Die Schreie des Mannes gingen im allgemeinen Gebrüll unter. Jakob lag am Boden, ohne zu wissen, wie er dort hin gelangt war, und starrte dem toten Bogenschützen ins Gesicht.

Ein Tritt löste seine Starre auf. »Beweg dich, Junge!« Der Maat hackte auf das Tau ein. Jakob rappelte sich auf und gab ihm Deckung. Sein Freund Sieg hätte jedem ihrer Gegner ein Auge ausschießen können. Er war der beste Schütze von allen gewesen und doch am ersten Tag in Aachen von Gott abberufen worden. Über Leben und Tod hatten sie keine Gewalt. Der Matrose kam frei, doch im gleichen Moment verschluckte ihn eine Welle, weil er sich nicht hatte halten können.

Ohne Unterlass hagelten Enterhaken über die Reling. Ein Ruck erschütterte die Gull und holte fast jeden von den Füßen. Die Piraten enterten mittschiffs und De Clives Männer warfen sich in den Kampf. Der Maat beugte sich hinaus und kappte Tau um Tau. Sie glitten wie Aale ins Meer zurück und das Piratenschiff schaukelte von der Strömung mitgerissen davon. Ein paar der Matrosen jubelten. Jakobs Finger wurden taub, die Muskeln müde. Er erwischte einen Piraten des sich entfernenden Bootes am Hals und der Mann stürzte ins Meer.

»Runter!«, schrie Grey und warf sich über De Clive. Eine weitere Harpune verkeilte sich am Stützbalken des Kastells. Dieses Tau war mit Dornen gespickt und schabte unaufhaltsam die Reling entlang, riss Teile der Wanten, die den Mast hielten, und jeden mit, der nicht rechtzeitig beiseite sprang. Der Bug bäumte sich unter der zusätzlichen Last auf. Alles wankte und Jakob fiel. Kreischen, Splittern, ein heftiges Knarzen erschütterte die Gull. Matrosen wurden unter einem Teil des Aufbaus begraben, als der in sich zusammenbrach.

»Der Mast! Sichert den Mast!«, kreischte der Maat.

Jakob sprang auf und schlug sich den Hinterkopf an. Sein Blick wurde für einen Moment trübe. Das Schiff neigte sich und er krachte gegen die Bordwand. Ein Fass rollte auf ihn zu, hüpfte über einen Verwundeten und verfehlte Jakob knapp. Holz splitterte, ein weiteres Tau quetschte einen unglückseligen Matrosen an der Reling zu Tode. Brennendes Segeltuch flatterte herab. Eine Talje hatte sich gelöst und die Rah schmierte einseitig ab. Alles versank in Chaos. Wie die Arme eines Seeungeheuers krallten sich Dutzende von Enterhaken fest und Piraten wälzten sich wie eine Springflut an Bord. Jakob kämpfte sich auf die Füße.

Vor Gisborne, der wie die meisten gestürzt war, landete ein Haken, schrammte über das Deck und drohte ihm ins Bein zu beißen. Er rollte in letzter Sekunde zur Seite, kam auf die Knie und suchte nach dem nächsten Gegner. Jakob musste zu ihm! Ringsum Schreie. Vor ihm lagen zwei Pfeile. Der Bogen war erstaunlicherweise nicht zerbrochen und die Sehne heil geblieben.

Der Normanne, De Clive und Grey warfen sich gemeinsam auf den Feind und deckten sich gegenseitig den Rücken. Jakob setzte mit den letzten Pfeilen zwei der Lumpen außer Gefecht, doch es strömten mehr Schurken an Bord. Er zog das Schwert. Eine dieser stinkenden Ratten krabbelte neben ihm hoch und schwang einen gekrümmten Hieber. Er wehrte ihn ab und holte zum Gegenschlag aus. Weitere Geächtete erklommen die Back. Jakob nahm sich die Hand des Burschen, der gerade ein Bein über die Kante schwang, zum Ziel, da stieß ihn etwas in den Rücken und brachte ihn zu Fall.

 

 

Kämpfe auf begrenztem Raum gestalteten sich hässlich, weshalb Guy den Dolch zückte, nachdem sein Schild verloren war. Ein Beben ruckte durch den Rumpf, das dritte Schiff hatte sich heran manövriert. Die Gull drohte sich in die Strömung zu drehen. Das Ruder war unbesetzt und das Segel brannte. Dutzende Angreifer kletterten gleichzeitig über die Bordwand. Zudem sah er das Segel des Bootes, das sie schon abgewehrt hatten. Es hatte gewendet und kam rasch näher.

Er tötete zwei Männer, bevor sie einen Fuß auf die Planken setzen konnten. Dann musste er sich umdrehen, denn ein Mistkerl hackte Arme ab und schlug Köpfe ein. Guy tauchte unter der Kriegsaxt weg, parierte die Rückwärtsbewegung mit dem Schwert und versenkte den Dolch in die Gurgel des Mörders.

Zwei weitere finstere Gestalten ersetzten ihn. Jemand rempelte ihn von hinten an, kaum dass er sie angegriffen hatte. Ein Matrose fiel ihm in die Kniekehlen. Es warf ihn der Länge nach hin, gerade als ein Morgenstern nach seinem Kopf schwang.

Glück im Unglück. Die dorngespickte Kugel zischte über ihn hinweg und zerschmetterte einem anderen armen Tropf den Schädel.

Guy stach das Schwert in die Leiste des Mannes mit der Dornenkugel, was dem einen schrillen Aufschrei entlockte. Beim Herausziehen weitete sich das Loch und stinkende Eingeweide quollen heraus. Ein Pfeil bohrte sich in die Brust des nächsten Piraten, der sich vor Guy über die Bordwand schwingen wollte. Er fiel zwischen die Schiffe und wurde zermalmt. Grey und Robert waren abgedrängt worden.

Auf dem demolierten Kastell kämpften sein Knappe und drei weitere Verteidiger um ihr Leben. Ein Teil des Segels stürzte auf sie. »Jakob!«

Zu spät, der Junge wurde von den Trümmern der Rah begraben und die übrigen Bogenschützen überwältigt. Guy kam hier nicht weg. Er packte einen Piraten, der einen Waffenknecht niedergestochen hatte an den Haaren und beförderte ihn über die Reling. Einem, der die Bordwand erkletterte, stieß er die Klinge am Schlüsselbein nach unten in den Leib. Er musste Miriam schützen, die Luke zum Frachtraum geschlossen halten.

»De Clive!« Er entdeckte ihn Rücken an Rücken mit Grey und einem kläglichen Rest von vier seiner Bewaffneten. Ihre Angreifer bedrohten sie von drei Seiten. Auch wenn sie ihre Schilde geschickt nutzten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie aufgeben mussten. In diesem Moment wurde Grey an der Flanke getroffen. Roberts Gefolgsmann brach zusammen und De Clive drehte sich bestürzt zu ihm um. Die Piraten drängten ihn an die Wand und entwaffneten ihn.

Sie verloren! Guy parierte einen Hieb und stach zu. Die Wildheit, mit der er das tat, täuschte über seine schwindenden Kräfte hinweg. Der Dolch glitt am Lederpanzer eines zotteligen Rotschopfs ab. Der Pirat schlug das Schwert mit einem Säbel beiseite und verpasste ihm einen Schwinger. Guy taumelte und rang nach Luft. Seine Glieder wogen tausend Unzen Blei. Verflixt und zugenäht! Er knurrte, riss sich zusammen und warf sich auf den Bastard. Doch ein anderer schritt ihm in den Weg und er prallte von einem Schild ab. Der Kerl hieb Guy das Entermesser gegen die Schulter. Das Kettenhemd verhinderte das Schlimmste, aber ein dumpfer Schmerz lähmte seinen Arm. Er war umzingelt und sie pikten von allen Seiten auf ihn ein. Guy schwang sein Schwert in weitem Bogen, um die Bande auf Abstand zu halten.

Keine Hand würden die Mordbestien an sein Weib legen. Mit aller Macht drückte er sich ab und griff an. Er führte einen Schwertstreich zum Umgehen eines Entermessers, und der Dolch steckte im Bein des Nebenmanns. Eine Faust traf seinen Wangenknochen. Er stürzte. Ihm funkelten Sterne vor den Augen. Ein Fuß trat auf das Schwert und quetschte ihm die Finger. Sie öffneten sich gegen seinen Willen und das Schwert wurde weggetreten. Der Rothaarige hielt ihm eine Klinge an die Kehle. »Gib auf oder stirb!« Der schottische Akzent des dreckigen Schurken war nicht zu überhören.

Miriam! Das Bild vor Guys Augen verschwamm. Sein Atem ging stoßweise. Er konnte nicht aufgeben, also bäumte er sich auf! Sie packten ihn und schnürten seine Handgelenke im Rücken zusammen. Er schrie hasserfüllt. »Hände weg, ihr miesen Bastarde!«

Jemand riss ihn an den Haaren.

»Was für ein Arschgesicht! Ich will ihm den Hochmut austreiben«, keifte ein hässlicher, alter Kerl.

»Hoch mit ihm! Muss ja einen Grund haben, warum er sich so wild wehrt«, meinte der Schotte.

»Ob er ein Lösegeld wert ist?« Die Galgenvögel packten Guy unter den Armen und stellten ihn auf. Gnade ihnen Gott, wenn er überleben sollte. Sie lockerten eine Sekunde ihren Griff und er stürzte sich Kopf voraus auf den massigen Schotten. Doch der wich gewandt aus. Die Pranke des Rotschopfs packte ihn im Gesicht und warf ihn wie einen Käfer auf den Rücken. »Entweder bist du dumm oder dreist!«

 

 

Renaud stieß sich von der Reling ab. Gegen drei Langboote war das Transportschiff nicht zu halten. Bestenfalls würde man sie als Sklaven in den Osten oder Süden verschiffen. Wie auch immer, das Schwert durfte nicht in ihre Hände fallen. Er eilte zur Luke und kletterte nach unten. Nachdem sich seine Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten, hastete er zum Gepäck. Wo hatte er die Wolfswurz? Es polterte hinter ihm. Miriam half Gretel herunter und setzte sie ab. Sie nahm ein paar Gepäckstücke entgegen und der Normanne beugte sich zu ihr herab. »Verstecken! Gut verstecken!«

Sie küsste ihn. »Nimm dich in Acht, Liebster.« Die Luke schloss sich und die beiden verharrten, dort wo sie standen.

»Miriam.«

»Was macht Ihr hier unten, Renaud?« Guys Frau drehte sich mit einem Dolch in der Hand um.

»Ich brauche deine Hilfe. Du hast das Gift behalten. Hol es!« Sie wusste genau, wovon er sprach. Armand hatte Gretels Bruder während der Belagerung Aix-la-Chapelles bestochen, ihr Essen zu vergiften. Glücklicherweise hatte der Junge es nicht über sich gebracht und Miriam hatte die Phiole damals an sich genommen, dessen war er sich sicher. Das konnte sie jetzt retten.

Sie runzelte die Stirn. »Warum? Wollt Ihr Euch feige das Leben nehmen? Ich hätte mehr von Euch erwartet. Oben wird jeder Mann gebraucht! Schert Euch an Deck!«

Renaud konnte nicht verhindern, dass ihm ein höhnisches Bellen aus der Kehle sprang. »Und du? Welches Schicksal wählst du? Ist der Dolch für dich und die Kleine, oder riskierst du die Sklaverei? Dein Mann mag kämpfen, aber ich habe wirksamere Pläne. Gesetzt den Fall, dass sie das Schiff nicht versenken, brauchen wir ein Versteck für dich und das Kind. Vertrau mir, Miriam – ich rette dich, wie ich es bereits einmal getan habe. Gisborne kann gegen so viele Piraten nicht bestehen.«

»Mit denen werden mutige Kämpfer fertig«, behauptete sie trotzig.

Renaud wusste, wann es Spitz auf Knopf stand. Er kannte seine Schwächen und Stärken genau und dort oben aufgeschlitzt zu werden, zählte für ihn nicht zu Letzteren. Vielleicht gelang es ihm, seine neugewonnene Familie zu retten. Aber er musste Prioritäten setzen.

Er fand das gemahlene Pulver und steckte es in die Tasche. »Sicher? Bring mir dein Bilsenkraut und am besten auch das Schwert. Es darf nicht in die Hände der Piraten geraten.«

Die Frau des Normannen rührte sich nicht von der Stelle. »Ich werde es Euch nicht überlassen. Guy und Jakob würden das nicht wollen.«

Würden sie nicht? Vertrauten sie ihm noch immer nicht? Das tat weh. Zumal aus ihrem hübschen Mund. »Glaubst du, ich nehme es und schwimme davon?« Renaud fuhr herum und packte sie an den Oberarmen. Sie standen so dicht, dass er ihren geschwollenen Leib an den Lenden spürte. Nein, er durfte ihr nicht mit Gewalt kommen. Das schürte ihren Widerstand. Wozu hatte er sie am Rhin gerettet? »Gut, behalte es bei dir.«

Mit dem untrüglichen Instinkt einer Frau schüttelte Miriam den Griff ab und wich vor ihm zurück. »Ihr begehrt mich!«

»Ist das jetzt von Belang?« Über ihnen polterten die Männer auf und ab und machten sich bereit zum Gefecht. Befehle drangen gedämpft durch die Planken. Der Augenblick eignete sich nicht für ein Liebesgeständnis. Zunächst mussten sie überleben. Falls der Normanne starb, was wahrscheinlich war, gehörten Miriam und das Schwert ihm. Er hoffte allerdings, dass Gisborne überlebte. Sie standen so kurz vor ihrem Ziel. Es durfte nicht so banal enden.

»Wo, in Gottes Namen, sollten wir uns verstecken?«, fauchte die Heilerin, nachdem sie sich entschieden hatte, eine Niederlage in Betracht zu ziehen. Er hörte ihren raschen Atem. Kam sie sich jetzt wie eine Verräterin vor?

»In der Bilge.« Renaud lief zur Klappe und schob mit dem Stiefel halb vermoderten Unrat beiseite. Die Falltür mit einem ringförmigen Eisengriff kam zum Vorschein. Er zog daran. Das Holz knirschte und hob sich zögerlich. Dort unten herrschte Dunkelheit und atemraubender Gestank. Das eingedrungene Wasser im tiefsten Teil des Schiffsrumpfes gluckste vor sich hin. Es schwappte schmatzend von einer Seite der Bordwand zur anderen. Nicht nur das Wasser bewegte sich in der Bilge. Angsterfülltes Quieken flutete ihnen entgegen.

»Niemals!«, brachte Miriam mit zitternder Stimme hervor. »Ich werde nicht mit Gretel da hinuntergehen, um mich auffressen zu lassen oder zu ertrinken!« Renaud ließ die Klappe herunter sausen. »Vielleicht finden wir etwas Besseres, aber ich brauche das Gift.«

»Ich habe Bilsen-Samen«, gestand Miriam mit aufgerissenen Augen. Ihre Hand ruhte auf Gretels Rücken.

»Samen sind genial. Kannst du sie zermahlen? Schnell!« Oben hagelten Pfeile auf das Deck. Die Pferde wieherten in Panik und die Hammel zerrten an den Seilen, mit denen sie an den Pfosten festgebunden waren. Gretel klammerte sich ängstlich an Miriams Rock. »Schnell, lass mich uns retten!«

 

 

Guy erwachte, den metallischen Geschmack von Blut im Rachen. Ein dumpfes Pochen malträtierte seine Schläfen. Die Nase war eindeutig gebrochen und zugeschwollen.

»Nehmt eure dreckigen Finger von ihm! Ich bin Robert, Earl of Clive, mein Weib ist die Tochter des Laird of Lochlarg. Meine Leute werden ein Lösegeld zahlen, aber nur, wenn ihr uns in Ruhe lasst, ihr gottlosen Satansbraten!« Wut und Angst sprachen aus seiner Stimme.

»Zahlst du mehr als die Franken, Lord?«, höhnte einer mit katalanischem Akzent. »Hochwohlgeborenheit hä?«

»Wieso sollten die Franken euch nicht aufknüpfen wollen? Ihr werdet kein Lösegeld erhalten, ihr nichtsnutzigen Haifische, und meine Söhne werden euch die eigenen Eingeweide verfüttern!«

Ob diese Drohungen ihren Zweck erfüllten? Guy öffnete die Augen und sah eine ganze Reihe übel stinkender Leinenhosen vor sich. Überlebende Matrosen und ein paar Waffenknechte knieten auf den Planken. Letztere hatte man ihres Rüstzeuges beraubt.

Hustenreiz überfiel ihn und er spuckte Blutklumpen aus. Trotz der auf den Rücken gefesselten Hände drehte er sich, damit er herausfand, wer am Leben war. Jeder Knochen tat ihm weh.

Jakob war nirgends zu sehen. Wut und Trauer verschlangen sein Herz. Miriam – was war mit ihr geschehen? War sie tot? Die Vorstellung machte ihn wahnsinnig. Er wand sich in die andere Richtung, was ihm nur gelang, weil er Schmerzen ignorierte. Wenige Schritte entfernt kniete Robert, der vornehmen Kleider beraubt, im Hemd bei Grey. Er hielt die Hände auf die Wunde an der Seite seines Gefolgsmanns gepresst. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Verletzten zu fesseln.

»Werft den nutzlosen Ballast über Bord! Wir haben genug Gefangene fürs Erste. Ein paar Denare werden sie uns schon bringen.« Der Iberer gab seinen Leuten einen Wink. Er musste eines der drei Schiffe befehligen. Der Schotte verfolgte das Treiben mit einem hämischen Grinsen. Zwei Mann des bunt zusammengewürfelten Haufens stießen Robert zu Boden, packten Grey und hievten ihn mit dem Gesäß auf die Reling. »Die Haie werden sich freuen!«

»Wagt es nicht!«, schrie der Lord außer sich.

»Was zahlst du?«, wollte der Iberer mit breitem Grinsen wissen. Sie lachten. Der Verletzte, halb ohnmächtig von der Tortur, klammerte sich an die Bordwand. Sein Oberkörper baumelte über den Wellen. Guy ruckte an den Fesseln und brachte die Schnüre dazu, tiefer in die Gelenke zu schneiden. Er knurrte ungewollt, aber niemand außer dem Schotten, der ihm rasch einen Blick zuwarf, hörte es.

Ein Fluchen und Rumpeln erhob sich aus der Ladeluke.

»Sieh dir dieses Hundsgesicht an!«, ertönte eine Stimme so rau wie ein Reibeisen.

Sofort trommelte Guys Herz und Furcht ließ ihn erstarren. Jemand wurde herausgestoßen und fiel wie ein nasser Lappen keuchend auf die Planken. Es hörte sich an wie das Wimmern eines Kindes. Gretel? Miriam hätte die Kleine mit ihrem Leben verteidigt. Ein kantiger Kahlkopf stieg aus dem Laderaum. »Das Wiesel hat die Weinfässer zerschlagen!«

Die Piraten machten ihrer Empörung Luft. Wutschreie wurden ausgestoßen. Die zwei, die Grey festgehalten hatten, ließen den Leibeigenen los, um zu sehen, wer sich so dreist verhalten hatte. »Was? Alle? Die rattengesichtige Fettbacke!«

»Fast – ich konnte zwei Fässer retten«, meinte der Kahlkopf.

Das senkte den Gewinn erheblich und rückte das Lösegeld in den Vordergrund. Wer immer die Fässer zerschlagen hatte, steigerte damit den Wert der Geiseln. Piratenstiefel traten dumpf zu und brachten ihr Opfer zum Wimmern. Guy war erleichtert, dass es sich nicht wie Miriam anhörte. Ob es einer der Schiffsjungen war? Der Wein hätte den Piraten einen passablen Ertrag garantiert, wenn man davon absah, dass sie ihn selbst gerne tranken. Sie würden ihr Opfer leiden lassen.

»Habt Gnade! Bei Gott! Gnade!«

Moment – war das Renaud? Hatte er sich im Schiffsrumpf versteckt?

Da sich die Aufmerksamkeit gerade an anderer Stelle konzentrierte, robbte De Clive unbemerkt zu Grey und zog ihn zurück an Deck, wo der Mann in sich zusammensackte. De Clive blickte wie ein gehetztes Tier um sich. Er war verzweifelt, aber es gab keine Möglichkeit, zu ihnen zu gelangen. Ihre Blicke trafen sich kurz. Die Lücke schloss sich. Mehr Piraten drängten sich um Renaud.

»Zieh ihm die Haut vom Leib!«, brüllte jemand.

Guy fluchte. Waren sie alle verloren? Jakob, Miriam und Renaud? Es trieb ihm Tränen in die Augen. Er biss die Zähne zusammen. Vielleicht noch nicht. Es hätte besondere Aufmerksamkeit erregt, wären Miriam oder Gretel entdeckt worden, egal ob lebend oder tot. War es möglich, dass sie unentdeckt geblieben waren? Um Renaud war es geschehen.

Instinktiv tasteten seine Finger nach dem Messer im Stiefelschaft und er bemerkte, dass neben dem Kettenhemd auch sein Schuhwerk einen der lumpigen Piraten kleideten. Verdammt!

»Der Master hat befohlen, die Fässer zu zerschlagen! Bitte lasst mich leben!«, brüllte Renaud verzweifelt. Sie setzten ihm hart zu. So schäbig es war, Van Hus die Schuld zuzuweisen – von Miriam erzählte er nichts. Was immer das zu bedeuten hatte, Guy sprach ein stilles Gebet für sie alle. Wenn sie lebte und unentdeckt blieb, hatten sie eine Chance.

Einer schrie: »Holt den Drecksack!« Und so geschah es. Sie zerrten Van Hus in ihre Mitte. Der Master bestritt, einen solchen Befehl gegeben zu haben. Sie teilten Schläge und Tritte an ihn aus. Die Meute zankte darüber, was die gerechte Strafe wäre.

Wer die Hoffnung fahren ließ, hatte schon verloren. Guy ruckte an den Fesseln, doch die Mühe war umsonst. Einer der Piraten verpasste ihm ein paar Tritte.

Schließlich entschied sich das Pack für ein Vorgehen. Sie steckten Renaud in einen Sack und banden ihn mit einem Seil zu. Guy hörte ihn um sein Leben betteln, als sie ihn am Mast hochzogen. Der Flaschenzug quietschte. Andere fesselten Van Hus an den Mast.

»Bringt die restlichen Fässer raus. Ich will sie im Auge haben! Her mit den Schätzen! Alle Beutestücke in die Mitte, wir teilen, sobald wir vor Anker liegen und schafft die Gefangenen in den Laderaum«, entschied der Schotte.

»Es sind zwölf Hammel und sechs edle Rösser unter Deck, die gebärden sich wie wild.«

»Hammel – hervorragend! Gib den Gäulen Zeit, sich zu beruhigen, die bringen uns Gewinn. Ihr Iren liebt Pferde doch.«

De Clive, der an der Bordwand lehnte, bettete Greys Kopf auf seinem Schenkel. Er wand ein zerrissenes Stück Leinen um die Wunde und redete auf den Leibeigenen ein. Dank seines Titels und Reichtums ließen sie ihn in Ruhe.

Zwei Piraten zerrten Guy zur Luke. Sehr gut! Verbargen sich Miriam und Gretel bei Cory? Sobald sie alle im Laderaum waren, konnten sie einen Befreiungsplan schmieden.

»Der da und der andere da hinten nicht. Wir wollen unseren Gästen etwas bieten«, rief der Iberer. »Wenn wir mit dem Master fertig sind, kümmern wir uns um den Jammerlappen im Sack. Den hebe ich mir für den Schluss auf.«

Zu früh gefreut! Verdammt! Sie zerrten Guy zum Rand und banden ihn an ein Wasserfass. »Ein Mucks und ich schneid dir die Kehle durch.«

Ein Mann, fast so schwarz wie Holzkohle, mit Ringen durch Ohren und Nase, hielt einen anderen Piraten auf, der die Schiffsjungen zum Laderaum bringen wollte. »Die gehören mir. Sag, wenn du deine Finger verlieren willst.«

»Schon gut, Segelmacher. Reg dich nicht auf!« Der Mann machte ihm schleunigst Platz und gesellte sich zu dem Pack, das dem Master die Kleider vom Leib zerrte.

»Hört auf! Was wollt ihr? Der Mann hat gelogen! Ich habe nicht befohlen … Nein! Ahh.«

Sie hörten nicht auf Van Hus’ Beteuerungen. Guy wünschte ihm einen schnellen Tod. Der Iberer leckte über die blutbesudelte Klinge eines Dolches, dessen Spitze leicht gebogen war. In seinen Augen glänzte etwas Teuflisches und obwohl Guy nicht sah, was genau geschah, kroch eine entsetzliche Kälte über seinen Rücken. Van Hus setzte sein Flehen fort. Seine Peiniger lachten über die schmerzerfüllten Entgleisungen seiner Stimme.

Dem Schotten schien es wichtig, keine Zeit mehr zu verlieren. Er erteilte Befehle, das Ersatzsegel aufzuziehen und alles Nötige zu reparieren. Von Miriam oder Gretel fehlte jede Spur. Die beiden mussten sterben vor Angst, wenn sie van Hus hörten. Oder hoffte er grundlos? Vielleicht hatte Renaud ihnen das Leid erspart? Aber hätten die Schweine die Leichen nicht hochgebracht, um sie der Kleider zu berauben und über Bord zu werfen?

Es ließ sich schwer atmen mit der gebrochenen Nase. Über ihnen zappelte sein unglücklicher Sohn im Sack. Ein Schatten wälzte sich vor Guy, ging in die Hocke und packte ihn am Kinn. »Mach dir keinen Kopf, normannischer Hund. Für dich gibt es keine Rettung«, flüsterte der Schotte.

»Hört auf ihn zu quälen! Ich zahle für alle, die noch leben. Lasst Van Hus in Ruhe«, fauchte De Clive, dem sie einen Sack über den Kopf zogen.

Der Schotte grunzte. »Du musst ein sehr reicher Mann sein. Na schön, tauschen wir – den Master gegen das Leben deines geliebten Leibdieners.« De Clives Stimme wurde kalt wie Eisregen. »Ihr verspielt eine Menge Silber, Eoin Hammerfaust! Ganz recht! Ich habe von dir und deinem Pack gehört.«

»Es ist gut, wenn einem ein gewisser Ruf vorauseilt!« Der Schotte lachte tief und wohltönend. Er tätschelte Guys Wange, bevor er ihm ebenfalls einen Sack überzog und die Männer antrieb. »Vorwärts, ihr Lahmärsche. Ich will heut ein höllisches Freudenfeuer machen.«

Die Schreie des Schiffsmasters steigerten sich. Eine schreckliche Dunkelheit legte sich auf Guys Gemüt. Er schloss die Lider und ignorierte das Leiden des Masters. Dabei versuchte er einigermaßen regelmäßig zu atmen. Jakob hätte für ihn gebetet, doch ihm fehlte die Kraft für sie alle mitzuleiden. Er flehte zu Gott, dass Miriam lebte und die anderen im Laderaum befreien konnte. Vielleicht war einer unter ihnen, der den Aufstand wagte, bevor man die meisten von ihnen auf maurischen Sklavenmärkten verkaufte. Die Sonne brannte vom Himmel. Ihm schwanden allmählich die Sinne vor Schmerz und Durst.

Es schien ihm ein Moment vergangen zu sein, als ihn lautes Gejammer aufschreckte – Renaud. Waren sie mit Van Hus fertig? Die Sonne näherte sich dem Horizont. Sie zeichnete ein blutrotes Muster auf den groben Sack und verriet ihm ihren ungefähren Kurs. Die Spitting Gull fuhr Richtung Norden.

 

 

Ein Wasserguss weckte Jakob aus der heimtückischen von Monstern bevölkerten Finsternis, raubte ihm den Atem und brannte in seinen Wunden. Flötenklänge und Trommelschläge schwängerten die kühle Seeluft. Er schmeckte Salz auf den Lippen und die Glut einer Fackel ließ ihn blinzeln. Neben ihm stöhnte jemand.

»Na, ihr Äffchen, lang genug ausgeruht.« Vor ihnen stand ein Kerl so wuchtig wie ein Weinfass.

»Was macht ihr mit uns?« Die Stimme gehörte dem blonden Schiffsjungen, der Roger hieß. Die Erinnerung an den Überfall sickerte in Jakobs Bewusstsein und er fröstelte. Sir Gisborne, die Herrin und Gretel – was war mit ihnen geschehen? Das Grölen bedeutete wohl, dass die Piraten eine Siegesfeier abhielten. Die unbeständige Helligkeit eines Feuers flackerte hinter der Bordwand, Funken stoben zu den Sternen empor und vereinigten sich mit ihnen. Er erkannte die Balken des demolierten Backkastells über sich. Jemand hatte sie hier an die Pfosten gebunden.

Ein zweiter Kerl beugte sich herab und drehte Jakobs Kopf, um die Beule zu betasten. Trotz der Fackel blieb sein Gesicht schwarz wie die Nacht. Das Weiß der blutunterlaufenen Augen stach hervor. »Wird leben!«

Ein schwarzhäutiger Mann! Je heißer die Sonne, umso dunkler die Völker. Jakob bemerkte die Angst, die er unter den Jungen auslöste.

Das dunkle Gesicht entblößte die Zähne. »Der kleine Blonde wird auf dem Markt einen guten Preis erzielen. Die anderen, na ja. Der Große kann kämpfen. Geht vielleicht als Eunuch, wenn er es überlebt. Meine Beute! Ihr gehört mir. Seid artig und ich behandle euch gut. Werdet frech und ich schlitze euch die Bäuche auf und verfüttere euch an die Haie.«

Er tätschelte die Wangen des Jüngsten. Der Junge schrie entsetzt auf. Jakob hätte gerne geschluckt angesichts der Drohung, aber seine Kehle war ausgedörrt. Sollte das ihr Schicksal werden? Waren sie die einzigen Gefangenen? Ihm stellten sich alle Haare auf. Er musste herausfinden, was geschehen war.

Roger und einer von De Clives Pagen zerrten an den Fesseln, als sie begutachtet wurden. Ranzig schmeckende Finger öffneten Jakobs Kiefer und drückten an seinen Zähnen herum, bevor sie hinter ihn griffen und die Fesseln lösten. »Mitkommen!« Der Mann hob die rechte Hand, in der sich die finsteren Umrisse einer Peitsche abzeichneten.

Die Angst riet Jakob, loszustürmen und über Bord zu springen. Er widerstand ihr. Die Ohrringe schaukelten, als ihr Sklaventreiber lachte und ihn mittschiffs schubste, wo ein paar Schurken einen jammernden Gefangenen in einem Sack anstießen, damit er hin und her schwang. Jakob rieb sich die wunden Gelenke. Blut floss schmerzhaft in die Gliedmaßen zurück. Ein bohrender Schmerz plagte ihn, sobald er die Schulter bewegte. »Wo sind die anderen?«

»Maul halten! Bücken!«, brüllte der Pirat und gab ihm einen Stoß, der ihn auf rebellierenden Knien und Handballen landen ließ. Ein paar der Schurken saßen mit ihren langen Messern spielend auf Kisten und Wasserfässern und beobachteten das Schauspiel mit hämischem Grinsen.

Hatten nur sie vier überlebt? Das durfte nicht sein. »Heilige Mutter Gottes, König Wilhelm, Mutter, alle die mir wohlgesonnen sind, bitte steht uns bei! Bitte lass sie leben!«

Jemand kickte ihm eine Bürste zu und leerte einen Eimer Wasser vor ihm aus. »Schrubb die Planke!« Die Peitsche knallte neben ihm durch die Luft. Sie streifte ihn am Arm. Es brannte wie Feuer. Ohne aufzusehen, packte Jakob die Bürste und schrubbte los. Sollten sie ihn für einen ängstlichen Wurm halten. Das konnte seine Chancen verbessern. Der Schwarze holte die restlichen drei Jungen. Jeder bekam eine Ecke zugeteilt. Das Segel war gerefft worden und das Schiff schaukelte träge vor sich hin. Ein Steg knarzte auf der Reling. Sie ankerten irgendwo – Insel oder Festland? Konnte er über Bord springen und an Land schwimmen?

Ein Husten! Drangen da flüsternde Stimmen aus der Ladeluke? Es gab also andere Überlebende. Er schrubbte die Planken in Richtung der Geräusche.

Sein kaltherziger Wächter unterhielt sich mit einem, dessen wenige Haarsträhnen schütter am Nacken baumelten. Jakob nutzte den Moment, richtete sich auf und schielte über die Reling. Nur einen kurzen Augenblick, schon arbeitete er weiter. Die Piraten lagerten auf einem flach aus dem Wasser ragenden Felsen. Sie hatten mit den Holztrümmern ein Feuer entfacht und brieten Hammel.

Jakob riskierte noch einen Blick. Sie hatten Fässer und anderes ausgeladen und tanzten mit den besten Kleidungsstücken des Earls um die Feuerstelle. Um das Rüstzeug wurde gefeilscht. Im Hintergrund ragte eine weiße Felswand empor. Sie schien nicht zu enden.

Die Peitsche zuckte über seinen Rücken. Jakob schrie auf und fiel flach auf die Planken. Der Hieb brannte fürchterlich. Es schmerzte tausendmal teuflischer als die Rohrstöcke der Mönche. Er rang nach Atem.

»Halt die Rübe unten, oder sie fehlt!«

Kaum klang der Schmerz ab, traf ihn ein Tritt in die Seite. »Eimer füllen, los!«, brüllte der Schwarze. Fahr zur Hölle, dachte Jakob, unfähig sich zu rühren. Die Peitsche knallte und bescherte ihm einen glühenden Funkenregen vor den Augen.

»Bist wohl faul, was?«

Der Schmerz war unsagbar. Jakob robbte ein Stück vorwärts. Nicht noch einen Schlag wie diesen, bitte nicht. Der Pirat, vor den der Eimer gerollt war, gab ihm einen Tritt. »Leg dich besser nicht mit Muchtar an, sonst beschneidet der Segelmacher dich gleich!« Dem Kerl fehlten die Schneidezähne.

Die Peitsche hob sich erneut. »Ich gehorche! Ich gehorche, Herr.« Jakob quälte sich auf und lief zum Eimer, der am Seil in die Fluten geworfen wurde. Er konnte es sich nicht leisten, dass ihm die Haut in Fetzen hing, wenn er fliehen wollte. Waren Gisborne und die Lady im Laderaum gefangen?

»Schneller! Beweg dich, du feige Ratte«, fauchte Muchtar.

Jakob hievte das Wasser hoch, schüttete es auf die Planken und schrubbte in wilder Wut vor sich hin. Du bist Knappe, ertrag es, bis sich eine Chance ergibt, hämmerte er sich ins Gehirn. Er näherte sich dem Mast und bemerkte, dass die Piraten jemanden angebunden hatten. Muchtar stand jetzt an der Reling und forderte von denen auf dem Felsen mehr Wein und Essen ein. Eine spindeldürre, halb graue Vogelscheuche balancierte auf dem Steg und brachte ihnen gefüllte Krüge und eine Schale mit Fleischstücken. Der Duft weckte Jakobs Appetit. Tapfer bürstete er schräg in Richtung Mast. Wer war dort angebunden und konnte er ein paar Fragen beantworten? Mit Wissen ließ sich ein Ausweg finden. Der Mann war nackt bis auf die Brouche. Die Blutlache unter den zitternden Füßen war angetrocknet. Bei allen Heiligen im Himmel, was hatten sie mit ihm gemacht?

Die Augen auf die Planken geheftet, versuchte Jakob sein Glück. »Pst! Könnt Ihr mich hören? Wie viele Kämpfer haben überlebt? Ist Gisborne im Laderaum?«

Die Figur am Mast krächzte. Vermutlich war es töricht, von diesem armen Menschen Auskunft zu verlangen. Jakob vermied jede Vorstellung, was sie ihm angetan haben könnten. Er lebte wenigstens. Wobei – Blut tropfte auf die Stelle, die er gerade gesäubert hatte. Das schlechte Gewissen überkam ihn. »Kann ich etwas für Euch tun?«

Das Krächzen über ihm wiederholte sich. Es schwoll zu einem Wispern an. »Erlöse mich, bitte.«

Jakobs Kopf ruckte nach oben. Im gleichen Moment wurde er gepackt und aufgestellt.

»Na, willst du auch so enden?«

Die Furcht vor der Peitsche verblasste beim Anblick des zerschnittenen Gesichts mit den ausgestochenen Augen. Den Haaren nach war es Master van Hus. So entsetzlich der Anblick war, überkam ihn Erleichterung. Er schlug ein Kreuz.

Der Schwarze drückte ihn dicht an den Geschundenen heran. »Das passieren, wenn du nicht gehorchst!« Mit diesen Worten schleuderte er Jakob, der sich gesträubt hatte die blutverschmierten Wangen zu berühren, zu Boden und trat ihm in die Seite.

»Hey, Segelmacher, bring die Jungen. Lass uns sehen, ob sie als Piraten taugen!«, schallte es von der Sandbank herüber.

»Das glaube ich nicht!« Muchtar zerrte ihn hoch und warf ihn über die Reling.

Mit einem Platschen landete Jakob im seichten Wasser auf einem rauen Felsen. Er schluckte Wasser und krabbelte den glitschigen mit scharfkantigen Muscheln bewachsenen Felsen hoch. Die anderen Jungen wurden von Muchtar den Steg herunter geschubst. Er sammelt den keuchenden Jakob ein und schleifte ihn zum Feuer.

»Scheint, er hat deinen Unmut erweckt, Segelmacher?«, witzelte ein kahlköpfiger Riese, dessen Oberarme und Glatze mit schwarzen Fratzen verziert waren. Er lachte und brachte damit seinen Bauch in Wallung, der aus der Lederweste herausquoll. »Hab den Jungen schießen sehn? Der kann gut mit dem Bogen umgehen. Geben wir ihm eine Chance, Segelmacher. Er könnte dein persönlicher Gehilfe werden.«

Sie grölten. Der Kahlkopf stand auf und wanderte um die Jungen herum. »Ihr habt die Wahl! Entweder bleibt ihr bei uns, die wir uns redlich die Prise teilen, oder ihr werdet an die Mauren verkauft. Die entmannen hübsche Jungen und braten sie an Spießen!« Dabei schnitt der Pirat eine Fratze, die sie alle zittern ließ.

»Ich möchte kein Eunuch werden und meinem Glauben abschwören müssen, Herr«, beeilte sich Jakob klarzustellen. Wenn er erst eine Waffe in der Hand hielt, sollten sie was erleben.

Die Piraten spotteten über seine Ausdrucksweise und ahmten ihn in weibischem Tonfall nach. Der Rotschopf nickte. »Herr – so fein sind wir nicht. Ich bin Eoin, der Bootsführer vom Drachenkopf. Ob du deinem Glauben abschwören willst oder nicht – bei uns gehörst du dem Teufel.«

»Nun mach schon, Eoin. Ich schlaf gleich ein!«, lallte ein Galgenvogel. Eoin gab einem der Männer einen Wink und Jakob bekam einen Bogen samt einem Pfeil in die Hand gedrückt. »Du musst beweisen, dass du es ernst meinst! Siehst du den Sack? Verpass ihm einen Pfeil. Schön mittig!«

Jakobs Kehle wollte sich verknoten. »Wer – wer ist er?«

»Wer er ist? Keine Ahnung – irgendein Idiot, der dachte, sich mit uns anlegen zu müssen. Tut nichts zur Sache. Selbst wenn es deine Großmutter wäre! Entweder du schießt oder du endest als Sklave.«

»Wetten, dass er zu feige ist. Zu fein, der edle Knabe!«, kreischte einer mit einer maurischen Klinge am Gürtel und verschränkte die Arme. Ihn sollte Jakob erschießen! Falls er es schaffte, den Bogen herumzureißen, war dies allerdings seine letzte Handlung.

Er legte den Pfeil in die Sehne und spannte sie, bis die Feder über das verkrustete Blut an der Wange wischte. Die Muskeln zitterten ihm. Der Rücken tat weh. Gott würde es nicht vergeben, wenn er einen Unschuldigen tötete, um seine Haut zu retten. Was würde Gisborne tun? Ein einzelnes Leben opfern, bis er wusste, wie er die Gefangenen im Frachtraum befreien konnte? Steckte Gisborne im Sack? Bei Gott, wieso dachte er überhaupt darüber nach, zu schießen?

»Jakob, nicht!«

Der Pfeil entschlüpfte den Fingerkuppen und versank Längen hinter dem Schiff im Meer. Er starrte über den Lichtkegel des Lagerfeuers. »Sir?«

De Clive stolperte zur Lichtquelle. Seine Hände waren gebunden. Ansonsten sah er unverletzt aus. Er äugte über die linke Schulter. »Ich zahle für diesen Jungen! Setzt ihn auf die Liste.«

»Halts Maul, Earl-Ich-zahl-alles. Du hast genug Vergünstigungen bekommen.« Der Schotte fuhr wütend hoch. »Stopft dem Aasgeier das Maul!«

»Halt, warte! Jakob also.« Der Kahlkopf ergriff amüsiert das Wort. »Na gut, ändern wir die Regeln.« Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Kelch, sodass der Wein über den Schnauzbart rann. »Wenn du triffst, darf er ein Angebot für dich machen, wenn du versagst, schneidet Muchtar dir die Eier ab.«

»Das ist unfair, Duncan!«, grölte ein anderer Mann. »Er hat verschossen. Er gehört dem Segelmacher.«

»Das zählt nicht – er wurde abgelenkt und ich glaube, dass er leben möchte«, brüllte der Kahlkopf.

Jakobs Unterlippe schob sich nach vorne. Er spürte, wie das Blut aus seiner Nasenspitze wich. »Wer ist der Mann im Sack, Mylord!«

Ein Pirat stieß den Earl in den Schatten zurück. »Loire. Es ist Re­naud de Loire.«

Nicht Gisborne – lebte er? Es gab eine Liste mit Personen, die De Clive freikaufen wollte? Das hörte sich gut an, doch warum war Gisborne nicht vorgetreten? Hoffen und Bangen lagen gleichauf. Renaud, den er ohnehin nicht leiden mochte, steckte im Sack. »Gebt mir einen Pfeil. Diese Ratte zu erledigen, wird mir ein Vergnügen sein! Ich wette, dass ich ihr linkes Auge treffe!«, schrie er lauthals, damit jeder es hören konnte.

Den Piraten gefiel der markige Spruch. Der Kahlkopf musterte ihn, ehe er mit der offenen Hand einen weiteren Pfeil anforderte. »Sieh dir den kalten Schimmer in den Augen an, Eoin. Er wird ein guter Pirat werden.«

Jakob nahm den Pfeil und hoffte, dass das Zittern nicht seine Finger erreichte und ihn verriet. Der Bootsführer rieb sich den Bauch, etwas vertrieb das feiste Grinsen. »Schieß! Deine letzte Chance, Junge. Einen Denar, solltest du Recht behalten.«

»Ich halte dagegen. Das ist unmöglich – er trifft nicht mal das Gesicht.« Dem Iren rann Schweiß von der Stirn.

Jakob legte den Pfeil schweigend ein. Durch die Wut pochte sein Herzschlag bis in die Schläfen. Der Sack verschwamm vor seinen Augen. Er presste sie zu schmalen Schlitzen zusammen und suchte den Fokus. Sein Arm hob den Bogen in einer fließenden Bewegung an, senkte ihn ins Ziel und das Geschoss surrte davon. Die Sehne peitschte gegen den Unterarm. Das Bitzeln ignorierend, packte Jakob die Waffe am Ende und drosch sie dem Kahlkopf an die Schläfe. Mit einem einzigen Satz und Aufschrei sprang er den Piraten an, verpasste ihm einen Faustschlag und grapschte die Axt aus dessen Gürtel. Duncan riss die Augen auf und wehrte sich.

In seiner Vorstellung krallte Jakob sich wie eine tollwütige Katze in den Feind. Doch der Schotte war mit ein paar Schritten bei ihnen und versetzte ihm einen Hieb, der ihn knapp neben das Feuer beförderte. Sein Bewusstsein drohte in einer grauen Nebelwelt zu versinken. Der Mast und die Rah tanzten in doppelter Ausfertigung vor seinen Augen. Die Axt entglitt ihm und ein Tritt gab ihm den Rest.

 

 

Guy wusste nicht, was mehr Gewicht besaß – die Erleichterung, Jakobs Stimme zu hören, oder die Panik, der Knappe könnte töricht handeln. Er wälzte sich derart hastig herum, dass er sich die Ellenbogen aufschürfte. Mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte er den Knebel loszuwerden, gleichzeitig stieß er Robert mit den Füßen an.

De Clive hielt Wache bei seinem verletzten Gefolgsmann. Er hob den Kopf träge an. Sie hatten ihm die Fußfesseln gelöst, nachdem er sein Wort gegeben hatte, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. »Grey schläft endlich. Ich bin mir sicher, dass er überleben wird«, sagte er in sich gekehrt.

»Weck Grey auf! Hörst du Jakob nicht?« Der Knebel verstümmelte die Wörter zu. »Hmm mmhhmhhhhh! HmmmHmH!« Er wies mit dem Kopf trotz des steifen Nackens in Richtung des Lagerfeuers. Sie mussten handeln und brauchten jeden, der noch eine Waffe halten konnte. Warum war der Earl ausgerechnet jetzt so schwer von Begriff?

»Ja, ich weiß. Wenn sie nicht mehr besoffen sind, werde ich mit ihnen verhandeln. Ich helfe dir. Sie kennen die Bedeutung des Schwertes nicht. Wir müssen es sichern.«

Sollte das vermaledeite Schwert zur Hölle fahren! Guy trat zu und zischte: »Hahob!« Endlich zeigten seine Mühen Wirkung. De Clive blickte zum Lagerfeuer und stand auf. »Guter Gott – Jakob – er lebt!«

»Nicht aufstehen! Mach mich los!«, flehte Guy. »Himmh hehem! Mhh mho!«

De Clive trat, ohne ihn zu beachten, in den Lichtkegel des Feuers.

»Himmeh, Hemgohh, Hahhameh!« Nicht einmal Fluchen funktionierte.

»Jakob, nicht!« Roberts Verstand musste durch den Kampf gelitten haben. Warum sonst handelte er so dämlich. Guy fluchte in sich hinein und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ein Messer – hätte er nur ein Messer. Er bog die Fersen Richtung Hintern und fummelte mit tauben Fingern am Knoten herum. Jetzt wo er Hilfe am dringendsten brauchte. Teufel-aber-auch!

»Ruhig, Sir«, zischte Grey und angelte ein Messer aus dem Ärmel. Seine Hände waren wie die des Earls vor dem Körper gefesselt. Er säbelte Guys Fesseln durch, obwohl ihn jede Bewegung sichtlich anstrengte. Wenigstens einer mit Verstand.

De Clive wurde zurückgedrängt und ihnen beiden blieb nichts, als sich hastig wieder hinzulegen, damit keiner die gelösten Fesseln bemerkte. Der Pirat verharrte argwöhnisch. Wenn er genauer hinsah, flogen sie auf. Dreieinhalb Kämpfer, den verletzten Grey mitgerechnet gegen sechzig oder mehr Piraten. Weitere waren zur Wache auf den Langbooten und auf dem Frachtschiff postiert. Den Sieg zu erhoffen, war ausgesprochen optimistisch.

Machte es einen Unterschied, wann sie aufsprangen? Guy zögerte. Hatte Jakob nach der Person im Sack gefragt, weil er Zeit schinden wollte oder weil er tatsächlich erwog, Renauds Leben gegen das eigene einzutauschen? Schwer zu sagen. Sein Knappe konnte den Aquitanier nicht leiden. Jetzt jedenfalls wusste er den Namen und wie es sich anhörte, würde er schießen. Verdammt! Ein Aufschrei. Guy erspähte zwischen den aufgebrachten Piraten, wie sein Knappe den Kahlkopf attackierte. Wusste er doch, dass der Junge mehr Mut als Verstand besaß. Das war zum Mäuse melken!

Der Pirat wandte sich um. Grey sprang auf und drehte ihm mit einem Ruck den Hals um.

Jakobs Angriff verlief enttäuschend. Schon lag er wie ein Käfer bewusstlos auf dem Rücken und Guy korrigierte die Anzahl an verfügbaren Kämpfern nach unten. Sie durften keine Zeit mehr vergeuden. Auf einer der Kisten vor ihnen hockte ein Betrunkener. Er pirschte sich an, hielt ihm mit einer Hand den Mund zu und bohrte ihm den Dolch zwischen die Rippen. So unauffällig wie möglich legte er ihn ab, zog dessen Waffen aus dem Gürtel und reichte sie weiter an seine Mitstreiter.

Der Wein hatte es wohl in sich. Die meisten freuten sich über das Schauspiel, das Jakob und der Bootsführer ihnen boten, andere wirkten seltsam teilnahmslos. Eben drehte sich einer um und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Zu dritt überwältigten sie zwei weitere Betrunkene, ohne irgendjemandes Aufmerksamkeit zu erregen. Es war verwirrend.

»Los! Holt einen Eimer Wasser. Ich will, dass er wach ist, wenn ich ihm die Eier abschneide!«, keifte der Kahlkopf am Feuer. Einen Augenblick später fasste er sich an den Bauch und erbrach sich vor der versammelten Mannschaft. Die Piraten gafften ihn an, grölten aber munter weiter.

Nur der Rotschopf sah in den Pokal, blickte seine Männer an und ließ ihn fallen. »Gift! Die Ratte hat Gift in die Fässer getan! Kippt das Zeug aus! Hört auf zu trinken!«

Auf dem Schiff und den Langbooten stürzten Wachen an die Reling, um zu sehen, was los war. Aus dem Siegestaumel gerissen, trat Ernüchterung ein. Ein paar steckten sich den Finger in den Schlund.

Einer entdeckte die bewaffneten Geiseln und stürzte sich auf sie. Guy blockte den Hieber und trieb das Messer in die Piratenbrust. Da die Klinge abbrach, lieh er sich dessen schartige Waffe, um vorzurücken. Grey und De Clive folgten ihm. Es waren zu viele Gegner, bald standen sie eingekreist neben dem Feuer. Ihr furioser Angriff stockte und Jakob lag außerhalb ihrer Reichweite auf der anderen Seite. Die erneute Niederlage war eine Frage von Momenten.

»Heda! Ihr feigen Schweine!«, dröhnte es vom Schiff herüber. Re­naud hüpfte an der Reling auf und ab und verhöhnte das Pack. Die Piraten sahen ebenso verdutzt zur Gull wie Guy. Ihre Gefangenen fielen über die Wachen her. Sie warfen die Planke ins Wasser und schnitten die Ankerseile durch.

Zerschlissene Sackfetzen hingen an der Rah. Hatte Jakob den Pfeil so platziert, dass Renaud entkommen konnte? Satansbraten – beide! Guy empfand unbändigen Stolz. Miriam tauchte an der Reling auf und suchte die Felsen ab. »Guy! Jakob! Schnell!«

Das Schiff wurde von den Wellen gegen die Felsen gedrückt. Es knirschte und knarrte. Der Mast legte sich schräg und die Matrosen, die versuchten das Segel zu setzen, hatten es schwer. Dann zog die Ebbe sie aufs Meer hinaus. Eine Woge erfasste sie und brachte sie erneut den schroffen Felsen nah, aber der Mann am Steuer lenkte sie von der Landspitze weg.

»Sie stehlen das Schiff! Haltet sie auf!«, schrie eine heisere Kehle. Die meisten Piraten rannten zur Gull, ein paar Mutige schwammen, die Messer zwischen den Zähnen, hinaus und kletterten an ihr hoch. Die nicht schwimmen konnten, rannten zu ihren Booten und banden sie von den Felsen los.

Die restlichen Halsabschneider drangen erneut auf Guy und seine Gefährten ein. Nicht alle hatten genug vom vergifteten Wein getrunken, um kampfunfähig zu sein. De Clive stellte sich vor den verletzten Grey, der kaum noch stehen konnte. Guy warf ein Entermesser nach dem Piraten, der einen Spieß in die Brust seines Knappen jagen wollte.

Der irische Kahlkopf kniete über seinem Erbrochenen. Von Krämpfen im Gedärm geschüttelt stemmte er sich mit vom Zorn zerfressener Visage auf die Füße. Er torkelte zu Jakob, der gerade zu sich kam, riss ihn an sich und hielt ihm den Säbel an die Kehle, ehe sie ihn erreichten. Ein paar Seeräuber gruppierten sich um ihren Anführer. Den meisten stand glänzender Schweiß auf der Stirn.

»Bleibt wo ihr seid oder der Junge stirbt!«, fauchte der Bootsführer. Guy verharrte wie festgefroren. Der Glatzkopf befahl den Männern, sich zum letzten Langboot zurückzuziehen. Er ging mit der Geisel rückwärts. Ungeachtet der Gefahr, in der Jakob schwebte, huschte ein Strahlen über sein Gesicht. »Sir! Ich wusste, dass Ihr lebt!«

»Ja«, knurrte Guy und folgte ihnen Schritt um Schritt. Die Männer wateten über die glitschigen leicht abfallenden Felsstufen und sprangen in ihre Nussschale. »Duncan, komm, beeil dich!«

Der Bootsführer grinste, als wäre er vom Teufel besessen, und Guy wusste im gleichen Moment, dass er nicht nah genug war, um Jakobs Ermordung zu verhindern. »Nein!«